Until You: Talon - Aurora Rose Reynolds - E-Book
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Until You: Talon E-Book

Aurora Rose Reynolds

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Beschreibung

Um ihrer Schwester und den drei Nichten in einer schwierigen Situation beizustehen, packt Mia ihr Leben in einen Koffer und zieht kurzerhand nach Tennessee. Kaum hat sie sich eingerichtet, fegt ein Tornado durch die Stadt und hinterlässt Chaos und Talon Mayson. Einen Mann, der ihre Gefühlswelt durcheinanderwirbelt wie niemand zuvor. Talon weiß, dass er wegen Mias Misstrauen gegenüber Männern behutsam vorgehen muss. Dennoch ist er fest entschlossen, die Mauer zum Einsturz zu bringen, die sie um ihr Herz errichtet hat. Gerade, als es ihm gelingt, zu ihr durchzudringen, droht Talons Vergangenheit alles Glück zunichtezumachen. Können ihre Gefühle auch diesem Sturm trotzen?

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Seitenzahl: 409

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UNTIL YOU: TALON

N

Aurora Rose Reynolds

© Die Originalausgabe wurde 2020 unter dem

Titel UNTIL TALON von Aurora Rose Reynolds in Zusammenarbeit mit Bookcase Literary Agency veröffentlicht.

© 2021 Romance Edition Verlagsgesellschaft mbH

8712 Niklasdorf, Austria

Aus dem Amerikanischen von Friederike Bruhn

Covergestaltung: © Sturmmöwen

Titelabbildung: © Sara Eirew

Redaktion & Korrektorat: Romance Edition

ISBN-Taschenbuch: 978-3-903278-47-9

ISBN-EPUB:978-3-903278-48-6

www.romance-edition.com

Jessica, ich weiß deine Unterstützung und deine Freundschaft mehr zu schätzen, als dir bewusst ist.

1. Kapitel

Mia

Mit meinem Stift gegen die Platte des Schreibtisches tippend, beobachte ich das streitende Pärchen auf der anderen Seite des Raumes. Der Mann schüttelt den Kopf und die Frau gestikuliert wild mit einer Hand, während der kleine Junge auf ihrem Arm mit seinen Füßen strampelt. Er möchte, dass sie ihn runterlässt, damit er mit seinen beiden Fangen spielenden Schwestern umherrennen kann.

Seit einem Monat berate ich Annie und Sam nun schon. Bisher sind sie jede Woche zu mir gekommen, haben mich um eine Probefahrt gebeten und sich nach dem besten Preis für den Minivan erkundigt, den Annie ins Auge gefasst hat – und jede Woche sind sie nach einer zwanzigminütigen Diskussion unverrichteter Dinge wieder gegangen. Wenn es nach Annie ginge, würden sie heute in ihrem neuen Auto nach Hause fahren. Wenn es nach Sam ginge, würde ihm seine Frau nicht länger wegen eines neuen Wagens in den Ohren liegen, sondern weiterhin mit der Rostlaube zufrieden sein, die sie aktuell fährt. Außerdem ihre angesparte Anzahlung rausrücken, damit er sich den Truck kaufen kann, den er unbedingt haben will.

Wenn ich Annie wäre, würde ich Sam sagen, dass er mir mal den Buckel runterrutschen kann, und mir einen neuen Wagen und vielleicht auch einen neuen Mann zulegen.

»Was meinst du? Wie hoch sind die Chancen, dass sie heute endlich zusagen?«, fragt Ken, mein Verkaufsleiter, und lehnt sich mit der Hüfte gegen meinen Schreibtisch.

Mit verschränkten Armen richte ich meinen Blick auf das Paar. »Sie wird den Kauf erst abschließen, wenn er ihr grünes Licht gegeben hat. Von daher würde ich sagen, dass sich die Sache für heute erledigt hat«, antworte ich und betrachte den rubinroten Hybrid-Minivan, von dem Annie träumt, auf meinem Computerbildschirm. Ich wünschte, sie würde auf den Tisch hauen und ihrem Mann klarmachen, dass sie ein neues Auto verdient. Sie ist diejenige von beiden, die das Geld nach Hause bringt, und gleichzeitig noch eine echte Supermom. Wären die Rollen vertauscht und er der Hauptverdiener der Familie, würde sie ihm mit Sicherheit sagen, dass er sich einen neuen Truck kaufen soll, oder was auch immer er möchte.

Aber das ist der Unterschied zwischen Männern und Frauen. Wir Frauen geben immer alles und reißen uns ein Bein aus, wenn es um die Menschen geht, die wir lieben. Was jedoch nicht immer im gleichen Maße erwidert wird. Vielleicht wird das in hundert Jahren endlich mal anders aussehen.

Als ich eine Hand auf meiner Schulter spüre, blicke ich hoch zu Ken. »Sag ihr, dass ich ihr mit dreitausend bei ihrer Anzahlung entgegenkomme. Vielleicht hilft das ja, sie zu überzeugen«, bietet er an, bevor er sich von meinem Schreibtisch abstößt. »Ich hole mir jetzt was zum Mittagessen. Möchtest du auch was?«

»Nein, danke. Ich habe mir was zu essen mitgebracht.« Mit einem Nicken verabschiedet er sich, und ich sehe ihm seufzend nach.

Nie hätte ich gedacht, dass ich mal Autos verkaufen würde, allerdings habe ich genauso wenig geahnt, dass ich einmal in Tennessee lebe. Mich hat es hierher verschlagen, nachdem meine Schwester ihren betrügerischen Mann rausgeschmissen und mich um Unterstützung gebeten hat. Ich dachte, ich würde nur ein paar Wochen bleiben, bis sie mit der Situation allein klarkommt, ehe ich wieder nach Montana zurückkehre. Doch das ist inzwischen ein halbes Jahr her.

Ich habe meine Ersparnisse bereits im ersten Monat aufgebraucht, weil Cece ihre Rechnungen sonst nicht hätte bezahlen können. Ein Dach über dem Kopf, Strom und Essen sind nun einmal lebensnotwendig. In den Wochen danach wurde mir schnell klar, dass ich einen Job brauchte, aber meine Pflegehelferinnen-Lizenz ließ sich nicht so einfach übertragen, also habe ich mich stattdessen auf jede Anzeige beworben, die der Jobmarkt so hergab. Zu Hause habe ich in einer Einrichtung für betreutes Wohnen gearbeitet und hatte daher keinerlei Verkaufserfahrung. Dennoch hat Ken mir eine Chance gegeben und einen Job angeboten, in dem ich mich bisher überraschenderweise gut geschlagen habe.

Ein Donnerschlag reißt mich aus meinen Gedanken und ich stehe auf. Ich bin mir nicht sicher, ob irgendein Geldbetrag Annies Meinung ändern wird, aber es kann nicht schaden, sie über Kens Angebot zu informieren. Ich gehe zu ihnen und zucke zusammen, als Sam Annie anfaucht, wie sie so dämlich sein kann, ein so teures Auto zu wollen.

»Annie? Sam?«, unterbreche ich sie und beide drehen sich zu mir um – Annie mit einem gezwungenen Lächeln und Sam mit der gleichen verkniffenen Miene, die sein schmollender Sohn gerade zieht. »Mein Chef meinte, er wäre bereit, euch mit dreitausend bei der Anzahlung entgegenzukommen«, erkläre ich und lächle eine ihrer Töchter an, die mich gerade als Schutzschild vor ihrer Schwester benutzt.

»Wirklich?«, flüstert Annie und wendet sich an ihren Mann. »Das ist doch toll, Schatz?«

»Ja, wirklich toll«, nuschelt er, den Blick auf seinen Sohn gerichtet. Er streckt seine Arme aus und nimmt ihn seiner Frau ab, ehe er ihn auf den Boden stellt.

