... und eine Prise Wahnsinn - Alexander Herrmann - E-Book

... und eine Prise Wahnsinn E-Book

Alexander Herrmann

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Beschreibung

Alexander Herrmann ist mit zwei Michelin-Sternen und diversen TV-Auftritten einer der erfolgreichsten deutschen Spitzenköche. In diesem Buch erzählt er erstmals aus seinem Leben – und aus seiner Küche. Anekdotenreich beschreibt Herrmann, wie er vom beschaulichen oberfränkischen Wirsberg aus seine einzig­artige Karriere als Spitzenkoch und Multi-Unternehmer startete. Neben autobiografischen Einblicken ist es ihm aber auch ein Anliegen, den Leser an den Alltag hinter den Kulissen der Sterneküche heranzuführen. Dort unterscheidet sich sein Führungsstil ganz erheblich von dem Kasernenhofton, für den die Branche berüchtigt ist. Er setzt auf seine eigenen Methoden. In seinen Betrieben herrscht eine kollegiale und freundschaftliche Atmosphäre. Fehler dürfen passieren und was zählt, ist Teamgeist. Alexander Herrmann legt mit diesem Werk nicht nur seine Autobiografie vor, sein Buch ist gleichermaßen ein spannender Ratgeber für alle Manager, die abseits ausgetretener Pfade nach neuen Ideen für Motivation und Erfolg suchen.

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Seitenzahl: 255

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Copyright 2020:

© Börsenmedien AG, Kulmbach

Coverfotografie: Jens Hartmann

Gestaltung, Satz und Herstellung: Daniela Freitag, Timo Boethelt

Lektorat: Sebastian Politz

Korrektorat: Karla Seedorf

ISBN 978-3-86470-702-5ISBN 978-3-86470-703-2

Alle Rechte der Verbreitung, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Verwertung durch Datenbanken oder ähnliche Einrichtungen vorbehalten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Postfach 1449 • 95305 Kulmbach

Tel: +49 9221 9051-0 • Fax: +49 9221 9051-4444

E-Mail: [email protected]

www.plassen.de

www.facebook.com/plassenverlag

FÜR MAXI

ALEXANDER HERRMANN

mit Andreas Hock

…UND EINEPRISE

Wahn

SINN

Mein Leben und meine Lehrenaus Sterneküche und Fernsehen

INHALT

1 | MIT SEINEM SCHICKSAL ZU HADERN IST WIE SCHAUKELN:

Wie ich meine Eltern verlor und was ich daraus fürs Leben lernte

2 | ZWISCHEN GENIES UND WAHNSINNIGEN:

Was mir meine Lehrmeister beibrachten – und was ich mir lieber nicht abschaute

3 | MIT HUMOR-MOBBING GEGEN FEHLER:

Warum bei uns so viel gelacht wird und wie mir ein Zufall vielleicht das Leben rettete

4 | „KÖCHE FÜR NEUE TV-SENDUNG GESUCHT“:

Was ich dem Fernsehen zu verdanken habe

5 | EIN STERN, DER DEINEN NAMEN TRÄGT:

Welche Tücken die Spitzengastronomie mit sich bringt

KAPITEL 1

MIT SEINEM SCHICKSAL ZU HADERN IST WIE SCHAUKELN: WIE ICH MEINE ELTERN VERLOR UND WAS ICH DARAUS FÜRS LEBEN LERNTE

Mein erster Gedanke, nachdem ich gehört hatte, dass meine Eltern nicht mehr wiederkommen würden, war: „Dann muss ich ja heute gar nicht in die Schule gehen.“ Alles andere kam erst später.

Ich habe oft darüber nachgedacht, warum mir ausgerechnet so etwas Banales in den Sinn kam, nachdem mir Opa Karl die Nachricht von dem verheerenden Unfall überbracht hatte. Aber ich war noch ein Kind, das zwei Tage vor jenem 9. Juni 1980 gerade mal neun Jahre alt geworden war. Da waren wir gerade auf der Rückreise von einem kurzen Italienurlaub während der Pfingstferien, und beinahe hätten meine Mutter und mein Vater meinen Geburtstag vergessen, weil sie mit ihren Gedanken schon wieder zu Hause im Betrieb waren. Sie führten zusammen mit meinen Großeltern ein gut gehendes Hotel mit dazugehörigem Restaurant. Uns kannte jeder im Ort, bei uns feierte man die großen Anlässe wie Hochzeiten, Firmungen und Konfirmationen oder runde Jubiläen. Auch außerhalb von Wirsberg, unserer oberfränkischen Heimat, war das Posthotel der Familie Herrmann ein Begriff. Jedes Jahr während der Bayreuther Festspiele glich unser Haus einem Bienenstock, in dem sehr bekannte Menschen ein und aus gingen. Und ich war das inoffizielle Maskottchen des Ganzen.

