Und dann kam Reinhild - Monika Prechel - E-Book

Und dann kam Reinhild E-Book

Monika Prechel

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Beschreibung

Was macht man, wenn es in der Beziehung plötzlich drunter und drüber geht? Was macht man, wenn bisher alles ganz wundervoll war, aber jetzt scheint alles ganz anders? Was macht man, wenn der Partner nicht mehr der zu sein scheint, der er vorher war? Tabea, Rosi und Larissa werden auf unterschiedliche Art und Weise mit dem Thema Eifersucht konfrontiert. Als eine Fremde namens Reinhild in ihr Leben tritt, nehmen die Dinge einen dramatischen Verlauf. Während Larissa vollkommen zusammenbricht, entdeckt Rosi neue Stärken in sich. Tabea hingegen muss ihre gesamte Lebenseinstellung überdenken. Am Ende ist keine von ihnen mehr dieselbe, die sie vorher war.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhaltsverzeichnis

1

Und dann kam Reinhild

Monika Prechel

Copyright © 2021 Monika Prechel Alle Rechte vorbehalten.

Impressum: Monika Prechel Kleine Burgstraße 35 23552 Lübeck

Angaben gemäß § 5 TMG: Kontakt: E-Mail: mail [at] monika-prechel.de ISBN: 9798731629553

Cover:

Freie Bilddatenbank: https://pixabay.com/de/

Bild von Gerd Altmann Bearbeitet von: https://cornelia-hansen.de

1

»Ich verstehe nicht, wie du das erträgst. Da kannst du sagen, was du willst, ich verstehe es einfach nicht!«

Rosi klang empört. Tabea dagegen blieb ruhig.

»Was du tatsächlich nicht verstehst, ist, dass es gar nichts zu ertragen gibt.«

»Es gibt nichts zu ertragen, wenn du abends mit dem Essen auf Alexander wartest und er - ohne dir Bescheid zu geben - erst am nächsten Morgen zu Hause eintrifft?«

»Das ist einmal vorgekommen. Ansonsten ist er noch nie ganz ohne Nachricht weggeblieben.« Tabea wirkte leicht verärgert. Als sie fortfuhr, klang ihre Stimme allerdings nicht mehr ganz so sicher. »Es handelte sich gewissermaßen um einen Notfall. Es war wohl irgendwie eine wundervolle Situation, die er nicht kaputtmachen wollte, indem er mich mittendrin anruft.«

»Er wollte eine wundervolle Situation mit seiner Geliebten nicht unterbrechen, während du zu Hause brav sein Essen kochst? Weißt du eigentlich, was du da sagst?«

In Rosis Stimme schwang ihre ganze Fassungslosigkeit mit. Als Tabea nicht gleich antwortete, fuhr sie sich mit einem Ausdruck der Resignation durch die kurzen, rötlich-braunen Haare, so dass sie strubbelig von ihrem Kopf abstanden. An sich waren sie und Tabea in den meisten Lebensbereichen sehr ähnlich eingestellt. Doch dieser eine Punkt war Rosi ein ständiger Dorn im Auge. Für die sogenannte offene Ehe ihrer Freundin konnte sie absolut kein Verständnis aufbringen. Sie wollte es auch gar nicht, denn das wäre ihr so vorgekommen, als würde sie ihre eigene Beziehung in Frage stellen. Sie erlaubte sich einen Moment lang, mit einem warmen Gefühl im Inneren an ihren Lebensgefährten Jonah zu denken. Er würde ihr etwas Derartiges niemals zumuten! Doch Tabeas Stimme riss sie gleich wieder aus ihren wohligen Gefühlen.

»Natürlich weiß ich, was ich da sage. Im übrigen klingt das jetzt so, als wenn ich allabendlich mit warmem Essen auf ihn warte. Das stimmt aber gar nicht, wie du wohl weißt. Meist essen wir abends sowieso nicht warm. Manchmal kocht auch Alexander. Und im Übrigen gilt« Hier legte sie, offenbar, um die Wichtigkeit des Folgenden zu unterstreichen, eine kleine Kunstpause ein, ehe sie fortfuhr: »Gleiches Recht für beide! Das nächste Mal, wenn ich eine Verabredung habe, muss er eben mit dem Essen auf mich warten.«

»Das klingt nach Rache. Wenn das alles mit rechten Dingen zuginge, hättest du nicht den Wunsch, dich an ihm zu rächen«, erwiderte Rosi gelassen.

»Das war doch nur ein Beispiel«, murmelte Tabea mehr zu sich selbst. Etwas lauter fuhr sie fort: »Ich habe nicht wirklich gemeint, dass ich das jetzt unbedingt bei nächster Gelegenheit ganz genauso machen will. Ich wollte damit nur sagen, dass ich eben auch meine Freiheit genießen kann.«

»Wann hast du sie das letzte Mal genossen?«

Rosi konnte wirklich unbarmherzig sein. Erstmals in diesem Gespräch merkte man Tabea nun doch ein gewisses Unbehagen an. Ihr Blick irrte einen Moment unstet durch den Raum, ehe sie antwortete:

»Das heißt doch nicht, dass wir immer zur selben Zeit Affären haben müssen. Wir können, aber wir müssen nicht.«

»Wann hattest du das letzte Mal eine?«, beharrte Rosi.

Schweigen breitete sich am Tisch aus. Dann sagte Tabea verhalten: »Vor ungefähr einem Jahr.«

Rosi blicke ihre Freundin nachdenklich an. Tabea war so verdammt attraktiv! Rosi konnte sich häufig einer kleinen neidischen Regung nicht ganz erwehren. Sie empfand sich selbst als zu klein und irgendwie stämmig. Zu allem Überfluss waren da auch noch ihre struppigen rötlich-braunen Haare. Tabea hingegen war großgewachsen und schlank. Und sie hatte wunderschöne, fast schwarze Haare, die ihr glatt und schimmernd über die Schultern fielen. Eigentlich sollte man annehmen, dass sie zu den Frauen gehörte, die, wie man so sagte, an jedem Finger zehn haben konnten. Rosi war sich aber sicher, dass sich im Hinblick auf Männer in Tabeas Leben seit langem nichts mehr getan hatte. Mit ruhiger Stimme antwortete sie daher:

»Eher zwei Jahre, würde ich sagen.«

»Kann sein. Aber darum geht es doch nicht. Es geht darum, dass wir uns unsere Freiheit lassen.«

»Was nützt dir die Freiheit, wenn du sie nicht ausnutzt?«

»Aber das tue ich doch! Ich weiß, dass ich jederzeit ohne schlechtes Gewissen meinen Spaß haben kann. Wenn ich in der letzten Zeit niemanden kennengelernt habe, dann ist das eben so. Mal passiert es, mal nicht. Mal hat der eine Glück, mal der andere. Worauf es ankommt, ist, dass wir nicht eifersüchtig aufeinander sind. Ich selbst zum Beispiel, ich gönne Alexander seine Affären. Der springende Punkt ist doch der: Er liebt mich. Und zwar nur mich! Daran ändern alle kleinen Spielchen mit irgendwelchen Girlies nichts.«

»Das kommt hinzu.«

»Was kommt hinzu?«

»Seine Gespielinnen scheinen, nach allem, was ich so mitbekommen habe, immer verdammt jung zu sein.«

»Ich nehme mir nächstes Mal auch einen knackjungen Lover.« In Tabeas Stimme schwang jetzt ein Anflug von Trotz mit. Doch dann wiegelte sie ab: »Schon gut, sag nicht, dass das wieder nach Rache klingt. War nur ’n Scherz.«

»Es ist einfach so, dass ich mir nicht vorstellen kann, wie eine Beziehung funktionieren soll, die nicht auf Treue und Vertrauen basiert.«

»Genau das ist der Trugschluss! Wieso wird Vertrauen immer mit sexueller Treue gleichgesetzt? Das ist so was von spießig!«

Erschrocken hielt Tabea inne. Doch Rosi hatte entweder nicht bemerkt, dass sie soeben im Grunde genommen als spießig bezeichnet worden war, oder sie hatte beschlossen, großmütig darüber hinwegzusehen. Sie fragte lediglich neugierig zurück:

»Worauf bezieht dein Vertrauen zu Alexander sich denn dann?«

»Ich weiß, dass er mich nie anlügt.«

»Aha«, erwiderte Rosi lakonisch.

»Und außerdem«, fuhr Tabea, ohne Rosis Einwurf zu beachten, jetzt mit einem gewissen Eifer fort, »geht es bei dem Thema Vertrauen ja eigentlich um ganz andere Dinge. Vertrauen bedeutet doch, dass man von der Redlichkeit, der Wahrhaftigkeit einer Person überzeugt ist.«

Rosi sah ihre Freundin schweigend an. Nein, ihr zu sagen, dass sie Alexander nicht für besonders redlich hielt, brachte sie denn doch nicht fertig. Unter ihrem wortlosen Blick schien es Tabea allerdings trotzdem unbehaglich zu werden. Rosi beschloss, der sinnlosen Diskussion ein Ende zu bereiten. Sie hatten schon so oft um diesen Punkt gestritten, und die Argumente blieben immer dieselben. So langsam kam ihr die Lust abhanden, ihren Standpunkt zu verteidigen. So fügte sie jetzt nur noch in müdem Ton an:

»Gut, Tabea. Die Hauptsache ist letztlich, dass du glücklich damit bist. Wenn es das ist, was du willst, dann soll es so sein.«

Ihre Freundin warf ihr einen leicht verunsicherten Blick zu, so als wüsste sie nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Dann fragte sie unvermittelt:

»Und wie läuft’s mit Jonah?«

Der plötzliche Themenwechsel schien Rosi nur einen kleinen Moment lang aus dem Konzept zu bringen. Dann versicherte sie - so wie sie es eigentlich immer tat, wenn von ihrem Lebenspartner die Rede war - dass es ganz wunderbar liefe. Sie wollte gerade anfangen, einige Erlebnisse aus der jüngsten Vergangenheit zu berichten, als sie gewahr wurde, dass Tabeas Blick irgendwie leer wurde. Rosi konnte es ihr nicht verübeln. Wer wollte schon Lobeshymnen über einen tollen Mann hören, wenn der eigene gerade niedergemacht worden war? Doch Jonah war nun einmal einfach wunderbar, daran gab es nichts zu rütteln.