»Er hat keine Schuhe an, Sam.« Annie funkelt ihren Mann an, bevor sie hinter dem Kleinen herrennt und ihn wieder hochnimmt.

Da ich die aufgeladene Stimmung zwischen den beiden nur zu deutlich spüre, senke ich meine Stimme. »Ich gebe euch ein paar Minuten, um das Angebot zu besprechen.«

Annie pustet sich eine Strähne ihrer blonden Haare aus dem Gesicht. »Danke, Mia.«

Nickend trete ich den Rückzug an, auch wenn ich wirklich gern ihre Kinder mitnehmen würde, um ihr ein paar Minuten Pause zu gönnen. Von meinem Arbeitsplatz aus beobachte ich, wie sie streiten, und zucke erschrocken zusammen, als plötzlich eine schrille Sirene ertönt. Ich greife nach der Quelle des lauten Geräuschs, meinem Handy, und reiße entsetzt die Augen auf, als ich die Tornadowarnung für unsere Gegend auf dem Display entdecke. Mit wild klopfendem Herzen springe ich auf, dabei weiß ich nicht einmal, was ich eigentlich tun soll.

Als mir klar wird, dass sonst niemand darauf reagiert, gehe ich zum Büro meines Kollegen Scott, den ich hinter seinem Schreibtisch erspähe. Seinen Finger warnend in die Luft gehoben, telefoniert er weiter, als ich den Raum betrete.

»Ein Tornado kommt auf uns zu«, rufe ich und halte mein Mobiltelefon hoch, damit er die Meldung sehen kann.

Lächelnd bedeckt er den Hörer. »Jetzt ist die Saison dafür. Ist schon gut, Mia, es ist nur eine Warnung. Du wirst sehen, dass das hier ständig passiert.«

»Oh.« Mit der Hand bedecke ich die Stelle über meinem wild pochenden Herzen und zwinge es, sich wieder zu beruhigen, während Scott sich erneut seinem Telefonat widmet.

Ich verlasse sein Büro und gehe zur Fensterfront hinüber, um den schwarzen Himmel und den starken Regen draußen genauer zu betrachten. In Montana gibt es keine Tornados. Heftige Schneestürme im Winter, aber ansonsten müssen wir uns keinerlei Sorgen um Naturkatastrophen machen. Vermutlich ist das eine weitere Sache, an die ich mich erst gewöhnen muss, jetzt, da ich in Tennessee lebe.

»Mia.« Annie berührt meinen Arm, und ich drehe mich zu ihr um. »Geht es dir gut?«

Verdammt, sie ist wirklich süß. »Ja, alles in Ordnung.« Ich strecke meine Hand aus, um die Wange ihres Sohnes zu streicheln, und er umklammert mit seiner kleinen Hand meinen Finger. »Seid ihr euch einig geworden?«

Sie senkt den Kopf, blickt ihren Kleinen an und sagt in diesem Ton, den Babys zu lieben scheinen: »Ich denke, wir werden noch ein bisschen warten.«

»Das ist in Ordnung«, versichere ich ihr, kitzle ihren Jungen unter dem Kinn und lächle, als er zu kichern beginnt. »Ich bin da, wenn ihr so weit seid.«

Ihr Blick schweift von mir zu ihrem Mann, der gerade telefoniert, während sich die beiden Mädchen ein paar Meter weiter die Süßigkeiten in die Tasche stopfen, die wir für unsere Kunden bereitstellen. »Es tut mir leid, Mia. Ich möchte nicht, dass du das Gefühl hast, ich würde immer wieder aufs Neue deine Zeit verschwenden.«

»Du könntest jeden Tag herkommen und ich hätte immer noch nicht das Gefühl, dass du meine Zeit verschwendest.«

»Danke.« Sie seufzt, als ihr Sohn den oberen Saum ihres Shirts nach unten zieht, um nach ihrer Brust zu greifen.

»Das Leben als Mom ist kein Zuckerschlecken«, wiederhole ich einen Satz, den ich nahezu jeden Tag höre.

Lachend packt sie die Hand ihres Sohnes. »Hast du Kinder?«

»Nein, aber meine Schwester hat drei und in meinen Augen ist sie ein verdammter Rockstar. Ich habe keine Ahnung, wie ihr das alles schafft. Ich kann kaum auf mich selbst und meine beiden Hunde achtgeben.«

»Hunde sind auch schwieriger als Kinder.«

»Darüber lässt sich streiten. Ich habe gesehen, welches Unheil meine drei Nichten in fünf Minuten anrichten können. Meine Hunde Mercury und Retro brauchen an den meisten Tagen schon fünf Minuten, um aus ihren Körbchen zu kommen.«

Mit einem amüsierten Ausdruck schiebt sie ihren Sohn ein Stück höher auf ihren Arm. Der Kleine legt seinen Kopf auf ihre Schulter und kämpft damit, die Augen offen zu halten. »Danke, dass du uns heute ein weiteres Mal ertragen hast. Ich sammle jetzt meine Kinder ein und fahre mit ihnen nach Hause.«

»Sag deinem Ehemann, dass er die Rasselbande heute Abend selbst ins Bett bringen soll, und nimm ein Bad oder tue dir etwas anderes Gutes.«

»Ja, das werde ich«, lügt sie offensichtlich und ruft nach ihren Töchtern und ihrem Ehemann. Wenige Minuten später rennen die fünf auf der Flucht vor dem Regen über den Parkplatz und quetschen sich allesamt in ihr winziges Auto. Als sie losfahren, fällt mein Blick auf den noch immer dunkel verhangenen Himmel. Erst das Klingeln der sich öffnenden Eingangstüren reißt meine Aufmerksamkeit an sich.

Das Erste, was mir auffällt, ist ein blaues T-Shirt von Grateful Dead, das sich über einer muskulösen Brust spannt. Die kurzen Ärmel geben den Blick auf zwei Arme voller Tätowierungen frei. Als mein Blick höher wandert, setzt mein Herz einen Schlag aus. Ich habe schon viele gutaussehende Männer gesehen, einige davon sogar gedatet. Aber noch bei keinem wollte ich mich kneifen, um zu sehen, ob ich träume. Ich weiß nicht, ob es seine sonnengeküsste Haut, das dunkelblonde Haar, der wie gemeißelt wirkende Kiefer, das Grübchen in seinem Kinn oder seine blauen Augen sind, aber dieser Mann gehört auf das Cover eines Rock’n’Roll- oder Harley-Magazins. Nicht hierher. Sein Blick liegt auf mir, als er langsam auf mich zugeht. Das Geräusch seiner schweren Schritte macht mich nervös. Unbehaglich trete ich von einem Fuß auf den anderen, während er mich so intensiv und prüfend mustert, als wäre ich ihm irgendwie vertraut.

»Hi, kann ich Ihnen helfen?«, begrüßt ihn unsere Rezeptionistin Mandy und tritt vor mich.

Als unsere Verbindung unterbrochen wird, blinzle ich und stoße den Atem aus, den ich unbewusst angehalten habe. Was auch immer er erwidert, seine Worte werden vom Zittern der Glasscheiben und den plötzlich aufschlagenden Türen verschluckt. Ich schrecke herum und bei dem Anblick, der sich mir bietet, wird mir schlecht. Durch die windgepeitschte Regenwand beobachte ich, wie ein Auto, das vor einer Ampel hält, in die Luft gewirbelt wird und in den Lastwagen neben sich knallt.