Aus diesem Grund hatte ich keine normale, aber trotzdem eine schöne Kindheit. Unsere vielen Stammgäste kannten mich alle im Grunde seit meiner Geburt, weil wir praktischerweise direkt im Hotel wohnten: Mein Kinderzimmer und das Zimmer meiner Eltern lagen im Obergeschoss auf einem Flur direkt nebeneinander, flankiert von normalen Gästezimmern und mit einer Verbindungstür dazwischen. Ich besaß zwar keine eigene Toilette, aber immerhin ein Waschbecken, und wenn ich nur einmal die Treppe runterging, befand ich mich entweder im Lokal oder in der Küche. Das fühlte sich einerseits wie das totale Eldorado an, denn selbstverständlich war bei uns immer all das an Speisen und Getränken verfügbar, was es bei meinen Freunden selten oder gar nicht gab: alle denkbaren Sorten Sinalco-Limonade, Süßspeisen, Kakao, Sahne, Eis, Pommes und solche Dinge. Ich lernte schwimmen in unserem Hotelpool und lud regelmäßig meine Freunde zu fröhlichen Poolpartys ein. Das ganze Haus war manchmal ein einziger Abenteuerspielplatz, und natürlich war ich als Einzelkind sehr verwöhnt. Andererseits stand ich ständig gewissermaßen unter Beobachtung, aber das war schon in Ordnung so. Ich kannte es nicht anders.

Diejenigen, die häufiger bei uns übernachteten, fragten mich jedes Mal aus, was ich seit ihrem letzten Besuch alles erlebt hatte. Höflich erzählte ich eigentlich wildfremden Leuten meine Erlebnisse und wusste im Gegenzug, wer sie waren und was sie in ihrem normalen Leben machten. Erwachsene waren von Anfang an ganz normale Ansprechpartner für mich, was auch Vorteile haben konnte: Aßen sie mittags oder abends im Lokal, drückten mir manche auch schon mal eine Mark Trinkgeld in die Hand, wenn ich beim Abräumen half. Das war natürlich eine willkommene Aufbesserung meines Taschengelds und ermöglichte mir zum Beispiel, mir im örtlichen Lotto- und Krimskramsladen ein paar Comics oder Playmobil-Figuren zu kaufen – Dinge, die sich meine Kumpels nicht so einfach leisten konnten.

Auch im Ort selbst kannte mich jeder. Zunächst mal arbeiteten etliche Wirsberger bei uns, was schon eine gewisse Nähe zu vielen Leuten mit sich brachte. Die meisten Honoratioren der Gegend kehrten bei uns ein. Und weil ansonsten verdammt wenig los war, musste ich beim Bäcker, beim Metzger, beim Arzt, in der Kirche oder auch in der Schule stets Auskunft darüber geben, was es denn bei uns für spannende Neuigkeiten gab. Und die gab es, vor allem während der Festspielwochen. Weil in Bayreuth für diesen Zeitraum von Ende Juli bis Ende August seit jeher zu wenig Hotelzimmer verfügbar waren, verwandelte dieses Kulturereignis unser ansonsten verschlafenes Nest in einen Schmelztiegel aus Klatsch, Tratsch und Gerüchten. Da konnte es durchaus passieren, dass Menschen, die man sonst nur aus Funk und Fernsehen kannte, ganz selbstverständlich für ein paar Tage bei uns zu Gast waren, was im Dorf natürlich auffiel. Auch die Internationalen Hofer Filmtage im Oktober brachten jedes Jahr ein bisschen Glamour nach Wirsberg.

Udo Jürgens blieb etwa einmal während des Festivals für mehrere Nächte mehr oder weniger inkognito bei uns, in Begleitung einer unbekannten Schönen. Diese Gelegenheit wollte ich nutzen. Ich wusste von meiner Mutter und meiner Oma, dass der Mann ein echter Star war, und nahm in der Schule sogleich Bestellungen für Autogrammkarten an, die vor allem für die Eltern meiner Kumpels bestimmt waren. Als Gegenleistung wollte ich von meinen Klassenkameraden ein paar Panini-Bilder pro Signatur haben. Das war, wie ich fand, ein fairer Deal.

„Herr Jürgens, könnte ich bitte 20 Autogrammkarten von Ihnen haben?“, fragte ich ihn, als ich ihn am nächsten Morgen in der Hotelhalle traf, setzte mein nettestes Lächeln auf und klebte in Gedanken schon mein Bundesliga-Sammelalbum voll.

„Soso. Wie heißt du denn?“, fragte er, und ich antwortete wahrheitsgemäß mit meinem Vornamen.

„Na, hier hast du eine, mein Junge“, sagte er großmütig, schrieb „Für Alexander“ drauf, strich mir über den Kopf und ging von dannen.

Damit war mein Plan zerstört, denn nicht mal diese eine Karte konnte ich brauchen: Alexander hieß außer mir in meiner Klasse niemand und schon gar nicht ein Vater einer meiner Freunde. Somit musste ich mir meine Panini-Bilder selber zusammensparen, und Udo Jürgens fand ich erst mal nicht mehr ganz so toll, obwohl er noch für einige Zeit bei uns wohnte.