»Hallo Schatz, ich bin wieder da!«

Keine Reaktion. Rosi runzelte die Brauen. Hatte er sie nicht gehört?

»JONAH!«

»Ja?«

Klang das leicht gereizt? Nein, dafür gab es doch gar keinen Grund. Die Stimme war aus seinem Arbeitszimmer gekommen. Rosi ging auf die Tür zu. Warum schloss er, wenn er ganz allein in der Wohnung war, die Tür hinter sich? Warum schloss er überhaupt seine Zimmertür? Rosi trat ein.

Er hatte seinen Schreibtisch so aufgestellt, dass er die Tür im Blick hatte. Rosi konnte von seinem Monitor nur die Rückseite sehen. Sie umrundete den Schreibtisch und legte ihm von hinten die Hände auf die Schultern, während sie ihren Blick auf den Bildschirm richtete. Der Internet-Explorer war geöffnet, zeigte aber lediglich die Startseite mit der Google-Suchmaske. Er hatte doch wohl nicht dagesessen und die leere Seite angestarrt? Er konnte den Browser natürlich ganz zufällig genau in diesem Moment geöffnet haben. Wie wahrscheinlich war das? Rosi spürte eine leichte Irritation.

»Na, hattet ihr eine nette Kaffeestunde?« Seine Stimme klang neutral.

»Ja, es war sehr nett. Und was machst du gerade?«

»Ach, so dies und das.«

Das war eigentlich keine richtige Antwort. Sie kniff die Augen zusammen, um erkennen zu können, welche Reiter in dem geöffneten Browser eventuell im Hintergrund lagen. Inzwischen war ihr aufgefallen, dass der hochstehende Reiter der Startseite ganz rechts angeordnet war. Das passierte nur, wenn man eine neue leere Seite neben bereits geöffneten Seiten aufrief. Und stand da auf einem der Reiter nicht so etwas wie »Your-Porn«? Rosi seufzte kaum hörbar. Dass ihr Schatz eine gewisse Vorliebe für Pornografie hatte, war ihr nicht unbekannt. Es war ihr zutiefst zuwider. Doch sie versuchte tapfer, sich damit zu arrangieren. Schließlich war er ansonsten der tollste Mann, den man sich vorstellen konnte. In diesem Moment klickte Jonah das ganze Browserfenster weg. Mit den Worten: »Was hältst du davon, wenn wir heute Abend essen gehen?«, wandte er sich ihr lächelnd zu.

Tabea betrat das Haus. Es war still und leer. Natürlich war es leer. Sie hatte ja gewusst, dass Alexander nicht zu Hause sein würde. Aber irgendwie schien die Leere heute Abend etwas zu sein, das das ganze Haus ausfüllte. Gewissermaßen fühlbar ausfüllte. Was offensichtlich ein Wiederspruch war, wie konnte Leere etwas füllen? Es musste an dem Gespräch mit Rosi liegen. Oder was war sonst heute mit ihr los? Verwirrt erinnerte Tabea sich in diesem Moment an den Impuls, der über sie gekommen war, während ihre Freundin zum Aufbruch gedrängt hatte. Beinahe hätte sie vorgeschlagen, das Treffen auch noch auf den Abend auszudehnen. Gott sei Dank hatte sie sich in letzter Sekunde gebremst. Im besten Fall wäre das ein Abend geworden, bei dem sie als fünftes Rad am Wagen neben Jonah und Rosi herlief. Schlimmstenfalls hätte Rosi womöglich peinlich berührt mit sich gerungen, wie sie ihrer Freundin beibringen konnte, dass sie den Abend lieber allein mit ihrem Herzallerliebsten verbringen wollte. Es war lächerlich, doch in diesem Moment beneidete Tabea ihre Freundin. Rosi hatte sich eben bestimmt darauf gefreut, zu ihrem Jonah nach Hause zu kommen. Sie war ja schier vernarrt in ihn. Tabea hatte sich nicht darauf gefreut, ihr einsames Haus zu betreten. Was war heute bloß mit ihr los? Sie begriff es selbst nicht. Sie stand durchaus hinter dem Leben, das sie führte. Sie hatte es sich schließlich selbst ausgesucht. Na ja, der Vorschlag, eine offene Ehe zu führen, war zwar nicht von ihr gekommen. Aber sie hatte sich einverstanden erklärt. Sie und Alexander hatten lange, vertrauensvolle Gespräche um dieses Thema geführt. Tabea war immer stolz darauf gewesen, dass sie einen Mann hatte, mit dem sie über alles sprechen konnte. Doch heute Abend wünschte sie sich einfach nur, dieser Mann wäre hier. Hier, bei ihr.

Sie ging in die Küche und suchte im Kühlschrank nach der geöffneten Flasche Wein, die dort ihrer Erinnerung nach noch stehen musste. Dann blieb sie mit der Flasche in der Hand unbeweglich vor der Kühlschranktür stehen. Mit gerunzelten Brauen erinnerte sie sich daran, wie sie ihre Abende verbracht hatte, bevor sie Alexander kennengelernt hatte. Auch da war sie allein gewesen. Und es hatte ihr gar nichts ausgemacht! Worin lag der Unterschied? In diesem Augenblick klingelte das Telefon.

»Larcher.«

»Hallo Tabea.«

»Rosi! Äh … Haben wir uns nicht eben gerade gesehen?«

»Ja und? Deshalb können wir uns doch trotzdem heute noch einmal treffen, oder?«

»Du willst mich heute Abend treffen?«

Wie ein Schauer durchrieselte die Erleichterung Tabeas Körper. Sie hatte wirklich keine Lust gehabt, den Abend allein zu Hause zu verbringen!

»Ja, also, ich meinte natürlich zusammen mit Jonah«, tönte die Stimme ihrer Freundin aus dem Hörer. »Genau genommen kam der Vorschlag sogar von ihm. Wir wollen nämlich essen gehen und dich fragen, ob du mitkommen möchtest.«

Dann eben mit Jonah. Ganz egal. Wenn sie eben noch Bedenken gehabt hatte bei der Vorstellung, als fünftes Rad am Wagen mitgezogen zu werden, so war sie jetzt einfach nur froh, heute Abend nicht allein zu bleiben.

Larissa starrte mit gerunzelten Brauen die unmittelbar vor ihr befindliche Profilwand an. Sie hatte sie in sorgfältiger Feinarbeit mit der Kelle abgezogen ("geputzt", wie es im Grabungs-Fachjargon hieß) und konnte nun darangehen, den über- und untereinander verlaufenden Schichtfolgen ihre Geheimnisse zu entreißen. An sich war das der Teil ihrer alltäglichen Aufgaben als archäologische Grabungsleiterin, der ihr am meisten Spaß machte. Aber heute konnte sie sich nicht recht konzentrieren. Es war der erste Arbeitstag nach ihrem Umzug. Sie und Dennis hatten den Schritt gewagt und waren in eine gemeinsame Wohnung gezogen. Dadurch, dass sie am Freitag ihren freien Umzugstag genommen hatte, hatten sie jetzt also schon drei Tage lang Zeit gehabt, das gemeinsame Wohnen zu erproben. Aber das war in gewisser Weise noch ein Ausnahmezustand gewesen, da sie natürlich mit Arbeit eingedeckt gewesen waren. Die Sachen waren immer noch nicht alle eingeräumt. Doch so langsam normalisierte sich die Situation. Und nun ging sie wieder zur Arbeit und würde heute zum Feierabend erstmals in den gemeinsamen Haushalt nach Hause kommen. Der Alltag begann.

Kennengelernt hatten sie sich, als Dennis mit seiner Schulklasse ihre Ausgrabung, die sie damals als verantwortliche Archäologin leitete, besucht hatte. Das gehörte zum Grabungs-Alltag dazu. Schulklassen kamen immer mal, nach vorheriger Anmeldung, zu Führungen vorbei. Bei Dennis’ Klasse handelte es sich um die Sorte Kinder, die sie am wenigsten gern auf der Grabung zu Gast hatte: pubertierende Teenager. Die waren häufig schwer zu bändigen; und sie hatte immer ein wenig Angst um ihre sauber geputzten Profile und Flächen, wenn einige besonders rebellische Jugendliche sich nicht an die mehrfach wiederholten Ermahnungen, auf den vorgezeichneten Wegen zu bleiben, hielten. Doch diesmal gab es keine Probleme. Sie musste tatsächlich nur ein einziges Mal zu Beginn darauf hinweisen, dass man nicht einfach quer über die Flächen trampeln durfte. Ansonsten achtete Dennis auf seine Schüler, und sie folgten ihm. Sie schienen ihn zu respektieren. Larissa war richtiggehend beeindruckt gewesen.