»Oh mein Gott.« Wie angewurzelt stehe ich da, während die Leute um mich herum schreien, dass alle in Deckung gehen sollen. Ich versuche, meine Füße dazu zu bringen, sich in Bewegung zu setzen, aber das Chaos draußen fesselt mich an Ort und Stelle. Als eines der Autos auf dem Parkplatz in die Luft gewirbelt wird, drehe ich mich endlich um, doch mir bleibt keine Chance zur Flucht. Sämtliche Luft wird mir aus der Lunge gepresst, als ich hochgehoben und über eine Schulter geworfen werde.

Ich klammere mich an den Mann, der mich festhält, während ein Geräusch wie tosende Wasserfälle immer lauter wird und mir meine Haare ins Gesicht peitschen. Rufe und Schreie dringen an mein Ohr, und ich kneife die Augen zusammen. Dann schlägt eine Tür zu und für einen Moment stehe ich wieder auf meinen eigenen Füßen. Die Lider hebend, blinzle ich gegen die Dunkelheit an und stoße ein Wimmern aus, als ich plötzlich zu Boden gedrückt und unter dem Gewicht des Mannes begraben werde.

Das Gebäude über uns ächzt bedrohlich und die Wände beben, während ich mich an meinen Retter klammere und mein Gesicht an seine Brust drücke. Eine große Hand umschließt meinen Hinterkopf, die andere ruht in meinem Nacken, während er mich festhält. Meine Angst lässt nach, als das ohrenbetäubende Geräusch zu einem leisen Grollen verstummt, aber mein Herz hämmert ungebrochen gegen meine Rippen.

»Es ist vorbei.« Die leisen Worte, die an mein Ohr dringen, lassen mich wissen, dass alles in Ordnung ist, aber die Reste meiner Angst lähmen mich. Ich kann mich weder rühren noch das Hemd loslassen, an dem ich mich festkralle. Ich höre Schritte, und Licht fällt in den dunklen Raum, als die Tür geöffnet wird. Eines der Autos vom Parkplatz liegt auf die Seite gekippt direkt vor der Tür, und die Wand, die dort bis vor Kurzem noch gestanden hat, ist ein reiner Trümmerhaufen. Als sich der Mann über mir erhebt, sehe ich mich um. Rasch erkenne ich, dass wir uns im Lagerraum inmitten des Gebäudes befinden, einem der wenigen fensterlosen Räume im Autohaus.

»Geht es allen gut?«, erkundige ich mich mit zittriger Stimme bei meinen Kollegen, die alle geschockt aussehen, aber am Leben und offenbar unverletzt sind.

»Na komm«, fordert mich der Fremde auf und hebt mich hoch, ehe ich auch nur einen Schritt machen kann.

Ohne nachzudenken, schlinge ich meine Arme um seinen Nacken und halte den Atem an, während er mich über und um den herumliegenden Schutt trägt. »Danke«, flüstere ich, als er mich mitten im Verkaufsraum wieder auf die Füße stellt. Mit seiner großen, warmen Hand umschließt er meine und drückt sie für einen Moment.

Das Ausmaß an Zerstörung um mich herum ist erschreckend. Mehrere Wagen wurden auf ihre Dächer gedreht und eine Seite des Gebäudes ist komplett eingestürzt. Die erst kürzlich gepflanzten Bäume und Büsche, die das noch neue Autohaus umgeben haben, liegen entwurzelt in der Gegend herum. Manche haben sich durch Autoscheiben gebohrt, andere stecken wie seltsam anmutende Kunstwerke in den Trümmern der Wände.

Als ich in der Ferne Sirenen vernehme, bewegen sich meine Füße wie von selbst. Das schrille Heulen erinnert mich daran, dass andere Menschen möglicherweise verletzt wurden. In diesem Teil der Stadt herrscht stets reger Verkehr und viele Menschen kommen auf dem Weg zum Shoppen oder zu einem der vielen Restaurants in der Gegend hier vorbei.

»Warte.«

Ich bleibe stehen, als mich jemand zurückzieht, und sehe über meine Schulter hinweg in ein Paar besorgt dreinschauende, blaue Augen. »Wir müssen helfen.« Durch den Kloß in meinem Hals klingen die Worte harsch. Doch sein Blick wird sanfter.

»Okay, aber bleib nah bei mir.«

Nickend stimme ich zu, ehe wir uns einen Weg durch die zerschmetterten Türen nach draußen bahnen, um nach den Leuten in ihren Autos zu sehen.

Im ersten Wagen, den ich erreiche, sitzt eine ältere Frau mit einer Platzwunde über dem Auge. Ich öffne die Autotür und streife rasch die Bluse ab, die ich über meinem Tanktop trage. »Ma’am«, rufe ich mit wild klopfendem Herzen. Ich kann sehen, dass sie noch atmet, aber sie hat sich bisher nicht gerührt. »Hilfe ist auf dem Weg.« Ich presse den cremefarbenen Stoff auf ihre Wunde und will gerade in die Hocke gehen, erstarre aber, als sie plötzlich mein Handgelenk packt.

»Bitte, lassen Sie mich nicht allein.«

»Ich gehe nirgendwohin«, versichere ich ihr und streiche ihr das Haar aus dem blassen, faltigen Gesicht, erleichtert darüber, dass sie bei Bewusstsein ist.

»Scheiße«, höre ich den Mann, der noch immer hinter mir steht, zischen und lege meinen Kopf in den Nacken, um zu ihm aufzusehen. Als sich unsere Blicke treffen, beginnt mein Herz zu flattern. »Bleib hier, ich bin gleich zurück.«

»Okay«, gebe ich zurück und einen Moment später ist er verschwunden. Kopfschüttelnd konzentriere ich mich wieder auf die Frau, die mich noch immer festhält, als würde ich mich gleich in Luft auflösen.

»Alles wird gut, Hilfe ist unterwegs.« Das ist das Einzige, was ich gerade sagen kann, und hoffe, dass es ihr ein wenig Trost spendet.

»Ich möchte nicht allein sein.« Bei ihren Worten zieht sich meine Brust schmerzhaft zusammen.

»Ich bleibe bei Ihnen. Versprochen.« Sie nickt, stößt ein ermattetes Seufzen aus und senkt dann die Lider. »Wie heißen Sie?«

»Grace.« Sie öffnet ihr unverletztes Auge, um mich wieder anzusehen. »Und wie heißen Sie? Sie klingen nicht, als wären Sie von hier«, sagt sie und fährt leise murmelnd fort: »Heutzutage ist niemand mehr von hier.«

Ich lächle. »Ich bin Mia, und Sie haben recht, ich bin nicht von hier. Ich komme aus Montana.«

»Big Sky Country.«

»Ja«, bestätige ich lachend.

»Ich wollte Montana immer schon mal besuchen.«

»Es ist noch nicht zu spät.« Ich tupfe ihr Kinn ab, als Blut an ihrer Wange runterläuft.

Sie lacht und tätschelt meine Hand, was mich an meine eigene Großmutter erinnert. »Ich bin alt, Liebes. Ich brauche mittlerweile tagelang, um den Mut zu fassen, mich für Lebensmittel dem Verkehr zu stellen. Mit einem Flugzeug zu fliegen, wäre zu viel des Guten für mich.«

»Man ist nur so alt, wie man sich fühlt.«

»Tja, ich fühle mich steinalt.« Mit einem Seufzen senkt sie die Lider und lehnt den Kopf gegen die Stütze in ihrem Nacken.

Unsicher, was ich sonst tun soll, schaue ich hinauf in den jetzt blauen Himmel, an dem sich nur ein paar weiße Wölkchen tummeln. Als hätte ich mir den Sturm eben nur eingebildet. Nervös beiße ich mir auf die Lippe und sehe mich um, ob jemand in der Nähe ist, doch ich kann niemanden entdecken.

»Grace«, sage ich, doch sie reagiert nicht, was ein unangenehmes Ziehen in meinem Magen hervorruft. »Grace?« Ich nehme ihre Hand und drücke sie.

