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Dieser Band enthält folgende SF-Romane: Lennox und der Barbar (Jo Zybell) Kinder der verlorenen Sonne (Margret Schwekendiek) Die Skorpion-Reiter von Candakor (Alfred Bekker) Um das Überleben ihres Volkes im Kampf gegen einen übermächtigen Gegner zu sichern, schicken die Drivaner ein Generationsraumschiff mit Kindern auf die Reise, bevor ihre Welt vernichtet wird. In der Eile wurde das zentrale Gehirn jedoch ungenügend programmiert. Sein Programm bezieht sich nur auf Kinder, nicht auf die Erwachsenen, weshalb es die tötet. Lediglich die in jeder Generation auftretenden Mutanten werden gebraucht, um das Schiff zu steuern. Durch Zufall beobachtet die junge Listana, wie die Neu-Erwachsenen, die angeblich in den Dienst der Götter treten, getötet werden. Ihr Weltbild bricht zusammen.
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Seitenzahl: 703
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Unter verlorenen Sonnen: 3 Science Fiction Abenteuer
Copyright
Lennox und der Barbar: Das Zeitalter des Kometen #7
Prolog
1. Kapitel: Der Erste
2. Kapitel: Canduly Reesa
3. Kapitel: Sir Leonard Gabriel
4. Kapitel: Der von den Göttern Gezeichnete
5. Kapitel: Die Wolfsfrau
6. Kapitel: Fanlur von Salisbury
7. Kapitel: Fanlur, der Barbar
Epilog
Kinder der verlorenen Sonne
DIE SKORPION-REITER VON CANDAKOR
Dieser Band enthält folgende SF-Romane:
Lennox und der Barbar (Jo Zybell)
Kinder der verlorenen Sonne (Margret Schwekendiek)
Die Skorpion-Reiter von Candakor (Alfred Bekker)
Um das Überleben ihres Volkes im Kampf gegen einen übermächtigen Gegner zu sichern, schicken die Drivaner ein Generationsraumschiff mit Kindern auf die Reise, bevor ihre Welt vernichtet wird. In der Eile wurde das zentrale Gehirn jedoch ungenügend programmiert. Sein Programm bezieht sich nur auf Kinder, nicht auf die Erwachsenen, weshalb es die tötet. Lediglich die in jeder Generation auftretenden Mutanten werden gebraucht, um das Schiff zu steuern. Durch Zufall beobachtet die junge Listana, wie die Neu-Erwachsenen, die angeblich in den Dienst der Götter treten, getötet werden. Ihr Weltbild bricht zusammen.
Ein CassiopeiaPress Buch CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von
Alfred Bekker
© Roman by Author /COVER A.PANADERO
© dieser Ausgabe 2023 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen i
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Alle Rechte vorbehalten.
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von Jo Zybell
Der Umfang dieses Buchs entspricht 272 Taschenbuchseiten.
Eine kosmische Katastrophe hat die Erde heimgesucht. Die Welt ist nicht mehr so, wie sie einmal war. Die Überlebenden müssen um ihre Existenz kämpfen, bizarre Geschöpfe sind durch die Launen der Evolution entstanden oder von den Sternen gekommen und das dunkle Zeitalter hat begonnen.
In dieser finsteren Zukunft bricht Timothy Lennox zu einer Odyssee auf...
Fanlur, der geheimnisvolle Helfer von Tim Lennox, steht im Mittelpunkt dieses Romans. Die Herkunft aus zwei unterschiedlichen Welten ist faszinierend und macht ihn zu einem einmaligen Exemplar. Auch die Freundschaft zu den Wölfen wird hier erklärt. Die Geschichte seiner Vorfahren und seiner Herkunft ist fesselnd und macht die Beweggründe deutlich, aus denen er Lennox zur Seite steht.
Oberlauf des Großen Flusses, September 2504
Lichtpunkte glühten im Gestrüpp auf. Schwach und nur zwei oder drei Herzschläge lang, dann erloschen sie wieder. Erschöpft lehnte er gegen einen Baumstamm.
Er zügelte seinen Atem, spähte in die Dunkelheit. Was war das gewesen? Leuchtende Insekten? Ferne Fackeln? Oder nur ein Reflex seiner Angst? Es gab hier keine Lichter, nirgends. Kein Mondlicht schimmerte am Himmel über dem Wald. Kein Stern funkelte zwischen den Zweigen, wenn er in die Baumkronen hinauf sah. Die Nacht war ein schwarzes Loch. Und er war so maßlos erschöpft.
Weiter.
Links brach ein Zweig. Er kauerte sich ins Unterholz, hielt still, lauschte. Kaum vermochte er seine Atemzüge zu zähmen. Da! Wieder knackte es im Unterholz, vierzig, höchstens fünfzig Schritte entfernt diesmal. So nahe? Himmel über Salisbury! Hatten sie seine Spur entdeckt? Natürlich, seinen Schweiß, sein Blut! Beim Atem seiner Mutter – sollte dies denn wahrhaftig seine letzte Nacht sein?
Und da! Laub raschelte, vielleicht dreißig Schritte entfernt. Ein Verfolger? Bei Wudan, bitte nicht! Er verharrte reglos, lauschte nur, war starr vor Furcht. Nachtschwarzer Wald schluckte die Umrisse seiner Gestalt, nicht einmal als Schatten war er jetzt noch zu sehen. Um selbst kein Geräusch zu verursachen, atmete er mit weit geöffnetem Mund.
Still, ganz still!
So verharrte er minutenlang tief ins Gestrüpp geduckt und alle Sinne in den nächtlichen Wald gerichtet. Doch kein weiteres Rascheln oder Knacken verriet einen Verfolger. Da war nichts. Sie hatten seine Spur verloren, sie tappten im Dunkeln, wie er selbst auch. Nein, da war nichts. Seine Sinne hatten ihn getäuscht. Weiter.
Weiter, immer weiter!
Von Stamm zu Stamm tastete er sich durch das Unterholz. Das Atmen fiel ihm schwer, in seinen Wunden pochte brennender Schmerz. Sein rechter Arm war wie taub, sein Herz klopfte ihm in der Kehle, und das Schwert auf seinem Rücken wog schwer wie ein Eichenstamm.
Dieser Kampf …
Er lehnte wieder gegen etwas Hartes, verschnaufte, versuchte seine Schmerzen wegzudrängen, versuchte seiner Hoffnungslosigkeit auszuweichen, versuchte nichts zu spüren.
Dieser zähe, mörderische Kampf …
Hundertzwanzig, vielleicht hundertfünfzig Schritte weit arbeitete er sich durch das Unterholz. Leise, Meter für Meter, langsam, leise, weiter, immer weiter. Die Zeit kroch dahin wie erkaltende Lava.
O, dieser mörderische, nicht enden wollende Kampf! Nicht daran denken! Nichts spüren, nichts fühlen, alles vergessen, einfach nur weiter gehen!
Einmal mehr glaubte er, ein Sternenpaar in der Schwärze des Waldes aufleuchten zu sehen. Schon wieder Lichter? Versagten seine Sinne erneut? Fieberte er bereits? Er kniff die Augen zusammen, er blinzelte, er spähte – nichts leuchtete mehr.
Weiter.
Dann war ihm, als hörte er bereits den Fluss rauschen. Er richtete sich auf, vergaß einen Augenblick lang jede Vorsicht, rannte los, stolperte. Verzweiflung überschwemmte ihn, drohte seinen Willen zu ersticken. Er schüttelte sich, er seufzte, er biss die Zähne zusammen und richtete sich auf. Torkelnd tastete er einen Baumstamm, hielt sich fest, stieß sich ab, tastete den nächsten Stamm, hielt sich fest, stieß sich erneut ab. So schlich er von Baum zu Baum, und wirklich: Das Rauschen des Flusses war jetzt deutlich zu hören.
Er arbeitete sich durch ein Farnfeld. Schmerz und Erschöpfung zwangen ihn irgendwann zu Boden. Er ging in die Knie, er beugte sich über seine Oberschenkel, er bohrte die Stirn in die Kühle des Waldbodens. Konnte man denn derart erschöpft sein? Keinen Schritt wollte er noch gehen, keinen weiteren Atemzug tun.
Es duftete nach faulem Holz, nach feuchter Erde, nach Farn und Moder. Aufstehen, weitergehen. Nach wenigen Metern sackte er blitzartig in die Knie. Da waren sie wieder, die Lichter! Sechs diesmal, und er konnte blinzeln, so oft er wollte, er konnte spähen, die Augen zusammenkneifen, sich abwenden – sah er wieder hin, leuchteten sie noch immer.
Er blickte nach links – auch dort zwei Lichterpaare. Augenpaare? Augen, die in der Dunkelheit leuchteten? Er blickte nach rechts, er blickte nach links, er blickte hinter sich. Leuchtende Doppellichter, wohin er sah.
Aus und vorbei!
Die Bestien umzingelten ihn, er hatte verloren. Endlich war die Flucht vorüber. Er griff über seine Schulter und zog das Schwert aus der Rückenscheide. Viel zu langsam, viel zu schwerfällig. Seine Arme schmerzten, seine Wunden brannten, in seinem Kopf hämmerte eine Schürfhacke, seine Füße waren aus Granit, seine Knöchel, seine Waden, Knie und Schenkel, alles aus kaltem Granit.
Vorwärts, Mann aus Salisbury! Vorwärts und voran zu Wudans Festtafel! Ein Sohn der Wildnis stirbt nicht aus Versehen! Ein Sohn der Alten stirbt nicht im Schlaf!
Ein Ring aus Lichtern, so umgaben ihn die Augen der Bestien. Mit jedem Atemzug wurden es mehr, gleichgültig, wohin er sich wandte, vollkommen gleichgültig. Er dachte kurz an die Waffe im Panzer, er dachte an seinen Vater, an seine Mutter, und so torkelte er dem Rauschen des Flusses entgegen.
Vielleicht hätte er noch ein paar weitere Winter erleben können, wenn er den EWAT erreicht, wenn er die Waffe in die Hände bekommen hätte. Doch was wogen ein paar weitere Winter voller Mühsal gegen den Frieden an Wudans Festtafel? Was dieses verfluchte Leben gegen das letzte Aufatmen, das sie Tod nannten?
Er hob das Schwert und beschleunigte den Schritt. Den leuchtenden Augen entgegen. Er stieß einen Kampfschrei aus, er rannte, er hob die Klinge …
Er stolperte.
Keine Wurzel hatte ihn zu Fall gebracht. Kein Stein, kein Strunk, kein Bruchholz. Schwer atmend richtete er sich auf und tastete hinter sich. Seine Hand berührte etwas Warmes, tastete Haut, Kleider, Haare. Ein menschlicher Körper. Verkrümmt und reglos lag er im Gestrüpp. Seine Finger glitten durch etwas Feuchtes, Klebriges – Blut. Seine Hand zuckte zurück, sein ausgezehrter Körper erbebte unter kalten Schauern.