Wiedergesehen hatte sie ihn Wochen später, als sie während der Mittagspause einen Kaffee trinken gegangen war. Im ersten Moment hatte sie sich nicht darauf besinnen können, woher sie den großgewachsenen, dunkelhaarigen Mann kannte, der das Café betrat. Als er sie zuerst überrascht, dann mit einem freudigen Lächeln angesehen hatte, war es ihr wieder eingefallen. Und dieses sichtlich erfreute Lächeln war es dann auch gewesen, das sie dazu ermutigt hatte, ihn an ihren Tisch einzuladen. Dennis Harper sah entschieden gut aus. Muskulös, mit einem etwas kantigen aber klassisch geformten Gesicht. Sie selbst war sicher nicht völlig unattraktiv. Aber Larissa machte sich nichts vor, sie war ein eher unscheinbarer Typ. Ihre brünetten Haare hörten – weder kurz noch lang – immer ungefähr irgendwo in Kinnhöhe auf. Sie musste sie nach jedem Haarewaschen mühselig über der Rundbürste föhnen. Ihr Gesicht war unspektakulär. Immerhin hatte sie wenigstens schöne grüne Augen. Aber das riss es irgendwie nicht heraus, zumal auch Dennis Harper sehr schöne (grau-braune) Augen hatte. Zu allem Überfluss war er offensichtlich jünger als sie. Sie hoffte zwar immer, dass man ihr die 38 nicht ansah. Doch er war allerhöchstens Anfang 30, wenn nicht noch jünger.

Letztlich war dann an jenem Tag der Umstand, dass, wie sie sich mit einem schnellen Blick vergewisserte, alle anderen Tische besetzt waren, dafür ausschlaggebend gewesen, dass sie sich traute, eine einladende Geste zu dem freien Stuhl an ihrem Tisch hin zu machen. Dennis' Lächeln war womöglich noch erfreuter geworden, als er eilig auf den angebotenen Platz zustrebte. Sie sollte kurz darauf erfahren, dass er tatsächlich genau 30 Jahre alt war. Und wie sich in der folgenden Zeit herausstellte, war er offensichtlich durchaus nicht der Meinung, dass sie zu unscheinbar oder zu alt für ihn sei.

Das war jetzt ein Jahr her. Und nun wohnten sie also zusammen. Larissa fand den Gedanken daran immer noch aufregend. Es war nicht so, dass diese Erfahrung völlig neu für sie war. Tatsächlich war sie sogar schon einmal verheiratet gewesen. Mit dreiundzwanzig, also mitten im Studium, hatte sie sich auf einem Grabungspraktikum in den zuständigen Grabungstechniker verliebt und ihn kurz darauf geheiratet. Sigurd war wesentlich älter als sie und ihr gegenüber anfangs sehr dominant und beherrschend aufgetreten. Auch zu der überstürzten Heirat, die sie im Nachhinein ihre eigene Person betreffend als einen Akt geistiger Umnachtung betrachtete, hatte er gedrängt. In dem Maße, in dem ihre Gefühle dann abflauten, war er immer unterwürfiger und klammernder geworden. Die Ehe war in einem Fiasko geendet. Es schauderte Larissa immer noch, wenn sie sich daran erinnerte, wie er sie, bar jeden Stolzes, angefleht hatte, bei ihm zu bleiben. So würde Dennis sich niemals benehmen. Das war vollkommen klar. Bei diesem Gedanken holte Larissa sich energisch in die Gegenwart zurück. Schließlich hatte sie hier einen Job zu erledigen.

Als Larissa nach Hause kam, war Dennis schon da. Er, als Lehrer, würde wohl meistens vor ihr da sein. Befriedigt stellte sie fest, dass er das Frühstücksgeschirr in die Spülmaschine geräumt und noch einiges von dem immer noch verbliebenen Umzugsdurcheinander beseitigt hatte. Jetzt war er allerdings offensichtlich in seinem Arbeitszimmer am Telefonieren. Sie war ein bisschen enttäuscht, weil sie sich auf dem ganzen Heimweg ausgemalt hatte, wie sie ihm bei ihrem ersten Heimkommen nach der Arbeit mit einem Jubelschrei um den Hals fallen würde. Das ging nun natürlich nicht. Womöglich führte er ein Dienstgespräch, dann wollte sie selbstverständlich nicht stören. Larissa bewegte sich leise auf die nur angelehnte Tür seines Zimmers zu. Jetzt konnte sie einzelne Worte verstehen, allerdings keine zusammenhängenden Sätze. Er sprach sehr leise. Dann, gerade als sie direkt vor der Tür stand, trat eine lange Pause ein. Danach wurde wieder etwas gemurmelt, und damit war das Gespräch offenbar beendet. Sie konnte jetzt deutlich hören, wie Dennis zum Abschied sagte:

»Hab einen schönen Abend!«

Es hatte sanft, geradezu zärtlich geklungen. Sie stand wie vom Donner gerührt vor seiner Tür. So sprach man doch nicht mit einer Kollegin! (Mit einem Mann schon einmal gar nicht. Sein Tonfall und die ganze Art des Gespräches, suggerierte irgendwie zweifelsfrei, dass es sich bei seinem Gesprächspartner um eine Frau handelte.) Larissa spürte plötzlich etwas, das sich anfühlte, als griffe eine kalte Hand nach ihrem Herzen.

»Hallo Schatz, bist du da?«

Offensichtlich hatte er mitbekommen, dass sie eingetroffen war.

»Ja, ich bin hier.«

Mit diesen Worten öffnete sie die Tür und trat in sein Zimmer. Dennis sprang sogleich auf und nahm sie schwungvoll in die Arme.

»Da ist ja meine Kleine!«

Sogleich fühlte sie sich etwas besänftigt.

»Mit wem hast du denn telefoniert?«

»Ach, nur mit einem Kollegen.«

2

Tabea öffnete die Augen. Diffuses Licht erfüllte das Zimmer. Demnach war es jetzt nach sieben aber wohl noch vor acht Uhr. Um diese Jahreszeit wurde es gegen acht langsam hell. Sie blinzelte zum anderen Bett hinüber. Sie wusste selbst nicht, warum sie das tat. Natürlich war das Bett leer. Wenn Alexander heute Nacht nach Hause gekommen wäre, hätte sie das bestimmt gemerkt. Sie schloss die Augen wieder.

Als sie die Augen wieder öffnete, war es hell. »Gut«, dachte sie, »nicht mehr ganz so früh.« Ein Blick zur Uhr bestätigte ihr, dass es jetzt 8:30 Uhr war. Doch dann stutzte sie. Warum hatte sie eben gedacht, dass es gut wäre, dass inzwischen ungefähr eine weitere Stunde vergangen war? Normalerweise freute sie sich, wenn sie früh wach wurde. Da hatte man doch wenigstens noch etwas vom Tag. Und samstagmorgens war es auf jeden Fall ganz angenehm, nicht so spät aufzustehen. Sie und Alexander pflegten dann immer sehr lange zu frühstücken. Wenn er denn da war. War er aber heute Morgen nicht.

Tabea stellte deprimiert fest, dass sie in Versuchung war, sich wieder umzudrehen und die Augen erneut zu schließen. Doch sie wusste, jetzt würde sie nicht mehr einschlafen. Frustriert starrte sie die Decke an. Sie hatte eigentlich gehofft, bis heute Morgen endgültig aus ihrem gestrigen Vorabend-Stimmungstief heraus zu sein. Der Abend mit Rosi und Jonah war durchaus ganz nett gewesen. Einen kleinen Stich hatte es ihr versetzt, als Jonah irgendwann den Arm um Rosie gelegt und ihr zärtlich zugelächelt hatte. Aber an sich zählten ihre Freunde Gott sei Dank nicht zu den Pärchen, die an geselligen Abenden ihre Tischpartner irritierten, indem sie unentwegt knutschten. Und alles in allem hatten sie sich alle drei gut unterhalten. Am Ende des Abends war sie dann angenehm angesäuselt durch zwei Gläser eines sehr süffigen Merlots nach Hause gegangen. Und als sie müde ins Bett sank, hatte sie dem neuen Tag wieder mit etwas mehr Zuversicht entgegengeblickt. Wo war diese Zuversicht jetzt geblieben? Tabea ertappte sich dabei, dass sie sich vorstellte, wie Alexander gerade mit seiner Gespielin der letzten Nacht gemütlich frühstückte. In diesem Moment hörte sie etwas, das sofort ihr Herz höherschlagen ließ. War das die Haustür?

»Hallohooo, schlafen hier alle noch?«

Er war es! Wahrhaftig! Ihre schlechte Stimmung war sofort wie weggeblasen. Sie sprang geradezu aus dem Bett und eilte ihm entgegen.

»Ja, ich bin eben erst aufgewacht«, erklärte sie lächelnd. »Ich war gestern aus. Ist spät geworden.«

So spät war es in Wahrheit gar nicht geworden. Aber sollte er ruhig den Eindruck haben, dass sie sich auch ohne ihn bestens amüsierte. Etwas enttäuscht nahm sie zur Kenntnis, dass er sich offenbar nicht sonderlich dafür interessierte, wie sie den gestrigen Abend verbracht hatte. Andererseits musste sie, solange er nicht nachfragte, auch nicht zugeben, dass sie »nur« als Anhängsel an das Rosi-Jonah-Pärchen mit auf der Piste gewesen war.

»Dann lass uns mal frühstücken!«

Mit diesen Worten schwang Alexander eine prall gefüllte Brötchentüte in der Luft herum.

»Das sieht nach ungefähr zehn Brötchen aus«, lachte Tabea. »Wer soll die denn alle essen?«

»Ganz so viele sind es nicht«, erwiderte er mit einem Grinsen. »Ich habe sechs gekauft. Konnte mich zwischen den Sorten nicht entscheiden.«

Tabea jubelte insgeheim: »Er hat nicht mit ihr gefrühstückt! Er ist zu mir gekommen!«

Einen Augenblick überlegte sie, ob sie es wagen konnte, ihn nach dem Grund zu fragen. Zu Beginn ihres Arrangements hatten sie vereinbart, sich niemals zu belügen und immer ganz offen über alles zu sprechen. Doch im Verlaufe der Zeit hatte sich eine Art ungeschriebenes Gesetz herausgebildet: Es gab keine neugierige Ausfragerei zwischen ihnen. Berichte über das Erlebte waren freiwillig. Auch diesmal entschloss Tabea sich schließlich, ihr Glück nicht herauszufordern. Ihr Mann war hier, hier bei ihr. Sie konnten gemütlich zusammen frühstücken. Darüber freute sie sich. Und vielleicht würde er ja gleich von sich aus etwas sagen. Doch falls Alexander ihren erwartungsvollen Blick bemerkte, ließ er sich nichts anmerken. Er erzählte diesmal tatsächlich nichts, überhaupt nichts.

