Unter Haien - Nele Neuhaus - E-Book

Unter Haien E-Book

Nele Neuhaus

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Beschreibung

'Action und Spannung like Grisham zu seinen besten Zeiten.' krimi-couch.de New York, 1998: Die junge Investmentbankerin Alex Sontheim ist durch harte Arbeit und Zielstrebigkeit dort angekommen, wo sie immer hinwollte: ganz oben. Als sie den milliardenschweren Geschäftsmann Sergio Vitali kennenlernt, beginnt eine heiße Affäre. Alex genießt es, am Leben der wirklich Mächtigen teilzuhaben und gibt zunächst nichts auf die Stimmen, die sie vor Vitali warnen. Doch dann bringt eine ungeheuerliche Entdeckung Alex in tödliche Gefahr.  

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Das Buch

Intelligent und ehrgeizig hat Alex Sontheim sich eine Position erarbeitet, von der andere nur träumen können: Sie ist der Star im New Yorker Investmentbanking. Erst vor kurzem hat die Firma Levy Manhattan Investment sie für ein Millionengehalt angeworben, Bonusleistungen und Büro mit Blick über Manhattan inklusive. Was Alex nicht ahnt: Sie stellt ihre Fähigkeiten einem wirtschaftskriminellen Kartell zur Verfügung. Berauscht von ihrem neuen Lebensstil, ignoriert sie alle Alarmsignale. Selbst als Bürgermeister Nick Kostidis, unbeirrbarer Kämpfer gegen die Kriminalität in New York City, die junge Frau warnt, will sie nichts davon hören. Erst ein Attentat auf die Familie des Bürgermeisters und Unstimmigkeiten in ihrer Firma wecken ihr Misstrauen. Als Alex auf eigene Faust zu recherchieren beginnt, macht sie eine ungeheuerliche Entdeckung. Und dann steht alles auf dem Spiel, ihr Job, ihr Ruf – und ihr Leben.

Die Autorin

Nele Neuhaus, geboren in Münster/Westfalen, lebt seit ihrer Kindheit im Taunus und schreibt bereits ebenso lange. Ihr 2010 erschienener Kriminalroman Schneewittchen muss sterben brachte ihr den großen Durchbruch, seitdem gehört sie zu den erfolgreichsten Kriminalautorinnen Deutschlands. Außerdem schreibt die passionierte Reiterin Pferde-Jugendbücher und, unter ihrem Mädchennamen Nele Löwenberg, Unterhaltungsliteratur. Ihre Bücher erscheinen in über 20 Ländern.

Weitere Informationen finden Sie unter: www.neleneuhaus.de

Von Nele Neuhaus sind in unserem Hause bereits erschienen:

Eine unbeliebte Frau

Mordsfreunde

Tiefe Wunden

Schneewittchen muss sterben

Wer Wind sät

Böser Wolf

Die Lebenden und die Toten

Und unter dem Namen Nele Löwenberg:

Sommer der Wahrheit

Straße nach Nirgendwo

Nele Neuhaus

UNTER HAIEN

Roman

Ullstein

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ISBN 978-3-8437-1479-2

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, MünchenTitelabbildung: © bürosüd° (Hintergrund) / Getty Images (Frau)

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Für meine Schwester Milla

Liebe Leserinnen und Leser

Ich freue mich sehr, dass mein erstes Buch »Unter Haien«, das ich vor sechs Jahren veröffentlicht habe, nun die große Chance bekommt, aus dem Schatten meiner Taunuskrimis herauszutreten.

Inspiriert von einer Reise nach New York, begann ich Mitte der neunziger Jahre – also lange bevor ich an Oliver von Bodenstein und Pia Kirchhoff dachte – die Geschichte der deutschen Investmentbankerin Alex Sontheim aufzuschreiben. Viele Jahre lang arbeitete ich in jeder freien Minute an diesem Text, steckte meine ganze Begeisterung, mein Herzblut und unendlich viel akribische Recherche in die 600 Seiten. Irgendwann war das Manuskript fertig und es gefiel mir so gut, das ich mit der festen Überzeugung, einen spannenden und guten Thriller geschrieben zu haben, nach einem Verlag suchte. Vergeblich. Trotz aller Enttäuschungen und Rückschläge habe ich nicht aufgegeben und das Buch schließlich auf eigene Kosten veröffentlicht. Nun, viele Jahre später, wird »Unter Haien« im Ullstein Verlag erscheinen, neben meinen Taunuskrimis.

Das erste Buch ist und bleibt für einen Autor zweifellos etwas ganz Besonders, und so werde ich mir wünschen, dass es Sie begeistern wird wie meine Taunus-Krimis.

Prolog

Februar 1998 – New York City

Vincent Levy stand am Fenster seines Büros im 30. Stockwerk des LMI-Building und starrte nachdenklich hinaus. An diesem düsteren Februarnachmittag reichte die Sicht kaum bis zur Verrazano Narrow Bridge im Osten. Die Freiheitsstatue reckte ihren Arm in die Luft, und die Schiffe, die auf der Hudson Bay unterwegs waren, zogen schaumige, weiße Streifen ins aufgewühlte schwarze Wasser. Schneeflocken wirbelten durch die Luft, und ein eisiger Ostwind pfiff um die Glasfronten der Wolkenkratzer Manhattans. Vincent Levy war Anfang 50 und bereits der vierte Levy in der Firma. Sein Urgroßonkel hatte das Bankhaus Levy & Villiers 1902 gegründet, das dank einer umsichtigen und konservativen Geschäftspolitik beinahe ein Jahrhundert lang unbeschadet durch alle Stürme und Skandale der Finanzwelt gelangt war. Doch im Gegensatz zu seinen Vorgängern war Vincent Levy nicht damit zufrieden gewesen, eine angesehene Privatbank zu leiten. Schon Mitte der achtziger Jahre hatte er damit begonnen, die ehrwürdige Privatbank in eine Investmentfirma zu verwandeln. Aus dem Bankhaus Levy & Villiers war die Holding Levy Manhattan Investment geworden. Gemeinsam mit einem finanzkräftigen Teilhaber, der die Erfolg versprechenden Zukunftsaussichten eines global operierenden Finanzriesen erkannt hatte, hatte Levy Mitbewerber aufgekauft und viel Geld in die neueste Computertechnologie investiert, die es LMI ermöglichte, auf allen bedeutenden Finanzplätzen der Welt präsent zu sein. Levy fürchtete sich nicht vor spektakulären Neuerungen. Mit strategischem Geschick, Weitblick und gut getarnter Rücksichtslosigkeit war es ihm gelungen, LMI innerhalb von 15 Jahren zu einer Investmentfirma mit weltweit mehr als 2000 Mitarbeitern zu machen. Jede Abteilung hatte einen fähigen Leiter, der es verstand, das Optimum aus seinen Leuten herauszuholen: Ob Auslandsanleihen, Derivatehandel, Programm- und Wertpapierhandel, OTC, Konsortialgeschäfte, Index- und Risikoarbitrage, Futureshandel oder Beteiligungsfinanzierungen – LMI hatte sich einen ausgezeichneten Ruf erworben. Eigene Broker auf dem Parkett der NYSE und rund 200 Händler im Handelsraum im 14. Stock sorgten für gewaltige Umsätze und Gewinne. Doch obwohl LMI in vielen Geschäftsbereichen zu den Großen am Markt gehörte, war es Levy trotz aller Investitionen und Bemühungen bisher nicht gelungen, auf dem Gebiet, das ihm persönlich am meisten am Herzen lag, einen echten Profi anzuwerben. Im Bereich der M & A mischten an der Wall Street andere die Karten. Beim derzeit herrschenden Übernahmeboom flossen gigantische Geldströme an LMI vorbei in andere Taschen – ein schier unerträglicher Zustand! Aber das konnte sich in naher Zukunft ändern, denn gestern Abend hatte er erfahren, dass Alexandra Sontheim, der hellste Stern am M & A-Himmel der Wall Street, ihren Arbeitgeber Morgan Stanley im Streit verlassen hatte und einen neuen Job suchte. Es klopfte an der Tür, und Levy wandte seinen Blick von der Hudson Bay ab.

»Hallo, St. John«, sagte er zu seinem Besucher und nahm hinter seinem Schreibtisch Platz, »setzen Sie sich.«

»Was gibt’s, Vince?«, fragte Zachary St. John in seiner gewohnt respektlosen Art, die Levy immer wieder missfiel. Er musterte den Leiter der leider noch so unbedeutenden M & A-Abteilung von LMI. St. John war kein Ass, was seinen Job betraf, aber zweifellos kannte er an der Wall Street alle und jeden. Seitdem er vor gut neun Jahren über Franklin Myers von Drexel Burnham Lambert zu LMI gekommen war, hatte er Kontakte zu beinahe allen Leuten geknüpft, die im oberen Management von LMI arbeiteten. Der Präsident von LMI mochte den Mann nicht, denn St. John war ein aalglatter, geldgieriger Opportunist, doch seine Dienste waren ausgesprochen wertvoll.

»Wie Sie wissen«, begann Levy nun, »ist es seit langem mein Wunsch, dass LMI auch auf dem Gebiet der M & A an Bedeutung gewinnt. Und nun ist mir gestern aus gut unterrichteter Quelle zugetragen worden, dass Alex Sontheim nach einem Streit Morgan Stanley verlassen hat.«

Er machte eine Pause, um diese sensationelle Neuigkeit auf St. John wirken zu lassen, aber der riss weder die Augen auf, noch wirkte er beeindruckt vom Insiderwissen seines Chefs.

