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Bettina Stangneth

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Beschreibung

Eigentlich war niemand besser vorbereitet. Keiner weiß mehr über Angriffskriege. Keiner hat je lauter seine Geschichte befragt. Aber als Vladimir Putin die Ukraine überfiel, boten die Musterschüler der Vergangenheitsbewältigung ein diffuses Bild. Um die ganz großen Worte nie verlegen, aber unberechenbar in ihrem Tun, verunsichern die Deutschen seither ihre Verbündeten und irritieren noch ihre Feinde. Und die Deutschen selbst? Sie zerfallen: Die einen wissen jeden Tag aufs Neue genau, was zu tun ist. Die anderen belustigen sich in Dauerpolemik oder haben noch gar nicht aus der Schockstarre herausgefunden. Ganz zu schweigen von den Propheten, die mit unheimlicher Begeisterung schon wieder Geopolitik diskutieren, als wär's ein Schachspiel. Kriegszeiten sind Wahrheitszeiten, sagt die Philosophin Bettina Stangneth. Die Deutschen sind schlicht nicht das, was sie in den Augen anderer gern wären. Bei aller Neigung zur Selbstbespiegelung gelingt es ihnen nicht einmal, aufrichtig in den Spiegel zu sehen. Aber wenn eine große Wirtschaftsmacht sich anschickt, auch noch eine der größten Armeen der Welt aufzustellen, dann muss die Welt sich zu Recht fragen, warum die Deutschen so große Probleme damit haben, sich als verlässliche Partner zu erweisen.

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Seitenzahl: 93

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Bettina Stangneth

Überforderung

Putin und die Deutschen

 

 

 

Über dieses Buch

Eigentlich war niemand besser vorbereitet. Keiner weiß mehr über Angriffskriege. Keiner hat je lauter seine Geschichte befragt. Aber als Wladimir Putin die Ukraine überfiel, boten die Musterschüler der Vergangenheitsbewältigung ein diffuses Bild. Um die ganz großen Worte nie verlegen, aber unberechenbar in ihrem Tun, verunsichern die Deutschen seither ihre Verbündeten und irritieren noch ihre Feinde. Und die Deutschen selbst? Sie zerfallen: Die einen wissen jeden Tag aufs Neue genau, was zu tun ist. Die anderen belustigen sich in Dauerpolemik oder haben noch gar nicht aus der Schockstarre herausgefunden. Ganz zu schweigen von den Propheten, die mit unheimlicher Begeisterung schon wieder Geopolitik diskutieren, als wär’s ein Schachspiel.

Kriegszeiten sind Wahrheitszeiten, sagt die Philosophin Bettina Stangneth. Die Deutschen sind schlicht nicht das, was sie in den Augen anderer gern wären. Bei aller Neigung zur Selbstbespiegelung gelingt es ihnen nicht einmal, aufrichtig in den Spiegel zu sehen. Aber wenn eine große Wirtschaftsmacht sich anschickt, auch noch eine der größten Armeen der Welt aufzustellen, dann muss die Welt sich zu Recht fragen, warum die Deutschen so große Probleme damit haben, sich als verlässliche Partner zu erweisen.

Vita

Bettina Stangneth, geboren 1966, ist unabhängige Philosophin. Sie studierte in Hamburg Philosophie und promovierte über Immanuel Kant und das radikal Böse. Für ihr Buch «Eichmann vor Jerusalem» erhielt sie 2011 den NDR Kultur Sachbuchpreis; die New York Times zählte es zu den besten Büchern des Jahres. Bei Rowohlt erschienen zuletzt ihre hochgelobten Essays «Böses Denken» (2015), «Lügen lesen» (2017) und «Hässliches Sehen» (2019) sowie der Band «Sexkultur» (2021). 2022 erhielt sie den Internationalen Friedrich-Nietzsche-Preis.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, April 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Lektorat Willi Winkler

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Anzinger und Rasp, München

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01672-9

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Inhaltsübersicht

Widmung

Motto

Es ist eine ...