Einer der Jäger, die ihm auflauerten? Er hatte keine Freunde in den Ruinen und Uferwäldern des Großen Flusses. Und wenn – die Bestien unterschieden nicht freundliches Menschenfleisch von feindlichem Menschenfleisch. Es musste einer seiner Jäger sein, der hier verblutet war.
Als er sich auf den Knien aufrichtete, schwindelte ihn. Er stemmte die Fäuste in den Waldboden und atmete gegen einen Brechreiz an. Und plötzlich stand sie ihm vor Augen, seine schöne Mutter, so klar, als wäre sie eben hinter einem Stamm hervorgetreten. Ihre Miene war streng, ihre Augen leuchteten, und ihm war, als hörte er sie flüstern: „Steh auf, laufe, lebe!“
Er tastete nach seinem Schwert, rammte es in den Boden, zog sich an ihm hoch und lief los. Keine Lichter mehr im nachtschwarzen Wald, keine Augenpaare.
Steh auf, laufe, lebe!
Sein Atem flog, er keuchte, das Schwert vor sich ausgestreckt brach er durch Gestrüpp und Gebüsch. Tiefhängende Äste peitschten ihm ins Gesicht, Baumstämme schürften seine Schultern und Wangen wund, Bruchholz brachte ihn zu Fall.
Steh auf, laufe, lebe!
Er stand auf und rannte weiter. Vor ihm rauschte der Fluss, hinter ihm raschelte und knackte es. Nicht zurückblicken, weiterlaufen, dem Fluss entgegen!
Seine Stiefel versanken in Uferschlamm, sein Schwert bog Schilfrohr zur Seite, er stolperte über einen Stamm, schlug lang im Wasser hin. Wasservögel flatterten auf und verschwanden kreischend in der Nacht über dem Fluss.
Steh auf, laufe, lebe!
Aufstehen, weiterlaufen! Bis zu den Knien reichte ihm das Wasser. Er drehte sich um – Dutzende von leuchtenden Augenpaaren im Schilf! Er schleuderte ihnen sein Schwert entgegen, warf sich ins Wasser und schwamm los.
Er spürte, wie die Strömung ihn davontrug. Das Wasser drang durch seine Kleider und brannte in seinen Wunden. Seine vom Kampf tauben Arme wollten kaum noch gehorchen. Er drehte sich auf den Rücken, breitete die Arme aus, stieß sich allein mit den Beinen ab. Über ihm riss die Wolkendecke auf. Ein Stern glitzerte am Nachthimmel, und da, noch einer!
Er sah zurück – der Uferwald war eine schwarze Wand. Lichter schwammen auf dem Fluss. Sechs, sieben, acht Paare – sie verfolgten ihn! Er warf sich auf den Bauch, seine tauben Arme zerteilten das Wasser, er schwamm um sein Leben.
Bald konnte er die Konturen des Waldes am rettenden Ufer erkennen. Die Mitte des Großen Flusses lag hinter ihm. Seine Armmuskulatur drohte endgültig zu erlahmen. Er schluckte Wasser, hustete, versank, tauchte wieder auf. Die Kräfte schwanden ihm.
Weiter, Mann aus Salisbury! Das Ufer ist nah! Um deiner schönen Mutter Willen – weiter! Sie will, dass du lebst!
Er drehte sich auf den Rücken, um mit den Beinen zu rudern und zu strampeln. Ein Schreckensschrei entfuhr ihm: Die Augenpaare schwammen nur zwanzig oder dreißig Schritte hinter ihm. Er konnte die Umrisse von Schädeln erkennen.
Er warf sich auf den Bauch. Fünfzehn oder zwanzig Schritte entfernt erhob sich ein großer Vogel aus dem Schilf. So nahe schon das Ufer, so nahe der Wald! Doch seine Arme erlahmten. Wieder schluckte er Wasser. Seine Sinne drohten zu schwinden. Und da! Was war das? Lichter glühten im Schilf und am Waldrand! Augenpaare! Sie erwarteten ihn!
Pyrenäennordseite, März 2449
Der Sturm der vergangenen Nacht hatte die alte Tanne umgekippt. Die Zweite kroch in die Erdkuhle unter ihrem Wurzelstock. Die Erstmutter und vier Jungreißer kletterten zu ihr hinunter und lagerten sich um sie. Sieben Einjährige ließen sich rund um die Kuhle nieder. Die anderen schlichen in den Wald, einige, um ihre üblichen Posten im Unterholz einzunehmen, andere, um nach Nahrung zu suchen.
Der Erste lief ein Stück zurück hangaufwärts und setzte sich auf den vom längst abgetauten Gletscher glattgehobelten Felsblock, den er schon von oben, von der Waldgrenze aus erspäht hatte. Viel lieber wäre er weiter Hang abwärts gezogen, denn wie alle litt auch er unter den Folgen des misslungenen Jagdzuges. Doch das Leben in den Eingeweiden der Zweiten hatte Vorrang, und so begann das große Warten.
Er spähte in den Waldhang hinab und erkannte die schwarze Alte. Er streckte die Nase in den Wind und witterte die Einjährigen und die Witterer unter den Bäumen und zwischen den Büschen.
Namen? Bedeutungslos. Gerüche verrieten das Wesentliche. Sie erkannten einander an ihren unterschiedlichen Duftnoten. Wenn der zu Erkennende nahe genug war, auch an bestimmten Schattierungen des Fells oder an unverwechselbaren Merkmalen, wie einem zerfledderten Ohr, einem blinden Auge, oder einem fehlenden oder ungewöhnlich großen Zahn.
Bedeutung hatte vor allem der Geruch eines Reißers. Und natürlich seine Stellung im Rudel. Er zum Beispiel duftete nach einer Mischung aus Sperma und dem Holz der mächtigen Nadelbäume, wenn es faulte. Und er war der Erste in seinem Rudel.
An jenem Tag führte der Erste sein Rudel von einem der Schneegipfel hinab in die Waldhänge am Fuß des Gebirges zurück. Sie hatten zwei Beutetiere verfolgt, eine Wakuda-Kuh mit ihrem Kalb; nächtelang und bis in die Felsregionen des Bergmassivs hinauf. Mit dem Kalb hatten sie leichtes Spiel gehabt. Die Kuh jedoch war über einen Steilhang gestürzt, und als seine wendigen Jungreißer einen Pfad zu der verendenden Beute gefunden hatten, bedeckte schon zuckendes Weißgefieder viel zu vieler Geier das Fleisch.
Jetzt bohrte der Hunger in ihren leeren Bäuchen. So ein Kalb hielt nicht lange vor; nicht für sechsundzwanzig Mäuler. Weiter unten am Fluss jedoch lag ein Dorf der Nackthäute. Sie hielten Großkrabbler, Kamauler und Laufvögel. Der Schlund des Ersten und sein hungriger Bauch erinnerten sich gut daran.
Die Sonne versank in roten Wolken, die Nacht kroch die Waldhänge hinauf. Von seinem Felssitz aus witterte der Erste fremdes Fleisch und Blut. Bald sah er die grauen, braunen und schwarzen Leiber einiger seiner Jagdreißer unten im Wald. Sie schleppten Beute herbei; der Blutaasige und der Nadelholzige eine Großschlange, und fünf Jungreißer den halben Kadaver einer Wisauu. Sie hatten ihn einem allein jagenden Greifen geraubt.
Nichts, was für längere Zeit sättigte, aber mehr als ein Maul voll toter Krabbler immerhin. Der Erste ließ die Hälfte der Schlange der Ersten und Zweiten Mutter und den Jungreißern in die Wurzelkuhle werfen, die andere Hälfte teilte er den erfolgreichen Jägern zu. Er selbst riss sich ein noch nicht stinkendes Stück des toten Wildschweins heraus.
Es wurde dunkel, das Sichellicht schwebte von einer Seite des Nachthimmels zur anderen, langsam, es hatte Zeit. Das große Warten dauerte an.
Als die Nacht ging und der Morgen kam, hörte der Erste ein Winseln und Fiepen aus dem Wald. Er stellte die Ohren auf, erkannte die Stimme der Zweiten und hörte jenes haarfeine Flehen, das ihm einmal mehr den Durchbruch von Leben verriet. Von Leben, das er gezeugt hatte, und das ihm wie immer auch diesmal sein Herz schwellen ließ. Er stand auf, kletterte von seinem Felsen und trottete Hang abwärts in den Wald hinein.
Als er die Kuhle unter der Wurzel erreichte, wusste er bereits, dass es sieben waren. Sieben nackte, feuchte Fleischklumpen. Seine Augen blitzten, er streckte den buschigen Schwanz, er bleckte die Zähne. Die Einjährigen, die sich am Rand der Kuhle drängten, die Jagdreißer, die Witterer – alle machten ihm Platz. Er stieg hinab, stieß die Jungreißer zur Seite, wich der Schnauze der Ersten Mutter aus, und stieß seine Schnauze in den Nacken der Zweiten. Ihr Fell war nass, ihr Körper strahlte Hitze aus. Sie knurrte und leckte ihre Neugeborenen ab.
Alle sieben beschnüffelte der Erste, eines nach dem anderen. Sie rochen nach dem süßlichen Körperschleim seiner Zweiten: nach aufgeplatzten Kastanien, vergorenen Beeren und frischer Wakuda-Leber. Sie zuckten, sie fiepten, sie hoben ihre winzigen Schnauzen und erwitterten sich den Weg zu den Zitzen der Zweiten.
Ihre Augen waren Erhebungen unter durchsichtiger Haut, ihre Schwänze bleiche Würmer. Vier würden einmal Mütter werden, falls sie überlebten. Einer der anderen drei hatte einen grauen Fleck auf der nackten Stirn und war größer als die anderen. Er duftete nach frischer Eichenrinde und Morgentau. Der Erste fuhr ihm mit der Zunge über die schleimige Schnauze, sein Herz schwoll wieder, und er stieß ein zärtliches Winseln aus.
Der zweite der anderen drei Rüdenwelpen war ebenfalls auffallend groß, allerdings nicht so kräftig gebaut wie der mit dem grauen Stern, dafür langgliedriger. Der Erste beschnupperte ihn ausgiebig, viel länger als die anderen Neugeborenen. Eine seltsamer Duft ging von ihm aus, etwas wie rostiges Eisen mischte sich in den Geruch von Kastanien, Beeren und Leber, etwas wie warmer Nackthautschweiß und Schnee auf schwarzem Gestein, wie man es hoch oben auf den Gipfeln fand.
Der Erste schüttelte seinen mächtigen Schädel und stieß ein heiseres Knurren aus. Die Zweite hob ihre Schnauze und fletschte ihn an. Er wandte sich ab, kletterte aus der Kuhle und trottete den Waldhang hinauf zu seinem Felssitz.
Die Sonne ging auf, als er seinen graupelzigen Schädel auf die Vorderläufe legte. Ihm war, als spürte er das neue Leben dort unten im Wald pulsieren. Manchmal gab sein Bauch vorübergehend Ruhe, dann zog das Bild des nackten Fleischklumpens mit dem grauen Stern auf der Stirn durch seinen Schädel, und das Herz schwoll ihm. Manchmal glaubte er Eichenrinde, Nackthautschweiß und Schnee zu riechen. Dann beschlich ihn jedes Mal eine Todesahnung.
Zwei Mal am Tag schlich er zur Kuhle mit den Müttern. Umringt von spielenden Einjährigen spähte er zur Zweiten und ihrem Wurf hinab. Bald wusste er, dass höchstens sechs der Neugeborenen überleben würden.
*
Vierzehn Sonnenaufgänge und dreizehn Sonnenuntergänge blieb das Rudel bei der entwurzelten Tanne. Es ernährte sich von Krabblern, kleinem Gefiederzeug, Beeren und Aas. Ein jämmerlicher Fraß, doch er dämpfte den Hunger vorübergehend. Am Morgen des neunten Tages rief der Erste sämtliche Reißer an der Erdkuhle zusammen. Nach und nach schlichen oder trotteten sie herbei. Graue, braune und schwarze Pelze versammelten sich im Unterholz um die entwurzelte Tanne.
Die Zweite kletterte aus dem Loch, nacheinander folgten ihr die sieben Jungen. Längst hatten sie inzwischen die Augen geöffnet, längst bedeckte flaumiges Fell ihre kleinen Körper. Fünf waren gefärbt wie der Erste und seine Zweite – dunkelgrau. Einer hatte schwarzes Fell. Unter seiner Kehle hellte das Fell ein wenig auf und ging in dunkles Grau über. Und an seiner Stirn prangte ein hellgrauer Fleck. Der siebte Kleinreißer war vollkommen weiß.
Grausternchen sprang zu dem Ersten und strich zwischen seinen Läufen hin und her. Er hatte eisgrüne Augen. Der Erste drückte ihm die Schnauze in die Flanke, schob es behutsam zur Seite und fasste den Weißen ins Auge. Allein hockte der am Rand des Erdlochs und rührte sich nicht. Ahnte er, was ihm bevorstand?
Der Erste trottete zu ihm und beschnüffelte ihn. Eichenrinde, Nackthautschweiß und Leber. Der Geruch hatte noch an Intensität zu genommen; und an Fremdartigkeit. Vor allem der Gestank nach Nackthautschweiß erregte den Widerwillen des Ersten. Er legte den Kopf in den Nacken und stimmte ein langgezogenes Jaulen an. Alle anderen fielen ein. Am lautesten und kläglichsten jaulte die Zweite; und am längsten. Noch als auch der Erste längst verstummt war, heulte sie die Baumwipfel an. Ihre Jungen drängten sich ängstlich an ihre Flanken und ihren Bauch.
Auch der Weiße wollte zu ihr hoppeln, doch der Erste versetzte ihm einen Stoß mit der Schnauze, so dass er sich überschlug und zurück in die Kuhle purzelte.
Endlich verstummte auch das Gejaule der Zweiten. Sie trollte sich hangabwärts. Ihre sechs Kleinreißer tappten hinterher. Auch die Erstmutter, die Witterer und die meisten Jungreißer folgten.
Nur der Blutaasige und der Nadelholzige und die schwarze Alte, seine eigene Mutter, blieben mit dem Ersten an der Kuhle zurück. Und die Einjährigen. Sie mussten lernen, was leben durfte, und was nicht leben durfte.
Weißes, Rotäugiges durfte nicht leben. Nie. So war es immer gewesen, so würde es für alle Zeiten bleiben.
Aus der Kuhle fiepte es jämmerlich. Ein weißes Fellknäuel erschien an ihrem Rand. Der Weiße kletterte über den Rand, winselte und sah ängstlich nach allen Seiten. Sein Fell sträubte sich. Der Erste trottete zu ihm und schnappte nach ihm. Wie grünes Holz zerknickte das weiche Genick zwischen seinen Fängen.
Er ließ es in die Kuhle fallen. Die Schwarze und der Blutaasige scharrten altes Laub und Geäst hinterher; solange, bis sie das weiße Pelzchen nicht mehr sehen konnten. Sie sprangen in den Wald und folgten ihrem Rudel.
Schnell kamen sie nicht voran, denn die Kleinreißer waren noch ungeübte Wanderer. Der Abstieg ins Flachland zog sich hin. Der Erste schickte vier Witterer voraus.
Am frühen Abend nahm der Erste die Witterung von Nackthäuten auf. Merkwürdig, denn um diese Jahreszeit stiegen sie selten so weit die Hänge hinauf. Beeren, Pilze und Eicheln gab es hier erst, wenn das fette Grün des Laubes zur verblassen begann. Der Erste zog das Rudel zusammen, schickte je drei Jungreißer an die Flanken, die schwarze Alte und die Erstmutter nach vorn, und den Blutaasigen und den Nadelholzigen mit zwei Jungreißern nach hinten. Die anderen bildeten einen engen Ring um die Zweite und ihre Jungen.
Zwei Witterer kehrten zurück. Sie hatten das Dorf gefunden, sie hatten junges Beutegetier auf den Weiden zwischen den Hütten entdeckt. Die Botschaft versetzte das gesamte Rudel in heftige Erregung. Die Vorfreude auf frisches Fleisch trieb den Lupas den Speichelschleim aus den Lefzen und weckte auch dem Erschöpftesten unter ihnen neue Kräfte in den Läufen. Der Erste übernahm die Vorhut.
Die Dämmerung brach an, der Wind drehte und fiel kühl und feucht von den Gipfeln in den Wald hinunter. Er brachte den Gestank von Nackthäuten. Das verwirrte den Ersten. Nackthäute über ihnen in den Hängen? Um diese Jahreszeit? Er trieb sein Rudel zur Eile an.
Die Zweite mit ihren Jungen drohte zurückzubleiben. Der Gestank nach Nackthaut wurde intensiver – säuerlich, bitter und ranzig. Schweiß, Haar, alte Kleidung. Auch die Witterung von Großkrabblern nahm der Erste auf. Die Nackthäute würden sie einholen. Er scheuchte das Rudel ins dichte Unterholz und legte sich zwischen Beerenhecken auf die Lauer.
Rasch kam die Nacht. Und mit ihr die Nackthäute. Es waren viele; ein Rudel, zweimal so groß wie sein eigenes. Sie flogen auf Großkrabblern. Im letzten Dämmerlicht erkannte der Erste die langen, schwarzen Leiber der Großkrabbler, als sie über den Wipfeln vorbeischwirrten. Sogar die Nackthäute in ihren Sätteln erkannte er. Sie flogen hangabwärts, und sie mussten zahlreiche Reißzähne mit sich führen, denn der Erste witterte Metall, viel Metall.
Die Reißzähne von Nackthäuten waren aus Eisen. Sie trugen sie nicht in ihren Mäulern, sondern an Gurten und in Hüllen an ihren Leibern; oder auf großen Hölzern, die sie werfen, und auf kleinen Hölzern, die sie mit Hilfe von gebogenen Stöcken und daran befestigten Sehnen schleudern konnten.
Nackthäute auf Jagdzug also? Nackthäute auf Kriegszug gar? Der Erste stieß ein heiseres Knurren aus. Er spürte, dass seine Beute unten im Tal in Gefahr war.
*
„Der Berghang! Das ist der Berghang!“ Der Adept deutete auf die Ansammlung von Lichtern fünf oder sechs Speerwürfe unterhalb der Ruine. „Das ist das Tal, das ist das Dorf!“ Er zischte mit gespitzten Schlundlippen, gab sich kaum noch Mühe, leise zu sprechen. „Ich erkenne es wieder, alles erkenne ich wieder. Hier ist es, hier leben sie.“
„Bist du sicher?“ Rapun, der Göttersprecher, beargwöhnte den haarigen Bastard von der Seite. Er konnte nur die Konturen seines unförmigen Profils und seiner riesigen, stets unruhigen Zunge erkennen. Ständig fuhr sie aus dem Mundwinkel und glitt über die wulstigen Lippen. „Hier soll es sein?“ Rapun sah sich zweifelnd um. Die Nacht hatte sich längst auf das Gebirge gesenkt, der Hang war nicht mehr als eine Ahnung, das Flusstal nicht einmal das, und von der Lage und Größe des Dorfes konnte der Adept nur aus den Berichten der Kundschafter wissen. „Bist du auch wirklich ganz sicher?“
„Ganz und gar sicher.“
Zu dritt waren sie einem Stoßtrupp bis zu der Ruine gefolgt. Oder zu fünft, wenn man die beiden Wildhunde mitrechnete. Der Stoßtrupp aus vier Dolchmännern hatte den Auftrag, zur Rodung rund um die kleine Siedlung hinabzusteigen und einen der Hirten von der Wakuda-Weide zu verschleppen. Niemand zweifelte daran, dass die Männer bald mit ihrer Beute zurückkehren würden, denn der Wulfane Rydolpher führte den Stoßtrupp. Rydolpher war ein erfahrener Streiter des Fürsten und der persönliche Leibwächter seines Sohnes. Im Turm der alten Götterhausruine warteten sie nun auf die Rückkehr der Dolchmänner; Rapun, sein Adept Wulfer, und Vartyro, der Capo. Und Wulfers Wildhunde. Fünfzig Schritte hangaufwärts im Unterholz zirpten ihre sieben Andronen.
„Da!“ Der Junge hielt seine haarige Rechte ans Ohr. „Hört ihr? Der Fluss. Hört ihr ihn rauschen?“ Er drehte sich nach links und rechts. Der Capo nickte, Rapun lauschte vergeblich. Er hörte nur die Andronen und das Rauschen des Windes in den Baumkronen. Allerdings hatte das nichts zu bedeuten, denn er war auf dem linken Ohr taub.
„Hört nur! Genau so rauschte es, als ich das Gesicht hatte.“ Die beiden schwarzen Wildhunde hinter ihm spitzten die Ohren. Auf der gegenüberliegenden Talseite erschien ein Lichtfleck am Himmel und entriss der Dunkelheit die Silhouette eines Bergrückens. Der Mond ging auf.
Noch immer beobachtete Rapun den Burschen von der Seite. So wenig der Göttersprecher an der göttlichen Berufung seines Adepten zweifelte, so sehr hatte er es sich doch zur Gewohnheit gemacht, Wulfers Verstand und Temperament zu misstrauen. Dieser ungewöhnliche Adept war sehr jung und entsprechend unerfahren. „Erinnere dich, Wulfer, denke nach. Hat der Gott dir wirklich diesen Hang, dieses Tal und dieses Dorf gezeigt?“
Der Rotpelzige fuhr herum. „Hat Wudan zu mir gesprochen, oder hat er zu dir gesprochen?“, zischte er den um so vieles Älteren an. Der Göttersprecher unterdrückte den Impuls, ihm ins Gesicht zu schlagen. „Das ist das Dorf, Rapun! Ich muss es wissen, und ich weiß es! Hier leben sie! Ich weiß es einfach!“ Seine Hunde knurrten. Er legte seine schweren Pranken auf die Schultern seines Meisters. Längst hatte er den Flüsterton aufgegeben, leidenschaftlich und heftig sprach er jetzt. „Wir müssen es vernichten, wir müssen es niederbrennen! Keiner darf lebend entkommen! Nicht einer, hörst du? Nicht ein einziger!“
„Leiser, Wulfer!“ Rapun hob beide Hände zu einer beschwichtigenden Geste. „Rede leiser, bei Wudan! Vielleicht haben sie ja Wachen aufgestellt.“
„Haben sie nicht, haben sie überhaupt nicht.“ Der Adept flüsterte wieder. „Sie sind dumm, sie fühlen sich sicher, sie fürchten nur die wilden Tiere, diese Dummhirne!“ Er ließ den Göttersprecher los und blickte auf die Lichter im Tal hinab. „Gegen räuberische Tiere haben sie Zäune errichtet und dahinter Koppeln mit Schreivögeln angelegt. Doch gegen räuberische Menschen haben sie sich nicht gewappnet. Wie dumm sie sind! Wir überfliegen ihre Zäune, wir reißen ihre Koppeln nieder, wir rauben ihre Schreivögel! Sie sind so dumm, so dumm! Wie ein Orkan kommen wir über sie! Wie ein Waldbrand im Sommer richten wir sie zugrunde!“ Einer der Wildhunde stimmte ein heiseres Gekläff an.
„Leiser, Wulfer, bitte!“ Rapun wandte sich an den Capo. „Was meinst du, Vartyro?“
Der untersetzte und kräftig gebaute Capo zuckte mit den Schultern. „Zu mir sprechen die Götter nicht.“ Die kantige Form seines Schädels war trotz der Dunkelheit zu erkennen. „Zu ihm sprechen sie.“ Er wies auf den Rotpelz. „Wenn also Wulfer sagt, keiner darf entkommen, dann wird keiner entkommen.“
Heiß und bitter stieg es aus Rapuns Magen. Er streifte die Kapuze seines Ledermantels über seine weißen Locken, um sein Gesicht zu verbergen. Schon seit sie die Insel verlassen hatten, war es ihm aufgefallen: Mehr als seinen respektierten der Capo, seine Dolchmänner, Schwertstreiter und Schützen inzwischen den Willen des Jungen. Mehr als auf seine Befehle, hörten sie auf die des Bastards. Dabei hatte Wulfer noch keine sechzehn Winter erlebt, er dagegen sah bereits seinem sechzigsten entgegen. Ganz zu schweigen davon, dass er der Sprössling einer alten Dynastie von Göttersprechern war; und zudem Wulfers Lehrer. Andererseits: Wulfer war der jüngste Sohn von Kraukeyrus, dem Südlandfürsten, der die Insel Saardiny seit acht Wintern erfolgreich gegen Raubhorden und Kriegsrotten verteidigt hatte. Selbst der eigensinnige Vartyro war dem Fürsten treu ergeben. Treuer fast, als dem Patriarchen von Saardiny.
„Also gut“, sagte Rapun, nachdem er ein paar Mal tief durchgeatmet und seinen Ärger gebändigt hatte. „Dann werden wir diese Siedlung eben vernichten.“
„Natürlich werden wir das“, zischte der Bastard. „Sobald der erste Silberstreifen des neuen Tages am Horizont schimmert, greifen wir an! Noch bevor ihre Schreivögel erwachen!“ Wulfer ballte die Fäuste. Sie waren groß wie Feldsteine. „Wenn die Sonne aufgeht, werden ihre Hütten brennen! Kein Spross ihrer erbärmlichen Sippe wird je die Hand gegen meinen Vater und meine Brüder erheben!“
„Still doch!“ Meister Rapun fuhr seinen Adepten an. „Du weckst ihre Schreivögel noch, bevor die Lichter dort unten überhaupt ausgegangen sind!“
Der Bastard verstummte. Doch Rapun spürte, wie er ihn fixierte. Das Licht des aufgehenden Mondes spiegelte sich in seinen gelben Augen. Oder leuchteten sie etwa von selbst? Rapuns Nackenhaare richteten sich auf.
Der Bastard wurde ihm immer unheimlicher. Seit Wulfers Großvater, ein Wulfanen-Fürst aus dem Südland, seinem Enkel auf dem Sterbebett jene alte Weissagung offenbart hatte, war Wulfer reizbar und aufbrausend, und seit der Gott ihm in einer Vision den Weg zu den Mördern seiner Sippe gewiesen hatte, war er wie besessen von dem Gedanken, sie zu töten.
Nein, das war nicht mehr der gelehrige Schüler von einst, der beflissene Diener, der demütige Mutant, der dankbar war, die Unterweisungen eines menschlichen Göttersprechers zu kosten, in seinem Zelt schlafen und von seiner Jagdbeute essen zu dürfen. Rapun erkannte seinen Adepten kaum noch wieder. Manchmal bereute er es, dem Drängen von Wulfers Mutter nachgegeben und den Bastard als Schüler aufgenommen zu haben. Doch die Frau hatte in jungen Jahren ihr Lager mit Rapun geteilt. Und was noch schwerer wog: Sie war die Gattin des Fürsten und eine Tochter des ersten Patriarchen der Insel.
Der Göttersprecher wich dem Blick seines Adepten aus. „Was ist mit den Lupas?“, wandte er sich an den Capo. „Gibt es wirklich welche in dieser Gegend?“
„Du zweifelst an meiner Nase?“ Wulfer sprach jetzt sehr leise, und seine Stimme klang feindselig.
Rapun überhörte seine Frage. Demonstrativ sah er an ihm vorbei zu Vartyro. „Gibt es welche, oder gibt es keine?“
„Ein großes Rudel, ganz in der Nähe.“ Der Capo war kein Freund vieler Worte.
„Und?“ Der Göttersprecher versuchte das Glitzern in den Augen seines Adepten zu ignorieren. „Ist das alles, was deine Späher herausgefunden haben?“
„Mindestens zwanzig Tiere. Sie kommen aus dem Gipfelmassiv und ziehen talwärts. Sie haben Jungtiere bei sich, und sie haben Hunger.“
„Sie werden bald um die Siedlung streichen“, sagte Wulfer bestimmt. „Einen solchen Schlachttag lassen sie sich nicht entgehen.“ Er streckte die Linke nach dem Wildhund aus, der ihm am nächsten war, und begann sein Nackenfell zu kraulen. „Sie gehören mir. Du wirst es erleben, Meister Rapun – sie gehören mir.“
Der Göttersprecher erwiderte nichts. Er wusste ja von der rätselhaften Macht des Bastards über wilde Tiere. Zugleich spürte er, dass der Junge ihm allmählich über den Kopf wuchs. Oder war es schon zu spät? War Wulfer längst sein eigener Meister? Bei Wudans Weisheit und Barmherzigkeit – er war doch noch keine sechzehn Winter alt!
Der Adept stieß sich von der zerklüfteten Fensterlücke ab. Wortlos ging er zum Abgang der Wendeltreppe. Er zog sein Schwert aus der Rückenscheide und bog die jungen Brennnesseln und Birkentriebe vor den ersten Stufen zur Seite. Der Capo und die Wildhunde folgten ihm ungerufen die Turmtreppe hinab und in den Wald hinunter. Rapun blieb allein in der Turmruine zurück.
Ein zunehmender Halbmond stand in einer Wolkenlücke. Sein milchiges Licht fiel auf den Waldhang. Leichter Südwind strich durch das knospende Laub der Baumkronen. Am Fuß der Turmruine glitten Schatten vorbei: das Wildhundpaar. Zwei weitere Schatten lösten sich aus dem Gestrüpp vor dem Eingang des von Efeu eingehüllten Gemäuers. Rapun hörte es rascheln und knacken – der Capo und der Adept ließen sich im Unterholz vor der Götterhausruine nieder. Noch im Sitzen überragte Wulfer den bulligen Schwertträger um zwei Köpfe.
Rapun dachte an seine ehemalige Geliebte, an Franca, die Mutter des Adepten. Unter ihren Vorfahren hatte es viele Frauen mit dem zweiten Gesicht gegeben, auch sie selbst hatte es. Kraukeyrus, den Wulfanen-Fürsten aus dem Südland, hatte sie aufgrund einer Weissagung geheiratet. Jedenfalls behauptete sie das immer. Der Göttersprecher vermutete jedoch, dass Kraukeyrus’ Macht und sein sagenhafter Reichtum bei ihrer ungewöhnlichen Entscheidung mindestens so sehr ins Gewicht gefallen waren wie die Prophezeiung.
Rapun wusste nur von wenigen Menschen, die Mutanten zu Frauen oder Männern genommen hatten. Die meisten dieser Verbindungen blieben in der Regel kinderlos. Nicht so die zwischen Kraukeyrus und Franca – die Tochter des Inselpatriarchen gebar dem Wulfanen-Fürsten vier Söhne. Nur der jüngste ähnelte seinem Vater so sehr, dass man auf den ersten Blick in Versuchung war, ihn selbst für einen Wulfanen zu halten: Wulfer. Er hatte das zweite Gesicht von seiner Mutter geerbt. Schon bei seiner Geburt war er am ganzen Körper von rotem Haar bedeckt und so groß gewesen, dass Rapuns Vater ihn mit dem Messer aus dem Mutterleib schneiden musste. Ein Wunder, dass Franca überlebt hatte.
Fünfundzwanzig Schritte unterhalb seines Ausgucks hörte Rapun den Adepten auf den Capo einreden. Er verstand kein Wort. Irgendwann übermannte die Müdigkeit den Göttersprecher. Er kauerte sich unter das Fenster an die Mauer und schlief ein wenig.
Zwei Stunden später weckten ihn Stimmen außerhalb der Turmruine. Er stand auf und sah zur Fensterlücke hinaus. Der Mond schien jetzt direkt über dem Turm. Unten, am Eingang der Ruine sprach der Adept mit Rydolpher und seinen Dolchmännern. Waren sie also zurückgekehrt! Durch Brennnesseln, Birkengeäst und Farn arbeitete Rapun auf der Wendeltreppe nach unten.
Als er ins Freie trat, wäre er fast über den Gefangenen gestolpert. Er wimmerte und wälzte sich in einem Jagdnetz hin und her. Ein Halbwüchsiger, wie es aussah. Sie hatten ihm seine Wildlederkappe in den Mund gestopft, damit er nicht schreien konnte. Rapun glaubte das Weiß seiner aufgerissenen Augen erkennen zu können. Das engmaschige Netz schnürte seinen Körper zu seinem verkrümmten Bündel zusammen.
„Sie haben keine Wachen aufgestellt“, zischte der Adept. „Sagte ich nicht, dass sie sich sicher fühlen? Sagte ich nicht, dass sie dumm sind?“
Der Göttersprecher ging vor dem Gefangenen in die Hocke. Tatsächlich, ein halbwüchsiger Knabe! Jünger noch als Wulfer. In seinem Gesicht konnte Rapun der Dunkelheit wegen nicht lesen. Doch es war so bleich, dass man hätte meinen können, eine Handvoll Schnee läge im Gras. Er roch stark nach Schweiß, und als Rapun mit den Fingern durch das Netz fuhr, um nach dem Knebel zu greifen, berührte er den Hals des Jungen – die Schlagader pulsierte rasend schnell.
Der Göttersprecher riss die nasse Lederkappe aus dem Mund des Gefangenen und warf sie ins Gestrüpp. „Wie heißt du?“, fragte er ihn in der Sprache der Südländer.
Der Junge warf sich auf die Seite und übergab sich. Rapun wartete, bis er aufhörte zu würgen und zu husten, dann packte er das Netz und zerrte ihn zurück auf den Rücken. „Wie heißt du?“
„Madrilan.“
„Madrilan.“ Seltsamer Name. Er klang fremd in Rapuns Ohren. „Madrilan …“
„Und deine Sippe?“ Wulfer ging vor dem Hirtenjungen in die Hocke. „Wie heißt deine Sippe, will ich wissen!“
Der Junge schwieg. Wulfer zischte geifernd und schlug ihm ins Gesicht. „Willst du wohl!“
Er unterbrach sich, griff durch die Netzmaschen an den Hals des Jungen, riss eine Kette ab und richtete sich langsam auf. Im Mondlicht sah Rapun seine gefletschten Zähne schimmern. Er hielt ein ovales Medaillon zwischen den Daumen- und Zeigeklaue.
„Was haben wir denn hier?“ Er öffnete das Medaillon, hob es in Augenhöhe und drehte sich ein Stück, bis das Mondlicht darauf fiel. Rapun sah dem jungen Adepten über die Schulter: Ein weißer Lupa-Kopf eingelassen in schwarzen Achat!
Wulfer knurrte böse. „Ein Reesa!“ Er blickte sich nach Rapun um. „Habe ich es dir nicht gesagt? Es ist das Dorf! Hier hat die Mördersippe sich verkrochen!“ Er fauchte und begann nach dem Jungen zu treten. Der schrie auf, und Vartyro warf sich blitzschnell neben ihm auf die Knie und presste ihm die Hand auf den Mund.
„Beherrsche dich!“, fuhr Rapun den Adepten an. „Wir brauchen ihn noch!“ Fauchend trat Wulfer zur Seite. Rapun beugte sich über den wimmernden Jungen. „Ich stelle dir jetzt ein paar Fragen, und du wirst sie mir beantworten, klar?“
Vartyro nahm die Hand von seinem Mund. Der Junge reagierte nicht. „Wie viele wohnen in eurem Dorf?“
Der Junge namens Madrilan schluckte, antwortete aber nicht. Wulfer trat ihm in die Nieren. „Wie viele, Bursche?“
„Hundert … hundertdreiundzwanzig.“
Das waren mehr, als sie erwartet hatten. Wulfer grunzte böse, und einer der Dolchmänner stieß einen Fluch aus.
„Wie viele davon können mit einer Waffe umgehen?“, fragte Rapun. „Und wie viele und welche Art von Waffen besitzt ihr?“
Der Hirtenjunge starrte ihn an.
„Ich hab dich etwas gefragt, Madrilan Reesa!“
Der Junge schwieg.
„Du wirst Schmerzen erdulden müssen, wenn du schweigst. Also: Welche Art von Waffen und wie viele?“
Der Junge presste die Lippen zusammen. Kein Wort sprach er.
„Große Schmerzen, Reesa!“, zischte Wulfer. „Und am Ende wirst du doch reden.“
Der Junge kniff die Augenlider zusammen. Wie einer, der nicht mehr zwischen Albtraum und Wirklichkeit unterscheiden konnte, kam er Rapun vor; wie einer, der zu schlafen und zu träumen hoffte, und nun versuchte aufzuwachen. Ein paar Mal riss er die Augen auf, schloss sie wieder, und riss sie wieder auf, schloss sie erneut. Die ganze Zeit schwieg er, und der Göttersprecher wusste, dass er eine Seele vor sich hatte, die zum Schweigen und zum Leiden entschlossen war.
Rydolpher aber trat dem Jungen in die Rippen. „Mach’s Maul auf, oder wir schneiden dir Zunge ab!“
Uringeruch stieg aus Kleidern des Gefangenen. Doch er sprach kein Wort.
„Bringt ihn zum Reden!“, zischte Wulfer.
Rydolpher und seine Dolchmänner zogen ihre Klingen. „Los, er muss reden! Macht schon!“ Wulfer knurrte drohend. „Macht es gründlich, und er wird reden!“
*
Später erinnerte sie sich vor allem an Geschrei, an den Geruch von Metall und Feuer, und an Augen, groß wie der Himmel und bis zum Bersten voll mit Liebe, Angst und Erbarmen.
Sie war ja noch so klein!
Es waren die Augen ihrer Mutter gewesen. Die Erinnerung an diese guten Augen und an ihre warme Stimme waren das einzige, das ihr von der Mutter geblieben war. Ich habe solche Angst um dich und ich liebe dich, sagten die guten Augen an jenem blutigen, brennenden, brüllenden Morgen. Alles wird gut, meine kleine Ly, alles, alles wird gut, sagte die warme Stimme. Sie zitterte, während sie das sagte, die Stimme. Ja, auch das vergaß sie ihr ganzes Leben lang nicht mehr.
Und natürlich das Säckchen aus schwarzem Leder, auch das blieb Ly von ihrer Mutter. Und ja, auch das schwarze Ledersäckchen begleitete sie ihr ganzes Leben hindurch; oder fast ihr ganzes Leben lang. In der letzten Stunde ihres Lebens trug sie es nicht mehr bei sich, da mussten ihr die Erinnerungen genügen.
Wenige Atemzüge nach dem ersten Geschrei von aufgescheuchten Wachvögeln und Menschen in Todesnot band ihre Mutter jenes Säckchen um Lys Hüfte. Drei oder vier wimmernde Gestalten drängten sich um die Mutter und um sie. Geschwister wahrscheinlich. Später grübelte sie oft darüber nach, ob es Brüder oder Schwestern gewesen waren. Sie kam nie dahinter. Allerdings hatte es einen Bruder gegeben, von dem sie zeitlebens eine blasse Erinnerung behielt. Aber der schlief an jenem Morgen nicht in der Hütte.
„Alles wird gut, meine kleine Ly, alles, alles wird gut!“
In den Ritzen zwischen den Latten der Fensterverschläge leuchtete es rot und gelb. Etwas schwirrte über das Hüttendach. Die Mutter streifte ihr Fellhosen über, danach ein Fellmäntelchen und Stiefel. Die größte der drei oder vier Gestalten half den kleineren beim Anziehen. Alles geschah in großer Eile, die Unterlippe der Mutter bebte, ihre emsigen Hände zitterten, ihre Augen waren feucht.
„Alles, alles wird gut, meine Kleine!“
Immer mehr Menschen schrien außerhalb der Hütte. Einige wütend und gehässig, andere angstvoll und klagend. Rauch quoll unter der Hüttentür hindurch in den einzigen Raum. Ihre Mutter schlug mit der flachen Hand auf den Docht der Öllampe, es wurde wieder dunkel in der Hütte. Nur das Feuer, das man in den Ritzen der Fensterverschläge sehen konnte, streute ein wenig Licht in die schützende Dunkelheit. Es war ein böses Licht.
Ihr Vater? An ihn behielt sie keinerlei Erinnerung. Ein großer Krieger einst, so erfuhr sie viel später. Und in jenen Tagen im Walddorf? Ein Hirte, ein Jäger, ein Schmied – sie konnte sich nicht erinnern. Die meisten Männer im Walddorf waren doch Hirten, Jäger und Krieger gewesen, oder? Sie wusste das nicht genau, sie reimte es sich aber später aus den spärlichen Fakten zusammen, die sie im Lauf der Jahre herausfand. Hütete ihr Vater von innen die Hüttentür, als die Mörder kamen? Kämpfte und starb er vor der Hütte? Oder suchte er im Wald nach seinem Erstgeborenen?
Eigentlich begann die Urkatastrophe ihres Lebens mit ihrem ältesten Bruder. Er stritt mit der Mutter, bevor er am Abend auf die Weide ging, um das Vieh zu hüten. Ly weinte sich in den Schlaf, denn der Streit und der grußlose Abschied des Bruders hatten ihr Angst gemacht. Angst, ihr Bruder könnte für immer fortgehen und für immer unversöhnt mit der Mutter bleiben.
So kam es dann ja auch.
Was ihr aber bis zum Schluss am meisten zu schaffen machte, war, dass sie sich nicht an seinen Namen erinnerte. Als hätte man ihn in ihrer Gegenwart nicht ausgesprochen. Merkwürdig, nicht wahr? Aber so war es.
„Wir gehen jetzt gemeinsam zur Tür“, flüsterte ihre Mutter. „Ich nehme Ly, und wir rennen so schnell wir können. Wir sehen nicht zurück, wir sehen nicht zur Seite, wir achten auf gar nichts. Wir rennen einfach zur Gänsekoppel, immer zur Koppel und von dort in den Wald. Habt ihr das verstanden?“
Tausend Mal hatte Ly diese Sätze durchbuchstabiert, umgestellt, verworfen, neu buchstabiert. Wirklich sicher blieb sie sich eigentlich nur der Frage, mit der diese Sätze schlossen – habt ihr das verstanden? In ihrer Erinnerung sah sie gesichtslose Gestalten nickten.
Sie gingen zur Tür, ihre Mutter nahm sie auf den Arm, irgendjemand öffnete die Tür, Flammen erleuchteten die Nacht, sie rannten.
Von den nächsten Minuten – vielleicht waren es auch nur Sekunden gewesen – blieben zeitlebens nur Trümmerstücke in ihrem Gedächtnis haften. Trümmerstücke von Bildern, Gerüchen, Geräuschen und Empfindungen, die in abgelegenen Winkeln ihrer Seele herumlagen und allmählich unter dem Schutt von Alltagseindrücken, Illusionen, Umdeutungen und barmherzigen Lügen versanken.
Mit der Zeit lernte sie es, das Betreten dieser Seelenwinkel zu vermeiden. Nur manchmal, durch bestimmte Gerüche oder Töne wiederbelebt, oder in schlechten Träumen, bohrten sich die alten Erinnerungstrümmer durch die Schicht des Vergessens und des Alltäglichen, und ragten dann scharf, grell und völlig unerwartet und schmerzhaft in ihr Bewusstsein.
In solchen Momenten sah sie Flammen in den Morgenhimmel lodern, Menschen sich im Gras krümmen, und einen rot behaarten Hünen mit Hundegesicht eine mächtige Axt schwingen. Oder sie roch Brand und Rauch und Blut, oder sie hörte die Wachvögel kreischen, die Sterbenden stöhnen, und ihre Mutter keuchen.
Nacheinander gingen die drei oder vier Gestalten, deren Namen und Geschlecht sie niemals erfahren sollte, zu Boden. Eine traf ein Pfeil, eine packte ein wilder Hund im Nacken, eine drückte der mächtige Leib einer landenden Androne in den Staub. Ihre Mutter aber weinte leise, presste sie an sich, und rannte schneller und schneller.
„Ich liebe dich, meine kleine Ly, alles wird gut, meine süße Ly, alles, alles wird …“ Ihre Stimme schluchzte, ihre Stimme keuchte, ihre Stimme verebbte.
Was geschah dann? Sie wusste es nicht. Irgendjemand musste ihre Mutter von hinten am Haarzopf erwischt und ins Gras gerissen haben, und irgendwie musste es der Mutter gelungen sein, sie noch im Fallen in den dichten Holunder vor der Schreivogelkoppel zu werfen. Das Geäst federte wohl ihren Sturz ab, und sie rollte durch das hohe Gras am Ufer des Baches, der an dieser Stelle durch das Buschwerk aus dem Wald in die Koppel floss.
Die Erinnerung an eiskaltes Wasser vermischte sich für immer mit der Erinnerung an die Schreie ihrer Mutter. Sie schrie jämmerlich, und sie schrie lange, lange, lange. Sie wollten sie festhalten, diese fürchterlichen Schreie, doch Ly kroch durch das Netz aus Schreien, kroch im Bachbett entlang, kroch unter der Palisade des Dorfes hindurch in den noch finsteren Wald hinein. Entsetzen und Todesangst machten sie stumm.
Stundenlang lag sie danach im hohen Ufergras und lauschte. Schreie erstarben, Männergebrüll verstummte, Flammenprasseln ebbte nach und nach ab. Obwohl es Nacht war, standen zwei Sonnen über dem Ufergras. Die guten Augen ihrer Mutter. Zwei Sonnen, die ihr immer scheinen würde, daran zweifelte sie schon damals nicht. Sie weinte leise in sich hinein.
Irgendwann schloss ihr der Schlaf die Lider. Die beiden Augen, groß wie der Himmel und zum Bersten voll mit Liebe, Angst und Erbarmen, wärmten ihre Träume, und irgendwann weckte sie etwas Feuchtes an ihrer Kehle.
*
Lange vor dem Morgengrauen erreichte das Rudel die Quelle im Steilhang über der Waldsiedlung. Von dort aus konnte man einen Teil des Dorfes überblicken. Eine lückenlose Wand aus ungeschälten Baumstämmen umgab es. Das Tor war verriegelt, nirgendwo stieg Rauch auf, von Schreivögeln und Wächtern keine Spur. Die Morgenbrise wehte die Gerüche von Nackthäuten, Schreivögeln, Kamaulern und Wakudas herauf.
Der Erste hob seine graue Schnauze. Sorgfältig prüfte er alle Düfte, die von den Nackthäuten stammten. Er witterte frische Ausscheidungen vor ihren Hütten, er witterte den milchigen Schweiß ihrer Jungen, er witterte den Schlaf hinter ihren Fenstern. Keiner dort unten hatte Angst, keiner war erregt oder gereizt oder angriffslustig. Sehr gut.
Die Erstmutter und die Zweite verkrochen sich mit den Kleinreißern in einer Höhle. Auf drei Pfaden schlichen sechs Witterer zur Nackthautsiedlung hinunter. Ihnen folgten die schwarze Alte, der Blutaasige und der Nadelholzige. Auch die Altreißer teilten sich in drei Rotten. Jeder folgte einem der drei Wittererpaare, jeden begleiteten ein paar Jagdreißer und Einjährige.
Die Jungreißer und der Erste folgten zuletzt. Er wollte, dass sie ihn beim Jagen und Reißen erlebten. Sie hatten schon sieben Vollmonde gesehen, nicht mehr lang, und sie würden in die Ränge der Einjährigen aufsteigen. Also mussten sie von ihm lernen.
Plötzlich der Erguss fremder Ausdünstung aus den Baumkronen – der Erste witterte Großkrabbler und die Erregung von Nackthäuten. Von einem Atemzug zum anderen lag ranziger, saurer Geruch in der Luft über den Baumwipfeln. Das konnten nicht die schlafenden Nackthäute in den Hütten sein, das waren hellwache Kreaturen, bereit zu Angriff und Totschlag. Der Erste witterte Metall.
Auf einmal rauschte es im jungen Laub, auf einmal zog ein Schwirren heran, und Schatten über den Baumkronen dämpften das Dämmerlicht, wie aufziehende Gewitterwolken es manchmal taten. Der Erste stieß ein heiseres Knurren aus, streckte sich auf dem Waldboden, spähte und witterte nach seinen Reißern.
Nur noch zwei Sprünge von der Pfahlwand entfernt, duckte sich die schwarze Alte und hob die Schnauze. Ihre Witterer, Jagd- und Jungreißer huschten in die Deckung von Bruchholz, Farnbüschen, und Beerenhecken.
Kriegsnackthäute auf Großkrabblern flogen über das Rudel hinweg. Fackeln und Brandpfeile zischten durch die Dämmerung, Schreivögel begannen zu kreischen. Der Erste hörte das Fiepen und Winseln der Einjährigen, und er sah einige Jungreißer, die sich mit gesträubtem Fell und eingeklemmten Schwänzen von der Siedlung ins Unterholz zurückzogen.
Bald stieg Rauch über den Hüttendächern auf, Flammen erleuchteten die Dämmerung, Nackthautgebrüll und Kampflärm drangen aus der Siedlung. Nacheinander gingen die Großkrabbler hinter der Pfahlwand nieder, und nur für kurze Zeit hörte der Erste den hämmernden Lärm aufeinander treffender Metallklingen. Immer lauter und andauernder hingegen drang das Jammergeschrei der Gejagten, Gequälten und Sterbenden aus der Siedlung in den Wald.
Die Alte entdeckte einen Bachlauf und ein Schlupfloch an der Stelle, wo das Wasser unter der Holzwand hindurch in die Koppeln floss. Der Erste hörte ihren Ruf wohl, stieß aber dennoch einen Heulton aus, der das Rudel aufforderte, sich zurückzuziehen und in sicherer Deckung abzuwarten. Kein Reißer suchte ohne Not die Nähe des Feuers, nicht einmal eine erfahrene Reißerin wie die schwarze Alte, die abgebrühteste und listigste Jägerin des Rudels.
Gefolgt von den Jungreißern huschte der Erste hangaufwärts durch das Unterholz und legte sich mit den Jungtieren vom letzten Herbst im Nadelgeäst einer umgestürzten Fichte auf die Lauer. Seine Nase verriet ihm, dass die meisten Reißer des Rudels vor den brennenden Hütten zurückgewichen waren. Nur vom Nadelholzigen, von drei Witterern und zwei Jungreißern konnte er keine Witterung mehr aufnehmen.
Der Wind drehte und trieb den Qualm aus der Siedlung den Waldhang hinauf. Bald hingen Rauchschleier über dem Ersten und seinen Jungreißern in den Baumkronen. Das Geschrei der Nackthäute verlor sich nach und nach, bald waren nur noch das Prasseln der Flammen und das Krachen zusammenfallender Hütten zu hören. Manchmal rief eine männliche Nackthautstimme, immer dieselbe, und weil sie hart und fordernd klang, glaubte der Erste, es wäre die Erste Kriegsnackthaut, die dort unten den Beutezug ihrer Rotte leitete.
Plötzlich mischte sich ein leiser Jaulton in den Lärm. Die schwarze Alte rief nach ihm. Es klang, als hätte sie Beute gemacht. Der Erste gab den Jungreißern zu verstehen, dass sie sich ruhig verhalten und auf ihn warten sollten. Er selbst kroch aus der Deckung und schlich durch das Unterholz zum Bachlauf hinab, und an ihm entlang durch das hohe Ufergras.
Zuerst begegnete er zwei Einjährigen. Sie kamen ihm verstört vor und rochen nach Rauch und Nackthaut. Ein paar Schritte weiter standen die Alte, ein Jagdreißer und zwei Witterer um ein graues Fellbündel herum, das zur Hälfte im seichten Bach lag. Die Beute. Sie lebte noch. Der Erste senkte den Grauschädel, fletschte die Zähne und pirschte zur Alten und ihrer Beute.
Eine kleine Nackthaut, zwei, höchstens drei Winter alt. Sie wimmerte leise.
Statt ihr die Kehle durchzubeißen, beschnüffelte die Alte sie aufmerksam. Statt ihr die Kehle durchzubeißen, zerrte der Jagdreißer sie aus dem Wasser. Statt ihr die Kehle durchzubeißen, leckten die Witterer ihre Wangen und Hände. Ein unvertrauter Anblick, er fesselte den Ersten augenblicklich.
Was geschah hier? Normalerweise ließen seine hungrigen Reißer eine leichte Beute keinen Atemzug länger am Leben, als unbedingt nötig. Und diese hier, dieses kleine, hilflose Bündel, maunzte sogar noch. Nicht lange, und es würde die Kriegsnackthäute hinter dem Holzwall anlocken. Was geschah hier?
Der Erste senkte den grauen Schädel. Seine feuchte Schnauze dicht über Fell, Haut und Haar der Beute, begann er sie zu erkunden. Sie roch nach Angst und Trauer, nach Milch und Waldroggen, nach Ölrauch, Reißerfell, Wakuda-Leber, süßem Urin und Sehnsucht. Sie roch zum Erbarmen, sie roch nach etwas, das leben musste, ein wenig roch sie sogar nach einem Kleinreißer. Das Bild seines Sohnes Grausternchen blitzte in seinem Schädel auf, das Herz schwoll ihm.
Unter dem Fellmäntelchen an ihrer Hüfte hing ein Säckchen, dessen Leder nach Taratze roch, an Mantel, Hosen und Stiefel witterte der Erste Angstschweiß einer Mutternackthaut. Die Hals- und Gesichtshaut des Kleinen war weiß und feucht und heiß. Große Augen blickten den Ersten an, Augen von einem dunklen Blau, wie er es nur an den Kelchen jener seltenen Blume gesehen hatte, die im Frühsommer oberhalb der Baumgrenze an den Rändern der Wiesenhänge blühte. Das Nackthäutchen wimmerte leise.
Der Erste und die Alte winselten an seinen Ohren, um es zu beruhigen, denn wenn es erst zu heulen begann, würde es die Aufmerksamkeit der Kriegsnackthäute erregen, und ihre Mordlust dazu. Hinter dem Pfahlwall nämlich ertönten keine Jammer- und Todesschreie mehr, dort gab es niemanden mehr, den man quälen und töten konnte. Nur das Kreischen der Schreivögel und das Blöken der Wakudas hörten die Reißer noch.
Das Nacktding wollte sich aber nicht beruhigen lassen, es stimmte ein verräterisches Geplärre an. Mit den Fängen packten der Erste und die Alte seinen Fellmantel, behutsam zogen sie den kleinen, bebenden Körper auf den Rücken eines Witterers. Die Händchen des Nacktdings verkrallten sich in seinem Fell. Der Alten hinterher trug der Witterer seine Last den Waldhang hinauf. Der Jagdreißer und der zweite Witterer flankierten ihn.
Der Erste sah ihnen nach, bis sie im Unterholz verschwanden. Dann schlich er dem Bachlauf entlang ein Stück der brennenden Siedlung entgegen. Etwa dreißig Sprünge vor der Schreivogelkoppel streckte er die Schnauze aus dem hohen Gras.
Das Tor zur Siedlung stand offen. An Seilen zerrten Nackthäute Wakudas und Kamauler auf die Rodung heraus. Andere schleppten Schreivögel aus dem brennenden Dorf, die sie bis zu den langen Hälsen in Sacktuch geschnürt waren, und denen sie die Schnäbel zugebunden hatten. Wieder andere trugen Kleider, Waffen, Werkzeug, Felle und dergleichen durch das Tor und stapelten die Beute fünfzig Sprünge entfernt am Rande der Rodung. Rufe, Gelächter und Geplapper übertönten das Prasseln der Flammen. Über den Wipfeln erkannte der Erste davonschwirrende Großkrabbler. Sie mussten schwer beladen sein, denn ihre Ausdünstungen stanken scharf und bitter, und ihre Flügelschläge erfüllten die Luft über den Bäumen mit einem tiefen Brummen.
Die Kriegsnackthäute verließen die verwüstete Siedlung. Zurück blieben Kadaver, blutgetränkte Erde und Flammen. Und bald nur noch Asche.
Bevor es jedoch soweit kam, würden die Schlächter hoffentlich weitergezogen sein. Der Erste hoffte es mit brennender Ungeduld. Der Hunger meldete sich erneut. Der eine oder andere nur halbtote Schreivogel sollte doch in irgendeinem Busch Zuflucht gefunden haben, der eine oder andere Wakuda oder Kamauler sterbend im Bach liegen, und die eine oder andere frische Nackthautleiche den Flammen entgangen sein.
Rascheln und Plätschern lenkte seine Aufmerksamkeit zu dem frischen Schilfgras an der Stelle der Rodung, wo der Bach unter dem Holzwall hindurch in die Siedlung hineinfloss. Über dem Wall und dem Gras schwebte schwarzer Qualm. Unterhalb der kräftigen Grashalme in der Uferböschung schimmerte zuerst etwas Weißes und dann etwas Graues. Das Gefieder eines Schreivogels! Der Pelz eines Reißers!
Der Erste hob seine lange Schnauze und nahm eine vertraute Witterung auf: Der Blutaasige und der Nadelholzige! Mit ihnen schlichen mindestens zwei Einjährige! Und jetzt erspähte der Erste die Reißergefährten im Bachbett – tief ins Wasser geduckt huschten sie seiner Deckung entgegen. Der Blutaasige trug ein gerissenes Kamauler-Lamm im Fang, die anderen drei Schreivögel mit durchgebissenen Hälsen. Sie hatten es gewagt, sie waren in die brennende Siedlung eingedrungen! Hin und her gerissen zwischen Wut, Hunger und Freude duckte der Erste sich ins Gras.
Schlagartig verstummten Stimmengewirr, Gelächter und Rufe der Kriegsnackthäute vor dem Dorftor. Der Erste hob den Schädel und äugte zur Rodung hinüber. Die Kriegsnackthäute am Tor traten zur Seite, einen Atemzug lang hörte man weiter nichts als das Prasseln von Flammen und den Lärm zusammenstürzender Hüttendächer. Drei Nackthäute traten durch das Spalier der anderen hindurch auf die Rodung vor dem Dorf. Oder nein – eigentlich nur zwei, denn der größte von ihnen, der in der Mitte zwischen den anderen beiden, war keine Nackthaut. Oder doch?
Seine Begleiter – ein Dürrer im langem Mantel und mit weißem Lockenpelz auf dem Kopf und eine bullige Kriegsnackthaut mit eckigem Schädel – blieben stehen. Der Riese aber schritt in die Mitte des gerodeten Platzes vor dem Tor. Wo sein wuchtiger, hochgewachsener Körper nicht von schwarzem Leder bedeckt war, wucherte dunkelrotes Fell auf seiner Haut, selbst um die riesigen Augen herum und auf den Fingern. Jetzt erst erkannte der Erste, dass in jeder seiner Pranken ein Nackthautschädel baumelte. Der Rotriese hielt sie an ihrem grauen Langhaar fest. Jetzt blieb er stehen und riss seinen wulstigen Schlund auf. Ein Schrei gellte durch Flammen und Rauch, über die Rodung und in den Waldhang hinein.
Nacken- und Schweiffell des Ersten sträubten sich. Reglos, als wäre er tot, lag er im Ufergras. In seinem Leib trommelte sein Herz, und Eis wuchs entlang seiner Blutwege. Er blinzelte zum Bachlauf: Tief ins Wasser geduckt und die Fänge fest um ihre Beute geschlossen verharrten der Blutaasige und seine Jagdgefährten. Ihre Schweife waren buschig, ihr Nacken und Rücken steife, haarige Kämme.
Er äugte wieder zu den Nackthäuten am Tor. Zwei Kriegsgenossen des Rotfellriesen rammten Wurfholzeisen rechts und links von ihm und mit dem Holzschaft nach unten in den Waldboden. Der Rotfellriese spießte die abgeschlagenen Schädel auf die Metallspitzen. Jubelgebrüll erhob sich. Unter dem Applaus seiner Kriegsrotte stapfte der Rotfellriese bis zum Rand der Rodung. Dort blieb er stehen, formte seine Pranken zu einem Hohlraum und stieß erneut einen Schrei aus.
Auf dem Bauch kroch der Erste rückwärts durch das hohe Ufergras. Nie zuvor hatte er eine Kreatur derart grausige Schreie ausstoßen gehört. Er wollte weg von diesem Ort, weg von diesem Kriegsbastard, weg, nur noch weg! Sein Schweif tauchte ins Wasser, seine Hinterläufe, sein Bauch – rückwärts schob er sich auf der anderen Seite die Böschung hinauf. Auch der Blutaasige, der Nadelholzige und ihre Gefährten krochen rückwärts aus dem Bach. Einer der Einjährigen ließ sogar seinen Schreivogel am anderen Ufer zurück.
Der Schrei des Schrecklichen verhallte in den Hängen. Schneller und hastiger kroch der Erste durch Gestrüpp und Unterholz. Oberhalb der Böschung ging er vom Bauch auf die Läufe, drehte sich um und rannte ein paar Schritte den Hang hinauf. Doch plötzlich ertönte ein Heulen, angriffslustig und feindselig wie vom Ersten eines fremden Rudels, und zugleich lieblich und verheißungsvoll, wie von einer erstmals paarungsbereiten Reißerin.
Der Erste blieb stehen, lauschte und witterte. Ein Herausforderer? Eine willige Gefährtin? Heiseres Gebell unterbrach das Heulen, dann winselte es verlockend, und dann wieder zog der Heulton durch den Wald. Her zu mir, warb er, komm schon, forderte er, her zu, her zu mir!
Ein paar Sprünge entfernt von ihm raschelte es im Gestrüpp. Der Erste duckte sich und spähte hinüber: Die beiden Einjährigen hatten ihre Deckung aufgegeben und liefen zurück zum Bach. Der eine schleppte seine große, weiß gefiederte Beute mit sich. Konnte das wahr sein?
Der Erste konnte das Verhalten seiner Einjährigen nicht einordnen. Sie setzten über den Bachlauf, sprangen durch das hohe Ufergras und liefen mit gespitzten Ohren, gestreckten Schweifen und erhobenen Schädeln der Rodung entgegen, so vollkommen ohne Scheu und so offen, dass die Nackthäute am Tor sie ohne Mühe mit einem Eisenwurfholz hätten töten können.
Die Kriegsnackthäute hinter dem Rothaarriesen griffen aber weder zu ihren Wurfhölzern, noch zu den Bögen für ihre Schleuderhölzer. Auch der Rotriese selbst nicht. Die haarigen Fäuste in die Hüften gestemmt wartete er. Und jetzt sah der Erste, wie auch der Blutaasige in weiten Sätzen zurück zum Bach sprang. Der Rotpelzriese aber legte die Pranken an seinen Schlund und jaulte, dass dem Ersten die Läufe erlahmen wollten. Er bellte eine heisere Warnung, doch der Blutaasige setzte über den Bach und durch das hohe Ufergras.
Panik packte den Ersten. Weg hier, den Hang hinauf! Er wollte losspringen, doch seine Glieder waren wie gelähmt. Er hörte ein jämmerliches Gewinsel – den großen Schreivogel zwischen den Fängen tänzelte der Nadelholzige ein paar Sprünge entfernt im Unterholz herum. Hielt eine Falle ihn fest?
Wieder der Jaulton aus dem Rachen des Rotpelzriesen. Es war, als würde er sich tief in die Brust und in den Schädel des Ersten bohren und dort für immer weiter jaulen. Etwas wollte dem Ersten seinen fremden Willen aufzwingen, etwas zog ihn mit schier unwiderstehlicher Macht zu dem jaulenden Rotpelzriesen an der Rodung.
Die beiden Einjährigen krochen ihm winselnd zu Füßen. Aus dem Ufergras sprang der Blutaasige, er lief so schnell, als könnte er es nicht abwarten, den Roten endlich zu begrüßen. Jetzt fiel er auf den Bauch, klemmte den Schwanz ein und kroch zu dem Unheimlichen. Vor ihm legte er das tote Kamauler-Lamm ab.
Heiß regte es sich in der Pelzbrust des Ersten, Wut begehrte gegen Panik und Verlockung auf. Er sah, wie der Nadelholzige seine Beute losließ und den Hang hinaufschlich. Der erfahrene Reißer bewegte sich so schleppend und langsam, als würde er einen schweren Kadaver mit sich ziehen, der ihm die Hinterläufe umklammerte.
Links und rechts sprangen plötzlich Reißer seines Rudels an ihm vorbei, Jagdreißer, Witterer, Einjährige. Sie setzten über den Bach, liefen zur Rodung, und krochen bäuchlings und mit demütigem Gewinsel den Rotpelzriesen an.
Als er die Zweite mit Grausternchen unten am Bach erkannte, gewann die Wut die Oberhand. Die Lähmung seine Glieder fiel von ihm ab, und mit ihr der Zwang des fremden Willens. Er sah Kleinbeißer durchs Unterholz huschen, einige kugelten schon die Bachböschung hinunter. Der Erste stürzte sich auf einen hellgrauen, der dicht an ihm vorbeikrabbelte, schnappte ihn am Nackenfell und sprang den Waldhang hinauf.
Bald holte er den Nadelholzigen ein; auch der hatte dem Ruf des Unheimlichen widerstehen können. Gemeinsam erreichten sie die Höhle. Die Alte versperrte den Eingang von innen, ließ sie aber hinein. Drinnen wichen Witterer, Jagdreißer, Einjährige und Jungreißer vor dem bösen Knurren ihres Ersten an die Höhlenwand zurück. Sie hatten die Alte attackiert, um sich einen Weg aus der Höhle zu bahnen. Der Bannruf des Rotpelzriesen hatte sie überwältigt. Der Erste biss und trat nach seinen Rudelgefährten, um ihnen den Zauber auszutreiben. Jaulend und fauchend wichen sie vor ihm zurück. Einen nach dem anderen beschnüffelte er. Nur vierzehn Reißer waren dem Rudel geblieben.
Am Ende der Höhle kauerten die Erstmutter und das kleine Nacktding aneinander. Beide hielten einen strampelnden Kleinreißer fest. Das Nackthäutchen hatte aschgraues Lockenhaar.
*
Ein Bogenschütze und ein Schwertkämpfer schlugen die Trommeln. Zwei Dolchmänner bliesen auf ihren Flöten. Rydolpher zupfte eine Maultrommel. Es roch nach versengtem Haar und verbranntem Fleisch. Rapun tanzte um das große Feuer. Der Capo und seine Streitleute saßen in einem großen Kreis um den Scheiterhaufen, klatschten in die Hände, summten oder sangen und wiegten ihre Oberkörper im wilden Rhythmus der Trommeln.
Wulfer kniete ein paar Schritte vor Vartyro innerhalb des Kreises. Um seinen rotpelzigen Hals baumelte an einer Silberkette das Amulett, das er dem jungen Reesa im nächtlichen Wald abgenommen hatte. Das auf seiner Vorderseite eingravierte goldene R glänzte im Feuerschein. Eine Tonschüssel stand vor ihm auf dem Boden. In ihr lagen Herz und Hirn eines der Lupas. Die Flammen spiegelten sich im blutig-feuchten Fleisch. Wulfer aß es roh und mit bloßen Händen. In der Sippe des Südlandfürsten Kraukeyrus war es Sitte, Herz und Hirn eines unterworfenen Wildlupas zu verspeisen, um dessen Kraft zu gewinnen.
Rapun hatte seinen Mantel abgelegt. Sein graues Kleid flatterte ihm um den dürren Körper, seine langen weißen Locken peitschten ihm um Wangen und Stirn, so wild tanzte er. Die Flammen fraßen die Leichen aller Mitglieder der Reesa-Sippe, die man im Walddorf gefunden hatte. Elf insgesamt.
Über Rapuns Zunge kroch bitter der Geschmack des Pilzes, den er gekaut hatte. Zwei Runden um den Scheiterhaufen schmeckte er die Bitterkeit, und tanzte gegen den Brechreiz an. Dann strömte ein süßer, schwerer Nebel von seinem Bauch aus durch seinen Körper. Als der seinen Kopf ausfüllte, schmeckte Rapun gar nichts mehr, spürte auch nichts mehr. Die Hitze des Feuers nicht, den Boden unter seinen nackten Füßen nicht, sein schweißnasses, langes Haar nicht. Plötzlich brach er zusammen. Schwer atmend und bäuchlings auf dem Boden vor dem Feuer ausgestreckt blieb er liegen. Schlagartig verstummten Trommeln und Flöten. Wulfer, Vartyro und die Streitleute von Saardiny erhoben sich. Schweigend beobachteten sie den Göttersprecher.
Nach vielen Atemzügen erst begann Rapun wieder sich zu bewegen. Stöhnend wand er sich zunächst eine Zeitlang am Boden hin und her, bis er schließlich seinen Oberkörper hochstemmte. Er strich sich die nassen Haarsträhnen aus dem Gesicht und starrte ins Feuer. Hinter ihm begann Wulfer unruhig hin und her zu tänzeln.
Rapuns Blick durchdrang die Flammen, bis seine Augen tränten. Aus dem Geflacker des Feuers, den sich darin krümmenden, verkohlten Leichen und dem Leuchten der Glut schälte sich ein Bild, das nur er, der Göttersprecher, sehen konnte. Er sah ein Kind. Das Kind hatte graue Locken. Es kroch durch Unterholz, es krabbelte durch einen Bachlauf. Lupas kamen, beschnüffelten es. Ein neues Bild: Eine Gestalt erhob sich aus einem Farnfeld und torkelte einen Waldhang hinauf. Dann ein großer Mann – oder war es ein hundeartiger Mutant? – kippte aus dem Schatten eines Baumes und stürzte in ein Blumenbeet. Ein Pfeil ragte aus seiner Brust.
Die brennenden Umrisse des Bildes verschwammen, ein neues Bild entstand. Rapun, der Göttersprecher von Saardiny sah nun einen Mann mit langem, grauem Haar. Er schwang ein Schwert. Eine zweite Gestalt wankte durch die Flammen, ein stämmiger Wulfane mit schwarzem Pelz, er stürzte unter den Schwertstreichen des Grauhaarigen. Und schließlich ein letztes Bild: Ein großer, massiger Kämpfer erstand plötzlich in den Flammen. Eine gelblich leuchtende Aura umgab ihn, und sein Körper war voller roter Haare. Der Grauhaarige hieb auf ihn ein, als gelte es die ganze Welt zu retten.
Mit vor Schrecken geweiteten Augen starrte Rapun auf die Feuervision. Er wartete nicht ab, bis sie verblasste – er sprang auf und fuhr herum. „Hört, was Wudan eurem Göttersprecher gezeigt hat!“, schrie er heiser.
Alle Augen hingen jetzt an seinem schweißnassen Gesicht. Wulfer fuhr so unruhig mit seiner großen, bläulichen Zunge über seine Schlundlippen, dass man meinen konnte, er hätte die Kontrolle darüber verloren.
„Ihr wisst, wie die Herren der Totenstadt Genuu an der Küste der Aadrya einst unter ihrem Häuptling Kavan Reesa auszogen sind, um den großen Fürsten der Südland-Wulfanen Kraukeyrus zu bekämpfen. Ihr wisst, dass Reesa viele Mütter und Väter und Töchter und Söhne der Kraukeyrus-Sippe tötete, so dass nur Kraukeyrus selbst und ein Häuflein Getreuer entkam.“
Rapun rang nach Luft. Die Beschwörung der göttlichen Mächte hatte Kraft gekostet. Der Reihe nach sah er in die Gesichter der Gefährten. Konzentrierte Anspannung lag auf ihnen. Wulfers Kiefer machten Kaubewegungen, seine Zunge huschte von Schlundwinkel zu Schlundwinkel.
„Ihr wisst auch, dass Kraukeyrus und die Seinen Zuflucht bei uns auf der Insel Saardiny fanden, und viele von euch waren dabei, als er mit der Hilfe unseres Streitvolkes bittere Rache an den Reesas nahm, so dass nur wenige aus ihren Reihen entkamen. Ihr habt von dem Nachtgesicht gehört, das Kraukeyrus’ Vater Markyllu seinem Enkel Wulfer berichtete, und wonach die Überlebenden der Reesas nicht ruhen werden, bis sie sämtliche Nachkommen des Wulfanen-Fürsten Kraukeyrus getötet hätten. Und habt ihr auch gehört, dass manche Edle von Saardiny dieses Gesicht keineswegs für eine Vision Wudans hielten, sondern für einen Angsttraum? Ja, ihr habt recht gehört: Nicht die Vision eines Gottes war es gewesen, sondern nur ein böses Nachtbild!“ Er wies auf das Feuer. „Denn was Wudan seinen Diener soeben sehen ließ ist folgendes: Alle Reesas, die einst der gerechten Rache entfliehen und sich in diesem Walddorf verbergen konnten, haben heute den Tod gefunden! Kein einziger Reesa konnte entkommen!“
Wie ein einziger Mann schrien Vartyro und seine Streitleute ihren Jubel in den morgendlichen Wald. Und der junge Wulfer kam zu seinem Lehrer geschaukelt und legte seine Pranken auf dessen Schulter. „Bist du sicher? Bist du auch ganz sicher?“
„Ganz sicher“, sagte Rapun und sah ihm fest in die gelben Augen.
Am Knie des Großen Flusses, August 2453
Die Dämmerung fiel auf die Ruinen. Nach und nach verwandelte die heraufziehende Nacht Baumkronen, Schutthügel, Mauerreste und Hausskelette in eine Schattenlandschaft. Die Gerüche blieben, keine Dunkelheit konnte sie dämpfen. Es roch nach gebratenem und rohem Wisaau-Fleisch, nach gesalzenen Bellits, nach dem Angstschweiß von Shassen, nach Nackthäuten und nach den Reißern, die ihr Nachtlager eingekreist hatten. Die feine Nase des Ersten nahm die Witterung eines jeden Reißers seines Rudels wahr.
Es waren wandernde Jäger, die sich da hinter den Mauern und Schutthügeln eines Ruinenhofes verschanzt hatten. Mit reicher Beute waren sie aus den Gebirgswäldern südwestlich der Biegung des Großen Flusses in die Ruinenstadt gekommen. Der Erste war entschlossen, ihnen einen Teil ihrer Beute abzujagen.
Seine Witterer hatten einen Weg durch eine an den Hof angrenzende Ruinen gefunden. Über ihn konnte ein Reißer ohne Mühe in das Lager eindringen. Für Nackthäute waren die Lücken in den Gemäuern und die Durchlässe im Gestrüpp zu verborgen oder zu klein.
Graustern lag mit acht Jagdreißern und vier Einjährigen in der Ruine vor dem Hof auf der Lauer und wartete auf das Zeichen. Sie sollten Wisauu-Fleisch und Bellits rauben und die Käfige mit den Shassen öffnen.
Weitere neun Witterer, Jagdreißer und Einjährige hatten sich im Gestrüpp rund um den Hof verborgen; nah genug, um Shassen aufzuspüren, die aus dem Hof entkommen würden, und fern genug, um den Pfeilen und Wurfspießen der Nackthäute entgehen zu können.
Den Rest des Rudels hatte der Erste in einer Ruine am Ufer des Großen Flusses zurückgelassen: Seine Zweite, seine trächtige Erste und neun Jungreißer und Einjährige. Er selbst und Ly pirschten sich im Schutz der hereinbrechenden Nacht und in der Deckung der vielen kleinen Gestrüpphügel am Wegrand immer näher an das Gemäuer vor dem Ruinenhof heran. Unter einem Stück Fell trug Ly ihr kleines Leuchtding mit sich. Sie nannte es Öllampe.
Ly – mit diesem eigenartigen Laut hatte sie sich selbst benannt. Jeden Reißer des Rudels, sogar jeden Neugeborenen, hatte sie mit einer Lautfolge belegt. Ihn, den Ersten, beispielsweise nannte sie Reesalupa, und Graustern nannte sie Frekkeulupa.