Heute, in Zeiten von Internetmedien, Facebook, Instagram und Co, wäre das undenkbar, aber damals war unser Wirsberg für wirklich viele berühmte Leute so etwas wie ein Rückzugsort, in dem sie von der Presse in Ruhe gelassen wurden. Für mich war es nichts Besonderes, wenn Größen aus Politik, Wirtschaft oder Sport im Frühstücksraum saßen, und meine Anekdoten über diese Promis kamen bei den anderen Bewohnern natürlich gut an – deshalb erzählte ich sie auch gerne weiter. Vielleicht half mir diese gewisse Sonderstellung viel später dabei, nicht abzuheben, bloß weil ich auf einmal im Fernsehen zu sehen war und mich der eine oder andere deshalb auf der Straße erkannte. Auch wenn das jetzt kokett klingen mag: Ich machte und mache mir rein gar nichts aus einer wie auch immer gearteten Bekanntheit, was – wenn ich das an dieser Stelle sagen darf – leider nicht selbstverständlich in der Medienbranche ist. Ich will auch ganz sicher kein Vorbild sein, zu dem man in dieser medial so schnelllebigen Welt schnell mal stilisiert wird. Aber dazu später mehr.

Innerhalb unserer Familie jedenfalls gingen alle weitgehend harmonisch miteinander um. Es gab trotz der vielen Arbeit selten ein lautes Wort, wenig Streit und kaum Ärgernisse, die über den Tag hinaus Bestand hatten. Natürlich hatten Mama und Papa häufig nicht allzu viel Zeit für mich. Meine Mutter musste sich ja um die Organisation kümmern, die Rezeption führen, die Buchhaltung machen oder neues Personal einarbeiten. Wir verfügten immerhin über 40 Gästezimmer, was bedeutete, dass es für sie im Grunde genommen tagtäglich 24 Stunden lang etwas zu tun gab. Mein Vater ging früh mit unserem Familienhund Eyk auf die Jagd, weil Wildgerichte zu seinen Spezialitäten gehörten, und stand danach bis abends am Herd. Dort bereitete er unter anderem seine legendäre Ente zu – für unsere Gäste, aber auch für seine Familie. Wenn die Mittagskundschaft gegangen und es im Gastraum ruhiger geworden war, setzten wir uns alle zusammen und aßen unsere Ente. Oder das, was Oma Herta von ihr übrig gelassen hatte, nachdem sie vorher immer wieder in der Küche von der Kruste genascht hatte. Noch heute ist dieses Essen für mich eine der emotionalsten Erinnerungen an meine Kindheit, und auch wenn vieles andere aus dieser Zeit längst in meinem Gedächtnis verblichen ist: Wenn ich heute eine Ente aus dem Ofen hole, sehe ich sofort meinen Vater vor mir, wie er dieses Festmahl feierlich und stolz auf unseren Tisch stellt.

VOM RESTAURANT AUF DIE BÜHNE:

„DIE PERFEKTE ENTE!“

Zutaten:

1 küchenfertige Ente (ca. 2,5–2,8 kg)

1 EL Sonnenblumenöl

Salz

Pfeffer

Für den Saucenansatz:

1 kleine Karotte

⅛ Knollensellerie

¼ Lauch

3 Schalotten

½ EL Butterschmalz (oder Öl)

200 ml trockener Rotwein

500 ml Gemüsebrühe

1 Lorbeerblatt

1 Gewürznelke

5 Wacholderbeeren abgeriebene Schale und Saft von 1 Bio-Orange

4 cl Aceto balsamico (gereift)

1 Prise brauner Zucker

1 Schuss Sojasauce

1 TL Speisestärke (nach Belieben)

hitzebeständige

Frischhaltefolie

Zubereitung:

Die Ente unter kaltem Wasser kurz abbrausen und mit Küchenpapier trocken tupfen. Außen leicht mit Öl einreiben und salzen, innen mit Salz und Pfeffer würzen. Die Ente dann mehrfach straff mit Frischhaltefolie umwickeln und auf einem Backgitter in den Backofen (Mitte) schieben. Den Ofen auf 70 °C (Umluft) schalten und die Ente 11 Stunden garen.

Danach die Ente aus dem Ofen nehmen und bei Zimmertemperatur kurz abkühlen lassen. Die Folie an den Enden vorsichtig aufschneiden und den gebildeten Fleischsaft in eine kleine Schüssel abgießen. Die Folie ganz entfernen und die Ente sofort weiterverwenden oder ganz abkühlen lassen, erneut in Frischhaltefolie wickeln und im Kühlschrank (2–3 Tage) oder im Tiefkühlfach (3–4 Wochen) lagern.

Für die Sauce:

Karotte und Sellerie schälen, Lauch waschen. Das Gemüse in daumengroße Stücke schneiden. Die Schalotten samt Schale (gibt dem Sud Farbe) halbieren.

