Unbrauchbare Väter - Dorothee Schmitz-Köster - E-Book

Unbrauchbare Väter E-Book

Dorothee Schmitz-Köster

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Beschreibung

Vielen Männern des SS-Lebensborn ist es gelungen, anonym zu bleiben – aber nicht allen: eine Geschichte über Doppelmoral, Geheimnisse und unendliches Leid. Ein Verein, der die Geburtenrate "arischer Kinder" erhöhen wollte. Der deshalb Entbindungsheime betrieb, in denen ausgewählte Frauen – ob verheiratet oder nicht - ihr Kind zur Welt bringen konnten, wenn sie wollten anonym. Das war der Lebensborn e. V., eine SS-Organisation, an deren Spitze der Reichsführer SS Heinrich Himmler stand. Über Lebensborn-Heime, Lebensborn-Kinder und -Mütter wurde schon viel geforscht - die Väter tauchen allenfalls am Rande auf, denn vielen ist es gelungen, geheim zu bleiben. Im Leben der Kinder spielten sie deshalb keine Rolle, in den Erzählungen vieler Mütter blieben sie ausgespart. Dorothee Schmitz-Köster geht dieser Leerstelle auf den Grund. Trotz aller Geheimhaltung können sich manche Lebensborn-Kinder an ihren Vater erinnern, und nicht alle Mütter haben geschwiegen. Dazu kommt ein umfangreicher Dokumentenbestand, in dem das Denken und Verhalten dieser Männer sichtbar wird. Vor dem Hintergrund damaliger Geschlechterrollen nimmt die Autorin die Lebensborn-Väter unter die Lupe. So verschieden die Muster-Männer und Seitenspringer, flüchtenden Erzeuger und Ersatz-Väter auch waren, eins haben sie gemeinsam: Aus heutiger Sicht sind fast alle Unbrauchbare Väter.

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Dorothee Schmitz-Köster

Unbrauchbare Väter

Über Muster-Männer, Seitenspringer und flüchtende Erzeuger im Lebensborn

WALLSTEIN VERLAG

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in

der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2022

www.wallstein-verlag.de

Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf

Umschlagbild: privat

ISBN (Print) 978-3-8353-5325-1

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4983-4

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4984-1

Inhalt

1. Annäherungen

Der Ausgangspunkt: blind auf einem Auge?

Die Fragestellung: Lebensborn-Väter – eine beinahe unbekannte Größe

2. Kontexte

»Deutsche Väter«: Vaterbilder in der NS-Gesellschaft, in der SS und im Lebensborn

3. Zahlen

4. Entwurf einer Typologie

4.1. Symbolische Väter: Himmler und seine Akteure – Vorstandsmänner, Heimleiter, Paten

4.2. Reale Väter

4.2.1. Muster-Väter? Ehemänner mit ehelichen Kindern

4.2.2. Seitenspringer: Ehemänner mit außerehelichen Kindern

4.2.3. Frank und frei: ledige Lebensborn-Väter

4.2.4. Falsche Väter

4.2.5. Ersatz-Väter

5. Lebensborn-Väter nach Kriegsende

6. »Die Herren Väter«: ein letztes Fazit

Dank

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Anmerkungen

1 | Annäherungen

Der Ausgangspunkt: blind auf einem Auge?

Jahrelang haben sie mich nicht interessiert, die Lebensborn-Väter. Anfangs ging es mir um den Alltag der SS-Organisation, und dafür war das ehemalige Heim »Friesland« ein günstiges Studienobjekt. Es lag vor meiner damaligen Haustür, war als kleines Heim überschaubar – und trotzdem ließen sich an diesem Beispiel fast alle Aspekte der Lebensborn-Arbeit untersuchen. In der Nachbarschaft lebten Menschen, die von damals erzählen konnten, und nach und nach fand ich Frauen, die das Heim von innen kannten. Sie hatten dort gearbeitet oder entbunden, konnten sich erinnern – und waren bereit, mit mir darüber zu sprechen.

Kaum hatte ich die Alltagsstudie veröffentlicht, meldeten sich Lebensborn-Kinder bei mir: Frauen und Männer, die in einem der SS-Heime geboren oder untergebracht waren und mit diesem Schicksal haderten. Oft war es der Vater, den sie nicht kannten, von dem sie nicht einmal den Namen wussten. Weil er in keiner Urkunde auftauchte, weil er von einer schweigenden Mutter geheim gehalten wurde, weil er sich nie gemeldet hatte … »Können Sie mir helfen, ihn zu finden?« Wie oft ich diesen Satz gehört oder gelesen habe! Einigen konnte ich helfen – den meisten nicht. Oder nur indirekt, indem ich anfing, über Lebensborn-Kinder zu schreiben, ihre Geschichten öffentlich zu machen und damit zur Selbstverständigung der Betroffenen beizutragen.

Die Väter blieben eine Randerscheinung – und mit dieser Ignoranz war ich in guter Gesellschaft. In der Literatur über den Lebensborn spielen sie so gut wie keine Rolle. Mit der Zeit wuchs allerdings meine Empörung über diese Männer. Einer hatte sich davongemacht, als seine Braut schwanger wurde, von Heirat war keine Rede mehr. Ein anderer unterstellte seiner Partnerin plötzlich »Mehrverkehr«. Woher solle er wissen, argumentierte er, dass er der Erzeuger sei? Ein dritter brachte seine Ehefrau in einem Lebensborn-Heim unter, danach war sein Interesse an ihr und dem Kind verschwunden. Seine Tochter hat ihn nie kennen gelernt. Nein. Mit solchen Männern wollte ich mich nicht näher beschäftigen.

