Eichmann vor Jerusalem - Bettina Stangneth - E-Book

Eichmann vor Jerusalem E-Book

Bettina Stangneth

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Beschreibung

Eichmann vor Jerusalem räumt mit einer Fülle von Nachkriegslegenden und -lügen auf und enthüllt, wie der Menschheitsverbrecher Adolf Eichmann nach dem Krieg ein unbehelligtes Leben führen konnte - obwohl sowohl sein Aufenthaltsort als auch sein Deckname seit 1952 bekannt waren. Mit Eichmann vor Jerusalem dekonstruiert Bettina Stangneth die Lügengerüste der Nachkriegszeit und entlarvt deren unheilige Protagonisten - und wirft ein neues Licht auf die Probleme bei der Demokratisierung Deutschlands nach dem größten Zivilisationsbruch aller Zeiten.

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Für Dieter, den Fixstern meiner Reisen durch die Nacht.

Einleitung

Mir sind die Dinge noch lange nicht wirklich klar.

Hannah Arendt1

Niemand kann über die systematische Vernichtung von Millionen Männern, Frauen und Kindern sprechen, ohne ihn zu nennen, dabei ist man sich schon bei seinen Vornamen nicht mehr ganz sicher: Hieß er nun eigentlich Karl Adolf? Oder Otto? Es sind die ganz einfachen Fragen, die uns überraschen können, wenn wir längst zu wissen glauben, wer jemand ist. Aber gibt es wirklich noch große Lücken im Wissen um einen Mann, der seit Jahren zu den Spitzenthemen der Forschung wie in den Medien gehört? Adolf Eichmann lässt sogar Namen wie Heinrich Himmler oder Reinhard Heydrich weit hinter sich. Wozu also ein weiteres Buch? Es ist eine ganz einfache Frage: Wer, so wollte ich wissen, kannte Adolf Eichmann, bevor er in der berühmten Mossad-Aktion aus Argentinien entführt und in Israel vor Gericht gestellt wurde?

Eichmanns Antwort in Israel ist naheliegend: »Meine Prominenz bis 1946, war gleich Null, bis jener Dr. Hoettl […] mich zum Mörder von 5 oder 6 Millionen Juden stempelte.«[1]2 Dass ein Angeklagter so spricht, wird niemanden überraschen, schon gar nicht bei diesem. Schließlich wurde Eichmann mit dem Satz berühmt, er sei »nur ein kleines Rädchen im Vernichtungsgetriebe Adolf Hitlers« gewesen. Erstaunlich ist aber, dass die Forschungsliteratur Eichmann das bis heute brav nachbetet. Trotz ansonsten großer Kontroversen um den Massenmörder sind sich alle einig, dass der Name »Eichmann« bis zum Prozess in Jerusalem nur einem kleinen Personenkreis bekannt gewesen sei.3

Der Verdacht, dass sowohl an Eichmanns Geschichte wie an der Forschung etwas nicht stimme, entstand beim Lesen alter Zeitungen. David Ben Gurion, der israelische Ministerpräsident, überraschte am 23. Mai 1960 die Welt mit der Nachricht, dass man Adolf Eichmann gefasst habe, und kündigte einen Prozess an. Die Folge waren aber nicht etwa ganz viele Fragezeichen, sondern seitenlange Artikel voller Details über einen Mann, den angeblich kaum jemand kannte. Der Blick in noch ältere Publikationen zeigte es dann eindeutig. Lange bevor der Prozess begann, hatte der scheinbar Unbekannte schon mehr Spitznamen als die meisten Nazis: Caligula, Zar der Juden, Manager des Völkermords, Großinquisitor, Techniker des Judenmords, der Endlöser, Bürokrat und Massenmörder. All das sind Etiketten, die man Eichmann bereits zwischen 1939 und 1960 gegeben hatte. Das geschah nicht hintenrum, sondern stand in Zeitungen, Broschüren und Büchern, die man nur nachlesen muss, um zu erfahren, was man wann über Adolf Eichmann wusste und dachte. Es gibt in diesen Jahren lediglich eine Gruppe, die genauso einhellig das Gegenteil behauptet. Das sind die ehemaligen Kollegen und die Nachkriegs-Nazis, die ihr Wissen um jeden Preis kleinreden wollen. Aber wenn das so ist, ergibt sich gleich die nächste Frage: Warum ging dieses Wissen irgendwann verloren? Wie konnte sich ein Mensch nachträglich vor aller Augen zum Verschwinden bringen? Die Antwort auf diese Fragen führt mitten hinein in die Problematik jenes einmaligen Menschheitsverbrechens, das wahlweise Holocaust, Shoah oder Judenvernichtung genannt wird.