»Das weiß ich schon«, St. John lächelte selbstgefällig. »Es war klar, dass sie nicht mehr lange bei Morgan Stanley bleibt, denn sie hatte keine Lust mehr, hinter diesem Volltrottel van Sand die zweite Geige zu spielen. Und nachdem er vor drei Tagen ihren TexOil-Deal gekippt hat, hat sie Neil Sadler die Pistole auf die Brust gesetzt.«

»Ach ja?« Levy war nicht wirklich erstaunt darüber, dass St. John bereits Einzelheiten kannte. »Was wissen Sie noch über sie?«

St. John lehnte sich zurück und streckte die Beine aus. Er war gerade von einer zweitägigen Geschäftsreise auf die Bahamas zurückgekehrt, er war braungebrannt und sein kurzes, rotblondes Haar wie immer sorgfältig nach hinten gekämmt und perfekt geölt.

»Alex Sontheim«, begann er, »stammt aus Deutschland. Sie ist 35, ledig, hat an der European Business School studiert, ging dann mit einem Stipendium nach Stanford, wo sie als Jahrgangsbeste mit dem MBA-Diplom graduiert hat. Sie schnitt als Beste im Trainee-Programm von Goldman Sachs ab und hätte dort sofort arbeiten können. Jedes große Wirtschaftsunternehmen hätte sie mit Kusshand genommen, aber sie nahm den am schlechtesten bezahlten Job an, bei einer Brokerfirma namens Global Equity Trust, und arbeitete dort als Fondsmanagerin. Nach zwei Jahren wechselte sie zu Franklin & Myers, machte dort Derivate, Futures und ein bisschen M & A. Danach kam sie zu Morgan Stanley und macht nun seit acht Jahren nur noch M & A. Wie gut sie in ihrem Job ist, weiß ja nun jeder.«

Vincent Levy nickte und lächelte schmal. Alex Sontheim war der Star auf dem Gebiet der Firmenfusionen und -übernahmen, kaum ein Geschäft ging im Moment an ihr vorbei. Diese Frau für seine Firma zu gewinnen konnte die Verwirklichung seines Traumes bedeuten.

»Sie ist ehrgeizig und rücksichtslos«, fuhr Zack St. John fort, »und das ist der Grund, weshalb es mit ihr und van Sand nicht länger gutgehen konnte. Zwar weiß jeder in der Stadt, dass sie die großen Deals macht, aber Douglas ist der Schwiegersohn vom großen Boss. Sie hätte niemals seinen Job gekriegt, und Alex ist keine Frau, die sich auf Dauer mit Platz zwei zufriedengibt.«

Vincent Levy betrachtete St. John mit ausdrucksloser Miene, aber sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Er konnte die Schlagzeilen im Wall Street Journal schon vor sich sehen: Alex Sontheim geht zu LMI …

»Hat sie irgendwelche Leichen im Keller?«, fragte er.

»Nicht, dass ich wüsste«, St. John schüttelte den Kopf. »Kein alkoholkranker Ex-Ehemann, keine unehelichen Kinder, keine Vorstrafen, keine Gerüchte. Diese Frau lebt für ihren Job. Sie ist clever und stahlhart.«

»Woher wissen Sie so gut über sie Bescheid, Zack?«, erkundigte Levy sich.

»Abgesehen davon, dass ich über die meisten Leute unserer Branche Bescheid weiß«, St. John grinste, und seine Stimme klang noch etwas selbstgefälliger als zuvor, »waren Alex und ich Kollegen bei Franklin & Myers. Ich kenne sie ziemlich gut.« Er gefiel sich in der Rolle des Allwissenden. Levy kniff die Augen zusammen und beobachtete ihn scharf.

»Angenommen, wir könnten sie für uns gewinnen«, sagte er, »dann wären Sie arbeitslos, Zack.«

»Oh, das glaube ich nicht«, St. John blätterte mit einem trägen Lächeln in seinem abgegriffenen Notizbuch, bevor er wieder aufblickte. »Ich bin zwar kein Star wie die Sontheim, aber ich wäre der ideale Managing Director. Was meinen Sie, Vince?«

»Eins nach dem anderen«, erwiderte Levy kühl. Der Posten des Managing Director bei LMI war unbesetzt, seitdem Gilbert Shanahan vor gut anderthalb Jahren auf dem Weg zu einer Anhörung vor der Börsenaufsichtsbehörde von einem LKW wortwörtlich plattgewalzt worden war. Der arme Gilbert war auf der Stelle tot gewesen.

»Ich bin sehr loyal«, St. John beugte sich vor, und in seinen Augen erschien ein lauernder Ausdruck, »wenn Sie verstehen, was ich meine.«

Levys Miene blieb gelassen, aber die nachdrückliche Betonung des Wortes ›loyal‹ erweckte ein flaues Gefühl in seinem Magen. St. John hatte bislang niemals ein Wort über die Hintergründe dieser unangenehmen Sache mit Shanahan fallen lassen, und so hatte Levy beinahe vergessen, dass der Mann ziemlich genau Bescheid wusste, was damals geschehen war.

»Darüber reden wir, wenn es so weit ist«, sagte er und erhob sich, um St. John zu signalisieren, dass das Gespräch beendet war. »Ich möchte Sie bitten, sich unverzüglich mit Alex Sontheim in Verbindung zu setzen. Kriegen Sie das hin?«

St. John hob spöttisch die Augenbrauen und grinste.

»Machen Sie Witze, Vince?« Er erhob sich ebenfalls. »Gleich heute oder reicht Ihnen morgen?«

Levy lächelte kalt.

»Am besten in einer Stunde«, parierte er und griff zum Telefonhörer. St. John verstand den Wink. Er deutete eine Verbeugung an und verließ Levys Büro. Dieser wartete, bis St. John die Tür hinter sich geschlossen hatte. Dann durchquerte er sein Büro und öffnete einen Schrank, in dem sich eine voll eingerichtete Bar befand. Er schenkte sich einen Scotch ein – pur, ohne Eis – und trat wieder ans Fenster. Durch die Verpflichtung von Alex Sontheim könnte sich für ihn persönlich ein Traum erfüllen. Und dafür würde er weder Kosten noch Mühen scheuen.

Teil Eins

Juli 1998 – New York City

Alex Sontheim hatte den Wechsel von Morgan Stanley zu Levy Manhattan Investment noch keinen Tag bereut, und sie wusste, dass auch Vincent Levy das Angebot, das er ihr im Februar gemacht hatte, ebenfalls noch nicht bereut hatte. Mit einem Fixum von zwei Millionen Dollar jährlich plus Bonus und Provisionen gehörte Alex zu den bestbezahlten Investmentbankern der Stadt, aber sie hatte mit bereits drei aufsehenerregenden Deals die Zweifler im Vorstand von LMI zum Schweigen gebracht. Abgesehen vom finanziellen Gewinn war es vor allen Dingen die schlagartig gestiegene Reputation auf dem hart umkämpften Markt der Unternehmensfusionen, die Levy in einen wahren Begeisterungstaumel versetzt hatte. General Engines und auch United Brake Systems waren Blue Chips, und LMI hatte sie durch Alex erfolgreich vertreten. Im Journal wurde LMI als ernstzunehmende Konkurrenz für Merrill Lynch, Goldman, Sachs und Morgan Stanley auf dem Gebiet der M & A bezeichnet, und das war einzig und allein Alex’ Verdienst. Sie hatte das richtige Gespür für den Markt, sie besaß den Scharfblick, die Kaltblütigkeit und die Erfahrung sowie die nötigen Verbindungen, um in diesem Geschäft an der Spitze des Feldes zu bestehen. Von ihrem Glasbüro im 14. Stock des LMI-Building hatte Alex einen phantastischen Ausblick über die Wolkenkratzer von Midtown Manhattan bis zum Empire State Building. Es war ein atemberaubender Anblick, der ihr immer wieder vor Augen führte, wie unglaublich weit sie in den letzten Jahren gekommen war. Alex lächelte zufrieden. Mit 35 Jahren war sie ganz oben angelangt. Sie spielte nun in der ersten Liga. Und das hatte sie ganz allein geschafft. Das Telefon riss sie aus ihren Gedanken. Es war Zack, ihr ehemaliger Kollege von Franklin & Myers, derzeit Managing Director von LMI, dem sie ihren neuen Job mehr oder weniger verdankte. Er bat sie zu einer kurzfristig anberaumten Vorstandssitzung in den 30. Stock. Alex schloss den Laptop, ergriff ihre Aktentasche und durchquerte eilig den Handelsraum. Es war schon spät an einem Freitagnachmittag, und der große Raum, der üblicherweise vor Hektik brodelte, war bis auf eine Putzkolonne verwaist. Kurz nach Börsenschluss waren die Händler ins Wochenende entschwunden. Alex zog ihre Magnetkarte durch den Schlitz neben der Aufzugstür. Die Sicherheitsvorkehrungen bei LMI waren so drastisch wie im Pentagon, jede Benutzung der Magnetkarte wurde im Zentralrechner registriert. Während der Aufzug sie lautlos 16 Stockwerke höher trug, betrachtete Alex kritisch ihr Spiegelbild. Für eine Frau in ihrer Position war es ungleich schwerer als für einen Mann, von Kollegen und Geschäftspartnern akzeptiert und respektiert zu werden. Sie musste hart und unnachgiebig wie ein Mann sein, ohne dabei als Hyäne zu gelten. Diesen Drahtseilakt beherrschte Alex nach zwölf Jahren Wall Street jedoch perfekt. Sie lächelte ihrem Spiegelbild wohlwollend zu. Längst machte in dieser Stadt niemand mehr den Fehler, sie zu unterschätzen. Jemand hatte ihr einmal vorgeworfen, sie sei gefühlskalt und rücksichtslos, aber das hatte Alex als Kompliment gewertet. Sie musste so sein, um in dieser rauen Männerwelt bestehen zu können. Der Aufzug hielt mit einem leisen Läuten im 30. Stock, und Alex atmete tief durch. Sie ging den mahagonigetäfelten Flur entlang, an dessen Wänden raffiniert beleuchtete expressionistische Gemälde hingen, die unter Garantie echt und ein Vermögen wert waren. Die dicken Aubusson-Läufer auf dem rötlich glänzenden Marmor verschluckten ihre Schritte. Jeder Zentimeter der Einrichtung atmete Gediegenheit, Macht und Erfolg aus. Wer hier oben im 30. Stock saß, der hatte es geschafft. Alex lächelte. Eines nicht mehr so fernen Tages würde auch ihr Name an einer der Türen stehen, an denen sie vorbeiging. Es gab keinen Zweifel – Alex liebte den 30. Stock.