Nur: Irgendwann ließen sie sich nicht mehr beiseiteschieben. Aus den Dokumenten, die ich im Laufe der Zeit zusammengetragen hatte, aus den Interviews mit ihren Kindern und deren Müttern lernte ich sie immer genauer kennen. Sollte ich sie wirklich weiter ignorieren? Sie waren schließlich essenzieller Bestandteil der Triade Vater-Mutter-Kind. Und war es nicht ihr Verhalten, das in vielen Fällen das Geschehen bestimmt und letztlich die Weichen für die Zukunft ihres Lebensborn-Kindes gestellt hatte?

Jetzt wollte ich doch genauer wissen, wer sie waren, diese Lebensborn-Väter. Egoisten, für die nur die eigene Lust zählte? Blind Verliebte, die scheinbar vergessen hatten, dass beim Sex ein Kind entstehen kann? Frustrierte Ehemänner auf Abenteuer? Karrieristen, die Vorzeigekinder brauchten, um weiter nach oben zu kommen? Untertanen, die Himmlers Zeugungspropaganda in die Tat umgesetzt hatten? Rassisten, die zur Vergrößerung der »arischen Rasse« beitragen wollten? Oder einfach ganz normale Männer?

Sie selbst zu fragen, dazu war es zu spät. Dazu war es schon zu spät, als ich meine Alltagsstudie startete. Viele Lebensborn-Väter waren damals bereits gestorben, und die Lebenden blieben in Deckung. Aber ich hatte ja die Berichte ihrer Partnerinnen und ihrer Kinder. Und eine Fülle von Dokumenten, in denen es um die Väter geht und in denen sie manchmal sogar selbst zu Wort kommen.

Dass ich aus einer Frauenperspektive schreibe, über Menschen, die in der schlimmsten Zeit des vorigen Jahrhunderts gelebt haben, macht die Sache nicht einfacher. Mit diesem Problem hatte ich allerdings schon bei der Beschäftigung mit Lebensborn-Müttern und -Angestellten zu tun. Damals stellte ich fest: Je genauer ich ihre Geschichten kannte, desto besser ›verstand‹ ich, warum sie in eines der Lebensborn-Heime gegangen waren, um dort zu entbinden, um dort zu arbeiten. Manchmal entwickelte ich sogar ein gewisses Mitgefühl, wenn mir klar wurde, wie stark der Druck von Doppelmoral und Diskriminierung auf ihnen lastete. Doch die Empathie verflüchtigte sich jedes Mal, wenn eine Frau sich auserwählt fühlte, weil sie als »Arierin« im Lebensborn entbinden durfte. Wenn sich herausstellte, wie fest sie die Augen vor dem SS-Kontext verschlossen hatte. Wenn sie voll Verachtung von »Kroppzeug« sprach und Kinder meinte, die mit einer Beeinträchtigung zur Welt gekommen waren.

Ob es mir mit den Lebensborn-Vätern ähnlich gehen würde, nur mit umgekehrtem Vorzeichen? Ob trotz Kopfschütteln, Empörung, Zorn ein gewisses Verständnis entstehen könnte? Nicht Entschuldigung, nicht Entschuldung, nur Verständnis? Ist es das, was der niederländische Schriftsteller Geert Mak meint, wenn er formuliert:

»Das Problem vieler Historiker ist, dass sie von heute aus zurückblicken und, weil sie alles besser wissen, von den Zeitgenossen verlangen, es auch schon zu wissen. Mich interessiert dagegen, wie die Zeitgenossen es damals sahen – und ich möchte ihnen Gerechtigkeit widerfahren lassen.«[1]

Ein Anspruch, der wohl kaum einzulösen ist. Aber ein Appell, der zum Innehalten auffordert … Ein uneheliches Kind konnte die Offizierslaufbahn verderben, so rigide war die Wehrmachtsmoral. Auch Männer bekamen manchmal Ärger mit ihren Eltern, wenn sie die schwangere Freundin heiraten wollten. Nur: Was ist das gegen die Existenzkrise, in die eine Lehrerin gerät, weil sie wegen eines außerehelichen Kindes ihren Job verliert? Oder gegen die Notlage einer jungen Frau, die deshalb von ihren Eltern vor die Tür gesetzt wird und nicht weiß, wohin? Schließlich sind es (immer noch) die Frauen, die mit der Schwangerschaft und später mit dem Kind zurechtkommen müssen, während der Kindesvater sich davonmachen kann. Dafür sind nicht nur die biologischen Unterschiede, sind nicht nur die Zeit und ihre Moral verantwortlich. Es ist schlicht und ergreifend das Patriarchat.

Die Fragestellung: Lebensborn-Väter – eine beinahe unbekannte Größe

Sonntagnachmittag auf einem kleinen Bahnhof. Der Zug kommt, zwei Männer steigen ein, steuern auf dasselbe Abteil zu, grinsen sich an: Sie sind sich doch heute schon einmal begegnet? Ach ja … im Heim! Damit haben sie ein Thema: Die beiden sind frischgebackene Väter und haben Mutter und Kind an diesem Tag zum ersten Mal besucht.