Wir stellen uns Verbrecher gern als Dunkelmänner vor, die ihre Taten in aller Heimlichkeit begehen, weil sie das Urteil der Öffentlichkeit fürchten, und wir stellen uns die Öffentlichkeit gern als konsequent vor, wenn es darum geht, entlarvte Verbrecher zu ächten und zur Verantwortung zu ziehen. Die ersten Versuche, über die Entrechtung, Vertreibung und Ermordung der europäischen Juden nachzudenken, orientierten sich noch ganz an diesem Klischee des lichtscheuen Gesellen, der hinter dem Rücken der Volksgemeinschaft sein Unwesen treibt. Doch über dieses Verständnis der Täter als einer kleinen Gruppe pathologischer, asozialer Sonderlinge in einem anständigen Volk, das sich kollektiv im Widerstand befunden hätte, wenn es denn überhaupt etwas gewusst hätte, ist die Forschung schon lange hinaus. Wir wissen inzwischen einiges über die Funktion der nationalsozialistischen Weltanschauung, die Dynamik kollektiven Handelns und die Folgen totalitärer Systeme. Wir haben verstanden, dass eine Atmosphäre der Gewalt auch auf Menschen Einfluss haben kann, die keinen übertriebenen Hang zum Sadismus haben, und wir haben untersucht, wie verheerend sich Arbeitsteilung auf das menschliche Verantwortungsgefühl auswirkt. Bei der Frage allerdings, wo und wie genau wir einen Täter wie Adolf Eichmann einordnen müssen, herrscht nach wie vor große Uneinigkeit. Je nach Autor erscheint er als ein ganz normaler Mann, der im Totalitarismus zum gedankenlosen Mörder gemacht wurde, als ein radikaler Antisemit mit Ausrottungsabsicht oder als ein Geisteskranker, dem das Regime nur den Deckmantel für seinen Sadismus bot. Entsprechend wimmelt es von unvereinbaren Eichmann-Bildern, die sich in der Auseinandersetzung um Hannah Arendts Bericht von der Banalität des Bösen noch weiter radikalisiert haben. Eine Perspektive ist allerdings bisher weitgehend ausgespart worden: die Öffentlichkeit. Was fehlt, ist ein Blick auf das »Phänomen Eichmann« vor Jerusalem und damit auf das Bild von Eichmann in den unterschiedlichen Epochen seines Lebens.

Von Jean-Jacques Rousseau stammt die Einsicht, dass zu einer Anmaßung und dem dann folgenden Unrecht immer zwei gehören: der, der einen Anspruch verkündet hat, und all die anderen, die es ihm geglaubt haben.4 Wer sich mit der öffentlichen Wirkung Adolf Eichmanns beschäftigt, kann viel darüber lernen, was an dieser eigentümlichen Teamarbeit so gefährlich ist, vor allem, wenn jemand diese Interaktion so gründlich durchschaut hat wie der berüchtigte »Judenreferent«. Deshalb erzählt dieses Buch die Geschichte Eichmanns nicht als Chronologie seiner Verbrechen oder Entwicklungsgeschichte seiner Taten, sondern rekonstruiert die Wirkung dieser Person: Wann kannte wer Eichmann, wann dachte man was über ihn, und wie reagierte er auf das, was man wusste und dachte? Wieviel Selbstinszenierung steckte in Eichmanns Erscheinung, und welche Bedeutung hatten seine Rollenspiele für seine mörderische Karriere und für unser Bild von der Geschichte?

Dass wir diese Perspektive heute überhaupt rekonstruieren können, verdankt sich einem Sonderfall in der Quellenlage: Von Eichmann existieren mehr Dokumente, Selbstzeugnisse und Zeitzeugenberichte als von allen anderen führenden Nationalsozialisten. Nicht einmal Hitler oder Goebbels haben mehr Material produziert. Das liegt nicht nur daran, dass Eichmann das Kriegsende noch um siebzehn Jahre überlebte und auch nicht nur an der beeindruckenden Sammelleistung der Polizeibehörde Israels während des Prozesses, sondern vor allem an seiner Leidenschaft zu reden und zu schreiben. Eichmann entwarf sich in jedem Stadium seines Lebens und je nach Publikum und Handlungsabsicht immer wieder neu. Ob als Untergebener, als Vorgesetzter, Täter, Flüchtling, Exilant oder Angeklagter – Eichmann beobachtete seine Wirkung jederzeit genau und versuchte, die jeweilige Konstellation optimal für seine Zwecke auszunutzen. Dieses Handlungsmuster hat Methode, wie sich beim Vergleich der vielen Entwürfe bald herausstellt.

Wirklich bekannt und beschrieben ist allerdings nur Eichmanns Wirkung in Jerusalem. Die Absicht dahinter war nicht zu übersehen: Er wollte am Leben bleiben und sich rechtfertigen. Wer wissen will, was dieser Selbstentwurf von Eichmann in Jerusalem mit dem Täter und seinem mörderischen Erfolg zu tun hat, muss notwendig auf den Eichmann vor Jerusalem zurückgreifen und dabei auch den Schritt hinter die Interpretationen wagen, die ausschließlich auf dem späteren Erscheinungsbild beruhen.