Sie klopfte an die Tür des großen Konferenzraumes, der die ganze Breite des Gebäudes einnahm, und trat ein. Die Glasfenster reichten von der Decke bis zum Boden, die Sicht nach Osten über den East River nach Queens und Brooklyn war spektakulär. Obwohl sie schon einige Male hier gewesen war, war sie aufs Neue von dem gewaltigen Raum beeindruckt. Für eine Sekunde durchzuckte sie der Gedanke, dass man den Raum aus genau diesem Grund so gestaltet hatte. Er sollte beeindrucken und einschüchtern. Der komplette Vorstand saß versammelt um den großen, runden Tisch aus poliertem Wurzelholz, der wie die sagenumwobene Tafelrunde aus Camelot aus einem einzigen Stück gefertigt zu sein schien: Vincent Levy, der Präsident, Isaac Rubinstein, der Vizepräsident, Michael Friedman, der Finanzvorstand, Hugh Weinberg, der Chefanalyst, Francis Dayton-Smith, der Leiter der Rechtsabteilung, Ron Schellenbaum, der Vorstandssprecher, John Kwai, der Vorstand für Emerging Markets und Auslandsgeschäfte, sowie Zack, der Managing Director.

»Guten Tag«, sagte Alex und lächelte, »ich hoffe, ich habe mich nicht verspätet.«

Vincent Levy sprang auf und kam lächelnd auf sie zu.

»O nein, Alex«, er reichte ihr die Hand, »danke, dass Sie gekommen sind. Mir kam spontan die Idee, Sie zu unserer Sitzung zu bitten. Schließlich verdanken wir die erfreulichen Zahlen der letzten Monate zu einem nicht unerheblichen Teil Ihnen.«

Alex lächelte in die Runde, sah wohlwollende, aber auch prüfende Blicke. Aus Levy wurde sie nicht ganz klug. Hinter seinem geschmeidigen Gebaren verbarg sich ein eisenharter Kern. An der Wall Street brachte man es nicht mit Freundlichkeit und Zurückhaltung nach ganz oben. Sie nahm zwischen John Kwai und Zack Platz. Ihr Herz klopfte aufgeregt, als sie sich darüber bewusst wurde, dass sie sich wie eine Gleichberechtigte unter den mächtigsten Männern der Firma befand. So aufregend und befriedigend ihr Job auch war, ein fester Platz in dieser Runde war das nächste Ziel, das es anzusteuern galt. Levy sprach über die erfreuliche Entwicklung auf dem Gebiet der M & A, aber auch beim Devisen- und Aktienhandel und bei den Konsortialgeschäften mit vielversprechenden Dotcom-Unternehmen. Dann berichtete Hugh Weinberg über die Prognosen für die Zukunft. Levy hatte ihn von Prudential Securities abgeworben. Weinbergs Meinung wurde an der Wall Street wie kaum eine zweite beachtet, er war für seine treffsicheren Analysen und Prognosen bekannt und gefürchtet. Es erfüllte Alex mit Stolz, dass er eine so hohe Meinung von ihrer Arbeit hatte. Seiner Marktanalyse folgte Michael Friedman mit einem trockenen Bericht über Umsatz- und Gewinnzahlen aus dem vergangenen Quartal. Als Levy sich um halb sieben bei den Anwesenden bedankte und die Sitzung damit beendete, fragte Alex sich, weshalb man sie überhaupt hierhergebeten hatte. Sie erhob sich und wollte ebenfalls gehen, als Levy ihr ein Zeichen gab, zu warten.

»Wir sind sehr zufrieden mit Ihrer Arbeit bei uns, Alex«, begann er freundlich, als sie allein im Konferenzraum waren. »Hugh ist beeindruckt von Ihren profunden Marktkenntnissen.«

»Danke«, Alex lächelte abwartend. Das war schließlich ihr Job, dafür bezahlte man ihr zwei Millionen Dollar im Jahr. Was wollte er wirklich?

»Die Effektivität und der Erfolg Ihrer Arbeit sprechen eine deutliche Sprache«, fuhr der Präsident von LMI fort, »und wie Sie wissen, sind wir bereit, Erfolg zu honorieren.«

Sein Lächeln vertiefte sich.

»Wir dachten an einen Bonus von 150000 Dollar, zuzüglich zu den üblichen Prämien.«

Es war ganz still in dem großen Raum. Alex glaubte, sich verhört zu haben.

»Das ist eine Menge Geld«, sie verbarg ihr Erstaunen und gab sich gelassen.

»In der Tat«, Levy lächelte auf eine gütige, väterliche Art, »aber Sie arbeiten 80 Stunden in der Woche und haben wirklich bemerkenswerte Ergebnisse vorzuweisen, und das in nicht einmal fünf Monaten! Diese Zeit benötigen andere, um sich überhaupt in einem neuen Unternehmen einzugewöhnen. Außerdem verdankt LMI Ihnen einen erstklassigen Ruf auf dem Gebiet der M & A. Wieso sollte sich die Firma dafür nicht bei Ihnen bedanken?«

»Oh«, Alex zuckte nicht mit der Wimper, »das ist aber wirklich ungeheuer großzügig.«

Sie hatte das Gefühl, dass sie vorsichtig sein musste. Woher diese Eingebung kam, konnte sie nicht sagen, aber das Gefühl war da.

»Ich möchte Ihnen ein Angebot machen«, sagte Levy, »hier, unter vier Augen. Nichts Schriftliches. Nennen wir es eine Abmachung. Natürlich könnte LMI Ihnen den Bonus in Form von Aktienoptionen geben, so, wie das allgemein üblich ist. Aber wir könnten Ihnen den Betrag auch bar, das heißt, hm, steuerfrei, auf ein Konto im Ausland einzahlen.«

Er lächelte harmlos und nicht so, als habe er ihr eben vorgeschlagen, Steuern zu hinterziehen.

»Die Entscheidung liegt bei Ihnen, Alex. Aktienoptionen sind gut. Aber der Vorteil einer Barauszahlung, bei Ihrer Steuerklasse, liegt klar auf der Hand.«

Alex wusste nicht recht, ob ihr der Vorschlag gefiel, aber sie begriff allmählich, weshalb Levy sie heute hierhergebeten hatte. Er wollte ausloten, inwieweit sie bereit war, legale Grenzen zu überschreiten, und wie groß ihre moralischen Bedenken waren.

»Ein ganz klein wenig illegal, nicht wahr?«, sagte sie leichthin und lächelte.

»Illegal«, Levy lachte leise, »was für ein hässliches Wort. Im Übrigen, finden Sie nicht auch, dass Sie genug Steuern bezahlen?«

Alex nickte. Wenn irgendwo ein paar Investmentbanker zusammensaßen, wurde unablässig über mehr oder weniger legale Steuertricks gesprochen. Bei den hohen Gehältern, die in ihrer Branche gezahlt wurden, waren die steuerlichen Abzüge immens, und ein Konto auf den Bahamas, den Cayman Islands, in der Schweiz oder sonst wo war keine Ausnahme, sondern die Regel.

»Sie sagen St. John Bescheid, wenn Sie sich entschieden haben«, sagte Levy freundlich, »aber das war ohnehin nur die eine Sache, die ich mit Ihnen besprechen wollte. Die andere ist die Selbständigkeit Ihrer Abteilung.«

»Ich dachte, Sie erwarten Eigeninitiative?« Alex war erstaunt.

»O ja, das tue ich auch«, versicherte Levy. »Verstehen Sie das bitte nicht als Kritik! Diskretion ist in Ihrem Job lebenswichtig. Und wir sind ja auch mehr als zufrieden. Aber vielleicht ist es Ihnen in Zukunft möglich, den Vorstand von geplanten Geschäften zu unterrichten, bevor Sie in erste Verhandlungen mit einem Kunden treten.«

Er machte eine Pause, um seine Worte auf Alex wirken zu lassen.

»Der Vorstand«, sagte er dann, »möchte gerne wissen, was in den einzelnen Abteilungen des Hauses vor sich geht. Das ist reines Interesse, keine Kontrolle. Die Entscheidungen treffen Sie wie bisher allein, nach Rücksprache mit Finanzvorstand und Rechtsabteilung.«

Alex sah Levy einen Augenblick an, dann nickte sie langsam. Sie wusste sehr genau, was man tun konnte, wenn man vor allen anderen Marktteilnehmern über bevorstehende Geschäfte informiert war. Wenn jemand in niedrig bewertete Aktien von übernahmebereiten Unternehmen investierte, bevor die Übernahmebereitschaft öffentlich bekannt wurde und dadurch die Kurse stiegen, konnte man eine Menge Geld verdienen. In wenige Worte gefasst bezeichnete man das als Insiderhandel, und es war als illegale Marktbeeinflussung so ungefähr das Verbotenste, was es überhaupt gab. Nicht umsonst gab es in Investmentfirmen die so genannte ›Chinesische Mauer‹, eine Informationssperre zwischen Händlern und Investmentbankern im eigenen Haus, damit vertrauliche Informationen nicht vorab genutzt werden konnten. Levy forderte sie mehr oder weniger auf, diese ›Chinesische Mauer‹ zu umgehen. Alex bemerkte, wie gespannt der Präsident von LMI auf ihre Antwort wartete, und sie beschloss, seinem Wunsch zu entsprechen.