Das Butterschmalz in einem Topf erhitzen und das Gemüse kurz darin anschwitzen. Mit dem Rotwein ablöschen. Die Schalotten zugeben und mit der Gemüsebrühe auffüllen. Lorbeerblatt, Nelke, angedrückte Wacholderbeeren und den Fleischsaft der confierten Ente (siehe Tipp) zufügen. Alles auf zwei Drittel einkochen lassen, dann durch ein Sieb abgießen.

Den Fond erneut aufkochen, etwas Orangenschale, Orangensaft, Essig und Zucker zugeben und mit Sojasauce oder Salz und Pfeffer abschmecken. Die Sauce nach Belieben mit der in kaltem Wasser angerührten Speisestärke leicht binden.

Den Backofen 30 Minuten vor dem Servieren auf 220–230 °C (Umluft) vorheizen. Die ausgewickelte Ente auf einem Backgitter in den Ofen (Mitte) schieben. Direkt darunter ein Backblech einschieben, damit das beim Rösten austretende Fett aufgefangen wird und nicht im Ofen verbrennt. Die Ente in 20–25 Minuten knusprig und rösch rösten. Dabei das ausgetretene Fett unbedingt alle 10 Minuten vom Blech abgießen.

Die geröstete Ente aus dem Ofen nehmen, auf ein Schneidbrett setzen und 3–4 Minuten ruhen lassen. Danach Keulen und Bruststücke abschneiden und servieren.

Tipp: Der Fleischsaft der Ente ist durch das Confieren weniger ergiebig als beim Schmoren, schmeckt aber viel intensiver.

Ab und zu versuchten meine Eltern, sich ein ganzes Wochenende für gemeinsame Ausflüge frei zu halten, aber das klappte freilich nicht immer. Immerhin nahm mich Papa regelmäßig mit auf seinem Traktor, wenn er etwa schwere Gegenstände transportieren, unseren Müll wegbringen oder in den Wald fahren musste. In diesen Momenten war er ein Held für mich. Doch wenn wir ausgebucht waren, dann gab es nur das Geschäft und sonst nichts.

Dafür kümmerte sich unsere Hausdame Monika Lottes rührend um mich. Sie war einst von meinem Uropa eingestellt worden und eine gesunde Mischung aus Oma, Tante und Kindermädchen. Früher brachte sie mich jeden Tag in den Kindergarten und holte mich an den meisten Tagen auch wieder dort ab. Wenn sie das nicht tat, weil sie früher Dienstschluss hatte, war meine Mutter dafür zuständig. Aber manchmal stimmten die Absprachen zwischen den beiden nicht und ich wurde irgendwie vergessen und blieb so lange, bis irgendjemand im Hotel merkte, dass der Junior nicht da war und mich mit nach Hause nahm.

Monika war nicht zuletzt aufgrund ihres Alters der ruhende Pol des Hauses. Sie hatte schon viel erlebt und ließ sich selbst von Unwägbarkeiten wie einem Feuer nicht aus der Ruhe bringen. Dieser Abend, an dem unser Posthotel brannte, wird mir ewig in Erinnerung bleiben. Dass unser Dachstuhl kokelte, war überhaupt nur deshalb aufgefallen, weil auf einmal der Klodeckel-Flokati meines Onkels in Flammen stand. Onkel Werner war vor Kurzem aus dem Ausland zurückgekehrt und wohnte ebenfalls mit im Hotel. Werner guckte nach oben, sah, dass bereits das Plastikrohr an der Badezimmerdecke zusammengeschmolzen war, und schlug Alarm.

Kurze Zeit später war die örtliche Feuerwehr da, wenig später traf dann auch die Verstärkung aus den umliegenden Dörfern ein. Monika hatte mich geweckt, mir meinen Kuschelpanther in die Hand gedrückt und war mit mir hinaus auf die Straße geeilt. Dort standen wir dann beide im Schlafanzug und schauten zu, wie die Einsatzkräfte den Brand bekämpften. Genauer gesagt: wie die eine Hälfte zunächst ihren eigenen Brand bekämpfte und sich gemütlich ein Pils an unserer Hausbar zapfte, während die andere Hälfte weitere Rettungsmaßnahmen einleitete. Meine Eltern versuchten derweil, die ebenso trinkfreudigen Gäste aus der Kommunalpolitik in unserer voll besetzten Jägerstube davon zu überzeugen, dass es doch sicherer sei, den Raum zu verlassen. Das musste man sich mal vorstellen: In unserem Lokal saß die komplette Riege der oberfränkischen CSU-Führung, während das Haus brannte. Niemand schien sich dafür zu interessieren, wie gefährlich die Situation war, was möglicherweise an der bereits recht fortgeschrittenen Abendstunde lag. Wo heutzutage wahrscheinlich ein Spezialkommando einen zusätzlichen Eingang in das Gebäude sprengen würde, herrschte vor mehr als 40 Jahren eine aus jetziger Sicht geradezu unglaubliche Gelassenheit auf allen Seiten. Erst als das Löschwasser in der Stube durch die Decke tropfte und der erste Kellner einen Regenschirm aufspannte, bequemten sich die Politiker einen Raum weiter – und die Feuerwehr nahm ihre Arbeit auf. Angesichts der Brandschutzauflagen, die es mittlerweile für gastronomische Betriebe einzuhalten gilt, kann ich heute noch nicht fassen, was alles hätte passieren können. Doch es ging zum Glück alles gut – und nach ein paar Wochen waren die Schäden wieder behoben.

Schon zu Vorschulzeiten machten Monika und ich jeden Morgen unsere Runde, wenn die Frühaufsteher unter den Gästen bereits im Speisesaal saßen. Genauer gesagt folgte ich ihr von Zimmer zu Zimmer, um mir ausführlichst die Handlungen der Gruselfilme erzählen zu lassen, die am Vorabend in der ARD oder im ZDF liefen und die ich natürlich nicht sehen durfte – schon allein, weil ich stets um acht Uhr schlafen gehen musste. Unsere furchtlose Hausdame hingegen hatte eine besondere Vorliebe für diesen Kram, was mich faszinierte. Als Gegenleistung für diese streng geheimen Informationen über „Dracula“, „Tanz der Vampire“ oder „Tarantula, die Riesenspinne“ half ich Monika beim Bettenmachen, weshalb ich auch heute noch Horrorstreifen mag – und in der Lage bin, Bezug, Kissen und Decke so akkurat zu falten, wie es nur im Hotel gemacht wird oder allenfalls noch bei der Bundeswehr.

Dann war da noch die gute Gertrud, unsere bereits knapp 80-jährige Kaltmamsell, die in dieser Eigenschaft in der Küche – wie die Bezeichnung schon sagt – seit Ewigkeiten für die Zubereitung der kalten Speisen zuständig war. Gertrud, die um die Jahrhundertwende geboren worden und von daher eine ungemein vielseitige Zeitzeugin war, wusch zentnerweise Salate und bastelte kunstvoll die damals schwer angesagten Aspiks zusammen. Vor allem aber ließ sie mich jedes Mal wieder von ihrem großartigen Plätzchenteig naschen und den Teig für ihre weit über den Ort hinaus berühmten Kuchen und Torten kneten. Nur ihren Kaba mochte ich nicht so gerne, weil sie ihn, wahrscheinlich wegen ihrer Erfahrungen mit all den Entbehrungen der beiden miterlebten Kriege, mit Wasser – Marion vom Empfang hingegen mit Milch – zubereitete.

Und es gab zu meinem Glück auch noch den Gramp Hans, unseren treuen Hausmeister. Dieser Mann kümmerte sich nicht nur um alles, was im und rund ums Hotel repariert werden musste – was ihm auch immer gelang. Er war zudem ein Weltenbummler und ein Abenteurer, kurz: ein Begleiter, wie man ihn sich als kleiner Junge nur wünschen konnte. Hans war grauhaarig, gut aussehend und wusste auf fast jede Frage eine passende Antwort. An seinen freien Nachmittagen nahm er mich oft in seinem alten VW-Pritschenwagen zu den nahe gelegenen Fischweihern mit. Dort saßen wir stundenlang und angelten, mit allen Tricks, die ein erfahrener Angler nur anwenden konnte. Er baute sich all seine Werkzeuge selbst zusammen, konnte binnen weniger Minuten ein riesiges Lagerfeuer entfachen und schaffte es, aus den Weihern die allergrößten Fische an Land zu ziehen, die dann auf den Tellern der erstaunten Gäste landeten. Wenn man so will, war Hans der fränkische Indiana Jones, für mich zumindest.

Sein Hobby war das Goldschürfen. Wenn er Urlaub hatte, kratzte er alle Ersparnisse zusammen, flog kreuz und quer in der Welt herum und tat sich oft mit dubiosen Glücksrittern zusammen, um den einen großen Schatz zu finden, der ihn reich machen würde. Leider fand er ihn nicht. Dafür schickte er uns immer Postkarten aus fernen Ländern, die wir im Hotel staunend herumreichten. Nachdem er in Rente gegangen war, widmete er sich seiner Leidenschaft noch intensiver, und bis weit in die 90er-Jahre hinein schrieb er mir Briefe, etwa aus Paraguay oder Uruguay. Darin berichtete er mir von seinen gefährlichen Aktivitäten und erzählte etwa davon, dass er aus Sicherheitsgründen nur mit einer Schrotflinte auf dem Bauch schlief.

Es war ein großes Glück, so viele Menschen um mich herum zu haben, die wie eine Familie für mich da waren, ohne dass sie zur eigentlichen Familie gehörten. Trotzdem waren natürlich meine Eltern sowie Opa und Oma meine engsten Bezugspersonen. Und für die war klar, dass ich als Stammhalter eines Tages in Vaters Fußstapfen treten und sein Nachfolger als Küchenchef und erster Hotelier am Platz in Wirsberg werden würde.