Folgt man Eichmanns israelischen Erzählungen, dann hat sein eigentliches Leben, so wie er es immer ersehnte, erst 1945 begonnen, als auch der Wahn eines tausendjährigen Reiches in Trümmern lag. Aus dem »Judenreferenten« wäre danach ein harmloser Kaninchenzüchter geworden, der er im Grunde seiner Seele doch immer schon gewesen ist, denn böse war doch immer nur das Regime, waren vor allem die anderen, und überhaupt sei auch seine Karriere unter Adolf Hitler ein einziger Zufall gewesen. Aber weil Eichmann bewusst war, dass viele das anders sehen könnten, verzichtete er vorsorglich auf seinen Namen Adolf Eichmann und ließ sich auch von seiner Frau nur noch bei seinem ersten Vornamen nennen, den er von seinem Großvater hatte: Otto.5 Als die anderen kapitulierten, verschwand er als »Adolf Karl Barth« im Heer der Kriegsgefangenen, wurde als »Otto Eckmann« verhört, bevor er flüchten konnte und als »Otto Heninger« in der Lüneburger Heide zusammen mit anderen Männern, die auch neue Namen hatten, Holz hackte, dann Hühner züchtete und insbesondere die weibliche Landbevölkerung abends mit seinem Geigenspiel entzückte. Das Leben des Otto Heninger, das schon so sehr an den argentinischen Kaninchenzüchter erinnert, hatte nur zwei entscheidende Nachteile: Seine Familie war für ihn unerreichbar, und er wurde als »Kriegsverbrecher« gesucht. »In den fünf Jahren, die ich als ›Maulwurf‹ unter der Oberfläche verbracht hatte, war es zu meiner zweiten Natur geworden, mir bei jedem neuen Gesicht, das mir begegnete, einige Fragen zu stellen, zum Beispiel: Kennst Du dieses Gesicht? Sieht der Betreffende so aus, als habe er Dich schon einmal gesehen? Versucht er, sich irgendeiner Begegnung zu entsinnen? Und während dieser Jahre verließ mich nie die Furcht, es könne jemand hinter mir stehen und plötzlich rufen: ›Eichmann!‹«6 Die Hoffnung, es würde mit der Zeit wie über alle Gräber auch Gras über den nationalsozialistischen Massenmord wachsen, erfüllte sich für Eichmann nicht. Er sah schließlich keinen anderen Ausweg als die Flucht, und so verschwand 1950 auch Otto Heninger. Statt dessen verließ Ricardo Klement von Genua aus Europa, erhielt in Argentinien eine neue Identität mit echten neuen Papieren und begann ein Leben, das er immer gewollt hatte: Er fand Arbeit bei einem Wasserkraftwerk-Projekt, führte einen Trupp Vermesser kreuz und quer durch Tucumán, ein subtropisches Gebiet im Norden Argentiniens, das mit seinen Bergen und Tälern durchaus an die Alpen erinnerte, und hatte viel Zeit, auf dem Pferderücken weite Ausflüge zu machen, die Berge zu erkunden, die Weiten der Pampa zu durchstreifen und sich sogar zweimal am Aconcagua, dem höchsten Berg Amerikas, zu versuchen. Als ihm zwei Jahre später endlich auch seine Frau mit den drei Söhnen folgen konnte, nahm er die Jungen mit auf seine Streifzüge und brachte ihnen Reiten und Angeln und seine Liebe zur Natur bei. Zwar trübte der Zusammenbruch der Projektfirma für einige Zeit die Stimmung des seligen Familienlebens, weil sich Ricardo Klement nun neue Arbeit suchen musste und dabei nicht immer ein glückliches Händchen hatte, aber spätestens ab 1955 hätte sein Glück perfekt sein müssen: Er bekam nicht nur den Posten des Verwalters auf einer Kaninchenfarm, sondern auch noch einen vierten Sohn, obwohl seine Frau schon älter als vierzig Jahre war. Das kleine »Hasi« machte den Vater jedenfalls stolz. Wen wundert es, dass er darüber nachdachte, nun auch noch ein eigenes Haus zu bauen für seine prächtige Frau, die vier Söhne, die Dackeldame Fifi und die Schäferhündin Rex, die Kuckucksuhr und die Alpengemälde.7 Und wenn er nicht vom Mossad entführt worden wäre, dann lebte er noch heute das harmlose Leben des Ricardo Klement …

Diese rührende Geschichte hat nur einen entscheidenden Haken: Ricardo Klement mochte zwar der Name in seinem Pass sein, aber der geläuterte Nazi und nun gänzlich unpolitische Naturliebhaber kam in Argentinien niemals an. Eichmann war kein Mann der Idylle. Für ihn hatte der Krieg, sein Krieg, niemals aufgehört. Der SS-Obersturmbannführer war vielleicht außer Dienst gestellt, der fanatische Nationalsozialist jedoch war es nicht. Der totalitäre Staat, in dem man Millionen Menschen ermorden konnte, ohne gegen einen einzigen auch nur die Hand zu erheben, mochte ihm abhandengekommen sein, wehrlos war er deshalb noch lange nicht. Wenn der Mann um die fünfzig abends nach getaner Arbeit 50 Kilometer von seiner Familie entfernt mit seinem Rotweinglas auf der Veranda der Kaninchenfarm saß, dann konnte ihn offenbar auch das Geigenspiel nicht von der Idylle überzeugen, nach der sein Leben aussah. Das lag nicht nur daran, dass es am 35. Breitengrad keine Dämmerung und keinen langen Sonnenuntergang gibt, weil es dort schlagartig dunkel werden kann und die Nacht schneller und machtvoller da ist, als man es aus Nordeuropa kennt. In den Abendstunden begann er zu lesen und zu schreiben. Diese Arbeit muss man sich alles andere als beschaulich vorstellen. Da genoss nicht ein zufriedener älterer Herr die Lektüre, sondern aus dem friedlichen Kaninchenzüchter wurde ein Mann, der Bücher an die Wand werfen und sie zerreißen konnte, der aggressiv endlose Schmähungen und Beschimpfungen an jeden Buchrand schrieb und wie ein Besessener Berge von Papier mit seinen Kommentaren und Ausführungen füllte. Seine Bleistifte brachen unter der Gewalt seines Gekritzels, sein Wille zum Kampf war ungebrochen. Der Weltanschauungskrieger hatte nicht aufgegeben, und er war dabei keineswegs allein.