I.

II.

III.

IV.

Notiz für die Deutschen

Bettina Stangneth wurde ...

Für S.

The Germans are extraordinarily ambiguous.

John N. Gray, englischer Philosoph, in einem Interview vom 13. Mai 2022

Es ist eine Enttäuschung. Was hat die Welt nicht aufgeboten, um diesem Land den Weg aus seiner selbstverschuldeten Verdunklung zu weisen! Wie viele Opfer wurden für Recht und Freiheit des Volks gebracht, in dem so viele fanatisch entschlossen waren, sich die Einigkeit des Herrenrassenlands zurechtzumorden! Wer immer noch daran zweifelt, ob eine moralische Besserung des Menschengeschlechts möglich sei, findet einen bleibenden Hinweis darauf in der Großmut, die die Sieger einem Volk bewiesen, das sich so unentschuldbar verirrt hatte: die große Nachsicht, das bedingungslose Vertrauen, selbst in Hitlers Deutschland Menschen zu erahnen, und die Hoffnung, dass auch ein Land, aus dem das Verbrechen einmal so unbändig über Europa schäumte, wieder zu anderem fähig sein könnte, wenn man nur bereit war, dabei zu helfen. Helfen, ohne nach den Kosten zu fragen. Aber wenn der nächste geschwätzige Hobbyhistoriker auftaucht, der seine Wahnidee vom ewigen Reich unbedingt mit aller Gewalt in die Welt schreiben will, weil das Existenzrecht anderer weniger zählen soll als sein Werk, kommt aus Deutschland nur Zögern und Zaudern, fallen Worte wie Treibsand.

 

Dabei sah es doch wirklich gut aus. Sicher, am Anfang waren die Deutschen nur schwer zu bewegen gewesen, sich auch zu deutschen Taten zu bekennen. Aber was sich mit Gerichtsprozessen nicht erreichen ließ, schaffte in West und Ost die pädagogische Anleitung der Besatzungsmächte, vielleicht aber auch der bisher erfolgreichste aller Veränderungszauber: Wandel durch Freundlichkeit, das Angebot zur Rückkehr in die Völkergemeinschaft. Das brüderliche Streben, aus Ruinen aufzuerstehen, und die schwesterliche Ausdauer, dafür die Trümmer wegzuräumen, zogen ihre Stärke nicht zuletzt aus der Geschwisterrivalität. Der Wunsch, das jeweils bessere Deutschland zu sein, verhinderte jedenfalls nicht, sich der eigenen Vergangenheit zu stellen und die Dokumente, die auf beiden Seiten der Sieger für die Deutschen aufbewahrt wurden, endlich doch zu studieren, und sei es auch nur, weil sich damit die Verwandten jenseits der Mauer in Verlegenheit bringen ließen. Mochten die Lehrer auch oft von gestern und altlastenschwer sein, so wuchs doch eine wachere Jugend nach, die immer mehr Dokumente sehen wollte. Sie reformierte schließlich die Gemeinschaften von innen oder ließ doch die Alten nicht mehr unwidersprochen von deutschen Helden singen. Als schließlich der Eiserne Vorhang durchrostete, stellten sich die Sieger von 1945 dem Wunsch des geläuterten Volks von 1989 nicht entgegen, dass die Trennung ein Ende haben sollte – wenn denn das neue Deutschland seine Vergangenheit nicht vergisst. Und seit die Deutschen wiedervereinigt sind, lassen sie uns weiterhin hoffen, dass Menschen alles offenlegen, aufarbeiten und so auch überwinden können, wenn sie es nur wollen – oder: dass die Deutschen nicht nur reich und wirtschaftsmächtig, sondern tatsächlich erwachsen geworden sind und endlich auch die Führungsrolle in der Welt übernehmen werden, zu der man als erfolgreiches Land verpflichtet ist. Die Geschichte ist ja auch einfach zu rührend, um sie nicht glauben zu wollen.

