Unser Suchtbericht - Kai Sender - E-Book

Unser Suchtbericht E-Book

Kai Sender

4,7

Beschreibung

Kai und Gisela Sender erzählen, wie sie die Krise bewältigt haben, in die sie Kais Glücksspielsucht gestürzt hat. Kai zeigt sein Tagebuch einer stationären Therapie und des ersten Jahres danach. Gisela berichtet aus ihrem Blickwinkel, dem der Angehörigen. Das alles wird entwaffnend ehrlich, aber auch mit viel Humor erzählt. Die Senders haben es geschafft und hoffen, mit diesem Bericht Betroffenen und Angehörigen Mut zu machen, den Weg aus der Sucht anzutreten. Es lohnt sich. "Endlich erklärt mal jemand aus Sicht der Betroffenen und Angehörigen, was Therapie machen bedeutet!"

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Unser Suchtbericht

Vor der KlinikIn der KlinikNach der KlinikGiselaImpressum

Vor der Klinik

Der Start

Das bin ich. Und dieses Buch wird peinlich. Sehr peinlich.

Sonntag, 24. April

Es ist Ostersonntag 2011 und ich hätte nicht gedacht, diesen Tag zu erreichen. Jetzt geht es los, mein Suchttagebuch. Seit fünf Monaten bin ich spielfrei (so nennt man die Abstinenz in der Spielsucht), seit 17 Jahren bin ich trocken.

Ich habe jahrelang gezockt, jede Menge Geld und vieles mehr verloren, meine Frau und alle Menschen um mich herum an der Nase herumgeführt. Ich habe allen etwas vorgemacht. Auch mir.

Dann hatte ich einen lichten Moment, in dem ich erkannte, was ich gemacht hatte – und dass ich es nicht ungeschehen machen konnte. Ich konnte es nicht glauben – DAS hatte ICH gemacht? Was war nur los mit mir?

Ich hatte Selbstmordgedanken. Meine Ärztin meinte, bei meinen Fantasien bliebe mir nur die geschlossene Abteilung eines Krankenhauses. Nun ja, nach einigen Wochen wurde ich wieder nach Hause entlassen. Noch in der Klinik hatte ich den Entschluss gefasst, mein Leben wieder neu aufzubauen, Stein auf Stein – auch mit Hilfe einer Therapie.

Dazu werde ich Euch noch einiges erzählen. Aber jetzt ist es Ostersonntag.

Momentan warte ich auf die Genehmigung meiner stationären Entwöhnungsbehandlung – das ist die Langzeittherapie in einer Klinik. Ich hoffe, sie wird mir genehmigt, ich hoffe, ich komme in meine Wunschklinik Marienstift Dammer Berge und ich hoffe – ich schaffe es.

Der Tag ist sonnig, gleich kommt die Familie. Ich werde hier schreiben, wie und was ich denke, ohne Hemmungen – weil ich hoffe, dass es jemandem weiterhelfen kann, der ähnliches erlebt hat wie ich und der ähnlich verzweifelt ist oder war.

Vielleicht liest es ja auch niemand ... dann aber hat es wenigstens mir selbst geholfen. Denn wenn man manche Gedanken ausspricht oder schreibt, werden sie einem noch einmal so klar.

Das erlebe ich immer wieder in den Suchtgruppen, an denen ich teilnehme. Das sind fünf Stück in der Woche, drei davon im Klinikum Bremen–Nord und jeden Donnerstagabend in der Selbsthilfegruppe GGG – Gemeinsam gegen Glücksspielsucht, die ich seit kurzem besuche.

Ich bin jetzt sehr aktiv im „Kampf“ gegen meine Sucht. Mir bleibt ja nichts anderes, wenn ich mein Leben nicht komplett wegwerfen möchte.

Süchtige und Gefühle

Donnerstag, 28. April

Gestern Mittag war ich wieder im Klinikum Bremen–Nord zur Suchtinfo. Frau U. macht das immer richtig gut, sie lässt kein Gelaber zu und bringt die Dinge auf den Punkt, dabei ist sie aber stets freundlich und zeigt Mitgefühl. Thema sollte eigentlich sein „Folgeerkrankungen des Alkoholkonsums“ – nach einer Weile aber ging es über zu den Ursachen von Wut und Ärger.

Was sind die Ursachen von Wut und Ärger? Verletzung, Angst, Unsicherheit, Traurigkeit, Enttäuschung – sucht Euch was aus ... Sie legte uns vier Schritte ans Herz, die jeder Süchtige besonders beachten und erlernen sollte:

1.Gefühle wahrnehmen

2.Gefühle annehmen

3.über Gefühle reden

4.Gefühle zeigen

Na Bravo, ich bin ja schon bei Schritt eins. Das kann nur besser werden. (Anmerkung lange Zeit später: Heute habe ich es drauf, meine Gefühle wahrzunehmen, sie zu akzeptieren und auch zu äußern. Das mit dem Zeigen der Gefühle klappt noch nicht so ganz, aber schon ganz gut. Diese vier Stufen, der Leser wird es noch merken, waren von Anfang extrem wichtig für mich. Sie sind extrem wichtig für alle Süchtigen.)