Wie es ihnen mit der neuen Situation geht, darüber reden sie nicht. Stattdessen fachsimpeln sie über die Ernährung der Babys, über ihre Pflege – und über das Entbindungsheim, in dem Mutter und Kind untergebracht sind. Ein tolles Heim, da sind sich die beiden einig. Und preiswert, obwohl sie beim Vergleich der Kosten Unterschiede feststellen. Fazit: Beide wollen »ihre Frauen recht lange in diesem herrlichen und billigen Heim lassen.«[2]

Vermutlich hat sich diese Szene nie so abgespielt, obwohl sie in einem Brief an den Lebensborn als Beobachtung ausgegeben wird. Das Ganze wirkt vielmehr wie ein Werbespot für werdende Väter, die ein Rundum-Sorglospaket suchen. Sprich: Einen Ort, wo Frau und Kind gut untergebracht sind und wo man ihnen fürs Erste die Verantwortung abnimmt. Kein Wunder, dass die beiden Besucher das »recht lange« nutzen wollen.

Wie auch immer die kleine Szene zu interpretieren ist: Sie spielt irgendwann Ende der 1930er, Anfang der 1940er Jahre, und mit dem »herrlichen Heim« ist das bayerische Lebensborn-Heim »Hochland« in Steinhöring gemeint. Ein Haus, auf dem unübersehbar die Fahne der SS weht. Ein Entbindungsheim, wo verheiratete und unverheiratete Frauen ihr Kind zur Welt bringen können, gut versorgt und in ländlicher Ruhe. Und dann gibt es noch ein ›Sonderangebot‹: Frauen und Männern, die das wünschen oder brauchen, garantiert der Lebensborn Anonymität. Die Schwangerschaft, die Geburt, das Kind und der Vater können geheim bleiben, komplett und lückenlos.

Für verheiratete Frauen ist dieses Angebot uninteressant. Sie gehen in die Lebensborn-Heime (insgesamt gibt es neun in Deutschland[3]), weil die medizinisch und personell gut ausgestattet sind, weil es dort ruhig ist und gut zu essen gibt, weil sie größere Kinder mitbringen können, weil der Mann »im Einsatz«, also im Krieg, ist, weil sie sich unter dem Dach der SS am richtigen Platz fühlen … Unverheiratete Frauen, die ein Baby erwarten, haben noch andere Gründe. Für sie sind die Lebensborn-Heime häufig eine Rettung in der Not. Ein uneheliches Kind ist in dieser Zeit eine Schande, die den guten Ruf, die Beziehung zum Kindesvater, das Elternhaus, den Arbeitsplatz kosten kann. Mit der Geheimhaltung, die das Lebensborn-Heim bietet, lassen sich die drohenden Katastrophen erst einmal umgehen: Die Schwangere verschwindet aus dem Blickfeld ihrer Umgebung, das Bürokratische wird intern geregelt, mit eigenen Melde- und Standesämtern, mit der Übernahme der Vormundschaft durch die SS-Organisation. Und last but not least kann das Kind allein im Heim zurückbleiben, für ein paar Monate oder mehr. Und wenn es nicht anders geht, vermittelt der Lebensborn Pflege- oder Adoptiveltern. Vorher verlangt der Lebensborn von den Frauen allerdings, die Karten auf den Tisch zu legen. Sie müssen sich über Intimitäten aushorchen lassen und den Erzeuger benennen. Sie müssen nachweisen, dass sie gesund sind, dass in ihrer Familie keine »Erbkrankheiten« vorkommen, dass ihr Stammbaum »rein arisch« ist. Und: Der Erzeuger muss ebenfalls gesund, erbgesund und »arisch« sein. Mit anderen Worten: Eine Frau, die »ostisch« oder »zigeunerhaft« wirkt oder die einen Vorfahren mit jüdischen Wurzeln hat, in deren Familie ein Mensch an Epilepsie leidet oder eine Fehlbildung aufweist, die selbst ein schwaches Herz oder ein enges Becken besitzt – eine solche Frau bekommt keinen Platz in einem Lebensborn-Heim, in welcher Notsituation sie sich auch immer befinden mag. Denn der Lebensborn ist keine karitative Organisation, auch wenn die Richter des Nürnberger Gerichtshofs nach dem Krieg zu diesem Fehlurteil kommen.[4] Es geht der SS-Organisation nicht darum, Frauen in Not zu helfen. Es geht ihr darum, dass gesunde, »arische« Frauen ihre Schwangerschaft nicht abbrechen, sondern das Kind zur Welt bringen. Es geht ihr darum, dass viele »arische« und gesunde Kinder geboren werden. Für eine neue Elite, für ein avisiertes »Tausendjähriges Reich«.

Unter diesem Vorzeichen wird der Lebensborn seit 1941 auch in den besetzten Ländern aktiv.[5] In Nord- und Westeuropa eröffnet er Entbindungsheime für einheimische Frauen, die von einem deutschen Besatzer ein Kind erwarten, und unterstützt sie materiell. In Ost- und Südosteuropa startet er – zusammen mit anderen NS-Organisationen – ein »Germanisierungsprogramm«. »Gutrassige« Kinder werden einkassiert und in Heime gesteckt. Dort beraubt man sie ihrer Sprache, ihres Namens, ihrer Identität und verfrachtet sie anschließend nach Deutschland. Wo sie als »gute Deutsche« heranwachsen sollen.