»Das ist kein Problem«, sagte sie nach kurzem Zögern. »Ich werde Sie auf dem Laufenden halten.«

Ihr entging nicht der Ausdruck von Erleichterung, der nur für Bruchteile von Sekunden über Levys Gesicht huschte, bevor er wieder gütig lächelte.

»Großartig«, sagte er zufrieden, »ich wusste, dass wir uns verstehen. Ihr direkter Ansprechpartner ist Mr St. John.«

***

Zachary St. John, der zwar kein besonderes Gespür für das Bankgeschäft, sehr wohl aber für die Beurteilung des Machtgefüges an der Wall Street hatte, veranstaltete in regelmäßigen Abständen Partys in seiner Penthousewohnung in Battery Park City, zu der er immer die Leute einlud, die er für wichtig hielt. Alex war an diesem Abend zum ersten Mal eingeladen, und sie war mehr als gespannt darauf, wen sie dort treffen würde. Einladungen zu Zacks legendären Partys waren innerhalb der Wall-Street-Gemeinde heiß begehrt, denn bei feinstem Essen und dem teuersten französischen Champagner wurden wichtige Neuigkeiten ausgetauscht, Kontakte geknüpft und Deals eingefädelt. Eine ganze Weile hatte Alex überlegt, was sie anziehen sollte. Zuerst hatte sie an eines ihrer Business-Kostüme gedacht, die sie üblicherweise im Büro trug, aber schließlich hatte sie sich für ein sündhaft teures und knappes rotes Abendkleid von Versace entschieden. An diesem Abend würde sie allen zeigen, dass sie trotz ihrer Cleverness und Kaltblütigkeit vor allem eine Frau war. Es war halb zehn, als sie die Penthousewohnung betrat, und ihr blieb kurz die Luft weg, denn sie hatte bis dahin keine Ahnung gehabt, wie man in New York wohnen konnte, wenn man das nötige Kleingeld hatte. An die 200 Gäste verteilten sich auf luxuriösen 500 Quadratmetern, saßen und standen in Grüppchen herum und amüsierten sich bestens. Zack kam mit ausgebreiteten Armen und einem breiten Grinsen auf sie zu, eine dicke Cohiba zwischen den Fingern, und begrüßte sie herzlich. Bewundernd musterte er ihr Kleid und ihre schlanken, wohlgeformten Beine, dann ließ er es sich nicht nehmen, ihr ein paar wichtige Leute vorzustellen. Natürlich war der gesamte Vorstand von LMI nebst Damen anwesend, aber auch eine Menge anderer Leute: Anwälte, Broker, Analysten und natürlich Investmentbanker aus allen Sparten. Alex’ anfängliche Befangenheit schwand schnell, als sie spürte, wie selbstverständlich sie in diesen illustren Kreis aufgenommen wurde, ja, jedermann schien sich regelrecht darum zu reißen, mit ihr zu sprechen. Irgendwann tauchte Zack wieder auf, als sie gerade in ein Gespräch mit John Kwai und Hugh Weinberg vertieft war.

»Tut mir leid, dass ich euch unterbreche«, Zack nahm Alex am Arm, »ich bring sie euch gleich wieder.«

»Was ist los?«, fragte Alex erstaunt.

»Komm mit«, flüsterte Zack und grinste geheimnisvoll, »ich will dich einem sehr wichtigen Mann vorstellen.«

Sie folgte ihm gespannt durch das ganze Penthouse hinaus auf die riesige Dachterrasse. In gemütlichen Rattansesseln saßen hier ein paar Männer zusammen, tranken Cognac, rauchten die dicken Cohibas, die überall zum Zugreifen auslagen, und lachten. In dem Augenblick, als Alex die Terrasse betrat, wandte sich einer der Männer um und ihre Blicke trafen sich. Das Lachen auf dem Gesicht des dunkelhaarigen Mannes erlosch. Er stellte sein Glas auf den niedrigen Tisch und stand auf.

»Wer ist das?«, raunte Alex in Zacks Ohr.

»Sergio Vitali. Du hast doch schon von ihm gehört, oder?«

Natürlich hatte sie das. Jeder in New York City kannte Sergio Vitali. Sein Gesicht war häufig genug im Fernsehen und in den Zeitungen zu sehen. Er war einer der mächtigsten Männer der Stadt, Bauunternehmer, Immobilientycoon und milliardenschwer, wenn man der Presse Glauben schenken durfte. Immer wieder machte er Schlagzeilen durch große Spenden an soziale Einrichtungen, durch glanzvolle Empfänge, zu denen nur die Spitzen der New Yorker Gesellschaft geladen und auf denen die wichtigsten Geschäfte der Stadt gemacht wurden. Sergio Vitali war ein Aushängeschild der amerikanischen Wirtschaft. Dem Forbes-Magazin zufolge gehörte er zu den reichsten Männern Amerikas. Ihm gehörte halb Manhattan. Er besaß Hotelketten und Spielcasinos in Las Vegas, Reno, Atlantic City und Miami, herrschte über ein ganzes Firmenkonglomerat und reiste in eigenen Learjets.

»Alex«, sagte Zack jetzt, »darf ich dir Mr Sergio Vitali vorstellen? Mr Vitali, das ist Alex Sontheim, die Leiterin der Abteilung Mergers and Acquisitions bei LMI.«

»Ich habe schon sehr viel von Ihnen gehört«, Vitalis Stimme war angenehm und kultiviert, »und ich freue mich, Sie endlich einmal persönlich kennenzulernen. Ihr guter Ruf eilt Ihnen voraus, aber niemand hat mir gesagt, was für eine außerordentlich schöne Frau Sie außerdem sind.«

Alex lachte verlegen und ergriff seine dargebotene Hand. Sein Händedruck war fest und warm, und Alex spürte, wie diese Berührung in ihrem Magen ein warmes Feuer entzündete, das sich schnell in ihrem ganzen Körper ausbreitete. Nie zuvor hatte sie einen Mann mit einer derart starken sinnlichen Ausstrahlung getroffen, und die verwirrende Anziehung, die er auf sie ausübte, erschreckte und verärgerte sie, die gerne alles unter Kontrolle hatte, zutiefst.

»Die Freude ist ganz auf meiner Seite«, erwiderte sie dann und zwang sich zu einem gelassenen Lächeln. Zweifellos war Sergio Vitali der attraktivste Mann, der ihr jemals begegnet war. Sein dichtes, schwarzes Haar, das an den Schläfen grau zu werden begann, und die Fältchen um Mund und Augenwinkel verliehen seinem markanten Gesicht mit dem Profil einer römischen Statue Charakter. Es war ein Gesicht, das man so schnell nicht vergaß, ein Gesicht, mit dem er in Hollywood hätte Karriere machen können. Aber das Auffälligste an ihm waren seine stahlblauen Augen. Bevor sie noch ein Wort miteinander wechseln konnten, stellte Zack sich in die weit geöffneten Terrassentüren, klatschte in die Hände und bat seine Gäste um einen Moment der Aufmerksamkeit. Er hielt eine kurze Rede, von der Alex kein Wort mitbekam. Sie bemerkte, dass Vitalis verstörend unergründlicher Blick unverwandt auf ihr ruhte, und sie war hin- und hergerissen zwischen einer instinktiven Abneigung und einer eigenartigen Faszination. Der Mann verunsicherte sie, und sie wusste nicht, ob ihr das gefiel. Nichtsdestotrotz erwies er sich als ein ausgesprochen unterhaltsamer und aufmerksamer Gesprächspartner. Er stellte ihr seinen Freund und Anwalt Nelson van Mieren vor, der das genaue Gegenteil von Vitali war: klein, dick und kahlköpfig mit einem liebenswürdigen Lächeln auf den wulstigen Lippen und flinken, wachsamen Äuglein über feisten Hängebacken, die den ersten Eindruck von harmloser Gemütlichkeit Lügen straften. Van Mieren verabschiedete sich gegen halb eins. Danach fand Alex sich unversehens allein mit Vitali auf der Terrasse wieder. Sie trank sehr viel mehr Champagner als üblich, und ihre anfängliche Abneigung gegen Vitali verwandelte sich schnell in prickelnde Neugier. Es war halb drei, als sie feststellte, dass sie sich den ganzen Abend ausschließlich mit Sergio Vitali unterhalten hatte. Sie bedankte sich bei Zack für die Einladung, lehnte Vitalis Angebot, sie nach Hause zu fahren, höflich, aber bestimmt ab und verließ die Party mit einem Kribbeln im Bauch und dem sicheren Gefühl, bei einem der wichtigsten und einflussreichsten Männern der Stadt einen bleibenden Eindruck hinterlassen zu haben.