Nah dran, die Explosion!

Sonnabend, 30. April

Gestern Morgen habe ich eine Situation erlebt, die mich sehr verärgert hat.

Ich war sehr aufgeregt. Und da Süchtige besonders auf ihre Gefühle achten sollen, weil sie während des Konsums ihrer Droge – Alkohol, Spielen, was auch immer – generell ihre Gefühle weggedrückt oder zumindest manipuliert haben, habe ich mich selbst einmal beobachtet: Was fühle ich gerade?

Und da waren Ärger, Wut, Enttäuschung, Angst. Der Ärger war eigentlich mehr der Ärger über mich selbst als über andere – ich hatte nicht erreicht, was ich erreichen wollte – und da saß ich dann, völlig aufgeregt und sah mir zu.

Also Licht aus, Spot an: was fühle ich gerade und (ja ich weiß, klingt abgedroschen ...) was macht das mit mir?

Mir wurde dann erst klar, was ich und warum ich es fühle und dass ich dadurch erst so aufgedreht bin und dann habe ich mir Hilfe geholt und mit meiner Frau telefoniert.

Also ich habe geredet ... und noch dazu über meine Gefühle! Unfassbar! Noch vor fünf Monaten hätte ich in der Situation sofort gespielt, also meine Droge genommen und mich „zugemacht“ – bloß keine Gefühle wahrnehmen, jedenfalls keine unangenehmen – sofort spielen, weil das ja ein gutes Gefühl machte – jedenfalls für mich Süchtigen.

Glücklicherweise war mittags auf der Station P1, wo ich ja momentan noch ambulant in Behandlung bin, wieder Suchtgruppe. Ich habe mein Erlebnis zum Thema gemacht. Es war nur eine kleine Runde, vier Patienten insgesamt und eine Therapeutin – und je kleiner die Runde, desto besser – diese Erfahrung habe ich mittlerweile gemacht. Es tat mir gut, noch einmal darüber zu reden.

Warum schreibe ich das alles? Weil ich gemerkt habe: Es war eine brenzlige Situation, früher hätte ich sofort gespielt, aber ich habe diese Gefühle ausgehalten und mir Hilfe geholt: Ich habe darüber geredet! Das ist für mich ein bedeutender Etappensieg gewesen – für jeden Gesunden wäre das ein völlig normales Erlebnis gewesen, wahrscheinlich ohne jede Bedeutung.

Aber für mich war der Freitagmorgen wichtig.

... and counting down!

Sonntag, 1. Mai

Je mehr mir aufgeht, wie wichtig Gefühle für mich als Spielsüchtiger sind, wenn ich von meiner Droge des Spielens dauerhaft lassen, also spielfrei sein will, desto mehr wird mir klar, dass ich gar nicht so viele Gefühle kenne, jedenfalls nicht mit Namen.

Also habe ich ein wenig herumgesucht und erst mal folgende Liste der Gefühle zusammengestellt, die gerne ergänzt werden kann (muss):

aggressiv allein angegriffen ängstlich ärgerlich ausgelaugt bedroht bedrückt belästigt bestätigt bestraft betäubt betrogen bevormundet dankbar eingeengt eingeschüchtert einsam erleichtert erniedrigt erregt fit frei freudig geborgen geduldig gefühllos gelangweilt geschmeichelt gespannt gesund glücklich hilflos hoffnungslos jähzornig krank leer leicht lustlos lustvoll minderwertig müde nervös nichts niedergeschlagen ohnmächtig provoziert reuevoll ruiniert sauer Scham schuldig schwach stark stolz traurig überrascht ungeliebt unglücklich unsicher unterfordert unterschätzt unterstützt unwichtig verachtet verbittert verfolgt verlassen verletzt verstanden verzweifelt wütend zornig

Mehr kenne ich nicht – und hatte auch nicht gedacht, dass ich überhaupt so viele Gefühle kenne. Wahrscheinlich habe ich sogar alle diese Gefühle schon mal selbst gefühlt, wenn ich nicht gerade meiner Sucht genüge getan habe ... also spielend oder, ja, saufend. Das reicht für heute. Komme mir ja schon merkwürdig vor mit dieser Gefühlsduselei.

SHG OK? *

Sonnabend, 7. Mai

In der letzten Woche war ich zum ersten Mal nicht in allen fünf Suchtgruppen, weil ich Handwerker zu Hause hatte und aufpassen musste.

Deshalb fiel für mich am Montag die Suchtgruppe auf der P1 aus und ebenso die Motivationsgruppe auf der P2, auch am Mittwoch war ich nicht zur Suchtinfo auf der P1.

Natürlich hatte ich mich abgemeldet, klar zu sein ist ja wichtig für mich als Süchtigen, aber es war trotzdem ein komisches Gefühl, nicht dort zu sein. Es war in Ordnung und ich habe ja nicht wegen Faulheit gefehlt, aber trotzdem habe ich mich nicht so ganz wohl gefühlt.