Dass wir darüber heute so viel wissen können, ist die Folge eines glücklichen Zufalls. In den letzten zwei Jahren tauchten in mehreren Archiven Dokumente auf, die bisher der Forschung nicht zur Verfügung standen. So konnten die Argentinien-Papiere, also Eichmanns eigene Aufzeichnungen im Exil, aber auch die Gesprächsprotokolle und Tonbänder von Gesprächen, die bisher unter dem nicht ganz treffenden Namen Sassen-Interviews bekannt sind, zum ersten Mal wieder im Zusammenhang rekonstruiert werden. Diese mehr als 1300 Seiten geben nicht zufällig Eichmanns Leben und Denken vor seiner Verhaftung preis. Der erste Versuch einer Übersicht und Interpretation soll auch eine Aufforderung sein, sich mit dieser wichtigsten Nachkriegsquelle zum nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen zu beschäftigen. Plötzlich werden Zusammenhänge deutlich, die bisher nicht erkennbar waren. Vor allem eines wird überdeutlich: Nicht einmal auf der Flucht wollte Eichmann die Dunkelheit und das heimliche Tun. Er wollte auch in Argentinien gesehen werden, und er wollte wirken, wie er schon einmal gewirkt hatte: als Symbol einer neuen Zeit.

Wer das Licht sucht, wird gesehen. Die Menschen, die mit Eichmann nach 1945 Umgang hatten, waren deutlich zahlreicher als bisher angenommen. Wer Eichmanns Weg in den Untergrund und in das Exil folgt, begegnet nicht nur Fahndern und Mordkommandos, sondern vor allem Helfern, Sympathisanten und bald auch wieder Bewunderern und Freunden, die sich lange Zeit hinter der Lüge verbergen konnten, Eichmann nicht gekannt zu haben oder ihm nur flüchtig begegnet zu sein. So wie Willem Sassen, ein niederländischer Freiwilliger der Waffen-SS und Kriegspropagandist, jahrzehntelang erfolgreich behaupten konnte, nur Eichmanns »Ghostwriter« gewesen zu sein, haben die meisten ihre Kontakte zu dem Gesuchten geleugnet. Das lässt sich heute nicht mehr aufrechterhalten. Durch die Argentinien-Papiere lässt sich sogar zeigen, wer den Kontakt zu Eichmann suchte, um mit ihm zusammen über vergangene Zeiten und vor allem politische Pläne für die Zukunft zu diskutieren. Eichmann war in Argentinien ebensowenig ein Paria und eine gescheiterte Existenz wie Willem Sassen bloß ein neugieriger Journalist oder Himmler-Chefadjutant Ludolf von Alvensleben ein geläuterter Nationalsozialist war. Denn allen Versuchen, sie zu übersehen, zum Trotz: Es gab sie, die Nazis in Argentinien, die vor den alliierten Gerichten geflohen waren und sich wieder organisierten, weil sie mehr wollten, als nur in Ruhe ein neues Leben zu beginnen. Aus der Distanz und in der Freiheit des Exils kommentieren die Männer um Eichmann die Entwicklung in Deutschland und der Welt. Sie verfolgen ehrgeizige politische Umsturzpläne, knüpfen emsig ein Netzwerk der Gleichgesinnten, machen sich sogar an die Fälschung von Dokumenten, um ihre Sicht vom glorreichen Nationalsozialismus gegen die Wirklichkeit zu verteidigen, und Adolf Eichmann ist mitten unter ihnen. Selbstbewusst, engagiert und gefragt als durch millionenfachen Mord ausgewiesener Spezialist – genauso wie der Referent im Reichssicherheitshauptamt es gewohnt war.

»Eichmann in Argentinien« ist also kein Ein-Personen-Stück, sondern die Chronik einer erstaunlichen zweiten Karriere des Obersturmbannführers außer Dienst – als Fachmann für die Geschichte und wieder einmal die »Judenfrage«. So sehr er sich später auch bemüht, alle davon zu überzeugen, dass ihn das Kriegsende geläutert und verändert habe, zeigt die Beschäftigung mit seinem Denken und seinem gesellschaftlichen Leben in Argentinien etwas ganz anderes. Wenn Eichmann jemals dieser friedfertige harmlose Ricardo Klement sein wollte, dann erst in der Gefängniszelle in Israel. In Argentinien unterschrieb er Widmungen seines Fotos für die Kameraden stolz mit »Adolf Eichmann – SS-Obersturmbannführer a. D.«.

Doch der Eichmann nach 1945 ist viel mehr als eine argentinische Affäre. In der Bundesrepublik bleibt der Name ebenfalls im Gedächtnis. Auch wenn man später nichts gewusst haben wollte: Es existiert eine Fülle an Zeugenaussagen, es gibt genug Presseartikel und Publikationen zu Eichmann, die zeigen, wie der Name und das, wofür er stand, die Deutschen schon vor 1960 beschäftigte. Aber wer sich auf die Suche nach dem »Phänomen Eichmann« begibt, hat auch noch eine indirekte Quelle zur Verfügung, die gar nicht überschätzt werden kann: die Zeugnisse seiner Opfer und Verfolger, aber vor allem die seiner ehemaligen Kollegen und Mitwisser. Die nämlich konnten ihn schon deshalb nicht vergessen, weil sie fürchten mussten, dass er sich noch genauso gut an sie erinnerte wie sie sich an ihn. Wer diesen Mann gekannt hatte oder auch nur wusste, wer er war, wollte sich schon bei seiner Erinnerung nicht erwischen lassen. Amerikanische Geheimdienstunterlagen, Fahndungslisten und die wenigen freigegebenen Akten der Staatsanwaltschaft, des Bundesamtes für Verfassungsschutz und des Auswärtigen Amtes erlauben eine erste Skizze der Bedeutung von Adolf Eichmann für die unmittelbare Nachkriegszeit, insbesondere in der jungen Bundesrepublik und auch in Österreich. Eichmann oder doch das Bild, das man von ihm hatte, wurde mehr und mehr zu einem politischen Faktor. Der Kronzeuge der Menschheitsverbrechen bedrohte durch sein bloßes Überleben das Bemühen, die Vergangenheit zu überwinden, indem man sie möglichst gründlich vergaß. Die Tatsache, dass Eichmann auch in Argentinien kein stilles, unauffälliges Leben wollte und sogar an einem Offenen Brief an den Bundeskanzler Konrad Adenauer schrieb, ließ ihn schließlich zum Risiko werden. Konnte man wirklich wollen, dass der Mann, der so viel wusste, auch noch in der Bundesrepublik redet?

Alles das macht die Suche nach Eichmann zu einer sehr viel komplexeren Geschichte als die so netten Erzählungen von Liebe, Verrat und Tod ahnen lassen. Es gab nämlich nicht nur die Opfer und die Nazi-Jäger, die den Mörder von Millionen unbedingt finden wollten, oder die eine oder andere Regierung, die sich dabei mehr oder minder geschickt anstellte. Da waren auch so manche, die unbedingt verhindern wollten, dass mit dem Mann auch die Vergangenheit aus dem Exil zurückkam. Es brauchte sehr viel mehr als einen aufmerksamen blinden Mann in Argentinien, der im Freund seiner Tochter den Sohn eines Menschheitsverbrechers erkannte, um den unbändigen Wunsch zu schweigen zu überwinden. Die Geschichte von Eichmann vor Jerusalem ist auch eine Aneinanderreihung verpasster Chancen, einen wirklichen Neuanfang dadurch zu wagen, dass Gerichtstag in Deutschland gehalten wurde. Mit dieser Geschichte müssen wir uns beschäftigen, wenn wir verstehen wollen, wie weit Strukturen genau jener unsäglichen Epoche das Kriegsende überdauert haben, die man mit einem neuen Staat überwinden wollte und musste, ohne dafür neue Menschen zu haben. Dass auch heute noch Eichmann-Akten in deutschen Behörden existieren, die für die Öffentlichkeit gesperrt sind, weil man ihren Inhalt für staatswohlgefährdend hält, ist ein Skandal. Adolf Eichmann, den SS-Obersturmbannführer außer Dienst, als Kapitel der Bundesrepublik zu akzeptieren, ist ein überfälliger Schritt.

Seit 1963 Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen erschien, ist jeder Versuch über Adolf Eichmann immer auch ein Dialog mit Hannah Arendt.8 Die Jüdin aus Königsberg, die bei Martin Heidegger und Karl Jaspers Philosophie studiert hatte, bis der Nationalsozialismus sie aus Deutschland vertrieb, fuhr 1961 zum Eichmann-Prozess nach Jerusalem, weil sie etwas wollte, das Philosophen nun einmal wollen: Verstehen. Kein Mensch versteht unmittelbar, sondern bringt sein Denken ebenso mit wie seine Erfahrung, also auch das Bild der Welt von gestern. Hannah Arendt hatte spätestens 1943 zum ersten Mal von Adolf Eichmann in der Zeitung gelesen und befand sich achtzehn Jahre später durchaus auf der Höhe der Forschung. Was Hannah Arendt erwartete, hat sie selber oft ausführlich beschrieben: den hochintelligenten diabolischen Massenmörder mit der Faszination des Grauens, wie wir sie aus der großen Literatur kennen. »Er war einer der Intelligentesten der ganzen Bande«, schrieb sie noch 1960. Wer es wagte, ihn zu verstehen, wäre beim Verständnis der Nazi-Verbrechen ein entscheidendes Stück weiter. »Ich bin sehr in Versuchung.«9

Die Philosophin mit der scharfen Beobachtungsgabe war nicht die Einzige, die irritiert war, als sie Eichmann dann tatsächlich begegnete. Wer die ersten Reportagen liest, findet nahezu bei jedem Prozessbeobachter, ganz gleich wo er herstammte, den gleichen Eindruck: Eichmann in Jerusalem war eine dürftige Figur ohne das Charisma unserer schillernden Vision vom Satan. Der SS-Obersturmbannführer, der Angst und Schrecken und vor allem den millionenfachen Tod verbreitet hatte, lähmte jetzt die Aufmerksamkeit mit seinen elendlangen Sätzen und seinem Gerede von Befehlsnotstand und Fahneneid. Hätte es schon 1961 misstrauisch machen müssen, dass er auch dabei so erstaunlich effektiv war? Die Stimmen, die zweifelten, waren jedenfalls sehr leise und erst recht nicht populär. Vor allem aber hatten sie alle Zugang zu Informationen, die Prozess-Beobachter nicht hatten: Sie kannten wenigstens Teile der Argentinien-Papiere.

Die Holocaust-Forschung stand 1960 allenfalls am Anfang, die Dokumentenlage war dürftig und der Wunsch, vom Angeklagten Neues zu erfahren, größer als die Vorsicht. Hannah Arendt wählte die Methode zu verstehen, die sie gelernt hatte, durch wiederholtes Lesen, das sich ganz auf den, der da schreibt und spricht, einlässt, in der Annahme, dass nur der schreibt und spricht, der auch verstanden werden will. Gründlich wie kaum jemand sonst las sie Verhör- und Prozessprotokolle. Doch genau damit ging sie in eine Falle, denn Eichmann in Jerusalem war kaum mehr als eine Maske. Das erkannte sie nicht, doch war ihr beeindruckend bewusst, dass sie das Phänomen noch immer nicht so verstanden hatte, wie sie es gern wollte.

Kein Buch über Adolf Eichmann, ja wahrscheinlich keines über den Nationalsozialismus hat so viele Diskussionen ausgelöst wie Eichmann in Jerusalem und damit genau das erreicht, was die Philosophen seit Sokrates mehr als alles andere wollen: die Kontroverse um des Verstehens willen. Spätestens seit Ende der siebziger Jahre jedoch fristet der Bezug auf Hannah Arendt nur mehr die Funktion einer Ablenkungsdebatte. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es schon längst nicht mehr um das Thema »Eichmann« geht, sondern wir lieber über den Ton der Debatte und die Theorien des Bösen reden als es womöglich genauer wissen zu wollen als eine Denkerin im Jahr 1961. Es hat sich nämlich etwas Entscheidendes geändert: Wir haben Zugang zu ganz anderen Quellen. Zumindest theoretisch.

Seit 1979 sind große Teile des sogenannten Sassen-Interviews zugänglich und geben so den Blick frei auf das, was Hannah Arendt und alle anderen Prozessbeobachter nicht sehen durften: Eichmannvor Jerusalem, plaudernd in der guten Stube eines Freundes und umringt von ehemaligen Kameraden, die Nazis in Argentinien waren wie er. Die Beschäftigung mit dieser Fülle an Informationen jedoch ist erschreckend flüchtig geblieben, sie geschah unwillig und mit einem merkwürdigen Mangel an Neugierde, und das, obwohl seit 1998 auch noch einige der Original-Tonbänder aufgetaucht sind, die belegen, was man beim gründlichen Lesen immer schon hätte erkennen können: dass nämlich in Argentinien mehr passierte, als dass sich ein Journalist auf der Suche nach einer Story und ein abgehalfterter Nazi mit dem Wunsch nach einer Flasche Whisky begegneten, um gemeinsam in Erinnerungen zu schwelgen. Wer Hannah Arendt etwas entgegensetzen wollte, statt immer noch über den Erfolg ihres Buches zu lamentieren, hätte hier schon lange alles finden können, was man dazu braucht. Stattdessen erzählen wir Eichmanns israelische Geschichten nach, berufen uns auf seine Datierungen, zitieren eine unhaltbare Schein-Edition aus einem Tendenzverlag und lassen sogar völlig unbekannte Eichmann-Quellen unter falschen Etiketten in Archiven, die sogar die legendäre Überraschungsresistenz von Historikern auf eine harte Probe stellen könnten. Und so gibt es zumindest eines, was wir von Hannah Arendt unbedingt lernen sollten: angesichts des Unbekannten wieder sehr in Versuchung zu geraten.

Mein Buch ist zunächst einmal der Versuch, alles vorzustellen, was vorhanden ist und welche Aufgabe damit wartet. Allein die Geschichte der Argentinien-Papiere, die heute wie ein monströses Puzzle des Abgründigen auf mehrere Archive verteilt sind, eröffnet ungeahnte Einblicke in das »Phänomen Eichmann«, über die sich jede Kontroverse lohnen würde. Um das Weitergehen und Weiterfragen zu ermöglichen, ist der Weg zu diesen Quellen auch ein Teil dieses Buches, das sie zum ersten Mal ausführlich präsentiert.

Auch Eichmann vor Jerusalem ist ein Dialog mit Hannah Arendt und das nicht nur, weil meine eigene Beschäftigung mit diesem Thema vor vielen Jahren mit Eichmann in Jerusalem begann. Unser Verstehen von Geschichte ist so abhängig von der Zeit und den Umständen, unter denen es geschieht, dass man auf eine Perspektive wie die Arendts nicht verzichten kann. Es ist ihr Mut zum klaren Urteil, auch auf das volle Risiko, trotz intensiver Arbeit immer noch zu wenig zu wissen. Im Fall der Beschäftigung mit Adolf Eichmann kommt noch ein ganz anderer Aspekt dazu. Es gehört nämlich zu den folgenreichsten Einsichten, die sich aus der Eichmann-Forschung gewinnen lassen, dass ein Mensch gar nicht zu den Intelligentesten gehören muss, um sogar Menschen mit herausragender Intelligenz dazu zu verleiten, sich selber mit den eigenen Waffen zu schlagen: dem Wunsch, die Erwartungen bestätigt zu sehen. Diesen Mechanismus aber werden wir nur erkennen können, wenn wir Denker an unserer Seite haben, die mit Erwartungen und ihren Urteilen mutig genug umgehen, damit noch das Scheitern transparent wird.

Wer ein Buch wie dieses geschrieben hat, dem bleibt am Ende nur, den Leser schon am Anfang zu warnen, am besten mit den Worten, die Hannah Arendt einer guten Freundin schrieb, bevor sie zum Eichmann-Prozess nach Jerusalem flog: »Es könnte interessant sein – abgesehen davon, daß es schrecklich wird.«10

[1] In allen Zitaten bleibt die alte oder fehlerhafte Schreibweise der Originaltexte unkorrigiert. Auf den üblichen Hinweis [sic!] wird verzichtet.

»Mein Name wurde zum Symbol«

Ich war bekannt wie ein bunter Hund …

Eichmann zu Sassen, 1957

Wir wissen bis heute nicht, wann sich Eichmann für ein Leben in Südamerika entschied, aber er selber hat erklärt, warum es ihn nach Argentinien zog: »Ich wußte, daß in diesem ›Gelobten Land‹ Südamerikas einige gute Freunde darauf warteten, mir helfen zu können. Freunde, denen ich offen, frei und stolz sagen konnte, daß ich Adolf Eichmann, früherer SS-Obersturmbannführer bin.«11

Offen, frei und stolz, Adolf Eichmann zu sein? – Was für eine Erwartung! Dass Eichmann das tatsächlich für eine realistische Möglichkeit hielt, scheint schlicht grotesk und das nicht nur im Rückblick. Der Name Adolf Eichmann ist Inbegriff für die nationalsozialistische Judenvernichtung, und genau das war gerade dem Träger des Namens selber nur zu bewusst. Niemand gibt sich so viel Mühe, unter falschen Namen und in der Fremde zu leben, wenn er es nicht muss. Als Eichmann seine Flucht organisierte, hatte er einen guten Grund: Er war einfach zu bekannt, um auf Dauer unentdeckt zu bleiben.

Zu viele Menschen kannten ihn und wussten von seiner Beteiligung an Entrechtung, Vertreibung und Massenmord. Wenn uns das heute nicht mehr so klar ist wie Eichmann damals, dann liegt das an der erstaunlich erfolgreichen Selbstdarstellung Eichmanns in Jerusalem. Nach seiner Entführung 1960 hatte er alles getan, um sich in Israel als einen unbedeutenden Referenten unter vielen anderen darzustellen, ein »kleines Rädchen im Getriebe« des mörderischen »Dritten Reiches«, als einen letztlich anonymen Mann, der nur durch einen Irrtum, dumme Zufälle und die Feigheit anderer »zum Sündenbock gemacht« wurde, obwohl er doch nur ein kleiner unbekannter Offizier ohne Einfluss war. Aber Eichmann selber wusste ganz genau, dass das eine Lüge war. Sein Name war keineswegs nur einem sehr begrenzten Personenkreis bekannt gewesen, noch wurde er erst mit dem Prozess allgemein geläufig. Im Gegenteil hatte sein Ruf einen wesentlichen Anteil an dem Ausmaß der Verbrechen, deretwegen Eichmann bis heute berüchtigt ist.

Adolf Eichmann hatte selber genau beobachtet, wie sein Name zum Symbol für die Judenvernichtung avancierte, und er wusste auch, dass seine Vorgesetzten und er selber diese Entwicklung immer wieder gezielt gefördert hatten. Er wollte nämlich alles andere als »der Mann im Dunkeln« sein, als der er gelegentlich kokettierte. Erst vor Gericht in Israel wünschte er den Eindruck eines subalternen, austauschbaren kleinen Beamten ohne Namen und ohne Gesicht zu geben, aber wer würde sich nicht gern unsichtbar machen, wenn ihm die Todesstrafe droht? Trotzdem schien vielen die Vorstellung von Eichmann, dem Mann im Dunkeln einleuchtend, und so mancher hat sogar seine vermeintliche Unsichtbarkeit zum Schlüssel des mörderischen Erfolgs erklärt,12 obwohl es etliche Hinweise darauf gibt, dass Eichmann spätestens seit 1938 weder unbekannt noch selber an einem Platz im Schatten interessiert war. Wenn man anfängt, diesen Hinweisen zu folgen, ergibt sich ein deutlich grelleres Bild des Dunkelmannes.

1. Der Weg in die Öffentlichkeit

Er war überall beliebt und gern gesehen.