Welche Rolle spielen in diesem Szenario aus Rassen- und Gesundheitspolitik, Aufnahmebürokratie, Geburtsgeschehen und Geheimhaltung die Lebensborn-Väter? Was wissen wir über sie? Sie sind die Erzeuger. Aber warum haben sie ein Kind gezeugt? Wie reagieren sie auf die Schwangerschaft, auf die Geburt? Wie verhalten sie sich gegenüber dem Lebensborn – und wie geht der mit den Männern um, die Lebensborn-Väter werden wollen oder sollen? Immerhin wissen wir: Der Lebensborn stellt an sie dieselben Anforderungen wie an die Frauen. Auch die Männer müssen ein Gesundheitszeugnis, ein Erbgesundheitszeugnis[6] und einen »Ariernachweis« beibringen, der zwei Generationen zurückreicht. Nur so ist – laut »Rassenideologie« – garantiert, dass auch das Kind den Anforderungen entspricht. Eine SS-Mitgliedschaft wird nicht vorausgesetzt, aber wenn einer zum »schwarzen Orden« gehört, ist er als Vater umso willkommener. Schließlich ist der Lebensborn eine SS-Organisation.

Die Männer sind also durchgecheckte Erzeuger mit sogenanntem guten Blut. Und wenn das Kind auf der Welt ist? Stehen sie zu ihrer Vaterschaft und fühlen sich verantwortlich? Nehmen sie die Vaterrolle an? Kümmern sie sich, zahlen sie Unterhalt, lernen sie ihr Kind kennen? Treten sie überhaupt in Erscheinung? Auch das wissen wir: Viele Männer bleiben geheim. In diesem Fall wird der Name nicht in die Dokumente des Kindes eingetragen, obwohl die Mutter und der Lebensborn den Vater kennen. Stattdessen heißt es im Geburtenbuch, der ersten amtlichen Registrierung des Neugeborenen: »Der Kindesvater hat die Vaterschaft [hier wird eine juristische Instanz[7] genannt, DSK] anerkannt. Die Urkunde wird vom Lebensborn e. V., Amt für Vormundschaften verwahrt.« Und im Formular »Geburtsurkunde (unehelich)« existiert nicht einmal eine Rubrik für den Vater.

Diese Anonymisierung des Erzeugers ist essenzieller Bestandteil der Geheimhaltungsstrategie, die der Lebensborn Müttern und Vätern anbietet. Nicht nur die Schwangerschaft, nicht nur die Geburt und das Kind können geheim gehalten werden, sondern auch der Vater. Diese Strategie reicht weit über die Existenz des Lebensborn und das Jahr 1945 hinaus. Die Anerkennungs-Urkunden, auf die in den Geburtenbüchern verwiesen wird und die vom Lebensborn »verwahrt« werden, sind bis heute nicht aufgetaucht. Wahrscheinlich existieren sie nicht mehr. Eine Lebensborn-Mutter erinnert sich im Interview, dass am Kriegsende auf dem Gelände von Heim »Hochland« tagelang Feuer brannten, in denen Akten vernichtet wurden.[8] Dabei dürften die Vaterschaftsurkunden zu den ersten gehört haben, die in den Flammen aufgingen. Ein anderer Hinweis auf Aktenvernichtung stammt von ehemaligen Lebensborn-Angestellten. In Nachkriegsverhören erklärten sie, sie hätten dem US-Militär Papiere übergeben, die dann kistenweise im Inn gelandet seien.[9]

Abb. 1: Urkunde für eine uneheliche Geburt (aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes sind die Namen unkenntlich gemacht)

Trotz allem existieren Dokumente. Im Archiv der Arolsen Archives (früher International Tracing Service ITS) liegt umfangreiches Aktenmaterial aus dem Büro von Gregor Ebner, Vorstandsmitglied und leitender Arzt der Organisation.[10] Das Berliner Bundesarchiv (BArch) und das Institut für Zeitgeschichte in München besitzen Lebensborn-Dokumente, ebenso diverse Staatsarchive. Es gibt die Akten aus dem Nürnberger Nachfolgeprozess gegen das Rasse- und Siedlungshauptamt (RuSHA), in dem auch über den Lebensborn geurteilt wurde. Und nicht zuletzt befinden sich Dokumente in Kreisarchiven, Landratsämtern und örtlichen Standesämtern. Es existiert also eine Unmenge Papier: Protokolle und Berichte, Statistiken, Korrespondenzen und Urkunden, Ausweise, Personalpapiere, Fotos … und darin verstreut Informationen über die Erzeuger, über ihre Position und ihre Mitgliedschaften, über ihre Vorstellungen, ihre Forderungen, ihr Verhalten. Die Vorgänge sind zwar häufig unvollständig dokumentiert, trotzdem gibt das Material vielfältige Auskünfte über die Väter, die ›geheimen‹ und die nicht geheimen. Denn die gibt es schließlich auch.[11]

In diesen Dokumenten werden fast immer Probleme verhandelt: Da bezweifelt ein Mann seine Vaterschaft, ein anderer kann nicht zahlen, eine Ehefrau verlangt, ihren Mann – er bekommt mit einer anderen ein Kind und will sich trennen – zur Räson zu bringen. Wenn alles glatt läuft zwischen Mann und Frau und Lebensborn, werden keine Briefe hin- und hergeschickt, keine Vermerke und Mitteilungen angefertigt. Allerdings machen die Problemfälle den weitaus größten Teil der Lebensborn-Arbeit aus. So konstatiert ein Prüfbericht von 1938 /39, dass es nur in einem Viertel der Fälle keine Probleme bei der Finanzierung des Heimaufenthalts gibt. Mit anderen Worten: Bei 75 Prozent hakt es – in der Regel wegen der Väter.