***

Mark Ashton saß an einem Freitagnachmittag im September an seinem Schreibtisch im 14. Stock des LMI-Building. Im Gegensatz zu dem seiner Chefin stand dieser in einem Großraumbüro, aber das störte ihn nicht. Ebenso wenig störte ihn die Arbeit, die ihm willkommene Ablenkung zu seinem wenig aufregenden Privatleben bot. Vor rund zwölf Jahren hatte es ihn, den Harvardabsolventen und Juristen, an die Wall Street verschlagen. Nach sechs Jahren in einer der größten New Yorker Kanzleien war er zu LMI gekommen, hatte aber im Handelsraum kläglich versagt. Die Hektik und der Stress waren nichts für ihn, er war nicht geldgierig und rücksichtslos genug, um dort Erfolg zu haben. Auf eigenen Wunsch hatte die Personalabteilung Mark schließlich in die Abteilung für Konsortialgeschäfte abgeschoben, und dort hatte es ihm drei Jahre lang recht gut gefallen. Detaillierte Berechnungen, Bilanzen und betriebswirtschaftliche Auswertungen waren eher sein Ding. Aber als im Februar die neue M & A-Chefin jemanden für die trockene Researcharbeit gesucht hatte, hatte Mark sich spontan und erfolgreich beworben. Und das hatte er nicht bereut. M & A war eine aufregende Sache. Mark hielt bei seiner Arbeit inne, setzte seine runde Brille ab und rieb sich die Augen. Alex Sontheim war die cleverste und kompetenteste Chefin, die er jemals gehabt hatte, und sie vermochte ihr Team auf eine unnachahmliche Weise zu motivieren. Sie bemerkte jeden Fehler und registrierte jede Schwäche, aber sie stellte nie jemanden bloß. Unvorbereitet sollte man nicht in ihr Büro kommen, das war schnell klar. Ein Lob von Alex kam einem Orden gleich, und es war ihr gelungen, die zusammengewürfelten Leute, die die neue M & A-Abteilung bildeten, innerhalb kürzester Zeit zu einem Team zu formen und ihnen ein Wir-Gefühl zu vermitteln, das in der Welt der Wall-Street-Egozentriker seinesgleichen suchte. Die gesamte Abteilung arbeitete, wenn es sein musste, klaglos bis spät in die Nacht und an den Wochenenden, man feierte Erfolge gemeinsam bei After-Work-Partys im St. Johns Inn, im Luna Luna oder im Reggie’s at Hanover Square. Mark fühlte sich das erste Mal in seinem Leben als akzeptiertes und wichtiges Mitglied eines effektiven Teams, und das verdankte er Alex. Nicht zuletzt aus diesem Grund hatte er sich vorgenommen, sie loyal zu unterstützen, und gerade deswegen hätte er gerne gewusst, ob es sie interessierte, was er bei seinen Recherchen über einen potentiellen neuen Klienten herausgefunden hatte. Es war eine eigenartige Sache, und Mark wusste nicht, was er davon halten sollte. Hanson Paper Mill aus Wisconsin war eine der größten Papiermühlen des Landes und hatte daran Interesse bekundet, den renommierten, aber beinahe bankrotten Verlag American Road Map Publishers zu übernehmen. Mark fragte sich nach dem Sinn dieses Begehrens, da seiner Meinung nach überhaupt keine Synergieeffekte erkennbar waren. Um mehr darüber zu erfahren, hatte er Nachforschungen über Hanson Paper Mill angestellt und zu seinem Erstaunen herausgefunden, dass Hanson einer Holding-Gesellschaft namens SeViCo aus Panama gehörte. Die SeViCo wiederum gehörte einer Firma namens Sunset Properties, die 1985 auf den British Virgin Islands gegründet worden war. Und über die Sunset Properties gab es überhaupt keine Informationen. So weit spielte das alles keine Rolle, aber erstaunlich war, dass die American Road Map Publishers über den Umweg über die monegassische Firma Sagimex S. A. ebenfalls der Sunset Properties gehörte. Warum sollte eine Firma eine andere übernehmen, die ohnehin schon den gleichen Besitzer hatte? Mark kaute nachdenklich auf seiner Unterlippe. Sollte er Alex sagen, was er über Hanson und American Road Map herausgefunden hatte?

»Nein«, sagte er schließlich laut zu sich selbst und schüttelte den Kopf, »es spielt keine Rolle.«

Seine Aufgabe war es, die nötigen Zahlen zusammenzustellen, damit man ein interessantes Übernahmeangebot ausarbeiten konnte. Um alles andere kümmerte sich später, falls das Geschäft zustande kommen sollte, die Rechtsabteilung.

***

Der Tag war die reinste Hölle. Seit ein paar Wochen hatte den Markt eine unerklärliche Unruhe ergriffen. Die Hektik, die bei Börsenbeginn losbrach, war nur mit der Stimmung beim Endspiel um den Super Bowl zu vergleichen. Alex arbeitete unter Hochdruck an einem neuen Geschäft, sie hatte den ganzen Tag über eine Telefonkonferenz nach der anderen und quälte sich zwischendurch durch komplizierte Analysen, die sich auf ihrem Schreibtisch stapelten. Zu Mittag hatte sie ein Sandwich gegessen, das Abendessen rückte in weite Ferne, wenn sie nicht das ganze Wochenende durcharbeiten wollte. Es war kurz vor halb vier, als die externe Leitung ihres Telefons summte.

»Ja?«, sagte sie und rieb sich die brennenden Augen.

»Hallo, Alex«, die sonore Stimme, so dicht und unerwartet an ihrem Ohr, trieb unwillkürlich ihren Puls in die Höhe, »ich bin’s, Sergio.«

»Oh, hallo, Sergio«, Alex zwang sich, gelassen zu klingen. Bereits am Tag, nachdem sie sich auf Zacks Party kennengelernt hatten, hatte Sergio sie angerufen und zum Mittagessen eingeladen. Die Aura der Macht, die ihn umgab, imponierte Alex. Seine Aufmerksamkeiten gefielen ihr, und die atemberaubenden Möglichkeiten, die sich durch eine nähere Bekanntschaft mit ihm ergeben konnten, hatten sie die wenig schmeichelhaften Gerüchte um die Herkunft seines sagenhaften Reichtums und die Tatsache, dass er verheiratet war, übersehen lassen. Bei ihren immer häufigeren Treffen hatte Alex gemerkt, wie fasziniert er von ihr war und wie er versuchte, sie zu beeindrucken. Sie hatte sich so lange kühl und unnahbar gegeben, bis sie ganz sicher sein konnte, ihn fest an der Angel zu haben. Das Gefühl, Macht über einen Mann wie Sergio Vitali zu besitzen, war aufregend und sehr viel besser als alles, was sie je zuvor erlebt hatte. Alex hatte noch nie eine längere Beziehung mit einem Mann gehabt, dafür fehlte ihr die Zeit. Hin und wieder verbrachte sie eine unverbindliche Nacht mit jemandem, um vor dem Morgengrauen zu verschwinden. Sergio Vitali aber war anders als alle Männer, die sie bis dahin gekannt hatte. Er war zweifellos der Rolls-Royce unter den Männern der Stadt, und er konnte ihre Eintrittskarte in die bessere Gesellschaft New Yorks sein. Als sie mit 23 Jahren nach New York gekommen war, war es ihr einziger, ehrgeiziger Wunsch gewesen, Karriere zu machen. Inzwischen hatte sich dieser Wunsch längst erfüllt. Sie war Teil dieses milliardenschweren Spiels, das Tag für Tag hinter den prachtvollen Fassaden gespielt wurde, sie gehörte zu den Großen im Nervenzentrum der Finanzwelt. Damals hatte sie geglaubt, sie würde zufrieden sein, wenn sie erst erfolgreich war, aber schnell hatte sie gemerkt, dass es ihr nicht ausreichte und ihr Ehrgeiz sie weitertrieb. Sie wollte so sein wie die Menschen, die sich ein Haus auf Long Island, im Westchester County oder in Cape Cod leisten konnten, und die selbstverständlich zu den wichtigen Ereignissen in der Stadt eingeladen wurden. Nach sechs Wochen hatte Alex dem beharrlichen Werben Sergios nachgegeben. Es hatte sie keine Überwindung gekostet, mit ihm ins Bett zu gehen. Er war ein attraktiver und phänomenal gut aussehender Mann, seine atemberaubende Wohnung in der Park Avenue, in die er sie an dem Abend vor 14 Tagen mitgenommen hatte, machte ihn in ihren Augen noch sehr viel begehrenswerter. Purer Luxus auf zwei Stockwerken verteilt, vier Meter hohe Decken, spiegelnde Marmor- und Parkettfußböden, die Salons eingerichtet mit feinsten Antiquitäten, französischen Kristallkronleuchtern und dicken Teppichen. Alex hatte schon viel von diesen Wohnungen gehört, die sich nur die Superreichen leisten konnten und die größer als so manches Landhaus waren, aber bis dahin noch keine von innen gesehen. Die Erinnerung an jene erste Nacht mit Sergio jagte ihr unwillkürlich einen angenehmen Schauer über den Rücken. Es hatte sie mit einem prickelnden Machtgefühl erfüllt, wie dieser beherrschte Mann ganz und gar die Kontrolle über sich verloren hatte. Sergio war verrückt nach ihr, und das allein war schon ziemlich schmeichelhaft, wenn man bedachte, wer er war. Doch damit er nicht glaubte, dass er sie nach einer einzigen, zugegebenermaßen aufregenden, Nacht gleich auf der Haben-Seite verbuchen konnte, war sie am nächsten Morgen gegangen, bevor er aufgewacht war. Es hatte keine acht Stunden gedauert, bis er vor ihrer Haustür gestanden und sie ins Windows on the World eingeladen hatte, das er für sie beide ganz allein reserviert hatte. ›Beeindrucken Sie mich‹, hatte Alex bei einem Treffen ein paar Tage zuvor herausfordernd zu ihm gesagt, und er hatte ihr versprochen, dies zu tun. Sergio hatte sein Versprechen gehalten.

»Wie geht’s dir, Cara? Was macht die Arbeit?«

»Sie droht mich zu ersticken«, Alex machte ihrer Sekretärin Marcia ein Zeichen, ihr die Akten, mit denen sie hereinkam, auf den Schreibtisch zu legen, »aber ich will das ja gar nicht anders haben.«

»Ich wollte dich fragen, ob du heute Abend schon etwas vorhast«, fragte Sergio nun.