Das habe ich am Freitag dann auch in der Suchtgruppe zum Thema gemacht. Und ich habe gesagt, dass wer ohne triftigen Grund an einer Suchtgruppe nicht teilnimmt – Arbeit, Krankheit, Behördenbesuch oder ähnliches – anfängt, die Suchtgruppen nicht ernst zu nehmen.

Und wer das tut, nimmt dadurch auch seine Suchtkrankheit nicht ernst. Was daraus unweigerlich folgt, ist klar: der Rückfall.

Jeder Diabetes–I–Typ muss seine Krankheit ernst nehmen und stets wachsam sein, und zwar, solange er krank ist. Dann kann ich als Süchtiger das erst recht.

Wo ist das Problem?

Ohne triftigen Grund eine Suchtgruppe zu versäumen, ist ein absoluter Fehler und mehr noch: ein Anzeichen für höchste Gefahr – der Rückfall ist im Anmarsch!

Da denke ich doch an meinen Gruppenfreund Thomas, der stets sagt: „Der Besuch der Selbsthilfegruppe ist meine Medizin, die ich mir jede Woche abhole. Oder mein Rettungsring, der mich über Wasser hält!“

* Wer‘s nicht weiß: SHG heißt natürlich Selbsthilfegruppe

Ach, bei Dir auch?

Montag, 9. Mai

Neulich war ich auf einer Hochzeit. Im Standesamt war es sehr feierlich und wir hörten einiges darüber, wie eine gute Ehe aussieht.

Meiner Frau kamen die Tränen vor Rührung und als ich das sah und überlegte, wie ich mich ihr gegenüber die letzte Zeit verhalten hatte, spürte ich schon, dass mir auch gleich die Tränen kommen würden.

Ich habe das Gefühl, dass ich sie in den letzten Jahren wegen meiner Spielsucht im Stich gelassen habe, und das werde ich mir nicht verzeihen können. Nun ist es ja nicht gerade weltfremd, wenn einem bei einer solchen feierlichen Handlung, wo es um Liebe, Zusammenhalt und gemeinsames Leben geht, die Tränen kommen, oder?

Aber ich habe das nicht zugelassen. Ich kann es mir ums Verrecken nicht gestatten zu weinen, schon gar nicht in der Öffentlichkeit.

Dieses Erlebnis erzählte ich nach dem Besuch der Selbsthilfegruppe Gemeinsam gegen Glücksspielsucht am Donnerstagabend, als wir noch zusammen etwas essen waren, meinen Gruppenkollegen – und das Ergebnis war, dass es allen anderen auch so geht. Wir können so eine Gefühlsaufwallung nicht zulassen. Wir würden es gerne, schaffen es aber nicht. Das wird ein Thema sein für die nächsten Treffen. Und für mich persönlich.

Tata!

Donnerstag, 12. Mai

Es ist geschafft: ich habe den Bescheid von der Rentenversicherung, dass meine stationäre Therapie genehmigt ist und meine Wunschklinik Dammer Berge ist auch akzeptiert.

Neun Wochen habe ich darauf gewartet und während der Zeit meine fünf Suchtgruppen pro Woche besucht, den Haushalt gemacht und meinen Tag jeweils gut gefüllt. Und in diesen Wochen habe ich – zumindest ein wenig – gelernt, mehr zu reden über mich und meine Gefühle.

Meine Frau habe ich wohl noch nie so „vollgequatscht“ wie in den letzten Monaten – aber ihr gefällt’s – endlich redet der Kerl mal auch über seine Gefühle.

Ich bin so froh, dass es bald losgeht und gleichzeitig habe ich Bammel davor. Es ist also beides vorhanden, Freude und Angst – mittlerweile kann ich so was erkennen und auch akzeptieren.

Die Therapie in der Suchtklinik ist das, was ich will. Das zählt als erstes Ziel für mich. Weiter darüber hinaus denke ich noch nicht so genau nach, denn das könnte mich vielleicht unter Druck setzen.

Ich will mich jetzt erst mal auf meine Entwöhnungsbehandlung konzentrieren und dabei habe ich die Hilfe meiner Frau, die für mich extrem wichtig ist. Sie hat sich gestern genauso gefreut wie ich und zur Feier des Tages lud sie mich zum Essen ein! Also wenn sowas keine Unterstützung ist, was dann?

Nun warte ich auf den Brief der Klinik mit dem Starttermin. Bis dahin ist noch einiges zu tun ...

Tata! die Zweite ...

Sonnabend, 14. Mai

Jetzt habe ich auch das Antrittsdatum: am 25. Mai findet meine Aufnahme in die Klinik St. Marienstift Dammer Berge GmbH statt. Heute fand ich das Schreiben im Briefkasten, nach einer langen Einkaufstour durch Oldenburg, wo ich übrigens noch Kleidung für die Therapie eingekauft hatte – oder eher eingekauft bekommen habe, weil ich selbst ja nicht über Geld verfüge, denn ich lasse mir schon seit Wochen Taschengeld geben und habe auch nicht meine Kontokarten bei mir. Das ist eine Maßnahme, die ich in meiner Selbsthilfegruppe gelernt habe.