»Ja?«, antwortet sie und blinzelt mich an.

Erleichtert seufze ich auf. »Ich glaube, ich muss jemanden holen, der Ihnen helfen kann.«. Auch wenn ich sie nur ungern allein lasse, erscheint es mir notwendig. Ich kann nur die Platzwunde über ihrem Auge erkennen, aber vielleicht ist sie schwerer verletzt, als mir bewusst ist.

»Okay«, willigt sie ein, und ich nehme ihre Hand, damit sie meine Bluse gegen ihre Verletzung drückt.

Ich will gerade aufstehen, als sich eine Hand auf meine Schulter legt und mich zurückhält. Ich sehe hoch in das Gesicht eines älteren Mannes in Polizeiuniform. »Sie braucht Hilfe«, mache ich ihm klar.

Er nickt und lehnt sich dann über mich in das Auto, um Graces Wange zu berühren. »Ma’am, können Sie ihre Augen öffnen?«

»Ja, aber ich will nicht«, erwidert sie, was mir ein Lächeln und dem Beamten ein Schmunzeln entlockt.

»Können Sie es mir zuliebe probieren?«

Seufzend öffnet sie ihr unversehrtes Auge. »Sind Sie jetzt zufrieden?«

»Ja. Haben Sie weitere Verletzungen?«

Verdammt, warum habe ich sie nicht danach gefragt?

»Ich glaube nicht. Aber mein Kopf bringt mich um.«

»Haben Sie ihn sich am Lenker gestoßen?«

»Ja.« Sie lässt meine Hand los, um das Lenkrad zu berühren. »Das Biest wurde ein Stück in die Luft gewirbelt, als der Tornado zuschlug, und als es wieder auf den Boden krachte, habe ich mir den Kopf angeschlagen.« Das Biest. Der Name ihres Wagens bringt mich zum Lächeln. Es sieht tatsächlich aus wie ein Biest. Der babyblaue Buick Century muss mindestens siebenundzwanzig Jahre alt sein, wenn nicht älter, und ist so groß wie ein Schlachtschiff. »Gott sei Dank habe ich nicht auf meinen Sohn gehört und mir eines dieser kleinen Autos gekauft, die der letzte Schrei sind. Hätte ich das getan, wäre ich wahrscheinlich bis ans andere Ende der Stadt geweht worden.«

»Da haben Sie vermutlich recht«, stimmt der Beamte zu, bevor er in das kleine Walkie-Talkie an seiner Schulter spricht und Sanitäter anfordert. »Ich werde Sie ins Krankenhaus bringen lassen. Dieser Schnitt über Ihrer Braue wird genäht werden müssen.«

»Bleiben Sie bei mir, Mia?«, bittet mich Grace und umfasst meine Finger so fest, dass es wehtut.

»Ja, Grace, ich werde bei Ihnen bleiben.«

»Danke«, sagt sie leise und senkt wieder die Lider.

Ich halte ihre Hand, während wir auf das Eintreffen der Rettungskräfte warten. Als der Krankenwagen schließlich da ist, steige ich mit ihr ein. Während die Türen geschlossen werden, entdecke ich meinen Retter bei einer Gruppe von Männern, die Hände in die Hüften gestemmt. Als spürte er meine Nähe, hebt er den Kopf. Ich balle meine Hände zu Fäusten, als sich unsere Blicke treffen.

Ich bekomme noch mit, wie er die Augen verengt, ehe die Türen zugeschlagen werden und sich der Krankenwagen in Bewegung setzt. Seufzend schüttle ich das Gefühl des Bedauerns ab. Das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann, ist, mich in einen Mann zu verlieben. Insbesondere, da ich ein ums andere Mal gelernt habe, dass Männer Zeitverschwendung sind. Mein Vater hat mich immer wieder im Stich gelassen, als ich noch klein war. Mein Ex hat seinen wahren Wert unter Beweis gestellt, als er mich kampflos gehen ließ. Und meine Schwester versucht aktuell, ihr Leben wieder ins Lot zu bringen, nachdem ihr Mann zwischen den Beinen einer anderen Frau abgetaucht ist.

Ich brauche nicht noch ein solches Exemplar, das meine Meinung über die männliche Spezies bekräftigt. Ich muss mich auf die guten Dinge konzentrieren. Jene, die mich ausmachen, und mit denen ich mir ein Leben erschaffen kann, in dem ich mit absoluter Sicherheit niemals von einem Mann abhängig sein werde.

2. Kapitel

Mia

Nachdem ich mein Auto in der Einfahrt meiner Schwester geparkt habe, stelle ich den Motor ab. Sowie die Stille über mich hereinbricht, lasse ich meinen Kopf gegen die Kopfstütze fallen. Die letzten Wochen waren nervenaufreibend und ich bin erschöpft. Jede Woche spreche ich mit Ken und er versichert mir wieder und wieder, dass ich meinen Job zurückbekomme, sobald er vom Bauingenieur die Genehmigung erhält, das Autohaus wieder öffnen zu können. Doch das ist bisher nicht geschehen. Daher jobbe ich seit einer Weile in der Bar, in der auch meine Schwester arbeitet. Die Mittagsschicht zu übernehmen, bedeutet allerdings, enorme Lohneinbußen hinnehmen zu müssen. Andererseits kann ich mich glücklich schätzen, überhaupt eine Arbeitsstelle zu haben. Auch wenn das Geld, das ich verdiene, durch die alltäglichen Lebenshaltungskosten und die finanzielle Unterstützung, die ich meiner Schwester gerade zukommen lasse, schnell aufgebraucht ist.

Einmal tief durchatmend öffne ich die Augen. Am liebsten würde ich die Stille noch für ein paar Minuten genießen, aber das kann ich nicht. Nicht, wenn ich weiß, dass meine Schwester nur ein paar Meter entfernt im Haus von Chaos umgeben ist. Vor der Affäre ihres Mannes war sie Hausfrau und Mutter mit nichts weiter als einem Highschoolabschluss. Jetzt arbeitet sie abends als Barkeeperin und tagsüber daran, ihren Traum zu verwirklichen und Lehrerin zu werden. Ich bin stolz auf sie. Stolz darauf, dass sie die Kontrolle über ihr Leben übernimmt und dafür schuftet, über sich hinauszuwachsen. Trotzdem bin ich sauer, dass sie Mike – der vor dem Gesetz immer noch ihr Ehemann ist – so einfach vom Haken gelassen hat, indem sie jede Hilfe von ihm verweigert. Ein Teil von mir findet das nicht gut, dennoch komme ich nicht umhin, ihm auch ein wenig Respekt zu zollen. Er ist immer noch ein großartiger Vater, leistet seine monatlichen Zahlungen und fragt sogar immer wieder nach, ob seine Noch-Ehefrau und die Kinder mehr Geld benötigen. Nicht, dass meine sture Schwester etwas darüber hinaus von ihm akzeptieren würde.

Mit einem frustrierten Seufzer nehme ich meine Tasche vom Beifahrersitz und öffne die Tür. Mit einem Hüftschwung knalle ich sie zu und gehe hinauf zur Veranda des Backsteinhauses mit den vier Schlafzimmern, in dem meine Schwester lebt. Als ich ihr Heim zum ersten Mal gesehen habe, musste ich an das Gebäude aus Kevin allein zu Haus denken – es ist aus rotem Ziegelstein, hat schwarze Fensterläden und weiße Säulen am Eingang.