»Oh«, Alex musterte rasch die Aktenberge vor sich, »ich habe noch viel zu tun. Es kommt darauf an.«

»Auf was kommt es denn an?«

»Auf das, was du jetzt vorschlägst«, Alex lächelte leicht. Sergio sollte mittlerweile begriffen haben, dass sie nicht zu der Sorte Frau gehörte, die sofort angerannt kam, wenn er nur mit dem Finger schnippte.

»Hm«, erwiderte er, »ich weiß nicht, ob dir so etwas gefällt, und vielleicht ist es ja auch etwas sehr kurzfristig, aber ich wollte dich fragen, ob du nicht Lust hättest, mich heute Abend zum Wohltätigkeitsdinner der Stephen-Freeman-Stiftung ins City Plaza zu begleiten.«

Er sagte das im Plauderton, als handele es sich um eine Einladung zum Schlittschuhlaufen. Alex richtete sich auf. Arbeit und Akten waren schlagartig vergessen. In diesem Moment galt es, Prioritäten zu setzen, und eine solche Gelegenheit, wie Sergio sie ihr bot, hatte oberste Priorität.

»Wenn du natürlich zu viel Arbeit hast …«, Sergios Stimme klang bedauernd, hatte aber einen spöttischen Unterton.

»Die Arbeit läuft mir schon nicht weg«, antwortete Alex.

»Heißt das, du kommst mit?«, fragte Sergio.

»Ja, sehr gerne.«

»Das freut mich«, antwortete er, »ich hole dich um acht Uhr ab.«

Als Alex den Telefonhörer aufgelegt hatte, lächelte sie zufrieden. Heute Abend würde sie einen weiteren, großen Schritt in die richtige Richtung unternehmen und den wirklich wichtigen Leuten dieser Stadt auf gesellschaftlicher Ebene begegnen. Und ganz zweifellos würde ihr erster Auftritt in Begleitung von Sergio Vitali viel beachtet werden. Alex warf ihrem Spiegelbild im Fenster ein triumphierendes Lächeln zu, dann griff sie zum Telefon. Sie musste absolut perfekt aussehen, und dafür blieben ihr noch knapp vier Stunden Zeit.

***

Beim festlichen Dinner fand Alex sich zwischen Sergio und Paul McIntyre, dem Leiter der New Yorker Baubehörde, wieder. An ihrem Tisch saßen außerdem Vincent Levy, der sich seine Überraschung darüber, seine M & A-Chefin an der Seite Sergio Vitalis zu sehen, nicht anmerken ließ, seine Frau, der bekannte Immobilienspekulant David Baines, Senator Fred Hoffman und andere wichtige Persönlichkeiten. Nachdem Alex eine Weile mit halbem Ohr zugehört hatte, wie sich Mrs McIntyre und Mrs Levy über einen Urlaub auf den Caymans unterhielten, und die Frau des Leiters der Baubehörde von der sensationellen Luxussuite schwärmte, die Mr Vitali ihnen schon zum wiederholten Male zur Verfügung gestellt hatte, hakte sie die Frauen dieser einflussreichen Männer rasch als uninteressant ab. Sie hatte sich noch nie etwas aus weiblicher Gesellschaft gemacht, und Frauengespräche wie diese erschienen ihr als Gipfel der Zeitvergeudung. Stattdessen konzentrierte sie sich auf die Gespräche der anwesenden Herren, die sich über ein Bauprojekt auf Staten Island unterhielten. Alex’ Blicke wanderten durch den prachtvoll dekorierten Saal, und sie erkannte zahlreiche Prominente. Das Bewusstsein, dass sie mitten unter ihnen saß, erfüllte sie mit einem berauschenden Triumphgefühl. Aber sie wurde von den meisten Menschen mindestens ebenso neugierig gemustert, denn es war ganz und gar ungewöhnlich, dass Sergio Vitali mit einer Frau erschien, die dazu gänzlich unbekannt und wunderschön war. Den ganzen Abend genoss Alex Sergios ungeteilte Aufmerksamkeit. Er brachte sie mit kleinen Anekdoten über die anwesenden Leute immer wieder zum Lachen. Die sieben Gänge des Galamenüs waren von erlesener Güte, die Weine dazu sündhaft gut. Nachdem alle offiziellen Reden gehalten worden waren, forderte Sergio sie zum Tanzen auf. Alex war keine besonders gute Tänzerin und froh darüber, dass sie kaum mehr tun konnten, als sich auf der überfüllten Tanzfläche um die eigene Achse zu drehen.

»Hast du gesehen, wie Vince Levy geguckt hat, als er uns zusammen gesehen hat?« Alex kicherte. »Was glaubst du wohl, was er denkt?«

»Wahrscheinlich denkt er dasselbe, was alle hier denken«, Sergio lächelte, aber seine blauen Augen musterten sie mit einer Intensität, die ein vertrautes Prickeln in ihrem Körper auslöste, »nämlich, dass wir miteinander ins Bett gehen.«

Alex gelang ein gelassenes Lächeln.

»Wenn ich gewusst hätte, dass du so einen schlechten Ruf hast, hätte ich mich nicht mit dir eingelassen«, sagte sie.

»Tatsächlich?« Sergio hob die Augenbrauen. »Ich dachte, dir sei mein Ruf vollkommen gleichgültig.«

»Das ist er auch«, Alex lächelte, »aber mein Ruf ist mir wichtig.«

»Das mag ich an dir, Alex«, erwiderte Sergio amüsiert, »du erinnerst mich an mich selbst. Um dein Ziel zu erreichen, würdest du alles tun.«

»Keineswegs alles«, entgegnete Alex, »ich bin vielleicht ziemlich ehrgeizig, aber es gibt durchaus Grenzen.«

»Und wo sind diese Grenzen?«

»Finde es doch heraus.« Alex blickte ihm tief in die blauen Augen. Sergio erwiderte ihren Blick. Seine Hand glitt von ihrer Taille auf ihren nackten Rücken, er zog sie enger an sich. Wie war es ihr nur gelungen, ihn sechs Wochen auf Distanz zu halten? Sie sehnte sich nach ihm mit jeder Faser ihres Körpers.

»Das werde ich«, murmelte er. Seine Stimme dicht an ihrem Ohr ließ Alex erschauern. »Ich will nämlich alles über dich herausfinden.«

Sie tanzten eine ganze Weile schweigend, bis die Musik abbrach und die Kapelle eine kurze Pause einlegte. Sergio hielt Alex einen Moment in seinen Armen fest und sah sie an, während die anderen Tanzpaare die Tanzfläche verließen. An seinem Arm kehrte sie zum Tisch zurück. Immer wieder hielten sie an, und Sergio, der tatsächlich jeden Anwesenden zu kennen schien, stellte ihr zahllose Leute vor. Als sie ihren Tisch erreicht hatten, spürte Alex, wie Sergio an ihrer Seite fast unmerklich zusammenzuckte und sein Körper sich für den Bruchteil einer Sekunde versteifte. Sie folgte seinem Blick. Ihr Tischnachbar Paul McInytre und Senator Hoffman, ein weißhaariger Hüne, unterhielten sich mit einem anderen Mann, der Alex vage bekannt vorkam. Dieser richtete sich auf, als er Sergio erblickte, und lächelte schmal.

»Ah, guten Abend, Mr Vitali.«

»Guten Abend, Herr Bürgermeister«, erwiderte Sergio glatt. Natürlich! Das war Nicholas Kostidis, der ungeheuer populäre, wenngleich nicht unumstrittene Bürgermeister von New York City. Sein markantes Gesicht war oft genug im Fernsehen und in den Zeitungen zu sehen. Bevor er Bürgermeister geworden war, war er der Bundesstaatsanwalt gewesen, der zahlreiche Investmentbanker vor Gericht gebracht und sich außerdem den Ruf des erfolgreichsten Mafiajägers Amerikas erworben hatte. Alex betrachtete ihn neugierig. Etwa im selben Alter wie Sergio sah er nicht auf die klassische Weise gut aus, ja, er hätte auf den ersten Blick gegen die imposante Erscheinung von Senator Hoffman, Paul McIntyre und das blendende Aussehen von Sergio Vitali beinahe unscheinbar gewirkt, wenn da nicht diese zwingende Intensität seiner heißblütigen, fast schwarzen Augen unter schweren Lidern gewesen wäre, die Alex beeindruckte und beunruhigte. Kostidis’ Körperhaltung strahlte Selbstbewusstsein und Macht aus. Sergio und der Bürgermeister maßen sich mit kalten Blicken. Alex konnte die feindselige Spannung zwischen den beiden Männern, die sich trotz ihres unterschiedlichen Äußeren durchaus ähnlich waren, fast körperlich spüren.

»Alex«, sagte Sergio nun, »hast du schon die Bekanntschaft unseres geschätzten Herrn Bürgermeisters gemacht?«

Kostidis’ Blick wandte sich ihr zu. Sein kühler und zugleich brennender Blick hypnotisierte sie.

»Nein, bisher noch nicht.« Sie hielt seinem Blick mit einem Lächeln stand. »Mein Name ist Alex Sontheim. Ich habe schon viel von Ihnen gehört und freue mich, Sie persönlich kennenzulernen.«

Sergio hob bei ihren Worten spöttisch die Augenbrauen. In Kostidis’ Miene spiegelten sich Interesse, aber auch Skepsis, als er ihr die Hand reichte und einen Moment festhielt.

»Die Freude ist ganz auf meiner Seite«, sagte er freundlich und beugte sich näher zu ihr hin, »es ist immer wieder schön, ein neues Gesicht zwischen all den allzu bekannten zu sehen.«

Bevor sie antworten konnte, ergriff Sergio das Wort.