»Ich hab frischen Kaffee gekocht!«

Rosis Stimme erschallte wie eine Fanfare von der Tür her. Tabea, die, gerade in eine Flächenzeichnung vertieft, an ihren Schreibtisch saß, hob den Kopf und antwortete erfreut:

»Gut. Ich nehme mal an, das ist eine Einladung an deinen Schreibtisch?«

Doch Rosi hatte sich schon wieder zurückgezogen und die Tür zu Tabeas Büro hinter sich geschlossen. Die Frage war wohl auch eigentlich überflüssig gewesen. Derzeit hatten sie vorzugsweise immer Rosis Arbeitszimmer als Kaffee-Pausenraum auserkoren, weil ihre Freundin einen großen Tisch in der Ecke stehen hatte, auf dem man Profilzeichnungen bequem ausbreiten konnte. Tabea hatte sie zeitweise um den größeren Raum beneidet und sich ein wenig zurückgesetzt gefühlt mit ihrem ziemlich kleinen Zimmer. Andererseits fielen manchmal Heerscharen von Kollegen in Rosis Raum ein, um die Flächen dort zum Ausbreiten ihrer Unterlagen zu benutzen. Unter dem Vorwand, dass sie Rosi gern mit in die jeweilige Fachdiskussion einbeziehen wollten, requirierten sie schamlos ihren Raum, und Rosi schaffte es selten, sich dagegen aufzulehnen. Schließlich waren gemeinsame Befunderhebungen und Diskussionen ein wesentlicher Bestandteil der Auswertungsarbeiten im Amt für Vor- und Frühgeschichte. Doch ihrer Freundin hatte sie gestanden, dass es ihr manchmal ein bisschen viel war und sie sich gelegentlich in ihrer eigenen Arbeit gestört fühlte. Auch Tabea besprach etwaige Probleme bei der Auswertung am liebsten erst einmal nur mit Rosi, bevor sie eventuell noch andere Kollegen zur Diskussion einlud. Da sie es derzeit mit einem etwas schwierigeren Befund zu tun hatte, gab es fast täglich etwas zu bereden. So hatte es sich eingebürgert, dass sie an den meisten Tagen sowohl vormittags als auch nachmittags jeweils einmal einen etwas längeren gemeinsamen Kaffeetreff einlegten. Ein schlechtes Gewissen hatten sie deshalb nicht. Schließlich handelte es sich nicht um Kaffee-Pausen, sondern um Kaffee-Arbeits-Gespräche. So war jedenfalls die Rechtfertigung. Wer ihnen heute Morgen zugehört hätte, hätte dieser Rechtfertigung allerdings wohl nicht so ganz zustimmen können.

»Das war ein richtig netter Abend am Freitag, fand ich.«

Rosi nickte heftig zum Zeichen der Zustimmung, während sie in ihren Donut biss. Sobald sie ihren Bissen hinuntergeschluckt hatte, erwiderte sie:

»Ja, fand ich auch. War aber trotzdem gut, dass wir nicht so lange gemacht haben. Jonah und ich sind am nächsten Morgen dann nicht allzu spät aufgestanden und haben herrlich lange gefrühstückt.«

»Wir auch«, erwiderte Tabea scheinbar beiläufig.

»Ihr auch?« Rosi wirkte verblüfft. »Ich dachte, Alexander …«

Sie ließ den Satz unvollendet in der Luft hängen. Doch es war klar, was sie meinte.

»Er ist mit frischen Brötchen zum Frühstück nach Hause gekommen.« Tabea lächelte.

»Oh. Ach so.« Viel mehr fiel Rosi dazu offenbar nicht zu sagen ein.

»Danach sind wir in die Stadt gegangen und haben zusammen eingekauft«, fuhr Tabea in einem, wie es Rosi vorkam, etwas selbstgefälligen Tonfall fort. »Und abends waren wir im Freischütz.«

»Habt ihr dafür so spontan noch Karten bekommen?«

»Alexander hatte die schon vorher besorgt. Es sollte eine Überraschung sein.«

»Eine Überraschung?« Rosi runzelte die Stirn. »Hätte er dich nicht vorher fragen müssen, ob du da am Samstagabend hinwillst?«

»Nein, er wusste ja, dass ich die Inszenierung gerne sehen wollte.«

So hatte Rosi es eigentlich nicht gemeint. Sie hatte sich eher gefragt, wie man sich in einer offenen Beziehung, in der jeder sich jederzeit mit jemand anderem zu einem Date verabreden durfte, einfach darauf verlassen konnte, dass der Partner am Samstagabend frei wäre. Selbst in ihrer nicht-offenen Beziehung pflegten sie und Jonah es so zu halten, dass sie nicht einfach Termine für den anderen mit abmachten, ohne sich rückzuversichern, dass derjenige auch Zeit hatte. Doch Tabea freute sich offenbar mächtig über ihr gelungenes Wochenende. Sie wirkte irgendwie rundherum zufrieden. Also sagte Rosi nichts weiter dazu. Sie wollte ihrer Freundin ja nun nicht mit aller Gewalt die Laune verderben. Es reichte, wenn ihre eigene Laune zumindest angeknackst war. Ihr Wochenende war nicht so gelungen gewesen. Oder bildete sie sich das nur ein? Fest stand jedenfalls, dass sie nicht zufrieden war. Das mochte allerdings auch an ihr selbst liegen. Es war schließlich nichts Schlimmes vorgefallen. Tatsächlich war nach dem verheißungsvollen Auftakt am Freitagabend in Richtung gemeinsame Unternehmungen überhaupt nichts mehr geschehen. Im Gegensatz zu ihrer Freundin hatte Rosi allein einkaufen müssen, da Jonah furchtbar viel aufzuarbeiten hatte. Er hatte noch nicht einmal für einen gemütlichen Nachmittagskaffee oder einen Spaziergang Zeit gehabt. Ihre zaghafte Anfrage, ob sie abends etwas unternehmen könnten, war sofort abgewiegelt worden.

»Schon wieder ausgehen? Wir waren doch gestern erst weg. Ich würde, ehrlich gesagt, heute Abend gern einfach etwas Unterhaltsames im Fernsehen angucken. Von mir aus auch irgendwas ganz Blödes.«

Nun ja, sie sah es natürlich ein. Jonah hatte immer mal Phasen, in denen er zu Hause etwas aufarbeitete oder auch etwas für seine berufliche Weiterbildung tat. Er befand sich als Betriebswirt in seiner Firma auf dem direkten Weg ins obere Management. Seine Chancen standen gut. Und sie war ja auch durchaus stolz auf ihn. Er hatte noch viel vor, und das war gut so. Ein Mann, der beruflich keinen Ehrgeiz hatte, hätte gar nicht zu ihr gepasst. Aber dass er auch am Sonntag dann noch hatte arbeiten müssen …

»Hi Mädels, könnt ihr euch das mal angucken?«

Larissa schwenkte eine große Profilzeichnung wie eine Fahne durch die Luft, während sie schwungvoll den Raum betrat.

»Pass auf, dass du die Zeichnung nicht kaputt machst!«, rief Tabea warnend aus. »Da steckt schließlich viel Arbeit drin.«

»Schlechte Arbeit«, erwiderte Larissa. »Ich überlege, sie Jacob noch einmal machen zu lassen.«

»Und ich überlege, ob man Jacob nicht rausschmeißen kann«, kommentierte Tabea trocken. Rosi schien mit ihren Gedanken ganz woanders zu sein, wie ihr nächster Satz bewies. »Hat sie angeklopft?«, wandte sie sich an ihre Freundin, ihre Frage so deutlich betonend, dass klar war, dass sie eigentlich Larissa galt.

»Tut sie doch nie«, antwortete Tabea gleichmütig.

»Ach kommt!«, gab Larissa sich gespielt empört. »Ich habe geklopft. Hab nur im selben Moment die Tür aufgemacht. Um diese Zeit sitzen wir doch schließlich immer hier.«

»Tun wir das?«

Falls in Rosis Ton eine leichte Gereiztheit mitschwang, nahm Larissa sie offenbar nicht wahr. Mit einem leisen Seufzer gab Rosi sich geschlagen. Als Larissa anfing, ihre Zeichnung auszubreiten, fragte Tabea:

»Apropos ›um diese Zeit sitzen wir immer hier‹: Du bist doch zurzeit eigentlich auf der Grabung. Was machst du überhaupt hier?«

»Muss hier einiges nachgucken und hab mir selbst ein paar Auswertungstage im Amt verordnet«, murmelte Larissa vage. Tabea und Rosi warfen sich einen fragenden Blick zu. Man verordnete sich im Allgemeinen nicht einfach mitten in einer laufenden Ausgrabung ein paar »Amtstage«. Vor allem hatte Larissas Stimme leise, zugleich aber irgendwie angespannt geklungen. Da stimmte irgendetwas nicht! Doch Larissa mied ihrer beider Blick, und so gingen sie in stillschweigender Übereinkunft nicht weiter darauf ein. Rosi beugte sich schließlich mit sichtlich desinteressierter Miene und den Worten: »Um was geht es denn? Sollen wir uns jetzt auch noch gemeinsam Jacobs Fehler angucken?« über die ausgebreitete Zeichnung.