Jedenfalls war dem Anschreiben einiges beigelegt: drei Flyer über die Klinik selbst und eine Liste mit den Dingen, die ich mitbringen muss, und Hinweise darauf, was ich nicht mitbringen darf, als da sind: Fernseher, Musikanlage, Computer, Wasserkocher und so weiter.

Glücklicherweise darf ich einen Laptop mitnehmen, allerdings ohne Netzanbindung, dafür aber gibt es in der Klinik wohl die Möglichkeit, PCs zu nutzen.

Wir werden sehen.

Ich bin aufgeregt, freudig, ängstlich und ziemlich traurig – weil ich meine Frau alleine lassen muss und das tut weh. Aber: es geht weiter!

So langsam wird's ernst ...

Freitag, 20. Mai

Gestern Abend war ich das letzte Mal vor der Therapie in meiner Selbsthilfegruppe, vorher habe ich mich noch mit Thomas getroffen und wir haben ein wenig an der Internetseite der Gruppe gebastelt.

In den nächsten 15 Wochen kann ich mich darum wohl nur sehr selten kümmern. Die Gruppe hat mich herzlich verabschiedet und ich [Gefühlsmodus an – Lightversion 2.4] war ganz traurig und gerührt [Gefühlsmodus aus], dass es der letzte gemeinsame Abend für die nächste Zeit war. Ich habe mich schon so sehr an die Gruppe gewöhnt. Seit Mitte Januar bin ich dort, jeden Donnerstag.

Ich werde die Leute vermissen, besonders H. und Thomas, aber die beiden haben mir schon gesagt, sobald ich Ihnen eine SMS zusenden würde, dass ich Besuch haben wollte, würden sie kommen. Sowas!

Am Ende gab es viele Umarmungen, viele gute Wünsche und einige sagten, dass sie mich sehr vermissen würden. [Gefühlsmodus will wieder eingeschaltet werden, aber ich habe das Programm mal eben ausgeschaltet, sonst kann ich hier nicht gut weiterschreiben ...] Nach der Gruppe war ich wieder mit Thomas bei McDo und wir haben noch eine halbe Stunde gequatscht. Dann fuhr er mich nach Hause und ich habe lange mit meiner Frau geredet.

Das ist schon ein unverzichtbarer Bestandteil meiner Woche geworden, dieses Ritual: ich komme von der Selbsthilfegruppe nach Hause und Gisela und ich schnacken ... offen, ehrlich, lange.  

Heute Morgen bin ich irgendwie nicht gut drauf, ich weiß nicht warum. Wahrscheinlich ist es der Termin nächste Woche in der Suchtklinik. Dann habe ich eben auch noch auf Facebook eine traurige Geschichte über Alkoholsucht gelesen ... auf der anderen Seite hat mir gerade unsere Freundin M. eine SMS geschickt: „Super! Chaka Du schaffst das :–)“

Auch mein Freund Helgo hat am Telefon gesagt, dass er 15 Wochen ohne mich zu sehen nicht aushalten würde. Er würde mich mit seiner Frau auf jeden Fall besuchen kommen.

Es ist doch merkwürdig, ich habe in den letzten Monaten nicht eine negative Reaktion auf mein Suchtverhalten bekommen. Alle, die davon erfahren haben, sagten mir nur Positives und Dinge zum Aufbauen.

Das erwartet eigentlich kein Süchtiger, denn die Scham über das, was man getan hat (was ich getan habe), ist doch so unendlich groß, dass ich manchmal gar nicht weiß, wohin damit. Es ist schwer zu lernen, dass Sucht eine Krankheit ist, man kommt sich trotzdem vor wie ein Mensch zweiter Klasse, wie ein schlechter Charakter. Eine Tochter der Sucht ist auf jeden Fall die Scham, eine andere ist die Lüge.

Es gibt keinen Süchtigen, egal welche Droge er auch immer nimmt, der Lüge und Scham nicht kennt.

Es gibt noch so viele Fragen über meine Sucht und die Gründe, warum ich süchtig geworden bin, dass ich froh bin, die Langzeittherapie zu machen, weil ich mir dort erhoffe, die Antworten zu finden. Die Therapie dort wird das sein, was ich daraus mache. ICH mache die Therapie, niemand macht sie für mich.

Also wird der Erfolg davon abhängen, wie sehr ich mich einbringe, wie viel ich an mir arbeite. Sicher, es gibt dort Therapeuten, Psychologen, Ärzte und die Mitpatienten, aber sie können mir nur den Rahmen zeigen – die Arbeit muss ich machen.

Man hat mich schon mal für euphorisch gehalten, wenn ich von der Therapie erzählt habe. Aber ich habe klargestellt, dass ich sehr wohl weiß, dass es manche Tage dort geben wird, wo ich wahrscheinlich alles hinschmeißen will, wo ich nicht gut drauf sein werde („Aber sowas von!“) und dass ich mir da nichts vormache.