»Ich höre, Sie haben es geschafft, in der Sache Zuckerman einen Untersuchungsausschuss einzusetzen«, sagte er im Plauderton.

»Oh, ja!« Kostidis lächelte und ließ Alex’ Hand los. »Es hat mich zwar etwas Überzeugungsarbeit gekostet, aber ich denke, es wird sich lohnen.«

»Das denke ich zwar nicht, aber ich wünsche Ihnen viel Glück«, erwiderte Sergio, ebenfalls lächelnd. Alex blickte irritiert zwischen den beiden Männern hin und her. Unter ihrer Höflichkeit brodelte der blanke Hass.

Die Härte und Furchtlosigkeit in Kostidis’ Augen standen im Widerspruch zu seinem liebenswürdigen Tonfall.

»Danke«, sagte er, »ich habe allerdings die Erfahrung gemacht, dass Glück oft nicht ausreicht, wenn man in ein Haifischbecken springt. Wie dem auch sei, ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Abend. Amüsieren Sie sich gut. Miss Sontheim, es war nett, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben.«

Alex nickte nur verwirrt. Kostidis klopfte Paul McIntyre auf die Schulter und ging weiter.

»Arschloch«, knurrte Sergio überhaupt nicht mehr höflich, als der Bürgermeister außer Hörweite war, und zog den Stuhl für Alex heran, damit sie sich setzen konnte. Sie wusste nicht recht, ob ihr Nick Kostidis gefiel oder nicht, doch auf jeden Fall war er ein ungewöhnlicher Mann. Das sagte sie zu Sergio, als sie sich wieder an den Tisch gesetzt hatten. Sergio musterte sie mit einem rätselhaften Ausdruck in den Augen.

»Nicholas Kostidis ist die Pest«, sagte er mit einer so kalten Stimme, dass Alex ihn erstaunt ansah. »Er ist ein machtgieriger, rücksichtsloser Fanatiker und besessen von dem Gedanken, die Stadt zu einem Kinderspielplatz zu machen.«

»Aber Sicherheit und die Senkung der Kriminalität sind doch eine gute Sache«, wandte Alex, die von der ›no tolerance‹-Politik des Bürgermeisters zur Verbrechensbekämpfung gehört hatte, arglos ein. Sergio blickte sie einen Moment durchdringend an, dann lachte er.

»Aber sicher ist es das.«

»Kostidis ist ein Demagoge und Volksverhetzer«, bemerkte Vincent Levy, nachdem er sich vergewissert hatte, dass ihnen niemand zuhörte. »Er ist gefährlich, weil er nichts außer seiner eigenen Wahrheit gelten lässt, und er kommt bei den kleinen Leuten so gut an, weil diese Wahrheit sehr einfach gestrickt ist.«

Er senkte seine Stimme.

»Er hat aus dieser Stadt einen Polizeistaat gemacht und …«

»Kostidis kann tun, was er will«, unterbrach Sergio ihn und winkte lässig einem Kellner, der sofort die Gläser nachfüllte, »aber auch mit Maßanzug und Seidenkrawatte bleibt er nur ein kleiner, griechischer Straßenköter aus Bedford Stuyvesant, der laut kläfft und anderen gerne ans Bein pinkelt.«

Die beiden Männer lachten abfällig.

»Über was für einen Untersuchungsausschuss hat er gesprochen?«, erkundigte sich Alex.

»Ein neuer Spleen von Kostidis«, Sergio winkte ab. »Er hat mich schon seit Jahren im Visier. Immer wieder versucht er, Mitarbeiter von mir einzuschüchtern, in der Hoffnung, irgendjemand würde ihm einen dunklen Fleck in meinem Leben auf einem Silbertablett servieren. Sein Hass auf jeden, der einen italienischen Namen trägt, ist pathologisch. Vielleicht wurde er als Kind mal von einem Italiener verprügelt.«

Er lachte unbekümmert und hob sein Glas.

»Ich trinke auf unseren Herrn Bürgermeister und seinen unglaublichen Ehrgeiz, der ihm eines Tages das Genick brechen wird.«

Alex bemerkte das kalte Glitzern in Sergios Augen und zog es vor, zu schweigen. Es gab keinen Grund für sie, Partei für Kostidis zu ergreifen.

***

Eine halbe Stunde später entschuldigte sie sich bei Sergio. Während sie sich mit einem Lächeln durch die Menschenmenge bis ins Foyer treiben ließ, hatte sie die Begegnung mit dem Bürgermeister schon beinahe vergessen. Sie genoss es in vollen Zügen, zu diesen privilegierten Menschen zu gehören, die sich überhaupt nichts dabei dachten, für ein Abendessen mehr Geld auszugeben, als ein Arbeiter in einem halben Jahr verdiente. Sie wanderte die langen Flure des luxuriösen City Plaza Hotel entlang, bis sie feststellte, dass sie sich verlaufen hatte, denn sie befand sich vor dem Eingang zur Küche. Sie wandte sich um und stieß beinahe mit zwei Männern zusammen, die eilig auf eine Tür mit der Aufschrift ›Nur für Personal‹ zugingen. Zu ihrer Überraschung erkannte Alex Nick Kostidis. Der Bürgermeister schien das Hotel durch den Hinterausgang verlassen zu wollen.

»Oh!« Kostidis lächelte, als er sie erkannte, und blieb stehen. »Wollten Sie die Küche inspizieren, Miss Sontheim?«

Er hatte sich ihren Namen gemerkt! Das Handy des anderen Mannes begann zu klingeln, worauf dieser ein Stück weiter ging.

»Nein, ich … ich habe mich wohl verlaufen«, erwiderte sie. Kostidis war nur wenig größer als sie selbst. Seine Augen waren so dunkel, dass sie fast schwarz wirkten, und er hatte für einen Mann ungewöhnlich lange und dichte Wimpern.

»Sie stammen nicht aus New York, nicht wahr?«, fragte er.

»Nein, ich komme aus Deutschland. Aber ich lebe schon seit zwölf Jahren hier.«

»Deutschland!« Kostidis lächelte freundlich. »Das Land der Dichter und Denker! Was hat Sie ausgerechnet hierher verschlagen?«

»Ich wollte Karriere machen«, entgegnete Alex.

»Sie arbeiten?« Er zog die Augenbrauen hoch.

»Was dachten Sie denn?« Sie sah ihn spöttisch an. »Ich bin keine reiche Erbin. Ich war sechs Jahre lang bei Morgan Stanley und arbeite jetzt bei LMI.«

»Aha. Bank. Das große Geld«, Kostidis lachte, aber seine Augen blieben ernst und forschend.

»Mein Job gefällt mir«, Alex glaubte plötzlich, sich rechtfertigen zu müssen, »genauso, wie mir diese Stadt gefällt. New York ist so lebendig.«

»Das ist es, in der Tat«, Kostidis nickte. »Meine Eltern kamen aus Griechenland hierher, aber ich bin hier geboren und aufgewachsen, und ich hatte nie den Wunsch, woanders zu leben. Aus beruflichen Gründen war ich eine Weile in Washington, da fühlte ich mich wie in der Verbannung. Für mich gibt es nur New York City. Ich liebe diese Stadt, trotz all ihrer Schwächen. Und ich arbeite mit meiner ganzen Kraft dafür, dass New York schöner und lebenswerter wird.«

Alex starrte Nick Kostidis an und staunte über die echte, ungekünstelte Begeisterung und Leidenschaft in seinen Worten. Beim Reden benutzte er seine Hände, und mit seiner lebendigen Mimik zog er den Zuhörer unweigerlich in seinen Bann. Ihr fiel wieder ein, dass Levy ihn einen Demagogen genannt hatte, und sie dachte an die verächtlichen Worte von Sergio. Nun, da sie Kostidis persönlich kennengelernt hatte, wunderte sie sich nicht mehr, weshalb er die Wahlen zum Bürgermeister vor gut anderthalb Jahren mit einer so überragenden Mehrheit für sich entschieden hatte. Er besaß eine nahezu magische Anziehungskraft und die einzigartige und seltene Begabung, seinem Gesprächspartner das Gefühl zu vermitteln, er sei in diesem Augenblick der wichtigste Mensch auf der ganzen Welt. Die Bevölkerung von New York liebte und verehrte ihn, weil er seinen Worten Taten folgen ließ. Er hatte in wenigen Monaten für die Sicherheit und Verbesserung der Lebensqualität mehr getan als seine Vorgänger in zehn Jahren.

»Nick?« Der junge Mann mit dem dünnen blonden Haar und dem blasierten Gesichtsausdruck hatte sein Telefonat beendet und kam näher. Er musterte Alex mit einer Mischung aus Neugier und Misstrauen.

»Kommen Sie, Nick? Wir müssen los.«

»Ich komme«, sagte Kostidis, ohne seinen eindringlichen Blick von Alex abzuwenden, »gehen Sie schon vor, Ray.«

»Okay«, der Mann gehorchte widerwillig.

»Mein Kindermädchen«, Kostidis lächelte bedauernd, »ein Termin jagt den nächsten, und Mr Howard achtet darauf, dass ich überall rechtzeitig und lange genug erscheine. Er ist nicht zu beneiden.«

Er reichte Alex die Hand.

»Es war sehr nett, Sie kennenzulernen, Miss Sontheim.«

»Ja, das … das fand ich auch«, stotterte sie und spürte zu ihrem Ärger, dass sie errötete wie ein Schulmädchen.