»1. Kindesvater kann und will nicht zahlen (Böswilligkeit, Einkommen liegt innerhalb des pfändungsfreien Betrages). 2. Kindesvater und Kindesmutter haben kein Geld (minderjährig, in der Ausbildung begriffen). 3. Kindesvater erkennt Vaterschaft nicht an (lange Prozeßdauer). 4. Kindesvater nicht festzustellen (Kindesmutter machte falsche Angaben). 5. Geheimfälle (Kindesvater darf nicht in Anspruch genommen werden, Entscheidung des Vorstandes, Kindesvater zahlt nicht oder in kleinen Raten). 6. Stundung (durch Krieg oder besondere Verhältnisse).«[12]

Und so entstehen Briefe, Berichte, Protokolle, Notizen … Dokumente!

Nun gehören nicht alle Erzeuger zu den geheimen Vätern. Wenn die Eltern eines Lebensborn-Kindes verheiratet sind, erscheint der Name des Vaters selbstverständlich in den Dokumenten, und im Leben von Tochter oder Sohn dürfte dieser Mann auch eine gewisse Rolle spielen. Es gibt außereheliche Kinder, deren Väter präsent sind, die sich kümmern. Oder (ledige) Mütter, die über den Vater sprechen und damit dem Kind ein Bild dieses Mannes vermitteln. Über diese präsenten Väter geben vor allem die Interviews mit Lebensborn-Kindern und -Müttern Auskunft, die ich geführt habe.[13] Zu einem Interview mit einem Lebensborn-Vater ist es nie gekommen. Originale Väterstimmen existieren also nur in den Dokumenten, in denen sie mit dem Lebensborn ihre Probleme verhandeln oder sich mit der Kindesmutter auseinandersetzen.

Nach der ersten Sichtung des Themenfelds stellt sich die Frage: Sind die Lebensborn-Väter Ausnahmeerscheinungen? Wie weit ist ihr Denken, ihr Handeln, ihre Gefühlswelt vom Vaterbild ihrer Zeit geprägt? Welche Vorstellung von »Vaterschaft« herrscht überhaupt in den 1930er, 1940er Jahren? Spielen Männer im Geschehen um Mutter und Kind damals eine Rolle? Der millionenfach verbreitete ›Erziehungsratgeber‹ der Ärztin Johanna Haarer »Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind«[14] erwähnt die Väter mit keinem Wort. Da ist das Kind allein Frauensache.

2 | Kontexte

»Deutsche Väter«: Vaterbilder in der NS-Gesellschaft, in der SS und im Lebensborn

Das bürgerliche Zeitalter hat die Familie neu definiert: als privaten Raum neben dem öffentlichen und als Kleinfamilie, zu der in der Regel nur das Elternpaar und seine Kinder gehören. In den Jahrhunderten davor herrschte der ›pater familias‹, der Familienvater, über das ›ganze Haus‹. Dazu gehörte sein Arbeitsplatz mitsamt den Menschen, die dort beschäftigt waren, dazu gehörte der Haushalt mit Ehefrau, Kindern, Großeltern, oft auch mit Mägden oder Knechten. Im Laufe des 18. Jahrhunderts wird die Erwerbsarbeit nach außen verlagert – und damit verliert die Vaterrolle an Bedeutung. Der Vater bleibt fraglos der Erzeuger, der mit seiner Frau für Nachkommen sorgt. Er bleibt auch, gestützt auf seine Funktion als (Haupt-)Ernährer, das ›Oberhaupt‹ der Familie, mit allen rechtlichen Implikationen und Aufgaben, die sich daraus ableiten (Vertreter von Gesetz, Ordnung, Struktur)[1]. Selbst die Rolle eines Beschützers für Frau und Kind(er) wird ihm nicht streitig gemacht, tendiert allerdings ins Symbolische.