»Quatsch, es sind schließlich keine wirklichen Fehler darin.« Obwohl Larissa seine Arbeit als schlecht bezeichnet hatte, fühlte sie sich jetzt offenbar bemüßigt, ihren Grabungstechniker zu verteidigen. »Er hat doch nur ein neues Umrechnungssystem eingesetzt. Also …«

»… passt damit das Ganze nicht zu unseren anderen Zeichnungen und kann nicht richtig verglichen werden«, vollendete Tabea den Satz. »Entweder die Zeichnung ist korrekt, oder sie muss noch mal gemacht werden.«

»Ja, weiß ich doch. Können wir trotzdem erst mal reden?«

»Nur, wenn du versprichst, uns deinen Lehrerfreund endlich mal vorzustellten.«

Nicht nur Larissa, auch Rosi blickte ihre Freundin auf diesen Vorschlag hin etwas verblüfft an. Es stimmte zwar, dass sie immer mal wieder darüber geredet hatten, was für ein Typ das wohl sein mochte, den ihre Kollegin über die Arbeit kennengelernt hatte. Aber dass es ein persönliches Treffen geben sollte, hatte bis jetzt noch nicht im Raum gestanden. Sie kannten Larissa fast nur über die Arbeit. Gelegentlich gingen sie auch gemeinsam mit ihr in der Mittagspause irgendwo essen. Doch ansonsten war im privaten Bereich bisher nichts gelaufen.

Larissa hatte sich jetzt offenbar von ihrer Verblüffung erholt.

»Klar doch, das können wir machen. Wollt ihr Sonntagnachmittag mit euren Männern zum Kaffee vorbeikommen?«

Als Larissa eine Stunde später über den Flur zurück in ihr Büro ging, sah ihre Miene nachdenklich aus. Man hätte meinen können, sie dächte über die eben in Rosies Raum erfolgte Befundbesprechung nach. Doch dem war nicht so. Larissa fühlte sich verwirrt. Aber weder die Eigentümlichkeiten, die der Grabungstechniker Jacob beim Anfertigen der Zeichnungen an den Tag gelegt hatte, noch die Besprechung mit ihren beiden Kolleginnen waren Ursache dieser Verwirrung. Vielmehr wunderte sie sich selbst darüber, dass sie die beiden zu sich nach Hause eingeladen hatte. Wie war das jetzt nur so plötzlich gekommen? Sie war sofort auf Tabeas Äußerung angesprungen. Tatsächlich hatte sie sich sogar sehr darüber gefreut. Aber jetzt überkamen sie plötzlich Bedenken, dass es sich dabei womöglich nur um einen scherzhaften Spruch gehandelt hatte. Sie hatten sich noch nie privat getroffen. Allerdings kannte sie selbst die beiden Lebenspartner ihrer Kolleginnen immerhin zumindest flüchtig. Sie waren beide jeweils mal aus irgendwelchen Anlässen im Amt oder auf einer der Ausgrabungen gewesen. Ein zufälliges Zusammentreffen im Rahmen ihrer Arbeit hatte es im Hinblick auf Dennis noch nicht gegeben. Schließlich waren sie ja auch noch nicht so lange zusammen. Larissa hatte durchaus mitbekommen, dass ihre sämtlichen Kollegen offenbar ein wenig neugierig auf Dennis waren, weil sie die Tatsache, dass sie jemanden auf ihrer eigenen Ausgrabung kennengelernt hatte, irgendwie interessant fanden. So etwas war hier noch nicht vorgekommen. Manchmal kamen Verbindungen unter den Kollegen zustande. Doch ein Grabungsbesucher war noch nie der Lebenspartner eines Archäologen oder einer Archäologin geworden. Trotzdem war Tabeas Vorschlag ziemlich überraschend gekommen.

»Und dann hat Tabea allen Ernstes gesagt, sie soll uns doch mal einladen.«

Rosi runzelte leicht die Stirn, als sie daran dachte, dass es ganz so doch nicht gewesen war. Das mit dem Einladen war ja eigentlich erst von Larissa gekommen. Doch da sie wusste, dass Jonah ein Faible für Tabea hatte, kam sie zu dem Schluss, dass es nicht schaden konnte, in ihrem Bericht deren Anteil an der Geschichte etwas höher anzusetzen. Und tatsächlich antwortete Jonah:

»Okay, wenn Tabea meint, wir sollten den Knaben mal in Augenschein nehmen, dann tun wir das. Larissa, das ist die mit den grünen Augen, oder?«

Rosi starrte ihn verblüfft an. Auf so etwas achtete er? Das hätte sie nie gedacht. Als sie sich von seinem Schreibtisch abwandte, um sein Arbeitszimmer zu verlassen, ging ihr ein Gedanke durch den Kopf. Kurz vor der Tür verhielt sie den Schritt und fragte mit leicht angespannter Stimme:

»Welche Augenfarbe habe ich?«

Sie drehte den Kopf und blinzelte vorsichtig über die Schulter zu ihm zurück, um zu verhindern, dass er ihre Augen genauer betrachten konnte. Doch das versuchte er gar nicht. Er starrte weiter auf seinen Monitor und antwortete lediglich geistesabwesend:

»Du weißt doch, dass ich für solche Dinge keinen Sinn habe.«

»Du wusstest Larissas Augenfarbe! Larissa hast du gerade mal ein- oder zweimal kurz gesehen.«

Die Antwort war lediglich ein genervtes Stöhnen. Rosi spürte, wie eine Art Druckwelle in ihr hochschwappte. Sie wartete, ob von ihm noch etwas käme. Doch nichts geschah. Er hackte einfach weiter auf seiner Tastatur herum. Rosi hatte das Gefühl, dass sie regelrecht anfing zu kochen. Unschlüssig blieb sie in der Tür stehen. Schließlich ging sie dann aber doch in die Küche. Sie bereitete sich ein Rührei mit etwas Brot und Salat zu. Erst als sie sich zum Essen setzte, kam Jonah endlich auch in die Küche und fragte erstaunt:

»Isst du heute allein?«

»Jedenfalls esse ich nicht mit Leuten, die nicht einmal meine Augenfarbe kennen«, erwiderte sie schnippisch.

»Ach so«, erwiderte er gleichmütig und fing an, sich selbst etwas zu Essen zuzubereiten. Rosi hatte das Gefühl, vor Wut nicht weiteressen zu können. Doch genau in dem Moment, als sie glaubte, schier platzen zu müssen, kam er plötzlich zu ihr, hob ihr Kinn an und sagte:

»Na, dann guck mir mal tief in die Augen, damit ich sehen kann, welche Farbe die deinen haben.«

Sofort ließ ihre innere Anspannung etwas nach. Und als er mit den Worten: »So, nun darf ich mich hoffentlich zu dir setzen« ihr gegenüber Platz nahm, lächelte sie schon wieder. Sie wollte sich schließlich nicht mit ihm streiten. Und so wichtig war die Sache mit der Augenfarbe ja nun nicht. Es sollte ja bekanntlich noch mehr Männer geben, die die Augenfarbe ihrer Frau nicht kannten.

Erst als sie mit dem Essen fertig waren, fiel ihr plötzlich ein, dass er selbst während des langen Blicks in ihre Augen die Farbe nicht benannt hatte. Sie wollte ihn danach fragen, hielt aber im letzten Moment inne. Ihre Farbe war schwierig zu benennen. Auch in ihren Augen gab es grün, doch nicht so deutlich wie bei Larissa. Es war mit Grau und Braun vermischt. Vielleicht war Jonah damit auch einfach überfordert.

»Ich habe meine Kolleginnen Tabea und Rosi zu uns zum Kaffee eingeladen.«

»Zu wann?«

»Sonntag.«

»Okay. Hast du's schon im Familienkalender eingetragen?«

»Äh, nein. Mach ich gleich. Ach ja, und die Männer kommen natürlich auch mit.«

Larissa atmete tief durch und wurde sich dabei bewusst, dass sie unwillkürlich die Luft angehalten hatte. Dies war das erste Mal, dass sie gemeinsam Gäste einluden. Heute Vormittag im Amt hatte sie sich etwas beklommen gefragt, ob sie das einfach so ohne Rückfrage tun konnte. Aber offenbar fand Dennis das ganz normal. Mit Sigurd war das ganz anders gewesen. Obwohl sie damals sehr schnell dahintergekommen war, dass sein Selbstbewusstsein so gut wie nicht vorhanden war, hatte er es trotzdem immer irgendwie geschafft, seinen Willen durchzusetzen. Er machte das über Psychodramen. Wenn etwas geschah, das ihm nicht gefiel, wurde er weinerlich, deprimiert oder wütend. Und Einladungen an Leute, die er nicht kannte, gehörten ganz entschieden zu den Dingen, die ihm nicht behagten. Aber Dennis war sehr kontaktfreudig. Es war eine seiner positiven Eigenschaften, dass er immer allen Leuten offen und ohne Vorbehalt begegnete. Das war einerseits sehr angenehm. Andererseits wünschte Larissa sich oft, auch etwas von seiner Art zu haben. Sie selbst tat sich so furchtbar schwer mit dem Kontakteknüpfen. Daran mochte es wohl auch liegen, dass sie gar keine Freunde hatte. Keinen einzigen! Sie kam sich Dennis gegenüber deshalb immer etwas minderbemittelt vor. Er hatte Freunde.

3

Larissa hatte das Gefühl, langsamer zu werden, je näher sie ihrer Ausgrabung kam. Das war sicher Einbildung. Sie hatte sich schon den ganzen Weg über gezwungen, genauso schnell auszuschreiten, wie sie es auch sonst immer auf ihrem morgendlichen Weg zur Arbeit tat. Doch sie war sich bewusst, dass sie am liebsten stehen geblieben wäre. Ebenso war sie sich bewusst, dass der Umstand, dass sie zwei Tage im Amt verbracht hatte, nicht wirklich damit zu tun hatte, dass sie dort einiges erledigen wollte. Wenigstens nicht nur damit. Die Angelegenheit, oder vielmehr die Person, um die ihr rotierendes Gedankenkarussell sich in der letzten Zeit ständig drehte, war ihr Grabungstechniker Jacob. Sie wusste nur allzu gut, dass sie ihn längst in seine Schranken hätte weisen müssen. Jacob fühlte sich als verhinderter Archäologe beziehungsweise Grabungsleiter.