»Erlauben Sie mir, dass ich Ihnen einen Rat gebe, auch wenn wir uns kaum kennen«, Kostidis beugte sich etwas vor und senkte seine Stimme, »seien Sie vorsichtig bei der Wahl Ihrer Freunde. Auch wenn es aufregend sein mag, es ist gefährlich, mit den Haien zu schwimmen. Es sei denn, Sie sind selber einer, aber das glaube ich nicht.«

Er ließ ihre Hand los und lächelte wieder.

»Übrigens, die Toiletten finden Sie, wenn Sie die Treppe im Foyer hinuntergehen«, er zwinkerte ihr noch einmal zu, bevor er die Tür öffnete und verschwand. Alex starrte ihm wie betäubt nach. Sie hatte täglich mit wichtigen und einflussreichen Menschen zu tun und ließ sich schon lange nicht mehr von ihnen beeindrucken, aber Nicholas Kostidis war das soeben gelungen. Er hatte sie tief beeindruckt. Und er hatte sie verunsichert.

***

Sergio Vitali betrat das Lagerhaus an den Brooklyner Docks, über dessen Eingangstür ein Schild mit der Aufschrift Fichiavelli & Sons – Italian Wine and Food Company angebracht war. Ihm stand der Sinn überhaupt nicht nach einer weiteren sinnlosen Diskussion mit seinem missratenen jüngsten Sohn, aber Cesare hatte wieder einmal grandiosen Mist gebaut. Nelson hatte Cesare am Morgen gegen Kaution aus dem Gefängnis geholt, und Sergio hatte befohlen, den Jungen nach Brooklyn zu bringen. An diesem Samstagmorgen waren die Büros, die Lager, Kühlräume und Laderampen wie ausgestorben, nur im vordersten Büro warteten drei Männer auf Sergio. Er nickte Silvio Bacchiocchi und Luca di Varese zu und musterte seinen jüngsten Sohn, der mit einer Mischung aus Trotz und Angst seinen Blick erwiderte, aber mit verschränkten Armen sitzen blieb, während sich die beiden anderen Männer erhoben. Cesare war 21, ein hübscher junger Mann mit den blauen Augen und dem sinnlichen Mund seines Vaters, der leider nicht die geringste Neigung zeigte, irgendeiner Arbeit nachzugehen. Im Gegensatz zu seinen älteren Brüdern Massimo und Domenico, die Schule und Studium zielstrebig abgeschlossen hatten und im Unternehmen des Vaters arbeiteten, war Cesare nicht besonders intelligent und besaß dazu ein unbeherrschtes und hitziges Temperament, das ihn häufig genug in Schwierigkeiten brachte. Sergio hatte unzählige Male seine Beziehungen spielen lassen, um Cesare zu helfen. Er hatte im Laufe der Jahre sieben verschiedenen Schulen ansehnliche Spenden zukommen lassen, damit der Junge wenigstens einen Schulabschluss bekam, aber alle Hilfe war vergeblich gewesen.

»Hallo, Cesare«, sagte Sergio, der nicht die geringste Lust hatte, sich um dieses verzogene Bürschchen kümmern zu müssen.

»Hi, Dad«, antwortete Cesare.

»Steh auf, wenn ich mit dir rede.«

Cesare zog die Nase hoch und blieb sitzen. Luca und Silvio bemerkten, wie Sergios Gesicht kalt wie Eis wurde und sich seine Wangenmuskulatur anspannte. Diesen Ausdruck kannten und fürchteten sie. Silvio Bacchiocchi arbeitete seit 25 Jahren für Sergio, er war Ende 40, blond und blauäugig, wie viele seiner norditalienischen Vorfahren, und neigte zum Dickwerden. Durch Sergio war er ein wohlhabender Mann geworden und dankte ihm dies mit bedingungsloser Treue. Niemand, der den netten und immer fröhlichen Silvio kannte, hätte es für möglich gehalten, dass er die Geschäfte für seinen Boss mit eiserner Hand führte und vor nichts und niemandem zurückschreckte.

»Steh schon auf, wenn dein Papa mit dir spricht«, sagte er zu Cesare, der daraufhin widerwillig gehorchte. Sergio sah seinen Sohn an, bemerkte die laufende Nase und den dünnen Schweißfilm auf dessen Stirn.

»Du nimmst das verdammte Zeug, nicht wahr?«, stellte er fest. Cesare rieb sich nervös die Hände, wischte sie an seiner Jeans ab und wich dem Blick des Vaters aus.

»Antworte mir gefälligst!«

»Ab und zu. Aber nicht viel.«

Das war gelogen. Sergio hatte schon genug Kokser gesehen, um zu wissen, wie einer aussah, der regelmäßig das teuflische weiße Pulver schnupfte. Es wunderte ihn nicht einmal, denn Cesare war hinter seinem großen Maul und seiner Brutalität ein schwacher Mensch.

»Du hast dich verhaften lassen, du Idiot! Warum bist du nicht abgehauen?« Sergio kochte vor Zorn über so viel Dummheit. »Hast du eigentlich noch immer nichts kapiert? Du heißt mit Nachnamen ›Vitali‹, und du weißt, was das bedeutet. Weshalb hast du nicht wenigstens das Zeug weggeworfen, als die Bullen aufgetaucht sind? Die Presse wird sich darauf stürzen, und wenn erst Kostidis davon erfährt, kann dir niemand mehr helfen. Du bist wirklich ein Vollidiot, Cesare!«

Für einen Moment herrschte Stille in dem kleinen Büro. Cesare grinste dümmlich und verlegen, was Sergio noch wütender machte. Kostidis war seit Jahren hinter ihm her und wartete nur auf eine Schwachstelle, einen kleinen Fehler oder eine unüberlegte Dummheit wie diese, um zuzuschlagen. Sergio wusste nur zu gut, dass Cesares hirnloses Benehmen eines Tages sein ganzes Machtgefüge erschüttern könnte. Bei Körperverletzung drückten die Cops noch ein Auge zu, aber Drogenhandel war ein Verbrechen, bei dem sie empfindlich reagierten. Durch die harte Politik dieses fanatischen Bürgermeisters galt Drogenhandel in New York fast als schlimmer als Mord, und schon die kleinen Crackdealer aus der Bronx oder East Harlem wurden drastisch bestraft.

»Silvio wird dir einen Anwalt besorgen«, sagte Sergio zu seinem Sohn, »einen, der nichts mit uns zu tun hat. Und dann werden wir sehen, was der für dich tun kann. Wenn sich die Cops stur stellen, kann ich auch leider nichts mehr machen.«

»Was soll das heißen?« Cesare hörte auf zu grinsen.

»Dass du eine Weile in den Knast wanderst«, Sergio erhob sich. Es hatte keinen Sinn, länger mit dem Jungen zu reden. Er wandte sich ab.

»He!« Cesare ergriff seinen Vater an der Schulter, worauf dieser wie elektrisiert herumfuhr und seinen Sohn wegstieß. Die Abscheu und die Eiseskälte in Sergios Augen ließen Cesare zurückweichen. Nie zuvor hatte er den Vater so wütend gesehen.

»Papa, du kannst mich doch nicht …«, begann er.

»Ich habe dir jede erdenkliche Chance gegeben, Cesare«, sagte Sergio mit mühsam beherrschter Stimme. »Ich habe gehofft, dass du eines Tages erwachsen werden und kapieren würdest, worum es im Leben geht. Aber stattdessen prügelst du dich wie ein Kind, kokst und säufst dir das Gehirn weg und wirst immer dümmer. Ich verachte Dummheit. Sie ist das Schlimmste, was es auf Erden gibt.«

Cesare lief rot an und ballte die Fäuste. Sein Vater war der einzige Mensch auf der Welt, den er fürchtete. Aber genauso sehr hasste er ihn auch.

»Tu doch nicht so moralisch!«, schrie er ihn an. »Glaubst du, ich weiß nicht, dass du eine Menge Kohle mit dem Zeug verdienst? Es ist dir doch scheißegal!«

»Stimmt«, Sergio sah ihn kalt an, »ich habe es allerdings selber nie genommen, und ganz sicher habe ich mich niemals mit Drogen von der Polizei erwischen lassen. Das ist der Unterschied.«

»Was soll ich jetzt tun? Ich bin doch dein Sohn! Du musst mir helfen!« In Cesares Augen stand die nackte Panik. Er war todsicher gewesen, dass sein Vater nur ein paar Anrufe tätigen musste, um die Angelegenheit aus der Welt zu schaffen.

»Mir ist schmerzlich bewusst geworden, dass alle meine Bemühungen, aus dir einen vernünftigen Menschen zu machen, verschwendete Zeit sind«, Sergios Stimme troff vor Verachtung. »Du denkst nicht eine Sekunde darüber nach, dass du uns alle in Gefahr bringst. Ich habe keine Lust mehr, für dich die Kohlen aus dem Feuer zu holen. Alles, was ich jemals von dir dafür bekommen habe, ist Undank. Wenn du dich nicht an meine Regeln halten willst, dann kannst du auch nicht erwarten, dass ich dir helfe.«

Cesares Mundwinkel zuckte nervös, der Schweiß rann ihm über das Gesicht. Er fror und schwitzte gleichzeitig.

»Wenn ich in den Knast komme«, sein Blick war lauernd, »und wenn sie mich über dich ausfragen, dann sag ich, was ich über dich weiß.«

Sergios Gesichtszüge gefroren zu Eis. Silvio und Luca wechselten einen bekümmerten Blick. Etwas Schlimmeres hätte er kaum sagen können. Nun bemerkte auch Cesare, dass er einen Fehler gemacht hatte. Der letzte Rest von Selbstsicherheit fiel von ihm ab, und ihm sprangen die Tränen in die Augen.

»Papa!«, rief er flehend. »Das wollte ich nicht sagen.«

»Das hast du aber getan.«

»Ich würde nie etwas tun, was dir schaden könnte!«