Gleichzeitig wird er durch die Trennung von Beruf und Familie zum abwesenden Vater. Er arbeitet nicht mehr im Haus oder auf dem Hof, in der Werkstatt oder auf dem Feld in der Nähe, sondern in einem Betrieb, einem Büro, einem Laden … Damit ist er die meiste Zeit des Tages, der Woche, des Jahres von Frau und Kindern getrennt, nicht greifbar, nicht sichtbar, auch nicht mit seiner Tätigkeit. Das hat für die Familie langfristige Folgen. 1963 schreibt der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich in seinem Buch über den Weg in die »vaterlose Gesellschaft«:

»Das Arbeitsbild des Vaters verschwindet, wird unbekannt. Gleichzeitig mit diesem von geschichtlichen Prozessen erzwungenen Verlust der Anschauung schlägt die Wertung um. Der hymnischen Verherrlichung des Vaters – und des Vaterlandes! – folgt in der Breite ein ›sozialisierter Vaterhass‹, die ›Verwerfung des Vaters‹, die Entfremdung und deren seelische Entsprechungen: ›Angst‹ und ›Aggressivität‹.«[2]

Danach verschwindet nicht nur die Person des Vaters aus dem Alltag der Familie, sondern auch sein Bild. Er wird zum Fremden. Und aus dieser Fremdheit wird Entfremdung und schließlich – nach Mitscherlich – »Vaterhass«. Diese Konsequenz wirkt auf den ersten Blick überzeichnet, tatsächlich drängen aber wenige Jahre nach Erscheinen von Mitscherlichs »vaterloser Gesellschaft« Gedanken und Gefühle nach außen, in denen Fremdheit, Entfremdung und Hass erkennbar sind. Die Kritik, die Anklage, die Verurteilung der Kriegsväter wird zu einem zentralen Punkt in der ’68-Bewegung. Die Männer haben zu lange verschwiegen, verleugnet, verdrängt, wie verstrickt sie in das NS-System waren. Einen fulminanten Ausdruck findet der »Vaterhass« einige Jahre später in Niklas Franks Buch »Der Vater. Eine Abrechnung.[3] Es ist eine Auseinandersetzung mit Hans Frank, der von 1939 bis Anfang 1945 an der Spitze des Generalgouvernements gestanden hatte und von seinen Opfern der »Schlächter von Polen« genannt wurde. Die »Abrechnung« seines Sohnes fällt allerdings ambivalenter aus, als der Titel suggeriert. Niklas Frank beschreibt zwar hasserfüllt und gnadenlos, wie sein Vater agierte, versucht aber gleichzeitig zu verstehen, warum dieser macht- und besitzbesessene Duckmäuser sich so verhielt, so handelte, so befahl.

Wie viele andere gesellschaftliche Entwicklungen wird der Weg in die »vaterlose Gesellschaft« durch das NS-System konterkariert. In den zwölf Jahren seiner Herrschaft sind die Väter, die Männer in einer Art und Weise präsent, dass von Verschwinden nicht die Rede sein kann. Ihr Erscheinungsbild, ihr Auftreten, ihr Agieren lässt sich im Gegenteil als Versuch einer erneuten Er-Mächtigung interpretieren. Als Versuch, den schwindenden Einfluss aufzuhalten und Macht, Raum zurückzugewinnen – von den Frauen, in der Familie, in der Welt. Dabei nutzt dieser Ermächtigungsversuch zwei gegensätzliche Strategien. Die eine forciert die tradierte Vorstellung von Männlichkeit, die andere versucht, Aspekte des weiblichen Raums zu erobern.

Strategie 1: Forcierte Männlichkeit

Der Mann der NS-Zeit ist ein Mann in Uniform. Er trägt sie nicht nur draußen, sondern auch zu Hause, zumindest die Stiefel, und legt sich damit ein martialisches, tendenziell heldenhaftes Erscheinungsbild zu, das ihm mehr Autorität verleihen soll.[4]

Abb. 2, 3, 4: Familienszenen aus einer SS-Propagandabroschüre

Die Uniform verbirgt nicht nur den Körper, sondern auch die Individualität des Mannes. Denn auch die Unterschiede zwischen den verschiedenen Uniformen weisen den jeweiligen Träger lediglich als Teil einer Gruppe, eines Ganzen aus. Selbst die Köpfe, die aus der Uniform herausschauen, sind uniform, durch den Haarschnitt, die Mütze, den Helm … Die Reduktion der individuellen Erscheinung wird durch die nächste Stufe der Er-Mächtigung belohnt: die Vervielfachung. Der uniformierte Mann gehört im Grunde nicht nach Hause, nicht in die Familie, sondern in die Kolonne der Gleichen, mit denen er im Gleich-Schritt unterwegs ist. Wie stark mögen sich diese Männer gefühlt haben! Herren der Straße, Herren über Leben und Tod – und, weil uniform, verwechselbar, nicht greifbar, nicht verantwortlich zu machen.

Im scheinbaren Gegensatz dazu zeigt die NS-Kunst auch nackte Männlichkeit. Skulpturen von Arno Breker etwa stellen junge, trainierte Heroen dar, die ihren Körper in seiner ganzen Kraft und in seiner Geschlechtlichkeit zeigen. Aber auch diese (immer jungen) Männer präsentieren keine Individuen, sondern einen Typus. Sie sind Krieger, Kämpfer, Helden, die mit Vaterschaft nichts zu tun haben.

Abb. 5: Plakat des Winterhilfswerks: Der schützende Familienvater – schon größenmäßig weit über Frau und Kinder erhaben.

Und was ist mit Vaterfiguren, die in Zivil auf Gemälden und Propaganda-Plakaten auftauchen? Das abgebildete Plakat des Winterhilfswerks zeigt einen Vater in der Rolle des Beschützers. Der blonde Mann im offenen weißen Hemd wirkt auch ohne Uniform stark und entschlossen. Er überragt seine Familie, schirmt sie mit seinem Rücken und seinen Armen nach außen ab, reckt das Kinn vor und richtet den Blick entschlossen auf die Betrachter. Die beiden Söhne (der ältere stellvertretend für den Vater in Uniform) eifern ihm darin bereits nach, auch sie schauen dem Betrachter, der Betrachterin ›mannhaft‹ in die Augen.