Je näher ich komme, desto lauter wird das Gerufe und Gelächter, das nach draußen dringt. Lächelnd gebe ich den Zugangscode ein und betrete den Eingangsbereich, sobald ein Klickgeräusch ertönt. »Hey, meine Süßen.« Ich gehe in die Hocke, um Mercury und Retro zu begrüßen, die beide in Retros Körbchen in der Nähe der Haustür liegen. Keiner von ihnen macht auch nur Anstalten, aufzustehen. Vermutlich sind sie noch müde vom Herumtollen mit meinen Nichten wie sie es immer tun, wenn die Mädchen von der Schule kommen. Trotz aller Müdigkeit, als ich sie streichle, wedeln sie freudig mit ihren Schwänzen.

Ich habe meine Hündinnen vor fünf Jahren adoptiert – von einem Typen auf einem Supermarktparkplatz, der ein Schild vor seinem Auto stehen hatte mit der Aufschrift Hundebabys kostenlos abzugeben. Ich hatte nicht geplant, an diesem Tag einen Welpen zu adoptieren, aber ich konnte einfach nicht widerstehen. Der Typ sagte mir, dass sie eine Mischung aus Bulldogge und einer anderen Rasse wären, aber mir war egal, welcher Hundeart sie angehörten. Ich wusste nur, dass ich sie haben wollte, nachdem ich mich Hals über Kopf in die beiden verliebt hatte. Meine Mädchen sehen beinah aus wie Zwillinge, nur dass Mercury völlig weiß ist, Retro aber noch ein beigefarbenes Ohr hat.

Nachdem ich beiden den Kopf gekrault habe, werfe ich meine Handtasche auf den wachsenden Berg aus Rucksäcken, Jacken und anderen seltsamen Dingen direkt neben der Haustür. Dann folge ich dem langen Flur, der zur Küche und zum Wohnzimmer führt. Dort entdecke ich Cece, die mir den Rücken zugedreht hat und gerade telefoniert. Meine sechsjährige Nichte Ruby steht vor der Anrichte und mixt etwas leuchtend Grünes in einer Glasschale. Meine beiden neunjährigen Nichten Lola und Kate sitzen ihr gegenüber an der Kücheninsel und blicken auf ihre iPads. Kate vergnügt sich vermutlich mit einem Spiel, während Lola höchstwahrscheinlich etwas liest.

»Mimi!«, ruft Ruby und ich hocke mich hin, als sie von ihrem Hocker springt und auf mich zurennt. Ungebremst stürmt sie in meine Arme, was mir ein Lachen entlockt.

»Hey, du kleiner Frechdachs.« Ich küsse ihren Scheitel, während sie ihre Arme um meine Schultern schlingt. Ihren Hinterkopf umfassend, richte ich mich mit ihr auf dem Arm wieder auf. »Warst du heute brav?«, frage ich, und sie lehnt sich grinsend zurück, wobei ihre Zahnlücke hervorblitzt.

»Ich bin immer brav.« Als ich eine Braue in die Höhe ziehe, wird ihr Grinsen breiter. »Was denn? Ich bin immer brav.«

»Lügnerin.« Ich kitzle sie, während ich lächelnd auf ihre Schwestern zugehe. »Hi, meine Süßen«, begrüße ich die beiden, was sie mit einem Hi, Mimi quittieren, ehe ich Ruby um die Kücheninsel herumtrage. Ich stelle sie auf den Schemel, auf dem sie gestanden hat, und beobachte über ihre Schulter hinweg, wie sie den Schneebesen aus der Schale wieder zur Hand nimmt und damit die grüne Pampe umrührt. »Was machst du da?«

»Glibber.«

»Glibber?«, flüstere ich entsetzt und drehe mich in Windeseile zu meiner Schwester um. Als sich unsere Blicke treffen, ziehe ich fragend eine Braue in die Höhe, doch Cece zuckt bloß mit einer Schulter. Verdammt schwach, forme ich mit dem Mund, woraufhin sie mit den Augen rollt und sich wieder ihrem Telefonat zuwendet. Meiner Meinung nach ist sie viel zu nachgiebig, doch mich trifft genauso viel Schuld, wenn nicht mehr. Als ich gesehen habe, dass man wieder Glibber kaufen kann, war ich die Erste, die genau das getan hat. Allerdings hatte ich keine Ahnung, dass der lustige Schleim aus meiner Kindheit zu etwas mutiert war, das niemand mehr kontrollieren kann. Stattdessen habe ich, so wie man das als gute Tante macht, meinen Nichten rund zwei Liter von dem Zeug geschenkt – was in einem Desaster endete. Der neonpinke Glibber verteilte sich über das ganze Haus und klebte an und in Orten, an denen Glibber einfach nichts zu suchen hat. Nach dieser Erfahrung haben Cece und ich geschworen, den Kindern nie wieder Glibber zu kaufen. Offenbar beinhaltete diese Abmachung nicht, dass Ruby ihren eigenen Glibber herstellt.

Ich nehme meiner Nichte den Schneebesen weg, klopfe ihn am Schüsselrand ab und lege ihn auf die Anrichte. Die Schleimpfütze, die dabei entsteht, ignoriere ich geflissentlich. »Wie wäre es«, beginne ich, ohne ihren Schmollmund zu beachten, »wenn wir das hier eine Weile stehen lassen, damit es sein volles Klebepotenzial entwickeln kann, und einen Film gucken?«

»Frozen 2?«, fragt sie mit einem glücklichen Ausdruck im Gesicht, während ihre beiden Schwestern bei dem Vorschlag stöhnen. Ich kann es ihnen nicht verübeln. Mittlerweile habe ich diesen Film öfter gesehen, als das irgendjemand auf dieser Welt tun sollte. Egal wie süß Olaf sein mag, oder wie eingängig die Songs sind, für diesen Film gibt es eine begrenzte Anzahl an Wiederholungen, ehe man in eine Klapsmühle eingewiesen werden muss.

»Ich dachte, wir sollten mal etwas Neues ausprobieren«, schlage ich vor, als ich Ruby zur Couch trage und mir die Fernbedienung schnappe.

»Was denn?« Auf einem der Sofakissen stehend, die Arme um meinen Hals, springt die Kleine auf und ab. Als sich ihre Schwestern zu uns gesellen, ziehe ich Ruby auf meinen Schoß, und zappe durch die Filme, die der Videorekorder aufgenommen hat. Als ich Die Nacht der verrückten Abenteuer in der Liste entdecke, drücke ich lächelnd auf Play.

»Diesen Film hier wirst du lieben.« Ihren Scheitel küssend, drücke ich sie an meine Brust, während sich Lola an mich und Kate an ihre Zwillingsschwester kuschelt.

»Ich mach mich jetzt fertig für die Arbeit«, sagt Cece, die am Ende der Couch stehen bleibt, als der Film anfängt. Unsere Blicke treffen sich und wie so oft bemerke ich eine unterschwellige Traurigkeit, die in ihren Augen liegt. Die letzten Monate waren eine herbe Umstellung für sie. Und damit meine ich nicht nur das Aus ihrer Ehe. Auf eigenen Beinen zu stehen, bedeutet für sie auch, weniger Zeit mit ihren Mädchen verbringen zu können. Dabei hat sie das früher sehr geliebt.

»Ist mit dir alles in Ordnung?«

Bei meiner Frage wandert ihr Blick kurz zu den Kindern, und ich könnte mir in den Hintern treten, weil ich ihr diese Frage vor den Mädchen gestellt habe. Sie möchte ihnen solche Sorgen ersparen und verhindern, dass die drei noch mehr über die Situation zwischen ihr und Mike erfahren, als sie ohnehin schon wissen. Dafür bewundere ich sie.

»Ja, ich wünschte nur, dass ich zu Hause bleiben und mit euch Filme schauen könnte.«

»Du kannst doch bei uns bleiben, Mommy«, meint Ruby mit ihrem süßen Stimmchen und steht auf. Meine Hand haltend, wandert sie über die Kissen zur Armlehne, und ich zucke besorgt zusammen, als sie hinunterspringt, um zu ihrer Mutter zu gehen.