Überhaupt Wirsberg: Meine Heimat ist ein Markt mit nicht ganz 2.000 Einwohnern, knapp zehn Kilometer östlich von Kulmbach und ungefähr 15 Kilometer nördlich von Bayreuth. Es gibt zehn Ortsteile, die Einöd heißen oder Schlackenmühle. Um den Marktplatz herum, gegenüber dem Posthotel, stehen einige schöne Fachwerkhäuser und eine Kirche, in der das Bild eines Schülers von Lucas Cranach hängen soll, genau weiß man das nicht. Wirsberg verfügt über eine Apotheke, eine Jugendherberge, eine kleine Tankstelle und einen Naturlehrpfad. Die Nachbargemeinden sind Gefrees, Marktschorgast oder Trebgast, und für größere Einkäufe muss man schon nach Neuenmarkt oder Himmelkron fahren. Es geht also bei uns, um es freundlich zu formulieren, sehr beschaulich zu.

Nun ist Oberfranken inzwischen trotz aller noch immer vorhandenen strukturellen Herausforderungen eine herrliche Region mit vielen Freizeitmöglichkeiten, in der sich in den letzten Jahren unheimlich viel getan hat. Damals jedoch lag Wirsberg zwar nicht ganz am Arsch der Welt, aber zumindest konnte man ihn von hier aus ziemlich gut sehen. Und was man leider auch gut erkennen konnte – zumindest, wenn man ein paar Kilometer weiter in Richtung Norden fuhr und der Nebel nicht allzu dicht im Fichtelgebirge festhing –, waren die hässlichen Begleiterscheinungen der Zonengrenze zur DDR und zur Tschechoslowakei: die Türme, Grenzanlagen und Zäune, die den tristen, grauen Horizont noch ein bisschen trister und grauer machten. Ab und zu fuhren wir dorthin, um uns zu gruseln: auf die andere Seite der Autobahn A9, die bei Rudolphstein oder hinter Rehau zur berüchtigten Transitstrecke nach Berlin wurde, und sahen hinüber in den Ostblock, wo in den langen Wintern die Schlote immer sehr dunklen Rauch ausstießen.

Heute hingegen, 30 Jahre nach dem Gott sei Dank erfolgten Fall der unsäglichen Mauer, ist unsere Gegend sogar beinahe der offizielle Mittelpunkt Europas – zumindest befindet sich seit dem EU-Austritt Großbritanniens dieser geografisch so symbolträchtige Ort tatsächlich nur rund 150 Kilometer entfernt im unterfränkischen Veitshöchheim. Seinerzeit aber war unsere Lage am Rande des Nichts und kurz vor dem real existierenden Sozialismus gleichbedeutend mit einem Leben im Niemandsland, das von der großen Politik irgendwie vergessen worden war. Nürnberg oder gar München waren für uns nicht nur rein entfernungsmäßig sehr weit weg, sondern fast wie aus einer anderen Welt, und man konnte sich kaum vorstellen, dass sich unser kleines, entlegenes Wirsberg im selben Bundesland befinden sollte. Andererseits führte diese Abgeschiedenheit zu einer gewissen Gelassenheit der Menschen, die ich auch heute noch sehr schätze. Hier regte man sich schon immer viel weniger über Kleinigkeiten auf, nahm die Dinge, wie sie eben waren, und machte das Beste aus den Gegebenheiten. Wie anders die Uhren bei uns ticken, konnte man allein schon daran erkennen, dass unser Bürgermeister bis vor Kurzem noch derselbe Herr war, der seinerzeit als offizieller Vertreter der Gemeinde am Grab meiner Eltern stand. Erst bei der Kommunalwahl 2020 wurde der gute Hermann Anselstetter nach sage und schreibe 42 Jahren von Jochen Trier abgelöst, mit dem ich zusammen in die Schule ging. Man kennt und kannte sich in solch kleinen Ortschaften, und das ist gut so. Wirsberg ist meine Heimat, nirgends ist es schöner.

„Alexander“, sagte also mein Großvater am frühen Montagmorgen und atmete tief ein. „Deine Mutter und dein Vater kommen nicht mehr nach Hause. Sie hatten gestern einen Unfall.“

Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass sie nicht nach Hause gekommen waren. Ich lag schon früh im Bett, und es kam sehr häufig vor, dass sie abends im Hotel unterwegs waren, letzte Arbeiten erledigten oder einfach mit den Gästen sprachen. Daher dachte ich mir nichts dabei, als ich nebenan nichts hörte, bevor ich einschlief. Ausnahmsweise hatte ich keine Lust gehabt, am Sonntagmorgen mit ihnen mitzufahren. Meine Eltern wollten gute Freunde in Würzburg besuchen, die gerade eine schwierige Phase in ihrer Ehe durchmachten, und ihnen ein bisschen mit Rat und Tat zur Seite stehen. Das versprach nicht gerade einen spannenden Tag.

„Ach, komm schon. Anne-Kathrin freut sich sicher, dich zu sehen. Du kannst doch mit ihr spielen, während wir reden“, meinte meine Mutter.