Im Amt machte man sich seit langem darüber lustig, dass Jacob offensichtlich eine ausgewachsene Profilneurose hatte. Und nun hatte er vor kurzem angefangen, seine Zeichnungen in einem neuen Maßstab anzufertigen. Er konnte lange Vorträge darüber halten, warum dieser Maßstab besser umzurechnen und überhaupt besser geeignet sei für Profil- und Flächendarstellungen, als der bisher übliche. Aber eigentlich sah auf seinen Darstellungen alles nur etwas kleiner aus und ließ sich jetzt auch nicht mehr eins zu eins mit den anderen Zeichnungen vergleichen. Was die ganze Sache aber besonders unangenehm machte, war der Umstand, dass er sie einfach so, ohne jede Rücksprache, durchgeführt hatte. Damit war nicht nur Zeit für sinnlose Arbeit vergeudet, sondern auch Larissas Autorität als Grabungsleiterin massiv in Frage gestellt worden. Und sie hatte sich nicht gewehrt! Jedenfalls nicht wirkungsvoll. Sie würde jetzt natürlich veranlassen, dass ihr Techniker die ganze Arbeit noch einmal in der vorgeschriebenen Weise durchführte. Doch das hätte sie ihm sofort und in aller Deutlichkeit sagen müssen. Stattdessen führte sie einen sinnlosen, aufreibenden Machtkampf mit ihm. Sie konnte sich nur allzu gut vorstellen, was Tabea in ihrer deutlichen, klaren Art sagen würde, wenn sie die wahren Motive für Larissas Aufenthalt im Amt gekannt hätte. Es wäre wahrscheinlich so etwas wie: »Du überlässt ihm das Feld, wo er doch sowieso schon immer den Grabungsleiter rauskehrt? Das ist ein Riesenfehler!«

Mit einem unterdrückten Seufzer trat Larissa durch die Pforte im grabungsumspannenden Drahtzaun. Es war erholsam gewesen, mal eine Weile einfach still und ruhig im Büro zu arbeiten. Das erste, was sie hörte, als sie sich dem Grabungszelt näherte, war Jacobs Stimme, die den Arbeitern Anweisungen erteilte. Ja, sie würde etwas tun müssen. Das fröhliche »Guten Morgen!«, das sie ihren Leuten entgegenschmetterte, entsprach absolut nicht ihrer wirklichen Stimmung.

Tabea rührte gedankenverloren in ihrem Kaffee. Sie war dabei, die Ergebnisse ihrer Grabungs-Auswertung in den Computer zu diktieren. Früher hatten sie Bänder für die Sekretärin besprochen. Heute erledigte eine Software die Aufgabe der Umsetzung des gesprochenen Wortes in Schrift. Sie hatte gerade erst mit den ersten Seiten angefangen und würde bis zur Fertigstellung des Manuskriptes noch viele Stunden mit dem Diktat zubringen. Das konnte ihr, da sie schließlich für ihre Zeit bezahlt wurde, im Prinzip egal sein. Bedauerlich war nur, dass sie während sämtlicher Auswertungs- und Manuskriptarbeiten im Amt festgekettet sein würde. Es waren Schreibtischarbeiten. Manchmal erledigte sie die ganz gern. Und es hatte auch durchaus seinen Reiz, sich hin und wieder mit den Kollegen im Amt auszutauschen. Doch Tabea war eigentlich lieber auf den Ausgrabungen. Sie mochte es, sich draußen zu bewegen und selber Hand an die Dinge zu legen. Sie mochte auch den kumpelhaften Ton, der im Allgemeinen auf der Grabung herrschte. Und vor allem liebte sie die atemlose Spannung, die sich regelmäßig einstellte, in jenen Momenten, in denen neue Entdeckungen sich ankündigten. Neue Erkenntnisse gewann man natürlich auch bei der Auswertung. Aber das war nicht dasselbe. Das Freilegen eines Befundes, bei dem man manchmal am liebsten notwendige Zwischenschritte, wie das Zeichnen von Flächen und Profilen, auslassen würde vor Ungeduld, war schon eine eigene Sache. Hier im Amt ging es eher um Interpretationen, also Dinge, die in ihrem Kopf stattfanden. Im Moment stand nicht einmal das an.

An diesem Morgen ging es lediglich darum, unstrittige Auswertungsergebnisse einfach nur in Worte zu fassen und in die Maschine zu diktieren. Dass ihr die Arbeit heute nicht so recht von der Hand ging, lag allerdings weniger an den anstehenden Aufgaben selbst, sondern eher daran, dass sie sich ständig von privaten Gedanken ablenken ließ. Schon seit sie zu Larissa gesagt hatte, dass die ihnen ihren Lover vorstellen sollte, fragte sie sich, warum sie das getan hatte. Nicht, dass es eine schlechte Idee war. Der geplante Nachmittagskaffee würde vielleicht ja ganz nett werden. Aber deshalb hatte sie das nicht angesprochen. Vielmehr hatte sie das deutliche Gefühl, dass das geschehen war, weil sie selbst neuerdings verstärkt über Beziehungen nachdachte. Und Larissas Beziehung interessierte sie. Im Gegensatz zu Rosi sprach Larissa fast nie über ihren Freund. Zugleich hatte man aber nichtsdestotrotz immer den Eindruck, dass sie mächtig stolz auf ihn war. Das machte ihn irgendwie geheimnisvoll. Tabea überlegte, wie sie selbst wohl im Gespräch wirkte, wenn die Rede auf Alexander kam. Wenn sie an ihre zahllosen Diskussionen mit Rosi dachte, so war sie dabei stets in der Defensive gewesen. Immer hatte sie das Gefühl, ihren Mann und ihre besondere Form der Ehe verteidigen zu müssen. Sie sprach auch nur mit ihrer besten Freundin darüber, und auch das eigentlich nur, weil Rosi immer mal wieder die Rede darauf brachte. Sie selbst neigte dazu, solche Themen lieber von vornherein abzublocken. Das hatte sie also mit Larissa gemeinsam. Ob Larissa auch eine offene Beziehung führte?

Rosi betrachtete genervt den Pulk von Kollegen, der sich um ihren großen Tisch gruppierte. Heute war wieder einer dieser Tage! Merkte eigentlich niemand, dass sie gar nicht mitmachte bei dem allgemeinen Geschnatter und Gewusel um den Tisch mit den Zeichnungen und den Kaffeetassen herum?

»He, Rosalie, sag du doch auch mal was dazu!«

Aha, offenbar hatte es doch jemand gemerkt. Ihre Kollegin Ursula war es, die zu ihr herübergerufen hatte. Rosi blickte unschlüssig von ihrer Arbeit auf. So sehr sie es hasste, wenn ihr Büro einfach von der Kollegen-Meute requiriert wurde, war sie jetzt doch hin- und hergerissen. Ursula war die einzige, die sie hin und wieder mit ihrem tatsächlichen Namen ansprach. (Vielleicht, weil sie selber gelegentlich mit Uschi angeredet wurde und deshalb wusste, wie es sich anfühlte, wenn der eigene Name verniedlicht wurde.) Rosi war seit ihrer Kindheit daran gewöhnt, mit einer Kurzfassung ihres Namens angesprochen zu werden. Gelegentlich hatte sie darum gebeten, ihren richtigen Namen zu benutzen. Doch irgendwie verfielen die Leute trotzdem immer wieder auf das kurze, praktische »Rosi«. Sie hatte sich schon des Öfteren gefragt, warum das so war. Sie argwöhnte, dass das irgendetwas mit ihrer Person beziehungsweise ihrer Ausstrahlung zu tun hatte. Es war zum Beispiel offenbar noch nie jemand auf die Idee gekommen, Tabeas Mann Alexander mit Alex anzureden. Dabei war der Kurzname doch gar nicht mal so schlecht. Ganz im Gegensatz zu »Rosi«. Sie selbst fühlte sich dabei immer an ein rosiges Schweinchen erinnert. (Dass ihre Haare einen rötlichen Ton hatten, machte die Sache auch nicht gerade besser.) Einmal hatte sie, einem spontanen Impuls folgend, ihre Freundin Tabea mit Tabbi angeredet. Die Wirkung war nicht gerade beeindruckend gewesen. Tabea selbst hatte ihr lediglich einen kurzen, irritierten Blick zugeworfen. Drei Kolleginnen, die zu dem Zeitpunkt zugegen gewesen waren, hatten darauf überhaupt nicht reagiert. Rosi war sich ziemlich dumm vorgekommen und hatte derartiges nie wieder versucht. Sie fühlte sich an ihre Kindheit erinnert. Damals war sie eine Zeitlang die Kleinste in der Klasse gewesen. Deshalb hatte eine Mitschülerin sie einmal beiläufig als »Küken« bezeichnet. Prompt hatten alle anderen das aufgegriffen und sie von da an so angeredet. Als wenn »Rosi« nicht schon schlimm genug war!