»Ich wünschte, das könnte ich, Baby«, erwidert Cece und hebt sie hoch. »Aber Freitagabend werde ich hier bei euch zu Hause sein.« Mit dem Gesicht in Rubys Halsbeuge schließt sie die Augen. Als sich Cece zurücklehnt, berührt Ruby mit ihrer Stirn die ihrer Mutter, was mein Herz zum Schmelzen bringt.

Ich liebe es, meine Schwester mit ihren Mädchen zu sehen. Doch dabei komme ich nie umhin, mich zu fragen, was ich für mich und mein Leben möchte.

Die Vorstellung, ein Kind zu haben, macht mich nervös. Es geht nicht nur darum, einen lebenden Menschen neun Monate lang in meinem Körper zu tragen. Vielmehr ist es der Gedanke, für den Rest meines Lebens für eine andere Person verantwortlich zu sein, der mich zögern lässt. In den letzten Jahren habe ich in den Tag hineingelebt, ohne mir Gedanken über die Zukunft zu machen. Aber mit einem Kind muss man darüber nachdenken, was in einer Woche, einem Monat oder in ein paar Jahren passieren wird. Hinzu kommt, dass ich noch keinem Mann begegnet bin, mit dem ich mir ein Kind hätte vorstellen können. Was nicht heißen soll, dass ich meine innere Uhr nicht ständig ticken höre.

»Kuschelt mit Mimi und schaut euch euren Film an. Wir sehen uns morgen Früh.« Sie küsst Rubys Stirn, ehe sie sie auf den Boden stellt.

Als sich unsere Blicke ein weiteres Mal begegnen, schenke ich ihr ein Lächeln und ein stummes Versprechen, dass wir morgen reden, bevor die Mädchen aufstehen. Sie seufzt. Ihre Töchter sind nicht die Einzigen, von denen sie bestimmte Dinge lieber fernhält. Schon ihr ganzes Leben versucht sie, mich, unsere Mom und jeden, der ihr am Herzen liegt, vor grausamen Wahrheiten zu beschützen. Der einzige Unterschied ist, dass ich sie nicht so leicht vom Haken lasse. Ganz egal wie oft sie meinen Fragen ausweicht, unter keinen Umständen glaube ich ihrem in Ordnung.

Ich wende den Blick ab, als Ruby wieder auf meinen Schoß klettert. Mein Kinn auf ihrem Kopf senke ich die Lider, um einen kleinen Moment der Ruhe zu genießen.

»Mimi, können wir Popcorn machen?«, fragt Lola, und als ich meine Nichte ansehe, erkenne ich das Braun ihrer Augen wieder. Meine haben exakt denselben bronzenen Farbton, der sich beinah perfekt mit unserer Haarfarbe deckt.

»Klar, Liebes.« Ich schiebe Ruby von meinem Schoß und stehe auf. In der Küche krame ich in den Schränken, bis ich eine Packung mit Popcorn finde. Ich ziehe eine Tüte heraus, greife dann aber doch nach einer anderen, weil mir eher nach salzig-buttrigem Popcorn ist. Sobald ich eine Schale mit dem leckeren Zeug gefüllt habe, kehre ich zur Couch und meinen Nichten zurück. Kurz darauf kommt Cece runter und verabschiedet sich, um zur Arbeit zu gehen.

Die nächste Stunde verbringe ich lachend und in Erinnerungen schwelgend bei einem Film, der einen kleinen Teil meiner Kindheit ausmachte. Jenem, der nicht von äußerlichen Dramen geprägt war, sondern nur reine und einfache Glückseligkeit zurückbringt. Als der Film zu Ende ist, bestelle ich uns eine Pizza und nachdem wir aufgegessen haben, gehe ich mit den Mädchen nach oben. Eins nach dem anderen scheuche ich liebevoll unter die Dusche, ehe jede für ein paar Minuten mit ihrem Dad telefoniert, wie jeden Abend, bevor sie ins Bett gehen.

Angesichts des zufriedenen Lächelns auf ihren süßen, kleinen Gesichtern, ist mir klar, dass meine Schwester alles richtig macht. Ja, ihr Leben steht gerade Kopf. Ja, sie arbeitet mehr als früher und sie kann nicht mehr so viel Zeit zu Hause verbringen wie zuvor. Aber ihre Töchter sind glücklich, gesund und wissen, dass ihr Dad sie liebt, auch wenn er nicht mehr unter demselben Dach wohnt. Und das ist entscheidend.

***

Als der Wecker meines Handys zu läuten beginnt, winde ich meinen Arm unter der Decke und Mercurys schwerem Körper hervor, um es zu fassen zu bekommen. Kaum ist das lästige Ding verstummt, ärgere ich mich darüber, dass es mich aus meinem Traum gerissen hat. Einem Traum mit einem Mann darin, den ich scheinbar nicht vergessen kann.

Ich versuche, einige Details über ihn aus meiner Erinnerung zusammenzutragen. Vergeblich. So sehr ich mich auch bemühe, nichts davon scheint ihm gerecht zu werden. Ich bin mir nicht sicher, ob es Dankbarkeit oder etwas anderes ist, aber noch ist keine Stunde vergangen, in der ich nicht an ihn denken musste. Sogar im Schlaf findet er mich.

Eine kalte Nase an meiner Wange holt mich aus meinen Gedanken und ich öffne die Augen. Über mir erblicke ich Lolas mit Glitzersternen verzierte Zimmerdecke, ehe ich in ein Paar warme, braune Augen sehe.

»Bereit fürs Frühstück?« Als ich Retros rundes Gesicht umfasse, beugt sie sich vor und leckt mir über die Wange, was mir ein Grinsen entlockt. Lachend lasse ich auch Mercurys morgendliche Begrüßung über mich ergehen. »In Ordnung, Mädels. Lasst uns aufstehen.« Sowie die beiden vom Bett springen, werfe ich das mit Einhörnern bedruckte Laken und die Decke zurück, und stelle meine Füße auf den Regenbogenteppich vor dem Bett.

Mein Blick schweift durch Lolas Zimmer und ich frage mich, wie lange ich noch hierbleiben kann. Ich weiß, dass mich meine Schwester und die Mädchen gern bei sich haben, aber irgendwann muss wieder etwas Normalität einkehren. Dazu gehört auch, mir eine eigene Bleibe zu suchen, damit Lola ihr Zimmer zurückbekommt. Ich zwinge mich, aufzustehen, ehe ich zur Tür schlurfe und sie für meine Hunde öffne. Das Haus ist ruhig, die Mädchen liegen immer noch in ihren Betten auf der anderen Seite des Flurs. Doch der Geruch von Kaffee verrät mir, dass meine Schwester bereits wach und unten in der Küche ist. Obwohl sie spät nach Hause gekommen ist, macht sie wie jeden Morgen Frühstück und richtet Lunchpakete.

Während Mercury und Retro die Treppe hinunterstürmen, ehe sie von Cece in der Küche begrüßt werden, gehe ich ins Badezimmer und putze mir die Zähne. Dann ziehe ich einen BH, Leggings und ein übergroßes Oberteil an, damit ich die Mädchen später in der Schule absetzen kann. Mit einem Paar Flip-Flops an den Füßen verlasse ich leise mein Zimmer. Ich brauche dringend eine Tasse Kaffee.

Auf dem Weg zur Küche lasse ich meine Mädchen wieder zur Hintertür ins Haus und sie folgen mir zu Cece, die an der Kücheninsel steht und Sandwiches macht. Als sie mich hört und den Kopf hebt, kann ich die Traurigkeit und Erschöpfung erkennen, die sie vor mir zu verbergen versucht. Meine Schwester war immer schön, ohne sich wirklich viel Mühe mit ihrem Äußeren zu geben. Aber das Gewicht, das sie verloren hat, und der Kummer der letzten Zeit haben deutliche Spuren in ihren hübschen Gesichtszügen hinterlassen.