Trotz allem WILL ich die Therapie und ich WILL an mir arbeiten, denn ich sehe mich in der Verantwortung vor mir selbst und vor Gisela. Ich habe gestern eine Traurigkeit gefühlt und mit meiner Frau abends darüber geredet und ich habe ihr gesagt, dass ich so langsam diese unangenehmen Gefühle zulassen kann. Wenn ich Traurigkeit zulasse und nicht wegdrücke, wie es Süchtige gerne tun und ich es lange getan habe, dann bin ich ehrlich zu mir selbst. Dann belüge ich mich nicht, mache mir nichts vor, lenke mich nicht ab – dann gönne ich mir die Ehrlichkeit mir selbst gegenüber. Dann lasse ich die Traurigkeit da, wo sie ist [Oh meine Göttin, jetzt hört sich das aber ganz nach Psychogelaber an ... pardon, aber ich kann es nicht ändern. Wie formuliert man sowas besser?] und akzeptiere sie. Sie macht mir keine Angst mehr, denn sie ist ein Teil von mir. [Anmerkung siehe oben] So, nachdem ich das eben geschrieben habe, geht es mir schon wieder besser.

In der Klinik

Palimm Palimm

Donnerstag, 26. Mai

Erst mal in Kurzform, weil über Handy: Die Tür wurde geöffnet und ich bin – mit klopfendem Herzen – eingetreten, begleitet von Gisela, die Gott sei Dank dabei war und mit mir zusammen auch die ersten Aufnahmegespräche geführt hat. Es ist die Fachklink Marienstift Dammer Berge, eine Rehabilitationseinrichtung für alkohol–, medikamenten– und glücksspielabhängige Männer. Jetzt heißt es, die Therapie zu beginnen. Ich bin mies drauf, hoffe, das legt sich.

... und nun zu etwas ganz Anderem.

Freitag, 27. Mai

So sagten das die begnadeten Monty Python, wenn sie von einer Episode zur nächsten gingen, und so ähnlich geht es mir hier, in der Suchtklinik.

Gestern hatte ich die erste Suchtgruppe hier in der Langzeittherapie und ich kann nur sagen: es ist anders, es ist ganz anders, es ist absolut, total und vollkommen anders: hier geht es zur Sache ... aber sowas von!

Schon in der ersten Gruppenstunde, bei meiner Vorstellung den anderen gegenüber, kamen mir die Tränen, als ich von meinem Zusammenbruch im Dezember erzählte, von den Bausteinen, die ich jetzt Schritt für Schritt wieder aufeinanderlegen will, um aus meinem Suchtverhalten wegzukommen.

Mein Zimmer für die kommenden 15 Wochen. Es könnte schlimmer sein.

Aus den Rückmeldungen der anderen konnte ich entnehmen, dass es alle sehr bewegt hat. Wenn das so weitergeht, entwickele ich mir hier zur Heulsuse. Nein, jetzt mal im Ernst: hier geht es direkt zur Sache, hier wird nicht rumgelabert und der Therapeut lenkt – aber auch die Gruppenmitglieder kommen auf den Punkt – das ist genau das, was ich brauche, dafür bin hier – auch wenn es anstrengend ist. Was ist für einen Mann anstrengender als Weinen?

Meine miese Stimmung, meine Grundtraurigkeit sind seit dem Erlebnis der ersten Gruppenstunde weg. Und seitdem fühle ich mir hier angekommen. Was nicht heißen soll, dass ich hier in der Fachklinik Dammer Berge durch die Flure tanze, aber ich blicke mutig auf die kommenden 15 Wochen Therapie und ich weiß, hier kann ich an mir arbeiten und hier kann ich mein Suchtverhalten ändern.

Natürlich habe ich Heimweh (O Gott, ich kann gar nicht glauben, dass ich das hier schreibe ...) und wenn ich eine SMS von Gisi kriege oder eine Mail, dann wird mir das Herz schwer, aber ich bin ja nicht hier, um Urlaub zu machen.

Gisi hat mir Texte geschrieben – die müsste ich mir eigentlich einrahmen und an die Wand hängen. Die würde ich am liebsten aller Welt zeigen, aber das wäre dann doch zu viel ... Es ist schon komisch, so offen über mich zu schreiben.

Kaiphone?

Sonntag, 29. Mai

Thomas aus meiner Selbsthilfegruppe GGG – Gemeinsam gegen Glücksspielsucht in Bremen war irritiert, als ich ihm am Sonnabendmorgen eine Mail mit dem iPhone schrieb. Er mailte sofort zurück, ob ich das Handy benutzen dürfe und ob er mich anrufen könne? Er schrieb mir dann noch eine sehr lange Mail mit dem Verlauf des letzten Gruppenabends, damit ich weiterhin im Bilde bleibe und weiß, was derzeit in der Gruppe passiert.

Dann telefonierten wir und er lud mich ein, an der Grillparty der Gruppe im Juli teilzunehmen, er würde mich auch von der Suchtklinik Dammer Berge abholen und wieder zurückbringen! Sowas macht ein äußerst angenehmes Gefühl der Wertschätzung!