Rosi kehrte mit ihren Gedanken in die Gegenwart zurück. Freundlicher, als sie es normalerweise angesichts der nervigen Horde getan hätte, antwortete sie Ursula:

»Ach, ich denke, das bekommt ihr auch ohne mich gelöst. Ich hab mich hier grad bei meinem eigenen Kram festgebissen.«

»Sollen wir das denn auch besprechen?«, fragte Long-John eifrig. Rosi blickte ihn nachdenklich an. Er hieß eigentlich Johann. Aber da er ein langer, dünner Mann war, wurde er Long-John genannt. Doch ihm schien das nichts auszumachen. Der Spitzname schien ihm sogar zu gefallen. Rosi antwortete ihm:

»Nein, ich möchte das jetzt erst mal allein in aller Ruhe überdenken.«

Und wieder war es Ursula, die offenbar den leicht gereizten Unterton aus ihrer Stimme heraushörte. Sie fragte jedenfalls besorgt:

»Möchtest du lieber allein sein? Stören wir dich?«

Einen Moment lang fühlte Rosi sich von der Frage überrumpelt. Doch dann überwand sie sich und sagte schlicht: »Ja.«

Eine kleine, ungefähr zwei Sekunden dauernde Ewigkeit lang füllte Schweigen den Raum. Dann ging das Geschnatter wieder los, und alle Kollegen bewegten sich ohne große Umstände aus ihrem Raum heraus. Rosi blickte ihnen verblüfft hinterher.

Es war ein voller Erfolg! Larissa, die dabei war, in der Küche die zweite Kanne Kaffee aufzubrühen, hätte sich vor Freude beinahe die Hände gerieben. Alle drei Paare unterhielten sich sehr angeregt miteinander. Und das Beste: Es waren ihre Leute. Bisher waren sie immer nur mit Dennis' Freunden zusammengetroffen. Als Freunde konnte sie ihre Gäste natürlich noch nicht bezeichnen. Aber vielleicht kam auch das irgendwann noch mal. Zum ersten Mal hatte Larissa das Gefühl, sich vielleicht doch für die Einweihungsparty erwärmen zu können, die Dennis so gern geben wollte. Sie hatten schon mehrfach darüber gesprochen, und sie hatte sich immer ein wenig zögerlich gezeigt. Tatsächlich wollte sie diese Party nicht. Sie hatte nichts gegen Dennis' Freunde. Sie verstand sich durchaus gut mit ihnen. Aber eine Party in der eigenen Wohnung, zu der nur Dennis' Freunde und kein einziger von ihrer Seite kämen … Das war ihr einfach unangenehm. Sie hätte vor ihm so gern als beliebte, vielbeschäftigte Frau dagestanden. Das Einweihungsfest würde mit aller Deutlichkeit klarmachen, dass sie nicht einmal über entfernte Bekannte, die man notfalls einladen konnte, verfügte. Dabei war Dennis der Zugereiste. Er lebte seit zehn Jahren hier in Lübeck. Sie hingegen war hier aufgewachsen und hatte nur während des Studiums ein paar Jahre in Berlin zugebracht. Doch genau das war der Punkt. In diesen Jahren hatte sie alle Kontakte aus der Schulzeit verloren. Und irgendwie hatten sich auch die Kommilitonen aus Berlin, denen sie etwas nähergekommen war, hinterher in alle Winde zerstreut. Sie hatte dort zu niemandem eine so tiefe Freundschaft aufgebaut, dass sie die hinterher eintretende geografische Distanz überdauert hätte.

Trotz der betrüblichen Erinnerungen huschte der Anflug eines Lächelns über Larissas Züge, als sie gedankenverloren das Wasser im Filter nachgoss. Sie würde sich mit Tabea und Rosi anfreunden! Sie mochte die beiden. Und sie war sich plötzlich sicher, dass eine engere Verbindung möglich war. Es sollte doch mit dem Teufel zugehen, wenn es ihr nicht gelänge, zu mindestens einer der beiden, wenn nicht gar zu allen beiden, eine wirkliche Freundschaft aufzubauen. Und nach dem heutigen Nachmittag sprach bestimmt auch nichts dagegen, die beiden Paare zu der Party einzuladen.

»Du gießt Kaffee noch mit der Hand auf?«

Larissa fuhr herum. Jonah stand in der Küchentür und lächelte sie freundlich an. Sie lachte.

»Du klingst, als hättest du gefragt ›du bereitest die Mehlfladen immer noch im offenen Feuer zu?‹ «

Auch er lachte jetzt.

»Genauso kommt es mir ehrlich gesagt auch vor. Ist ein bisschen steinzeitmäßig, deine Methode, oder?«

»Ja, mag sein«, erwiderte sie immer noch lächelnd. Mit einem leicht verschwörerischen Unterton fuhr sie fort: »Dennis bildet sich ein, dass handgefilterter Kaffee am besten schmeckt. Und es muss auch unter allen Umständen ein Porzellanfilter sein. Mir ist es ja egal.«

»Na ja, die Methode scheint in heutigen Zeiten nur ein wenig unpraktisch zu sein, wo doch alle immer so was wie Caffè Latte, Latte Macchiato, Cappuccino oder was auch immer trinken.«

Larissa fühlte einen Anflug von Ärger in sich aufsteigen. Einen kompletten Latte macchiato mit korrekter Schichtung brachte schließlich auch eine gewöhnliche Kaffeemaschine nicht zustande. Dafür müsste es schon ein raffinierter Vollautomat mit allem Drum und Dran sein. Nicht, dass sie sich den nicht hätten leisten können. Aber vielleicht wollte ja nicht jeder sein Geld für eine derartige Schnickschnackmaschine (wie Dennis sie nannte) ausgeben. Es war typisch für sie, dass trotz dieser Überlegungen der nächste Gedanke, den sie aussprach, nicht der des Ärgers, sondern der leichten Sorge war.

»Aber der Kaffee ist doch in Ordnung? Ich meine, das mit der heißen, aufgeschäumten Milch am Tisch geht doch so, oder?«

»Aber natürlich!« Jonahs Stimme klang plötzlich schmeichelnd, während er ihr sanft über den Rücken strich. Larissa fühlte eine Art Ruck durch ihren Körper gehen und spürte zugleich, wie sich ihr alle Haare aufstellten. Einen Moment lang stand sie völlig stocksteif. Statt die Hand wenigstens gleich wieder wegzunehmen, trat Jonah noch näher an sie heran und legte ihr den Arm um die Schultern. Dabei fragte er sanft:

»Kann ich irgendwas helfen?«

Larissa erwachte aus ihrer Erstarrung, machte eine unmissverständliche Bewegung mit den Schultern, um den Arm abzuschütteln, und trat einen Schritt beiseite. Ihre Stimme klang schneidend, als sie erwiderte:

»Nein, geh bitte ins Wohnzimmer zurück.«

Ihm schien nichts aufzufallen. Gelassen drehte er sich weg und sagte, während er folgsam die Küche wieder verließ:

»Okay, dann geh ich wieder zu den anderen.«

Was war das denn jetzt gewesen? Larissa starrte ihm hinterher. Einen Moment lang fühlte sie sich unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Was war da eben geschehen? War überhaupt etwas geschehen? Er hatte sie doch nur kurz freundschaftlich in den Arm genommen, oder? Aber sie waren keine Freunde! Sie kannten sich tatsächlich fast gar nicht. Andererseits waren ja manche Menschen sehr freizügig mit physischen Berührungen. Vielleicht war er auch so ein Typ. Aber irgendwie fühlte es sich komisch an. Die Art, wie seine Hand ihren Rücken entlanggestrichen war, war merkwürdig intensiv gewesen. Vielleicht lag es aber auch an dem seidenweichen Ton, den seine Stimme plötzlich angenommen hatte. Da zuckte ein neuer, erschreckender Gedanke in Larissa auf. Müsste sie nicht eigentlich Rosi davon berichten? Doch das würde mit Sicherheit ihren hoffnungsvollen Plänen bezüglich einer neu aufkeimenden Freundschaft nicht förderlich sein. Was sollte sie tun? In einem Punkt war sie sich allerdings völlig sicher. Dennis würde sie nicht von dem Vorfall berichten. Obwohl es sogar etwas Verführerisches hätte, ihn wissen zu lassen, dass ein anderer Mann Interesse an ihr gezeigt hatte, kam das einfach nicht in Frage. Sie war doch so stolz darauf gewesen, endlich einmal selbst ein paar nette Leute von außen in die Beziehung einzubringen! Sie würde nicht zulassen, dass jetzt ein Schatten schon gleich auf dieses allererste Treffen fiele. Und überhaupt war das alles sicher nur Einbildung gewesen. Was war denn schon geschehen? Garnichts! Wenn sie es sich recht überlegte, war sie einfach überempfindlich gewesen, und Jonah hatte es wahrscheinlich nur gut gemeint.

»Und? Wie fandst du's?«, fragte Rosi fröhlich. Sie waren gerade wieder zu Hause angekommen und noch dabei, ihre Jacken auszuziehen.

»Ganz nett«, erwiderte Jonah unbestimmt.

»Nur ganz nett?« Rosi lächelte. »Ich finde, das war ein sehr schöner Nachmittag.«

»Das glaub ich dir. Ihr Frauen habt ja geschnattert ohne Ende.« Auch auf Jonahs Gesicht zeigte sich jetzt ein, wenn auch eher nachsichtiges, Lächeln.

»Das musst du grad sagen! Beim Thema Fußball seid ihr Männer ganz schön laut geworden.«

»Aber nur, weil wir uns neben eurem Geschnatter verständigen mussten.«

»Du redest Blödsinn. Bei den Sportthemen hat Larissa mit uns Frauen die Wohnungsführung gemacht. Wir haben euch teilweise nur von weitem gehört. Und selbst hinten im Schlafzimmer wart ihr noch gut zu verstehen.«

Jonah lachte und nahm sie in den Arm.