„Heute möchte ich echt nicht, Mama“, bat ich. „Lass mich doch lieber hierbleiben. Es ist so schönes Wetter.“

Das stimmte auch, vor allem, weil es Anfang Juni überall noch kalt und regnerisch gewesen war, auch in Italien, und erst seit ein paar Tagen richtig sommerlich und warm wurde. Aber das war nur die halbe Wahrheit. Auch die Aussicht, dass mir die gleichaltrige Tochter unserer Bekannten sicherlich in aller Ausführlichkeit ihr Puppenhaus vorführen würde, war nicht der Grund, warum ich mich gegen die knapp 160 Kilometer lange Fahrt sträubte: Mein Vater wollte sie in seinem Sportwagen antreten und nicht in unserem Familien-Passat, der an sich für die praktischen Ausfahrten vorgesehen war. Papa machte sich nichts aus Geld oder gar Luxus, aber beim Thema Autos setzte bei ihm manchmal die Ratio aus. Und so hatte er sich vor einigen Jahren einen Ferrari 308 GT4, genannt Dino, gekauft, der – im Gegensatz zu den anderen Modellen dieses Herstellers – vier Sitze besaß, damit wir zu dritt damit unterwegs sein konnten. Das mit den vier Sitzen war allerdings ein schlechter Witz, denn auf der Rückbank hatte man selbst als Kind weniger Platz als in einem durchschnittlichen Reisekoffer. Trotzdem fuhren wir mit dem Ding – wie eben auch über Pfingsten – regelmäßig nach Südtirol; nicht nur, aber auch, weil sich in Bozen eine Ferrari-Vertragswerkstatt befand, wenn mal wieder etwas an dem Wagen nicht richtig funktionierte. An diesem Tag jedoch wollte ich mich beim besten Willen nicht schon wieder in den Dino quetschen.

„Dann lass den Buben halt da“, sagte mein Vater milde, während er sich vor dem Spiegel gerade sein Halstuch richtete. Er sah richtig schick aus und trug sogar ein Jackett – weniger wegen unserer Bekannten, sondern weil er noch in einer Zeit groß geworden war, in der man sich an Sonntagen besonders herausputzte.

„Sag mal, Papa, was wäre eigentlich, wenn ihr nicht wiederkommt?“, fragte ich plötzlich.

Ich hatte keine Ahnung, wie ich auf diesen abwegigen Gedanken gekommen war und warum er mir ausgerechnet jetzt durch den Kopf ging. Meine Eltern waren immer mal wieder allein unterwegs gewesen und nie hatte ich mir deshalb Sorgen gemacht. Aber als ich meinen Vater so dastehen sah, elegant und voller Vorfreude auf den kleinen Ausflug bei herrlichstem Sonnenschein, beschlich mich eine seltsame Angst, fast schon eine Vorahnung, es könnte das letzte Mal sein – was ich aber erst viel später richtig begriff. Es mag befremdlich klingen, aber seit jenem Tag hatte ich dieses mulmige Gefühl noch mehrere Male. Ich weiß noch, dass ich einmal Jahre später von unterwegs aus zu Hause anrief und meinen Großvater besorgt fragte, ob alles in Ordnung sei.

„Wieso fragst du?“, wollte er wissen und ich erzählte ihm, dass ich mich gerade irgendwie an besagten Moment mit Papa erinnerte.

„Onkel Werner hatte tatsächlich einen Unfall“, berichtete er. „Ihm ist auf der großen Kreuzung vorne am Ortseingang ein Lastwagen ins Auto gefahren. Das Auto ist hin, aber Werner geht’s zum Glück gut.“

Ich musste schlucken, weil mich mein – nennen wir es ruhig mal so – sechster Sinn erneut nicht getrogen hatte. Und auch das Verkehrsunglück, das nochmals etliche Jahre danach unserem Mitarbeiter Andreas passierte, sah ich in einer für Außenstehende nicht beschreibbaren Weise voraus. Diese Geschichte ging ebenfalls halbwegs glimpflich aus, aber seitdem ist es bei uns in der Familie oder im Unternehmen ernsthaft so, dass sich niemand mehr ans Steuer setzt, wenn ich im Vorfeld ein ungutes Empfinden habe. Ich teilte meine mysteriöse Eingebung schon mehrfach mit – und die anderen hörten glücklicherweise jedes Mal auf mich. Seitdem ist, so blöd das klingen mag, nichts Schlimmes mehr passiert.

„Also, Alexander“, beschwichtigte mein Vater. „So ein Unsinn! Wieso sollen wir denn nicht wiederkommen?“

Er lachte meine Sorge hinweg. Dann nahm er meine Mutter an der Hand und ging mit ihr fröhlich hinunter zur Garage.

Es passierte auf der Bundesstraße 22, ganz in der Nähe von Bamberg. Der Fahrer des entgegenkommenden Wagens hatte offenbar die Kontrolle über sein Auto verloren. Hinterher hieß es, dass der Verursacher am Steuer einen Herzinfarkt erlitten hatte, aber ob das stimmte oder er einfach nur zu schnell fuhr oder zu leichtsinnig überholte, ließ sich im Nachhinein nicht mehr feststellen, denn er starb bei dem Frontalaufprall sofort. So wie auch mein Vater, weil das andere Fahrzeug direkt auf seine Seite geprallt war. Meine Mutter wurde schwer verletzt in die Uniklinik nach Erlangen gebracht, wo sie eine Zeit lang von den Ärzten am Leben erhalten wurde. Sie lag dort mehrere Monate und ich besuchte sie ein einziges Mal. Sie hing da an den vielen Schläuchen, angeschlossen an eine Beatmungsmaschine und nicht mehr in der Lage, zu sprechen oder sonst etwas zu tun, was mit einem normalen Dasein zu tun hatte, und ich konnte es nicht ertragen, sie noch ein weiteres Mal zu sehen. Für mich stand fest, dass ich meine beiden Eltern an diesem 9. Juni verloren hatte. Danach legte sich in dieser Hinsicht ein Schleier um mich, der sich bis heute nicht wirklich gelüftet hat.

Von Mamas tatsächlichem Todestag ein knappes halbes Jahr später weiß ich nur noch, dass ich mittags in meinem Zimmer die Kirchenglocken außergewöhnlich lange läuten hörte. Ich dachte mir nichts weiter dabei, und niemand traute sich, mir die Wahrheit zu sagen. Auch mein Großvater brachte es nicht übers Herz, mir die Nachricht zu überbringen. Erst am nächsten Tag nahmen mich dann mein Onkel und meine Tante beiseite und erklärten mir, warum die Glocken länger als sonst üblich geläutet hatten.

„Gestern haben sie deine Mama gebracht“, sagten sie nur zu mir und drückten mich fest an sich.

Erst in diesem Augenblick begriff ich, dass mein Leben nicht mehr dasselbe sein würde. Ich dachte nicht darüber nach, was nun alles auf mich zukommen könnte und welche persönlichen oder organisatorischen Konsequenzen es mit sich brächte, ein Waisenkind zu sein. Aber es leuchtete natürlich auch mir als Neunjährigem ein, dass meine kleine, heile Welt, die sich weitgehend in einem gemütlichen Landhotel abgespielt hatte, in dieser Form nicht mehr existierte. Es war eine brutale Zäsur, ohne Frage. Und es haute mich auch erst mal aus der Spur. Aber das Komische ist: Die berühmte Frage nach dem Warum hat mich dabei nie interessiert. Es war so, wie es war, und damit musste ich umgehen. Jammern war keine Option für mich. Ich finde, mit seinem Schicksal zu hadern ist wie Schaukeln: Man bewegt sich nur hin und her, aber man kommt keinen Schritt weiter. Nach und nach lernte ich, die guten Momente im Leben viel stärker wertzuschätzen und nicht als selbstverständlich zu erachten. Trotz allem empfand ich es auch niemals so, als habe mir der Unfall meine Kindheit geraubt. Vielleicht lag das daran, dass ich im Gegenteil erst recht versuchte, mir ein Stück dieser Kindheit in meinem Herzen zu bewahren. Und mit dieser Sichtweise ging ich stets auf andere Menschen zu.

Im Laufe der Jahre wurde ich immer wieder von neuen Mitarbeitern, aber auch von Fremden und Gästen darauf angesprochen, was wir im Posthotel anders machten – weil bei uns eine unbeschwertere, fröhlichere und entspanntere Stimmung herrschte als bei vielen anderen Spitzengastronomen, die sie zuvor kennengelernt hatten. Mir war das gar nicht so sehr aufgefallen, aber irgendwann begann ich trotzdem, darüber nachzudenken. Es ist gut möglich, dass mir die Einstellung, die ich mir nach dem Tod meiner Eltern notgedrungen aneignen musste, nicht nur bei der Bewältigung meiner Trauer half, sondern auch dabei, wie ich heute auf meine Mitmenschen, insbesondere meine Mitarbeiter, zugehe. Auch wenn es zugegebenermaßen ein wenig gedauert hat, zur genauen Erkenntnis hierüber zu gelangen. 34 Jahre lang, um genau zu sein.

Am 26. Oktober 2014 saßen mein Wirsberger Team, Oma Herta und ich in einem Bus auf dem Weg ins „Palazzo“, einer Art Dinner-Varieté-Show, die ich seit einigen Jahren immer im Winter in einem Zelt gegenüber dem Nürnberger Volksfestplatz veranstaltete. Es war ein milder Herbstsonntag, und wir hatten den Betrieb extra für diesen Ausflug früher geschlossen. Ich war gerade Anfang 40 und – wenn man das so sagen konnte – auf dem Gipfel meines Erfolgs. Das Hotel lief gut, mein Küchenchef Tobias Bätz und ich hatten bereits 2008 unseren ersten „Michelin“-Stern erkocht und seitdem immer wieder bestätigt bekommen. Seit einem knappen Jahr gehörte ich zur Besetzung der neuen TV-Sendung „The Taste“ auf Sat.1, und ebenjenes „Palazzo“ hatte sich nach anfänglichen Startschwierigkeiten ebenfalls fest im Veranstaltungskalender der Region etabliert und war meistens ausgebucht.