Wie war das Wochenende? Gediegen! Ab gestern Mittag und den ganzen Tag heute hatte ich Freizeit. Ich habe mein Lauftraining begonnen [eigentlich müsste es „Schneckentraining“ heißen und mein Trainingstagebuch trägt den Titel „Buch der Schande“] und heute Abend war ich das erste Mal schwimmen. Es gibt hier ein richtig gutes Hallenbad, alles sehr angenehm. Gleich werden wir auf der hauseigenen Bahn bowlen. Als ich am Mittwoch in die Fachklinik kam und meine Gruppe gleich abends bowlen ging, war ich doch überrascht, dass Spielsüchtige hier auch spielen dürfen, doch es gibt hier auch noch die Möglichkeit zu kickern, Billard zu spielen und mehr.

Der erste Abend in der Klinik war eine Qual. Meine Stimmung war ganz unten. „Das hast Du jetzt davon. Jetzt bist Du hier gelandet, in der Ballerburg!“

Ich habe viel mit Gisela telefoniert, SMS geschrieben, Fotos gemailt ... das brauche ich, das gibt mir Halt. Und ihre Bemerkungen und Hinweise zu dem, was ich erzähle, sind einfach Gold wert. Sie kann mir diese Hilfe geben, weil ich heute ehrlich zu ihr bin und ihr sage, wenn ich mich schlecht fühle, Angst habe oder aufgeregt bin. Das hatte ich all die Jahre verheimlicht und das ist mal wieder typisch für die Sucht: Sucht dreht alles um!

Das Gute, was ich tun wollte, habe ich nicht getan, das Schlechte, was ich nicht tun wollte, habe ich getan.

Die Dinge, von denen ich dachte, sie seien unwichtig, die waren wichtig (z.B. Gefühle)

Die Klimbim–Mannschaft

Dienstag, 31. Mai

hatte damals zwar nur Fußball gespielt und kein Volleyball, aber gestern kam ich mir beim Volleyballspielen auf dem Sportplatz der Klinik in der prallen Sonne schon vor wie ein Mitglied dieser berüchtigten Chaotenmannschaft – damit will ich eigentlich nur sagen, dass es irrsinnigen Spaß gemacht hat, mit meiner Gruppe Sport zu machen: lauter dumme Sprüche, Frotzeleien und viel gute Laune. So macht Sport Spaß, selbst für eine Couchpotato wie mich.

Der Spaß zwischendurch war für mich auch nötig, denn drei Stunden Gruppentherapie und über eine Stunde Einzelgespräch – das schlaucht, allerdings nicht körperlich, sondern emotional. Und das ist irgendwie anstrengender als Sport.

In der Gruppentherapie am Nachmittag verabschiedeten wir ein Gruppenmitglied. Das geht so: Jeder in der Gruppe sagt, wie er den Betreffenden während seiner Zeit hier wahrgenommen hat und erhält darauf ein Feedback von ihm selbst. Dazu braucht es Mut, denn Ehrlichkeit ist oberstes Motto dabei.

Der Abend war sehr gut, viel gutes Gequatsche auf unserem Zimmer mit anderen Gruppenmitgliedern, aber ich war schon sehr früh sehr müde. Heute Morgen war wieder Gruppentherapie, gleich anschließend noch einmal, allerdings ohne Therapeuten. Wir haben verschiedene Dinge ziemlich gut geklärt und ich war richtig stolz auf uns.

Anschließend Ergometer (ja, ich musste auch erst nachfragen: Fahrrad fahren ...), wo ich wahnsinnige 80 Kalorien verbraucht habe laut Anzeige, dann Gespräch mit einer Psychologin, die nach einer Traumaerfahrung bei mir suchte, die ich ihr aber nicht bieten konnte.

Anschließend ein Vortrag über gesunde Ernährung (als ob ich das nötig hätte ... mein Bauch zeigt doch, dass ich mich ernähren kann) und dann gab’s den Dienstagskuchen in der Cafeteria, darauf folgte eine Einführung in die Benutzung der Waschküche. Komisch, die zwei Tage sind so schnell erzählt, aber sie hatten es in sich.

Tiefe Gefühle, nahegehende Erzählungen und Berichte ... alles nicht so einfach und geheim. Und alles gibt Denkstoff – aber ab und an muss ich auch abschalten und mich innerlich entspannen, sonst werde ich das hier nicht durchhalten. Das wurde mir jedenfalls gestern in der Chefarztvisite nahegelegt. Die findet theoretisch alle vier Wochen statt. Theoretisch.

Don’t panic!

Donnerstag, 2. Juni

In dem Roman „Per Anhalter durch die Galaxis“, den ich immer wieder lesen könnte, kommt irgendwo die Bitte „don’t panic!“ vor. Daran muss ich denken, wenn ich das Einzelgespräch von gestern zusammenfasse: „Nun krieg’ mal keine Panik, das klappt schon!“

Mein Therapeut hat mich durch seine Art, die Dinge anzuschauen und Probleme anzugehen, ziemlich beruhigt, denn gerade gestern Morgen bin ich aufgewacht mit dem unangenehmen Gefühl der Angst, meine Therapieziele nicht zu erreichen. Als ich das gestern Morgen gespürt hatte, schrieb ich erst mal in mein Tagebuch, um mich ein wenig zu beruhigen, dann dehnte ich meine Sporttherapieeinheit auf etwas über 2 Stunden aus und anschließend telefonierte ich mit der besten aller Ehefrauen.

Zufällig traf ich auf dem Flur meinen Therapeuten und er bot mir ein Einzelgespräch an, dass dann wie oben beschrieben verlief. Danach ging es mir deutlich besser.

Am Abend zuvor gab es ein nicht geplantes, witziges Gruppentreffen auf meinem Zimmer (das ich mit einem Gruppenkollegen zusammen bewohne), und ich muss zu meiner Schande und tiefen Bekümmerung gestehen und öffentlich bekennen, dass ich im Verlauf dieses Abends ein paar Zeilen von irgendeinem alten Holzmichl mitgesungen habe. Ich würde gerne sagen, ich sei dazu gezwungen worden.

P.S.: Ich kann jedem nur empfehlen „Per Anhalter durch die Galaxis zu lesen“, der Sätze mag wie „Am Anfang wurde das Universum erschaffen. Dies machte viele Leute ziemlich wütend und wurde allgemein als ein Schritt in die falsche Richtung angesehen.“

Ein Schritt in die richtige Richtung dagegen war die Fahrt zur Langzeittherapie hier im Marienstift.

Der Einzelne–Socken–Karton

Sonnabend, 4. Juni

Man mag ja gerne unterschiedlicher Meinung sein über die Suchtklinik St. Marienstift und es gibt auch sicherlich das eine oder andere hier zu verbessern, aber um die Bewunderung und grenzenlose Hochachtung gegenüber einer Erfindung kommt man nicht umhin: der Einzelne–Socken–Karton!

Als ich heute Morgen in der Waschküche war, meine Frau mich anrief und ich ihr davon erzählte, hörte ich schallendes Gelächter.

Ihr ist die wahrscheinlich weltweit auftretende Problematik des Eine–Socken–Verschwindens nach Benutzung einer Waschmaschine auch nicht fremd.

[Ich persönlich vertrete ja die gewagte Theorie, dass das Verschwinden der Socken mit einer öfters auftretenden kurzzeitigen Verschiebung des Raum–Zeit–Kontinuums in Zusammenhang steht. Die Socke fällt quasi in ein schwarzes Loch, was übrigens auch erklären würde, dass empirisch belegbar überdurchschnittlich viele verschwundene Socken schwarz waren.]

Fremd ist mir heute allerdings, über meine Gefühle zu schreiben. Ich nehme mir da jetzt mal eine Auszeit, weil ... keine Ahnung ... ist eben so.

Ich wollte heute eigentlich ausschlafen, aber das ist dann doch nicht mein Ding und ich war natürlich pünktlich um sieben Uhr zum Frühstück, was die einzige Mahlzeit des Tages ohne Anwesenheitspflicht ist. Und gleich danach war für mich Waschen, Trocknen und Bügeln angesagt, dann gab es schon wieder Mittagessen – Eintopf wie jeden Sonnabend – und anschließend telefonierten Gisi und ich. Ernster als sonst waren die Gespräche, aber trotzdem gut. Die Situation momentan ist eben ernst ... es gilt zu arbeiten und zu verarbeiten ... neu auszurichten, Verhaltensweisen zu ändern. Das kann einem schon mal zwischendurch die Kraft rauben. Und das ist dann eben anstrengend.

Aber warum schreibe ich schon wieder so ernst? Dazu habe ich doch keine Lust heute. Ich habe nach dem Mittagessen in mein Postfach geschaut und den neuen Plan für die kommende Woche gefunden. Er ist voller als bisher, weil ich jetzt die zusätzlich gewählten sog. Indikationsgruppen habe, z.B. Krankheitsakzeptanz oder Sozialtherapeutische Aktivgruppe – was das genau ist, werde ich Euch schreiben, wenn ich das selbst weiß. Dies ist das zweite Wochenende hier in meiner Langzeittherapie. Es werden noch weitere folgen.

Tapfer: weitermachen!

Nee, lasst man ...

Sonntag, 5. Juni

Bin heute nicht gut drauf, keine Ahnung, warum. Gisi sagte heute, als ihr von meiner Stimmung erzählte, sie liebt mich auch, wenn ich traurig bin, schlechte Laune habe, mies drauf bin – und ich dürfe diese Gefühle haben, das sei in Ordnung. Grandios! Danke, mein Schatz!

Und deshalb und jetzt erst Recht: weitermachen!

Ich wurde entrollt!

Dienstag, 7. Juni

Ein neuer Gruppensprecher wurde gewählt, sein Stellvertreter auch, die Diensteinteilung für die Schwimmbadaufsicht in der kommenden Woche wurde erstellt und auch der Dienstplan für den kommenden Sonnabend, dem Tag also, an dem sich ehemalige Patienten hier treffen, um Erfahrungen auszutauschen, ehemalige Gruppenmitglieder hier zu treffen und vor allem: lecker zu essen und zwar an vielen verschieden Grillständen.

Ich habe Pfingstmontag morgens Aufsicht im Schwimmbad, was eine neue Erfahrung sein wird: Bademeister Kai? Am Sonnabend beaufsichtigt unsere Gruppe die Spielgeräte für die Kinder im Stundentakt. Ich werde mir dazwischen wahrscheinlich die eine oder andere Bratwurst zu Gemüte führen. Ich sehe es so: ab dem kommenden Jahr will ich selbst als Ehemaliger hier sein und den Tag genießen, daher fällt mir kein Zacken aus der Krone, wenn ich am Sonnabend helfe. (Wer es nicht abwarten will, sollte zum Ende des Buches blättern.)

Das Highlight dieser Woche wird der Besuch Giselas am Pfingstsonntag sein, ich darf zwar noch nicht nach Hause fahren, aber wir werden durchs Tecklenburger Land fahren und den Tag und uns genießen.

Eine Heimfahrt ist erst möglich, wenn das sogenannte Angehörigengespräch stattgefunden hat.

In der Gruppenstunde gestern Morgen, als ich vom vergangenen Sonnabend sprach, meinte der Therapeut, es sei wohl Zeit für das Angehörigengespräch, was mich natürlich gefreut hat. Das Gespräch wird keine Kaffeefahrt, das ist mir klar. Die Gefühle werden ziemlich viel zu tun haben während dieses Termins ... egal, das muss sein.

Übrigens hat eine Facebookfreundin gemailt, sie lese regelmäßig den Suchtbericht, aber manchmal seien es ihr zu viel Gefühl ... sorry, das ist momentan mein Thema, das muss einfach sein.

Für Süchtige ist der Zugang zu Gefühlen und der gesunde Umgang mit ihnen Gold wert. Du wirst in diesem Buch noch viel darüber lesen.

Gestern gab’s zweimal Gruppenstunde, einmal Sport, heute auch zweimal Gruppenstunde – einmal mit einer Aufstellung – bisher stand ich solchem „Psychogedöns“ ja sehr skeptisch gegenüber, aber diese Aufstellung war wirklich richtig gut und wahr!

Wir Gruppenmitglieder standen stellvertretend für andere Personen einer Beziehung und wurden vom Betreffenden im Raum positioniert und dann nach unserer Wahrnehmung innerhalb des aufgestellten Systems befragt – sprich nach unseren Empfindungen. Unsere Aussagen kamen dann den Verhältnissen der realen Situationen sehr sehr nahe. (Alles klar?) Interessant war für mich persönlich, dass ich lange in dieser Stellvertreterrolle blieb und wir am Ende der Gruppenstunde vom Therapeuten „entrollt“ wurden, also aus dieser Rolle entlassen wurden mittels einer bestimmten Handlung.

Wer mich kennt, weiß, dass ich solchen Dingen nicht zugeneigt bin, aber seit heute bin ich für sowas wesentlich offener, denn ich habe selbst erlebt, dass es funktioniert. Wenn das hier manchmal etwas schwer zu verstehen ist, liegt das daran, dass ich so schreiben muss, dass keine Interna bekannt gegeben werden.

So, was noch? Auch gestern und heute die Telefonate mit Gisela. Ich müsse hier nicht alles in fünf Wochen erreicht haben, sagt sie.

Und deshalb gelassen: Weitermachen!

Franziska van Almsick und die Badewanne

Donnerstag, 9. Juni

Am Mittwochabend stand SHG auf dem Terminplan, was für Selbsthilfegruppe steht. Es war ein 76 Jahre alter Herr von den AA – den Anonymen Alkoholikern – anwesend, der in einem längeren Monolog über sich und seine Bekehrung zur Trockenheit sprach.

Ich schreibe hier absichtlich von Bekehrung, weil die AA ein doch sehr glaubensbezogenes Fundament haben und in ihren berühmten 12 Schritten für mich persönlich nicht akzeptable Dinge stehen, wie z.B.

6. Schritt  Wir waren völlig bereit, all diese Charakterfehler von Gott beseitigen zu lassen.

7. SchrittDemütig baten wir Ihn, unsere Mängel von uns zu nehmen.

[Sauermodus an] Zum einen habe ich keine Charakterfehler, zum anderen bitte ich niemanden, mir meine „Mängel“ zu nehmen – ich bin hier, weil ich selbst an mir arbeite und weil ich selbst meine Therapie mache – niemand macht sie für mich, auch nicht die Therapeuten oder Psychologen hier. Sie können mir Hilfestellungen geben durch zum Teil sehr unangenehme Fragen oder Hinweise, aber die ARBEIT mache ich. Sonst wird dat hier nämlich nix ... [Sauermodus aus]

Trotz allem haben mich der Abend und vor allem der ältere Herr sehr beeindruckt, denn ich halte es für sehr respektabel, dass der gute Mann sich ehrenamtlich zu uns in die Klinik begibt, um uns aus seinem Beispiel eine Lehre zu geben. Respekt und Anerkennung!