 

Dass die allzu schönen Erzählungen nie ohne fantastische Elemente auskommen, wusste natürlich jeder. Auch beim unbedingten Willen zur Zuversicht: Ohne Irritationen blieb der Blick auf Deutschland nie. So konnte keinem Beobachter entgehen, dass der Erfolg auch dieser mächtigen Volkswirtschaft auf Kosten anderer erreicht und verteidigt wurde. Beschwerden über das Benehmen und eine bisweilen penetrante Selbstherrlichkeit wurden lauter, die Enthüllungen peinlicher. Aber das viele Geld, die Beziehungen und ein eigentümliches Talent, sich überaus wortreich auf bedauerliche Einzelfälle, Missverständnisse, Kommunikationsfehler und zur Not auch den Neid der Kritiker herauszureden, hatten bisher etwas Besänftigendes – oder Hinhaltendes. Wie sollte man auch dem Musterschüler widersprechen, wenn der treuherzig versichert, alles aus seiner Geschichte gelernt zu haben, sogar noch die deutsche Nachlässigkeit bei der Partnerwahl und den Widerwillen gegen solidarische Verteidigungsausgaben und andere Mindestlöhne? Wäre da nur nicht dieser Hang zu einsamen Entscheidungen mit der ebenso entschiedenen Versicherung, dass die Deutschen selbstverständlich noch nie vorhatten, etwas anderes als Brücken zu errichten, oder ihnen gar Sonderwege in den Sinn kämen; sie sind eben einfach manchmal nur besser. Und störte da nicht die seltsame Tatsache, dass der Weltmeister in Sachen «Vergangenheitsbewältigung» im eigenen Land Antisemitismus und Rassismus nicht loswird, oder die Frage, wieso ausgerechnet der Primus des einsichtsvollen Gedenkens so große Probleme mit der Empathie hat, sobald Opfer von Vorurteilen und unsäglicher Gewalt sich nicht mit dem Bild der Bahngleise nach Auschwitz illustrieren lassen und dennoch gern von ihrem Leid erzählen möchten. Der Ton kann überraschend rau werden in Deutschland, wenn uns jemand allzu gegenwärtig in die Erforschung unserer einzigartigen Zeitgeschichte reinreden will, obwohl er doch gar nicht zur Familie gehört. So wie es guter deutscher Ton ist, reflexartig das Lob für den Umgang mit der eigenen Vergangenheit zurückzuweisen, so sieht sich manch williger Mitkritiker unversehens wieder ausgeladen, wenn sein Beitrag über Anerkennung und Zuspruch hinausgeht. Auffällig ist es ja schon, dass der emsigste Historiker in eigener Sache vom Stolz auf Erreichtes nichts wissen will, in seiner Selbstbetrachtung aber nur schwer die Perspektive anderer zulassen mag. Doch letztlich ist das Erforschen des Gestern nach drei Generationen nur selten von tagesaktueller Dringlichkeit. Für den politisch-praktischen Umgang mit dem größten Land in Mitteleuropa reicht das deutsche Bemühen, die Erinnerung an die nationalsozialistische Vergangenheit wachzuhalten, und die Erfahrung, dass sich Deutschland wie ein normaler Nachbar unter Nachbarn verhält.

 

Aber auch wenn man es hierzulande lieber nicht so genau wissen möchte, auf jeden Fall aber bestreitet: Das Ansehen der geläuterten Deutschen hatte schon, lange bevor Wladimir Putin und sein Russland in die Ukraine einfielen, deutlich an Glanz verloren. Dennoch hat vermutlich niemand damit gerechnet, dass ausgerechnet wir so orientierungslos aussehen würden, wenn jemand sich anschickt, der Star der nächsten «Zeitgeschichte» zu werden – auch nicht der (jedenfalls im Januar 2023 immer noch amtierende) Präsident Putin.

 

Was war falsch gelaufen?