Eine andere Form forcierter Männlichkeit äußert sich in der Zahl der Nachkommen, die ein Mann zustande bringt. Mit anderen Worten: im Beweis seiner Potenz. Dabei hat die Zeugung primär in der Ehe stattzufinden. Sie ist auch für die Nationalsozialisten die bevölkerungspolitische Institution, die der »Erhaltung der deutschen Volksgemeinschaft« dient. »Wir wissen so gut wie jeder andere, daß die Ehe, allerdings nur die kinderreiche, das Fundament des Staates ist«, beteuert zum Beispiel Gregor Ebner, der oberste Arzt des Lebensborn.[5] Der Mann und Vater der 1930er, 1940er Jahre hat also verheiratet zu sein. Das bringt zwei Vorteile mit sich: In der Ehe ist er körperlich und psychisch, sozial und sexuell versorgt – und gleichzeitig kann er in seinem Reproduktionsverhalten besser kontrolliert werden. Zu diesem Zweck entwickelt der NS-Staat schon in den ersten Jahren entsprechende Instrumente. Mit einem »Eheeignungszeugnis« und einem »Ehestandsdarlehen«, mit dem Ausbau von Gesundheitsberatung und Gesundheitskontrollen versucht er, Einfluss auf »Gattenwahl« und Kinderzahl zu nehmen. Gleichzeitig nutzt er diese Instrumente zur »Auslese«. Menschen, die nicht in sein »Rassenschema« passen, Kranke und Beeinträchtigte bekommen kein Darlehen, manche dürfen nicht heiraten. Und im schlimmsten Fall werden sie sterilisiert – oder getötet. Ziel dieser Familien- und Gesundheitspolitik ist das »kontrollierte Paar«,[6] das allerdings in zwölf Jahren Nationalsozialismus nur ansatzweise Wirklichkeit wird.

Die SS, die sich selbst als »rassische« Elite begreift, schreibt sich dieses »kontrollierte Paar« schon vor Hitlers Machtübernahme auf die Fahnen. 1931 erlässt Heinrich Himmler, »Reichsführer SS«, einen »Verlobungs- und Heiratsbefehl«, der ab 1934 /35 auch praktiziert wird.[7] Seitdem brauchen SS-Angehörige, die eine Ehe schließen wollen, das Einverständnis des Rasse- und Siedlungshauptamtes SS (RuSHA). Dafür muss sich das Paar von einem (SS-)Arzt umfassend untersuchen lassen, auch auf seine Zeugungsqualitäten. Außerdem benötigen die beiden ein »Erbgesundheitszeugnis«, das Krankheiten der Vorfahren bis zu den Großeltern dokumentiert, und eine Ahnentafel, die Eltern und Großeltern als »Arier« ausweist. Die Braut muss sich zusätzlich ihre mütterlichen Fähigkeiten attestieren lassen – ob der Bräutigam als Vater geeignet ist, interessiert dagegen nicht. Erst wenn alle Voraussetzungen erfüllt sind, darf geheiratet und gezeugt werden, Letzteres so oft wie möglich. Dafür liefert die NS-Elite mit Joseph Goebbels (sechs Kinder mit Ehefrau Magda) und Martin Bormann (zehn Kinder mit Ehefrau Gerda) entsprechende Vorbilder.

Offenbar ist den Bevölkerungsplanern im Rasse- und Siedlungshauptamt SS klar, dass solche Vorbilder nicht mit der Lebensrealität durchschnittlicher SS-Ehepaare zusammenpassen. Also denkt etwa ein »Dr. Tri« 1943 im Auftrag des Amtes über andere Möglichkeiten nach:

»Ein Mann ist in der Lage, mit einer Frau im Durchschnitt höchstens 2 bis 3 Kinder zu bekommen, während er mit mehreren Frauen eine ganze Reihe von Kindern zeugen kann. Damit soll gesagt sein, daß also die Anzahl der Kinder, die eine Frau bekommt, immer beschränkt bleibt, während der Mann eine unbeschränkte Anzahl von Kindern zeugen kann.«[8]

Die SS-Wochenzeitung »Das schwarze Korps« stützt diese Feststellung mit dem Rückgriff auf das (angeblich) unterschiedliche Triebleben der beiden Geschlechter. Der Trieb, »den die Natur dem Mann mitgegeben hat«, sei der »Zeugungstrieb, also der Trieb zur schöpferischen Hervorbringung von Lebewesen«, während der weibliche »Trieb« »nicht zeugen, sondern empfangen und im eigenen Schoß zur Reife bringen (will).«[9] Dafür brauche eine Frau Zeit und Kraft, was ihre quantitative Reproduktionsfähigkeit beschränke. Die männliche dagegen sei unbegrenzt (abgesehen von Impotenz oder Alter) und solle deshalb gelebt werden dürfen. Schließlich sind viele Kinder erwünscht. Mit solchen Denkfiguren erhalten Männer einen Freifahrtschein für die Kinderproduktion und die Legitimation für ein frei flottierendes Sexualleben. Frauen werden dagegen zur Treue verpflichtet – im Grunde eine überflüssige Forderung, da ihnen nach dieser Logik kein Sexualtrieb, sondern lediglich ein ›Muttertrieb‹ zugestanden wird.

Es gibt allerdings auch Grenzen für das ungezügelte männliche Sexualleben. Bei aller Zeugungslust habe der Mann auf die »Rasse« und auf das Alter der Partnerin zu achten, genauer: auf ihre Jugend. Das fordert Heinrich Himmler 1942 in einem Appell an »alle Männer der SS und Polizei«:

»Es ist eines anständigen Mannes unwürdig, ein junges unmündiges Mädel zu verführen, im leichtsinnigen Spiel ins Unglück zu stürzen und damit meistens unserem Volke eine künftige Ehefrau und Mutter zu nehmen.«[10]

»Anstand« und »Würde« sind zwei Begriffe, die Himmler in anderen Kontexten geradezu pervertiert.[11] Hier werden sie nicht herbeizitiert, um junge Mädchen als Personen zu schützen, sondern um das Reproduktionsgeschehen nicht zu schädigen.

Im Grunde unterscheiden sich die SS-Thesen zu Männertrieb und Frauenrolle kaum von den traditionellen christlichen und bürgerlichen Wertvorstellungen. Mit dem alttestamentarischen »Seid fruchtbar und mehret Euch« betreibt schon die Bibel Fortpflanzungspropaganda.[12] Im katholischen Moralgebäude hat Sex in der Ehe wenig mit Lust und viel mit Kinderzeugung zu tun. Und die bürgerliche Doppelmoral gesteht Männern augenzwinkernd ein Sexualleben außerhalb der Ehe zu, vorausgesetzt, es bleibt diskret und ohne Folgen. Der Unterschied zur NS-Ideologie: Die Folgen – sprich Kinder – sind im nationalsozialistischen Staat erwünscht. Und das wird nicht hinter vorgehaltener Hand kommuniziert, sondern offen ausgesprochen und biologistisch legitimiert.

Diese ›neue Moral‹ findet allerdings in der NS-Gesellschaft wenig Anklang. Folglich ändert sich wenig bis nichts. Kinder außerhalb der Ehe gelten nach wie vor als Schande – für die Frauen, so wie es die alte Doppelmoral seit jeher verkündet. Und auch die Zeugungspropaganda trägt nicht die Früchte, die sich die selbsternannten »Rassenspezialisten« erhoffen. »Als Mindestkinderzahl einer guten und gesunden Ehe« seien – so Heinrich Himmler – vier Kinder »erforderlich«.[13] Für dieses Ziel wird mit Steuererleichterungen, verbilligten Haushaltshilfen, Ehestandsdarlehen,[14] subventioniertem Eigenheimbau geworben. Hinzu kommen symbolische Gesten wie das Mutterkreuz. Ein Vaterkreuz gibt es nicht. Für SS-Angehörige wird diese Kinderzahl sogar zur Pflicht erhoben, aber die Realität hinkt den avisierten Zielen weit hinterher. 1936 sind von knapp 50.000 SS-Ehen rund 6000 kinderlos. Bei den übrigen liegt die durchschnittliche Kinderzahl bei 1,5.[15] Zwei Jahre später haben SS-Ehepaare im Schnitt sogar nur noch 1,1 Kinder,[16] obwohl in diesen beiden Jahren viel geheiratet wird. Auch später bekommen solche Paare durchschnittlich nicht mehr als zwei Kinder. Selbst 150-prozentige Nationalsozialisten lassen sich also in ihrem Reproduktionsverhalten kaum beeinflussen.

Ob Himmler wirklich glaubt, dass Befehle daran etwas ändern können? Auf alle Fälle lässt er nichts unversucht. Am 28. Oktober 1939 gibt er den ersten sogenannten Zeugungsbefehl heraus, der sich an die »gesamte SS und Polizei« richtet. Darin argumentiert er mit dem gerade begonnenen Krieg, der wie jeder Krieg »zum Aderlass des Volkes« führe. Also müsse für Nachschub gesorgt werden, in Form von Kindern. Der SS-Trieblehre folgend, muss Himmler das seinen Männern nicht erst schmackhaft machen. Und tatsächlich wendet er sich an die Frauen:

»Über die Grenzen sonst notwendiger bürgerlicher Gesetze und Gewohnheiten hinaus wird es auch außerhalb der Ehe für deutsche Frauen und Mädel guten Blutes eine hohe Aufgabe sein können, nicht aus Leichtsinn, sondern in tiefstem sittliche[n] Ernst Mütter der Kinder ins Feld ziehender Soldaten zu werden.«[17]

In »Ausführungsbestimmungen«, die acht Monate später veröffentlicht werden, verweist Himmler dann auf den Lebensborn.

»Die Durchführung meines Befehls […] erfordert die Erfüllung von dreierlei Pflichten. […] Die zweite Pflicht ist die Sorge für alle während des Krieges von SS-Männern erzeugten Kinder guten Blutes. Für diese sowie für die werdenden Mütter übernimmt die Schutzstaffel die Sorge in allen Fällen, in denen Not und Bedrängnis vorhanden sind. […] Verantwortlich für die Erfüllung dieser Pflicht ist der Lebensborn e. V., München.«[18]