Rudolf Höß über Eichmann

Adolf Eichmann trat 1932 in die NSDAP und die SS ein, und zwar in Linz, wohin er schon als Kind aus Deutschland gezogen war, weil sein Vater dort eine offensichtlich gutbürgerliche Karriere machen konnte. Die Karriere des Sohnes verlief anders: Er strebte keinen Vorsitz im Kirchenvorstand und auch keinen Posten in der Firma seines Vaters an, sondern nutzte mit dem Verbot der nationalsozialistischen Bewegung in Österreich die Chance und folgte einem hohen Linzer Parteifunktionär 1933 zurück nach Deutschland, in das damalige Zentrum der neuen politischen Kraft. Ob nun gezielt, gut beraten oder mit sicherem Gespür für die Machtentwicklung landete Eichmann 1934 beim Sicherheitsdienst der SS, als SD ebenso klein wie zu dieser Zeit schon berüchtigt. Man wusste, dass die Gruppe hinter diesem Kürzel maßgeblich an der Affäre Röhm beteiligt war, und jeder spätere Versuch Eichmanns, die Versetzung dorthin als »Versehen« oder »Verwechslung« zu erklären, ist absurd, denn dann wäre Eichmann der Einzige in seinem Umfeld, dem der Nimbus des Sicherheitsdienstes mit seinen geheimnisvollen Mitarbeitern und ihrem charismatischen Chef Reinhard Heydrich unbekannt geblieben wäre.13 Wer Mitte 1934 zum SD ging, konnte zwar keineswegs mit einem hohen Gehalt, aber vor allem mit einer Mischung aus Anerkennung und Scheu seiner Parteigenossen rechnen, und nicht zuletzt mit einem beeindruckenden Arbeitsplatz: dem stattlichen Palais in der Wilhelmstraße 102 im Zentrum der Macht, der Reichshauptstadt Berlin. Für einen Mann von noch nicht dreißig, der zwei Jahre vorher noch – wenn auch durchaus erfolgreich – Benzinvertreter in Oberösterreich war, hätte der Karrieresprung kaum deutlicher ausfallen können. Eichmanns Gefühl, mit diesem Schritt etabliert zu sein, spiegelt sich auch in seinem (innerhalb der SS natürlich ebenfalls karrierefördernden) Entschluss, zu heiraten und eine Familie zu gründen. Er ehelichte Vera Liebl, eine vier Jahre jüngere Frau aus Mladé, die ebenso wie ihre beiden Brüder, die für die Gestapo arbeiteten, vom weiteren gesellschaftlichen Aufstieg ihres Mannes profitieren sollte.

Die Männer des SD besaßen von Anfang an eine Sonderstellung. Sie bildeten den parteiinternen Nachrichtendienst der NSDAP, deshalb galten für sie bestimmte Gesetze und Vorschriften nicht. Die Zeit des Militärdrills war vorbei, und die SS-Uniform blieb meistens im Schrank. Während gewöhnlichen Parteigenossen jeder persönliche Verkehr mit Juden seit April 1935 verboten war, erlaubte die nachrichtendienstliche Funktion eine großzügige Gesetzesauslegung, weil man sich selber als immer im Dienst befindlich definierte. Vor allem gehörten Recherchearbeiten inkognito zu den besonders reizvollen Aufgaben, an die sich Eichmann noch Jahrzehnte später gern erinnerte: Er besucht jüdische Veranstaltungen, knüpft Kontakte, in denen er wissbegierig und aufgeschlossen erscheint,14 sucht einen jüdischen Hebräischlehrer (was ihm allerdings sein Vorgesetzter dann zweimal verbietet), vertieft sich wie alle seine Kollegen in jüdische Literatur, studiert sechshundert Seiten starke Wälzer ebenso wie die Zeitungen, pflegt internationale Beziehungen und lässt sich sogar von einem Juden zu einem Palästina-Besuch einladen. Später wird Eichmann von einem »Studium, das immerhin drei Jahre dauerte«, sprechen.15 Dass sein Vorgesetzter ihn wegen Unordnung und Unpünktlichkeit gelegentlich ermahnen musste, erwähnt er nicht.16 Man könnte versucht sein, diesen Lebensstil tatsächlich mit dem eines wissenschaftlich angehauchten Schöngeistes mit etwas kruden politischen Ansichten zu verwechseln, wenn zwischen Kaffeehausgeplauder, Texteschreiben, Vorträgehalten und gemeinsamen Fachlektüre-Abenden mit den Kollegen nicht auch akribische denunziatorische Karteiarbeit, antisemitische Propaganda, Verhaftungen und gemeinsame Verhöre mit der Gestapo in den Akten erscheinen würden. Der SD war beides, Weltanschauungselite und Machtinstrument, und genau das machte ihn für die selbsterklärte neue und andere Generation so attraktiv.

Das erste Bild, mit dem Eichmann ab Mitte 1937 in einer breiteren (in diesem Fall jüdischen) Öffentlichkeit wahrgenommen wird, ist das eines jungen Mannes, der »smart und rasch« erscheint, aber unfreundlich wird, wenn man ihn mit Namen statt mit seinem Titel anspricht. »Er liebte es sogar, anonym zu bleiben«, berichtet Ernst Marcus rückblickend über die Zeit 1936/37, »und betrachtete die Erwähnung seines Namens neben der dienstlichen Anrede ›Herr Kommissar‹ als unerlaubte Kränkung.«17 Offensichtlich konnte Eichmann selber dem Klischee der Macht ohne Gesicht im langen Ledermantel nicht widerstehen, das die Anfangszeit des ebenso prägte wie die Gestapo, die beide von ihren Opfern ohnehin schwer zu unterscheiden waren. Bei dieser geliebten Anonymität ist es aber nicht lange geblieben. Als Eichmann mit seinem Kollegen Herbert Hagen in den Nahen Osten reist, wird er vom britischen Geheimdienst beobachtet, der die tatsächliche Einreise nach Palästina verhindert. Das Foto kommt in die entsprechende Akte. Und auch in Berlin kannte man Ende 1937 den Namen dieses »Kommissars beim Sicherheitsdienst«, von dem es heißt, dass er »unverständlicherweise genau Bescheid« weiß, wenn es um Themen geht, mit denen sich Nazis eher nicht beschäftigten: Zionismus, Probleme mit dem Geldtransfer bei der unfreiwilligen Auswanderung, innerjüdische Diskussionen und unterschiedlichste Interessenvertretungen, Personen und Vereine.

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