 

Wozu die ganze Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit, all die Mahn- und Denkmale zur Erinnerung an Krieg, Verbrechen und Vernichtungswillen, den Kampf für Freiheit und Demokratie, die Preise für Zivilcourage, wenn nicht um für die Gegenwart zu stärken und die Zukunft vor derartigen Menschheitsverbrechen zu schützen? Irgendetwas muss doch übersehen worden sein, wenn der Weltenbrandstifter von gestern, der seit Jahrzehnten aus seiner Geschichte lernt, das Feuer nicht sofort erkennt, nur weil es diesmal ein anderer gelegt hat, und dann auch noch völlig konfus im Weg steht, wenn ein ungewöhnlich großer Teil der Welt längst dabei ist, den Brand wenigstens an der Ausbreitung zu hindern.

 

Die Irritation über Deutschland ist seither so groß, dass sie sich nicht einmal mehr hier überhören lässt, obwohl es generell keine verbreitete Neigung dazu gibt, ausländische Zeitungen, Nachrichten und Diskussionen zur Kenntnis zu nehmen. Nur die Deutschen wirken angesichts dieser allseitigen Verwunderung ganz erstaunlich gelassen, sodass man sich gleich nochmals wundern kann, nämlich darüber, wie leicht sich in diesem Land übergehen lässt, was einem doch nur das Herz zerreißen kann: Was ist trauriger als Menschen, die an ihrem Vertrauen zu uns zu zweifeln beginnen, weil sie sich nicht mehr sicher sein können, wer oder was wir sind? Dass sich Wladimir Putin mit den Deutschen ebenso gründlich verrechnet hat, mag man zwar weniger bedauern, zumal es nun wirklich nicht sein einziger Rechenfehler ist. Aber peinlich sind sie schon, die fragwürdigen Schleichwege und die Berichte über die Schlupflöcher, die unsere Wirtschaftsinteressen trotz stolz vorgetragener Regierungsentscheidungen finden.

 

Sollten die vielen Jahre der Beschäftigung mit den eigenen Irrwegen wirklich nur ein Kreisen um die eigene Achse geblieben sein? Wer aber hätte dann etwas davon, wenn es nicht einmal dazu reicht, sich genau jetzt wenigstens an die wichtigste Einsicht aus der Geschichte zu erinnern?

 

Kriegszeiten sind Wahrheitszeiten. Genau das ist der Grund, aus dem sich Menschen vor Kriegen fürchten. Krieg – das ist das willentliche Spiel mit dem, womit man genau darum nicht spielt, weil es das unvermeidlich Eindeutige ist: der Tod.

 

Die Reaktionen auf diesen Krieg jedoch sind bemerkenswert mehrdeutig und gleichzeitig unangenehm vertraut für jene, die schon mehr als ein paar Tage auf dieses Land schauen. An Wörtern fehlt es offenbar nie, im Gegenteil. Eigentlich doch kluge Leute verplempern viel Lebenszeit in Talkshows, wo allabendlich mit verteilten Rollen das Empörungsschauspiel über die allgegenwärtige «Doppelmoral» inszeniert werden muss. Natürlich zur Sicherheit gleich noch mal doppelmoralisch, aber dafür so aufklärungsfördernd wie sonst nur die Dauerschleife mit den Filmchen von Hitler in Farbe auf dem Obersalzberg. An bekannten Orten tauchen mit etwas Verspätung die bekannten Stimmen noch einmal aus der Versenkung auf und verschwenden allerlei Bedenklichkeiten und Ratschläge an eine Meute, die auch im Krieg undankbar ist und gute Absichten zuverlässig missversteht, wenn sie in gewundenen Texten daherkommen.

 

Plötzlich wimmelt es nur so von Experten: die Ortskundigen, die Sprachkundigen, die Psychologen, die echten Generäle im und außer Dienst. Gleich nach ihnen warten schon die freiwilligen Schreibtischfeldherren und Waffenexperten, um dezent zu schweigen von bisher als Historiker verkleideten Geostrategen, die sich gar