»Guten Morgen.«

»Guten Morgen, ich habe Merc und Ret schon gefüttert«, informiert sie mich und lächelt dabei.

Ein Seufzen verkneifend, steuere ich direkt die Kaffeekanne an. »Danke«, erwidere ich, schenke mir einen Becher voll, füge etwas Kaffeesahne mit Vanillegeschmack hinzu und nehme ihn mit zur Kücheninsel hinüber. »Wie war die Arbeit?«, frage ich schließlich, während ich mich setze und ein wenig puste, damit mein Kaffee schneller trinkbar ist.

Sie murmelt ein Gut und beschmiert eine Brotscheibe mit Erdnussbutter, bevor sie diese vorsichtig auf eine mit Marmelade bestrichene Scheibe legt.

Ich warte darauf, dass sie noch mehr sagt, stelle meinen Kaffeebecher jedoch ab, als sie schweigt. »Hast du mit Mike gesprochen?«

»Ja, gestern. Er holt die Mädchen Samstagmorgen ab und sie bleiben über Nacht bei ihm.«

»Wirklich?« Das überrascht mich. Mike wohnt bei seinen Eltern, seit er die Affäre gestanden hat. Cece und er waren sich einig, dass die Mädchen dort nicht über Nacht bleiben würden. Mit nur zwei Schlafzimmern ist die Wohnung seiner Eltern nicht groß genug und auf der aufblasbaren Matratze im einzigen freien Zimmer ist schon Mike untergekommen. Die beiden wollten, dass die Mädchen in einem richtigen Bett schlafen.

Erst nachdem sie ein weiteres Sandwich fertiggestellt hat, sieht sie mich an. »Er ist inzwischen in die Stadt gezogen. In eine Wohnung mit zwei Schlafzimmern. Er hat auch ein Etagenbett gekauft. Eins, das unten zwei und oben einen Schlafplatz hat, sodass sie alle im selben Raum schlafen können, wenn sie bei ihm sind.

»Oh.« Während ich sie mustere, füllen sich ihre Augen mit Tränen. »Das ist doch gut, oder?«

»Sie brauchen ihren Vater. Sie vermissen es, Zeit mit ihm zu verbringen.« In dem Versuch, ihre Tränen vor mir zu verbergen, senkt sie den Kopf.

Ich kaue auf der Innenseite meiner Wange herum, während ich nach den passenden Worten suche. Es ist eine beschissene Situation und wieder einmal hasse ich Mike dafür, dass er seinen Schwanz nicht in seiner Hose lassen konnte. Wenn er treu gewesen wäre – oder zumindest die Eier gehabt hätte, zu sagen, dass er nicht länger glücklich war, bevor er sich anderweitig umgesehen hat. Das wäre noch immer schlimm für meine Schwester gewesen, aber nicht wie jetzt.

»Weinst du, weil die Mädchen bei ihm übernachten werden?«

»Ja.« Kopfschüttelnd sucht sie meinen Blick. »Nein.« Ein weiteres Kopfschütteln. »Ich weiß nicht. Vermutlich habe ich gedacht, dass wir die Situation klären könnten und er letzten Endes wieder zu Hause einziehen würde.« Sie wendet sich kurz ab, ehe sie mich wieder ansieht. »Jetzt hat er eine eigene Wohnung und ich denke, das bedeutet, dass zwischen uns wirklich ein für alle Mal alles vorbei ist.«

Völlig entgeistert starre ich sie an. »Du wolltest ihn zurück?«

Ich weiß nicht, was der Ausdruck in ihren Augen zu bedeuten hat, aber ich halte den Atem an, als sie fortfährt. »Ich möchte das, was wir uns am Anfang und bei unserer Heirat versprochen haben.« Sie wischt sich die Tränen von den Wangen. »Ich will nicht ihn, nicht den Mann, der er jetzt ist. Ich wünschte mir nur, dass ... dass die Dinge anders wären. Dass er nicht getan hätte, was er getan hat. Ich wünschte, mich nicht um einen Neustart, einen kompletten Neustart, bemühen zu müssen. Und dass meine Kinder nicht zwischen seinem Zuhause und meinem hin- und herspringen müssten. Ich wollte nie, dass sie am eigenen Leib erfahren müssen, was wir in unserer Kindheit erlebt haben.«

»Cece«, flüstere ich, weil sich meine Kehle wie zugeschnürt anfühlt. »Sie wachsen nicht so auf wie wir. Das Einzige, was sie kennen, ist die Liebe ihrer Eltern, die stets wollen, dass sie glücklich sind. Mir ist bewusst, wie schwierig es für sie ist, aber ich glaube nicht, dass sie sich jemals wie wir gefühlt haben.«

Sie senkt den Kopf und ihre Schultern beginnen zu zittern. »Ich bin einfach so wütend auf ihn.«

»Du hast alles Recht der Welt, wütend auf ihn zu sein. Das macht dich nicht zu einem schlechten Menschen. Diese Situation ist alles andere als einfach für dich, aber ich weiß mit Sicherheit, dass du eine tolle Mutter bist, Cece. Und auch wenn Mike ein Arschloch ist, er ist immer noch ein guter Vater.«

»Ich hasse ihn«, wimmert sie, und ich gehe zu ihr und ziehe sie in meine Arme.

»Nein, tust du nicht.« Ich reibe ihr über den Rücken und wiege sie hin und her. »Das ist der Grund, warum du so sauer bist.«

»Du hast recht, aber ich will ihn wirklich hassen.« Sie vergräbt ihr Gesicht an meinem Hals.

»Und das ist okay. Es ist in Ordnung, ihn zu hassen oder zu lieben. Wenn es um deine Gefühle geht, gibt es keine festgeschriebenen Regeln.«

»Ich möchte einfach nur nicht, dass meine Kleinen unter dieser ganzen Situation leiden.«

Mit geschlossenen Augen bitte ich um die Macht, ihr diesen Wunsch zu erfüllen, aber vergebens. Letzten Endes werden die Mädchen die Scheidung ihrer Eltern miterleben und dabei mehr sehen und hören, als sie sollten. Nicht, weil ihre Eltern sie nicht beschützen, sondern weil sie Kinder sind. Egal was man tut, sie finden immer einen Weg, Dinge herauszufinden und ihre eigenen Schlüsse zu ziehen. »Alles wird gut werden. Was auch passiert, am Ende wird alles gut werden.«

»Ja.« Schniefend lehnt sie sich zurück. »Du hast recht.« Sie versucht sich an einem Lächeln, stattdessen werden ihre Augen riesengroß. Einen Moment später höre ich das Trappeln kleiner Füße auf den Stufen und sehe die Hunde loslaufen, um einen ihrer Lieblingsmenschen zu begrüßen. Cece dreht sich rasch von mir weg und wischt sich übers Gesicht, um die Spuren ihrer Tränen zu beseitigen. Um ihr noch ein paar zusätzliche Sekunden zu verschaffen, drehe ich mich zur Treppe und lächle Ruby an, als diese die letzte Stufe hinunterspringt und sogleich von Hundeküssen überfallen wird.

»Hey, Frechdachs.« Ehe sie zu ihrer Mutter rennen kann, nehme ich sie auf den Arm.

»Mimi!« Sie kichert, als ich sie herumwirble und kitzle.

»Mimi was?« Ich setze meine Attacke fort und sie lacht, während ich sie in die Küche trage. Als ich zu Cece hinübersehe und das leichte Lächeln auf ihrem Gesicht entdecke, weiß ich, dass für den Moment wieder alles im Lot ist. Ich überreiche die noch immer kichernde Ruby an ihre Mutter, ehe ich einen Schritt zurücktrete. Die beiden umarmen sich, als wären sie Jahre und nicht nur ein paar Stunden getrennt gewesen.