»Na schön. Dann haben eben alle geschnattert. Muss ich mir merken, dass wir in der Wohnung nicht hinter eurem Rücken über euch reden dürfen, weil man das bis in die hintersten Winkel hört.«

Rosi verzichtete auf den Hinweis, dass nicht die Wohnung besonders hellhörig, sondern die Lautstärke bei dem Männergespräch besonders hoch gewesen war. Stattdessen fragte sie noch einmal:

»Aber Larissa und Dennis sind doch sehr nett, oder?«

»Öhm … Ja, die sind nicht verkehrt. Mit ihm habe ich mich ganz gut verstanden. Sie ist, glaube ich, nicht so ganz mein Typ.«

»Wieso das denn? Ich fand …« Ausnahmsweise unterbrach Rosi sich selbst. Sie waren mittlerweile gemeinsam in der Küche angekommen, wo sie den Kühlschrank öffnete und, während sie hineinspähte, etwas unzusammenhängend murmelte:

»Wollen wir uns noch irgendeine Kleinigkeit zu essen bauen?«

Der Nachmittagskaffee hatte sich so lange hingezogen, dass ihre Gastgeber zum Schluss noch einen kleinen Salat und etwas Käse und Baguette aufgetischt hatten.

»Also mir hat das Essen gereicht. Wenn wir jetzt noch den Rest aus der Weinflasche vernichten, würde ich lediglich noch ein paar Chips dazu essen und wäre damit zufrieden.«

»Okay, vernichten wir«, erwiderte Rosi lakonisch, während sie die noch fast volle Weißweinflasche aus dem Kühlschrank nahm. Als »Rest« konnte man das eigentlich nicht bezeichnen, dachte sie bei sich. Erst als sie mit ihren Gläsern und der Schale mit den Chips vor dem Fernseher saßen (traditionell wurde Sonntagabends der Tatort eingeschaltet), fiel ihr wieder ein, dass ihre Frage nach Larissa gar nicht beantwortet worden war. Aber das war vielleicht auch nicht so wichtig. Insgesamt gesehen war es ein sehr schöner Nachmittag gewesen. Und wenn sie nun ihrerseits auch einmal das andere Paar einluden, würde Jonah ihre heutige Gastgeberin sicher etwas besser kennen und schätzen lernen. Da war sie ganz zuversichtlich. Larissa war wirklich sehr sympathisch; und im Allgemeinen hatten Rosi und Jonah ungefähr denselben Geschmack, was andere Menschen anging.

4

»Was tust du da, Jacob?«

Larissa war von hinten an ihn herangetreten. Jacob hockte vornübergebeugt auf der Erde und betätigte sich eifrig mit der Kelle. Einen Moment lang dachte sie, er hätte sie nicht gehört, denn er machte einfach weiter. Doch dann drehte er sich langsam zu ihr um.

»Ich nehme die Grube hier aus.«

»Du tust was?«

»Ich nehme die Grube aus. Baugrubeninhalte sind neuer als ihre Umgebung, wenn du dich erinnerst, und werden somit immer als erstes ausgenommen.« Jacobs Tonfall war zum Ende seiner Rede hin leicht spöttisch belehrend geworden. Larissa versuchte, ruhig zu bleiben, konnte aber nicht ganz verhindern, dass unterdrückte Wut in ihrer Stimme mitschwang, als sie antwortete:

»Ich möchte von dir keine Anleitung in trivialer Grabungstechnik haben. Ich möchte wissen, wieso du da auf dem Boden herumrutschst und die Kelle schwingst. Und was soll das Geschwafel von einer Baugrube?«

Jacob schien ehrlich erstaunt.

»Dies ist ein Brunnen, und für den Brunnen wurde eine Baugrube ausgehoben. Und ich hab erst mal selber mit dem Putzen angefangen, bevor die Jungs übernehmen. Ich denke, es ist in deinem Sinne, wenn wir die erst ranlassen, wenn die Übergänge hier etwas klarer zu erkennen sind.«

Larissa starrte ihren Grabungstechniker an. Dann sagte sie langsam, jedes Wort einzeln betonend:

»Jacob, wer hat behauptet, dass das da ein Brunnen ist? Über diesen Flächenabschnitt haben wir überhaupt noch nicht gesprochen!«

»He, das sieht man doch ziemlich eindeutig. Du kannst mir glauben, ich habe mir das wirklich gründlich und in Ruhe angeguckt …«

»JACOB!«

Wenigstens zuckte er bei diesem Ausruf ein wenig zusammen. Doch sein Blick war weiterhin der der gerechten Empörung, während Larissa fortfuhr:

»Ich habe mir den Abschnitt noch nicht 'gründlich und in Ruhe' angesehen. Und ich bin diejenige, die hier die Befunderhebung macht. Du bist der Grabungstechniker!«

»Aber wir besprechen doch immer alles. Und du hast selbst mal gesagt, dass ich ziemlich gut bin im Interpretieren der Befunde!«

Larissa biss sich auf die Lippen. Das stimmte. Jacob war, obwohl das offiziell nicht seine Aufgabe war, nicht schlecht im Deuten der Zusammenhänge. Und nicht selten war sie dankbar für seine Hinweise gewesen. Doch darum ging es hier nicht.

»Wenn ich deine Meinung wissen will, dann frage ich dich. Und du hast nicht einfach dazwischenzu …«

»Aber du hast mich doch gefragt!«

»Wie bitte?«

»Bevor du am Freitag ins Amt verschwunden bist, hast du noch gefragt, was diese Verfärbung da in der Fläche wohl bedeutet. Und ich habe geantw…«

»Jacob, jetzt ist Schluss! Ich habe wohl am Freitag irgend so etwas vor mich hingemurmelt. Aber erstens war das keine an dich gerichtete Frage. Und zweitens gäbe es dir, selbst wenn wir wirklich darüber gesprochen hätten, nicht das Recht, hier heute Morgen einfach so loszulegen und Befunde zu zerstören, bevor ich sie richtig gesehen habe.«

»Ich hatte dir am Freitag noch gesagt, dass ich dann heute gleich mit dem Freilegen anfangen wollte. Und du hattest nichts dagegen. Gezeichnet ist die Fläche auch schon …«

Jetzt schwang wirklich selbstgerechte Empörung in Jacobs Stimme mit. Larissa atmete tief durch und setzte an, ihm zu sagen, dass sie sich daran überhaupt nicht erinnern könne, als sie sich in letzter Sekunde selbst ausbremste. Was tat sie hier eigentlich? Sie hätte sich auf diese ausführliche Diskussion gar nicht erst einlassen dürfen! Warum fiel sie nur immer wieder darauf herein? Sie musste doch ihre Vorgehensweise nicht vor ihrem Techniker rechtfertigen! Nachdenklich blickte sie ihn an. Jacob hielt immer noch die Kelle in der Hand, hockte immer noch am Boden und blickte nun geradezu treuherzig zu ihr auf. Oder lag in seinem Blick eine gewisse Verächtlichkeit?

Mit ruhiger Stimme sagte Larissa: »Geh bitte zurück in den Abschnitt 22 und mache da die Profilzeichnung fertig, auf die ich immer noch warte.«

»Okay«, erwiderte er gleichmütig, stand auf und trottete hinüber zum anderen Grabungsabschnitt. Larissa betrachtete stirnrunzelnd den von ihm bereits penibel sauber abgezogenen Flächenabschnitt. Er könnte Recht haben, dachte sie resigniert. Es handelte sich wahrscheinlich tatsächlich um einen Brunnen.

»Mädels, ich halte einen Vortrag auf dem Symposium in München!«

Tabea verkündete ihre Nachricht wie einen Fanfarenstoß, während sie ins Zimmer gestürzt kam. Es war der Tag der monatlich stattfindenden sogenannten Wissenschaftlersitzung im Amt. Larissa, die zur Zeit kein eigenes Büro hatte, da ihr Arbeitsplatz momentan die Ausgrabung war, stattete gerade Rosi einen Besuch ab. Ihr Gesprächsgegenstand war, wie des Öfteren in der letzten Zeit, Jacob. Sie hatte Rosi eben gestanden, dass sie ziemlich froh darüber war, dass die Techniker an den Sitzungen nicht teilnehmen durften. Es war immer eine gewisse Erholung für sie, ihn wenigstens bei ihren gelegentlichen Stippvisiten im Amt nicht um sich zu haben. Doch jetzt war Jacob schlagartig vergessen. Vor allem, als Tabea fortfuhr:

»Und ihr beide seid dabei!«

Damit hatte sie die volle Aufmerksamkeit ihrer beiden Kolleginnen.

»Wir beide sind dabei? Larissa und ich?«, fragte Rosi gespannt. »Also, wir drei fahren zusammen nach München?«

»Na ja, es geht um das spezielle Thema Brunnengrabungen. Und da nun zufällig wir drei uns damit beschäftigt haben, sind wir gewissermaßen die Auserwählten.«

(Das kleine ironische Lächeln, das bei diesen Worten über Larissas Gesicht huschte, bemerkte Tabea nicht.)

»Das ist ja toll! Wir machen also zu dritt einen Münchentrip.« Rosi strahlte.

»Das ist dann mit Übernachtung, oder?« Inzwischen hatte die Aufregung offensichtlich auch auf Larissa übergegriffen.

»Klar«, erwiderte Tabea. »Geht ja gar nicht anders bei der Entfernung.«

»Dann …« Larissa zögerte einen Moment und versuchte ihre Gedanken zu sortieren, ehe sie fortfuhr: »Dann könnten wir doch noch eine Nacht dranhängen, oder? Ich meine …« Wieder zögerte sie. War der Vorschlag unpassend? Doch dann galoppierte sie einfach weiter in ihrem Text, ehe sie es sich anders überlegen konnte: »Wir könnten doch zu dritt mal einen Tag lang München unsicher machen!«

»Aber klar machen wir das!«, stimmte Tabea ihr begeistert zu, um – sich an ihre Freundin wendend – fortzufahren: »Rosi, was hältst du davon?«

Statt einer Antwort grinste die Angesprochene von einem Ohr zum anderen. Larissa stieß einen kleinen erleichterten Seufzer aus. Dann warf sie einen schnellen Blick auf die Wanduhr und sagte ruhig:

»Ich glaube, wir müssen dann mal. Es ist schon zwei Minuten nach Neun.«