Sie ihrer Kuschelei überlassend, widme ich mich wieder meinem Kaffee. Bevor ich einen Schluck nehmen kann, höre ich Lola und Kate die Treppe herunterkommen, die ebenfalls von Mercury und Retro begrüßt werden. Dann gehen sie zu ihrer Mutter und ihrer Schwester hinüber. Da mir bewusst ist, dass dieser Moment ihnen gehört, wende ich mich wieder meinem Becher zu. Daran nippend, beobachte ich sie und bin mir einer Sache sicher: Ganz gleich welche Schwierigkeiten das Leben für sie bereithält, sie werden stärker und noch enger verbunden als je zuvor aus ihnen hervorgehen.

Als der Moment zwischen ihnen vorbei ist, sieht Cece jedes der Kinder einzeln an und fragt: »Also gut, wer möchte Pancakes und wer will Eier?« Die Mädchen rasseln ihre Frühstücksbestellungen runter, und während der nächsten vierzig Minuten helfe ich meiner Schwester dabei, die drei mit Essen zu versorgen.

Anschließend lade ich sie wie schon die Wochen zuvor in den Minivan und bringe die Bande zur Schule, damit Cece vor ihrem Unterricht noch ein paar Stunden Schlaf bekommt. Nachdem ich die Kinder abgesetzt habe, mache ich einen Abstecher zu Starbucks, um mir einen Eiskaffee und einen noch warmen Cranberry-Orangen-Scone zu gönnen – zwei meiner wenigen Laster. Beides verschlinge ich auf der Rückfahrt zum Haus. Dort schleiche ich auf Zehenspitzen nach oben, um Cece nicht zu wecken. Sie braucht die Ruhe, auch wenn sie das niemals zugeben würde.

Nach meiner zugegeben etwas in die Länge gezogenen Dusche, schnappe ich mir mein Handy, um nach der Uhrzeit zu gucken, und entdecke einen verpassten Anruf von Ken. Mit der Hoffnung auf gute Nachrichten, wähle ich seine Nummer und stelle den Anruf auf Lautsprecher. Er nimmt ab, als ich gerade mein Make-up-Täschchen öffne.

»Mia.«

»Hi, Ken. Wie läuft es?«, erkundige ich mich, während ich gleichzeitig Concealer auf meinem Gesicht verteile.

»Ich habe gute Neuigkeiten.«

»Nun, die kann ich gebrauchen.« Lächelnd betrachte ich mein Handy, als er zu lachen beginnt.

»Was denkst du, warum ich mich auf diesen Anruf so gefreut habe? Wir haben die Genehmigung und machen am Samstag wieder auf.«

»Wirklich?« Ich spüre das verräterische Brennen meiner Nase, ehe sich Tränen in meinen Augen sammeln.

»Wirklich.«

»Ist es seltsam, dass ich gerade weinen möchte?«

»Bitte nicht. Ich kann mit Tränen gerade nicht umgehen, nicht mal übers Telefon«, sagt er und bringt mich damit zum Lachen. »Also sehen wir uns am Samstag?«

»Definitiv.«

»Gut, bis dann«, erwidert er und legt auf, ehe ich antworten oder doch noch in Tränen ausbrechen kann.

Nach ein paar tiefen Atemzügen trage ich mein Make-up zu Ende auf und schlüpfe für die Arbeit in eine Jeans, ein tiefblaues T-Shirt, auf dem in weißer Schrift Winston’s Bar und Grill steht, und meine Converse. Irgendwo anders würde ich mich für meine Kündigung vermutlich schlecht fühlen, aber Ceces Chef Winston hat mir diesen Job nur aus einem Grund gegeben: Um meiner Schwester einen Gefallen zu tun, in die er ziemlich sicher verknallt ist – zumindest ist das meine Vermutung. So oft wie er sich nach ihr bei mir erkundigt, kann er mir das nicht verübeln.

Wenn ich so darüber nachdenke, frage ich mich, warum Cece ihn nie erwähnt. Andererseits ist sie vielleicht immer noch so mitgenommen von der Sache mit Mike, dass sie den vierzigjährigen, wirklich attraktiven Mann, der ihre Gehaltsschecks unterschreibt, gar nicht sonderlich wahrnimmt. Da ich mit allem außer einer Antwort auf diese Frage rechnen kann – ihre Verschwiegenheit hat meine Schwester über viele Jahre bewiesen –, gehe ich mit meinen Hunden vor der Arbeit noch einmal Gassi. Nachdem wir uns geschlagene dreißig Minuten mit einem Ball vergnügt haben, betrete ich wieder das Haus und schreibe eine kurze Notiz an Cece, um sie über Kens Anruf in Kenntnis zu setzen. Dann steige ich in mein Auto und mache mich auf den Weg zur Arbeit. Dabei fühle ich mich so glücklich wie schon seit Wochen nicht mehr.

3. Kapitel

Mia

Annie strahlt, als hätte sie gerade in der Lotterie gewonnen, sowie ich ihr den Vertrag zusammen mit einem Stift überreiche. Als mein Blick auf ihren Ehemann fällt, presse ich die Lippen zusammen. Loszulachen wäre völlig unprofessionell. Während Annie den Vertrag für ihren brandneuen Van unterzeichnet, beobachtet Sam sie mit einem geknickten Ausdruck im Gesicht.

Ich hätte jegliche Überraschung heucheln müssen, als ich sie heute zu unserer großen Neueröffnung ins Autohaus habe kommen sehen. Umso geschockter war ich, als Annie mit ihrem kleinen Jungen auf der Hüfte auf mich zumarschiert kam und verkündete, ihren neuen Van heute ohne eine weitere Probefahrt zu kaufen. Ich bin stolz auf sie, weil sie die Zügel in die Hand genommen hat, und finde toll, dass Sam mit dabei ist, obwohl ihm der Kauf des Vans nicht gefällt.

Vielleicht sagt ihm das alte Sprichwort Happy wife, happy life mehr zu.

»Ich bin so aufgeregt.« Mit einem breiten Grinsen gibt mir Annie den unterschriebenen Vertrag zurück.

»Ich freue mich für euch.« Lächelnd lege ich meine Hand auf das Telefon auf meinem Schreibtisch. »Wenn ihr so weit seid, rufe ich Judy an, die dann alles weitere mit euch klärt.«

»Wir sind so weit.« Annie nickt, und Sam seufzt.

Noch immer lächelnd ignoriere ich ihn und drücke die 7. Als Judy abnimmt, lasse ich mir von ihr bestätigen, dass sie für die beiden Zeit hat. Dann führe ich Annie, Sam und die Kinder zu ihrem Büro und verabschiede mich mit einer Umarmung von Annie, ehe ich Sams steife Schulter tätschle, während ihre Töchter die ganze Zeit um uns herumrennen. Wohlwissend, dass sie nun in guten Händen sind, kehre ich zu meinem Schreibtisch zurück. Dort warte ich darauf, dass Mandy mir einen weiteren Kunden ankündigt.

Anders als im Film jagen wir nicht auf aggressive Weise potenziellen Kunden nach; wir arbeiten im Wechselturnus. Ich weiß, dass das einigen der Mitarbeiter nicht gefällt, ich aber finde es gut. Ich möchte nicht das Gefühl haben, überaggressiv auf die Kunden zugehen zu müssen, nur um einen Verkauf zu erzielen. Während ich warte, greife ich nach meinem Handy und sehe, dass ich eine Textnachricht von meiner Mom bekommen habe.

Mom:

Wie geht es meinen Mädchen?

Ich: