Vagina - Naomi Wolf - E-Book

Vagina E-Book

Naomi Wolf

0,0
6,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine radikale und faszinierende Entdeckungsreise durch den Körper und die Seele von Frauen – von der Leitfigur des amerikanischen Feminismus. Die Vagina ist die Essenz der Weiblichkeit, davon ist Naomi Wolf überzeugt. Sie widmet sich nicht nur ihren sexuellen, sondern auch den kulturgeschichtlichen Aspekten. Welche Rolle spielt die Vagina in der Kunst? Inwieweit hat Pornografie unseren Blick auf den weiblichen Körper verändert? Welche Auswirkungen hat sexuelle Gewalt auf das Gehirn von Frauen? Weshalb muss heute die Vagina bestimmten Schönheitsidealen entsprechen? Naomi Wolf entschlüsselt, wie sehr der Umgang mit dem weiblichen Körper auch für den Umgang mit Frauen in unserer Gesellschaft steht.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 605

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Naomi Wolf

Vagina

Eine Geschichte der Weiblichkeit

Aus dem Englischen von Barbara Imgrund, Gabriele Gockel und Karola Bartsch

Über dieses Buch

Warum überhaupt ein Buch über die Vagina? Ich habe mich immer für die weibliche Sexualität interessiert. Die Art, wie eine Kultur auf die Vagina blickt — sei es respektvoll oder verächtlich, fürsorglich oder geringschätzig —, steht stellvertretend dafür, wie in der betreffenden Zeit und an dem betreffenden Ort auf die Frau schlechthin geblickt wird. Am Anfang dieser Reise ging ich davon aus, dass ich eine ganze Menge über uns Frauen lernen würde, und zwar als Lustobjekte ebenso wie als Mitglieder der Gesellschaft.

 

Ist die Vagina eine Pforte zur Erleuchtung, wie sie es für die Praktizierenden des indischen Tantra war? Oder ein «goldener Lotus», wie es die Philosophie des Tao behauptete? Oder eine Art «Prüfstelle» für die weibliche Reife, ein Organ, das die Frauen von den Mädchen unterscheidet, wie Sigmund Freud glaubte? Oder das, als was sie die zeitgenössische Massenpornografie zeigt: eine «scharfe», aber im Grunde austauschbare Körperöffnung und jedermann zugänglich, der einen Internetanschluss besitzt?

 

Ich begann zu erkennen, dass es in Wahrheit um etwas geht, über das nur selten gesprochen wird: um eine tiefgreifende Verbindung zwischen Gehirn und Vagina. Im Keim war dieses Buch als historische und kulturelle Reise angelegt, doch es wurde rasch eine sehr persönliche und notwendige Entdeckungsreise daraus. Ich musste die Wahrheit über die Vagina herausfinden, denn mir war durch Zufall ein Einblick in eine Dimension vergönnt, die ich noch nie an ihr wahrgenommen hatte.

Vita

Naomi Wolf, geboren 1962, studierte in Yale und Oxford. Sie wurde in den neunziger Jahren durch ihren Bestseller «Mythos Schönheit» bekannt und gilt seitdem als Vorreiterin eines neuen Feminismus. Sie arbeitete als politische Beraterin für Bill Clinton und Al Gore und schreibt unter anderem für die «New York Times», die «Washington Post» und die «Huffington Post». Naomi Wolf lebt in New York.

Inhaltsübersicht

Hinweis der AutorinWidmungMottoEinführungI Hat die Vagina ein Bewusstsein?1 Lernen Sie Ihre unfassbaren Beckennerven kennen2 Ihr verträumtes vegetatives Nervensystem3 Selbstvertrauen, Kreativität und das Gefühl, mit allem verbunden zu sein4 Dopamin, Opioide und Oxytocin5 Was wir über die weibliche Sexualität «wissen», ist überholtII Geschichte: Eroberung und Kontrolle6 Die traumatisierte Vagina7 Am Anfang war die Vagina heilig8 Die viktorianische Vagina: Medikalisierung und Unterwerfung9 Die Moderne: «Befreiung» der VaginaIII Wer gibt der Vagina ihren Namen?10 «Das schlimmste Wort, das es gibt»11 Ist das nicht lustig?12 Die pornografische VaginaBildtafelnIV Die Göttinnenmatrix13 «Mein Geliebter bin ich»14 Radikale Lust, radikales Erwachen: Die Vagina als BefreierinSchluss: Die Wiedereroberung der GöttinAnhangAusgewählte BibliographieRegisterQuellenDanksagung

Die Namen und kennzeichnenden Charakteristika von einigen der in diesem Buch dargestellten Personen sind geändert worden, um ihre Privatsphäre zu schützen. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Für A.

Wie sonderbar und ungeheuerlich es war, nackt unter dem Himmel zu stehen. Wie herrlich! Sie fühlte sich wie neugeboren, als schlage sie in einer vertrauten und doch ganz und gar unbekannten Welt die Augen auf.

Kate Chopin, Das Erwachen[1]

Einführung

Was ist das: die Vagina?

Warum überhaupt ein Buch über die Vagina?

Ich habe mich immer für die weibliche Sexualität und die Geschichte der weiblichen Sexualität interessiert. Die Art, wie eine beliebige Kultur auf die Vagina blickt – sei es respektvoll oder verächtlich, fürsorglich oder geringschätzig –, steht stellvertretend dafür, wie in der betreffenden Zeit und an dem betreffenden Ort auf die Frau schlechthin geblickt wird. Es gibt so viele Sichtweisen der Vagina – «Konstrukte» nennen es Studierende der Ideengeschichte –, wie es Kulturen gibt und gab. Am Anfang dieser Reise ging ich davon aus, dass ich, wenn ich von diesen verschiedenen historischen Blickwinkeln aus auf die Vagina blickte, eine ganze Menge über uns Frauen lernen würde, und zwar als Lustobjekte ebenso wie als Mitglieder der Gesellschaft. Diese Untersuchung würde sicherlich darüber Aufschluss geben, wo wir in Bezug auf das Thema heute stehen. (Da ich eine Frau bin und Spaß an der Lust habe, war ich natürlich auch gespannt darauf, Dinge über die weibliche Sexualität zu erfahren, die ich vielleicht noch nicht wusste.) Ich ging davon aus, dass ich die Wahrheit über die Vagina herausfinden würde, indem ich all diese «Konstrukte» genau studierte. Ich glaubte, dass sich einige als generell zutreffend und andere als vollkommen unzutreffend erweisen würden. Doch mittlerweile glaube ich, dass sie alle nur zum Teil stimmen und dass einige Konstrukte – unsere eigenen eingeschlossen – durch und durch subjektiv sind und vor falschen Informationen strotzen.

Ist die Vagina eine Pforte zur Erleuchtung, wie sie es für die Praktizierenden des indischen Tantra war? Oder ein «goldener Lotus», wie es die chinesische Philosophie des Tao behauptete? Ist sie das «Loch», das das Elisabethanische Zeitalter in ihr sah? Oder eine Art «Prüfstelle» für die weibliche Reife, ein Organ, das die Frauen von den Mädchen unterscheidet, wie Sigmund Freud glaubte? Oder ist sie das, als was sie amerikanische Feministinnen seit den 1970er Jahren betrachten: ein eher sekundäres Organ und als solches der gelobten Klitoris nachgeordnet? Oder ist sie das, als was sie die zeitgenössische Massenpornografie zeigt: eine «scharfe», aber im Grunde austauschbare Körperöffnung und jedermann zugänglich, der ein Modem besitzt? Oder aber ist sie das, wofür sie der sexpositive Postfeminismus der Nullerjahre hält: eine flotte Lustmaschine für lüsterne Frauen, die auf Knopfdruck Befriedigung fordert, sei es durch Zufallspartner, mit denen man sich telefonisch zum Gelegenheitssex verabredet, oder durch vibrierende Hightech-Elektronikgeräte?

Ich habe Bücher gelesen, etwa Sex at Dawn von den beiden Evolutionsbiologen Christopher Ryan und Cacilda Jethá[1]; ich habe den Hite-Report der Soziologin Shere Hite[2] noch einmal durchforstet; ich habe Geschichtsbücher über die Vagina studiert, etwa The Story of V von der Kulturhistorikerin Catherine Blackledge[3]; und ich habe mir in wissenschaftlichen Datenbanken wie den Archives of Sexual Behavior die jüngsten Forschungsergebnisse zum weiblichen Orgasmus angesehen. Ich fuhr in Laboratorien, in denen innovativste neurobiologische Forschungen zur Funktion der weiblichen sexuellen Lust angestellt werden – Laboratorien wie dem von Dr. Jim Pfaus an der Concordia University in Montreal, Quebec, wo bahnbrechende Experimente gezeigt haben, dass die weibliche Lust selbst bei niederen Säugetieren eine wichtige Rolle für die Partnerwahl spielt.

Mich beschlich das Gefühl, dass all diese Bücher, Artikel und Einrichtungen lediglich Teilchen eines viel größeren Puzzles waren.

Aus persönlichen wie auch aus verstandesmäßigen Gründen begann ich zu erkennen, dass es in Wahrheit um etwas geht, über das außerhalb eines kleinen Kreises nur selten gesprochen wird: nämlich um eine tiefgreifende Verbindung zwischen Gehirn und Vagina, durch die meiner Meinung nach mehr Erkenntnisse über dieses Thema zu gewinnen sind als durch alles, was ich sonst untersucht habe. Im Keim war dieses Buch als historische und kulturelle Reise angelegt, doch es wurde rasch eine sehr persönliche und notwendige Entdeckungsreise daraus. Ich musste die Wahrheit über die Vagina herausfinden, denn mir war durch Zufall ein kleiner Einblick in eine reale Dimension vergönnt, die ich noch nie an ihr wahrgenommen hatte.

Während einer gesundheitlichen Krise machte ich eine nachdenklich stimmende, aufschlussreiche Erfahrung, die eine wichtige Beziehung zwischen Vagina und dem weiblichen Bewusstsein als solchem nahelegte. Je mehr ich erfuhr, desto mehr verstand ich, auf wie vielfältige Weise die Vagina mit dem weiblichen Gehirn und damit auch mit der Kreativität, dem Selbstvertrauen und sogar der Persönlichkeit der Frau verknüpft ist.

Als ich die neurobiologischen und physiologischen Hintergründe dessen kennenlernte, was ich selbst erlebt hatte, beeinflussten die vielfältigen Verbindungen zwischen dem Gehirn der Frau und der Vagina meine Auffassung auch von anderen, typisch weiblichen Themen. Sobald ich es als erwiesen betrachtete, dass diese Verbindungen Realität waren, hatte ich das Gefühl, dass ich damit den Schlüssel zu vielen Dingen, die den Frauen im Laufe der Geschichte widerfahren waren, in Händen hielt. Ich hatte auch das Gefühl, dass es wichtig war, die Frauen von heute (aber auch jeden, dem Frauen am Herzen liegen) über diese Verbindungen – sowie neue Einsichten über die weibliche Sexualität und das Frausein an sich – in Kenntnis zu setzen, denn sie können uns helfen, uns so viel besser zu verstehen und mehr wertzuschätzen.

Bei dieser Untersuchung wollte ich auch wissen, was Männer über ihre Beziehung zur Vagina zu sagen haben – und zwar jenseits der zweidimensionalen Geschichten, die unsere pornoübersättigte Kultur uns erzählt. Als ich über mein Thema zu sprechen begann, reagierten viele Männer aus meinem Bekanntenkreis auf meine Frage nach ihrer Vagina-Beziehung mit ermutigenden, ja liebevollen Antworten. Oft, wenn auch nicht immer, erschien ein Ausdruck von etwas wie Verehrung oder sogar Liebe auf den Gesichtern der Männer, die bereit waren, ihre Gefühle für diesen weiblichen Körperteil zu beschreiben. Die Gefühle, die diese Männer beschrieben, waren alles andere als herabwürdigend oder pornografisch – obwohl sowohl die Männer als auch ihre Aussagen zufällig ausgewählt waren.

Zu meiner großen Überraschung drückten viele heterosexuelle Männer eine Art umfassende (das heißt nicht rein sexuelle) Dankbarkeit für die Vagina aus; zudem führten sie den Lustaspekt nicht abgetrennt von einem Gefühl der Erleichterung und Freude darüber ins Feld, dass sie selbst so restlos «akzeptiert» und ganz und gar «willkommen» geheißen wurden. Tatsächlich tauchten die Wörter «Akzeptanz» und «willkommen» immer und immer wieder in meinen Gesprächen mit heterosexuellen Männern auf. So kam ich zu dem Schluss, dass wir Frauen unterschätzen, wie wichtig es den Männern ist, von uns akzeptiert zu werden.

Sicherlich wurden einige dieser Antworten durch den Umstand begünstigt, dass es eine Frau war, die die Fragen stellte; doch die Tatsache, dass so viele Männer immer und immer wieder denselben emotionalen Ton anschlugen, ließ mich zu der Ansicht gelangen, dass darin ein Körnchen Wahrheit liegen musste. Wenn ich die Beziehung beschrieb, die ich zwischen der Vagina, der Kreativität und dem Wohlbefinden der Frau entdeckt hatte, bestätigten mir einige Männer, dass diese vermutete Beziehung auch ihren eigenen Erfahrungen mit den Frauen entsprach.

Die erwähnten Erkenntnisse über die Gehirn-Vagina-Verknüpfung und die eher subtileren Wahrheiten über emotionale und sexuelle Reaktionen der Frau, die ich daraus ableitete, veränderten mein eigenes Leben, meine Beziehung und meine Art, auf die Dinge zu blicken, zum Besseren hin. Sie machten mich – bei allem Respekt für die Männer – auf eine neue Art unglaublich glücklich, eine Frau zu sein, und sie halfen mir, besser zu verstehen, warum wir Frauen uns glücklich schätzen können, unseren Körper zu haben.

 

Eine Quelle des Unbehagens darüber, eine Frau zu sein, entspringt in unserer Kultur dem schrecklichen Vokabular, mit dem wir über unseren Körper und die Vagina im Besonderen sprechen. Die allgemein verbreitete Fehlinterpretation der Vagina als «bloßes Stück Fleisch» ist ein Hauptgrund für dieses Unbehagen. Bei der weiblichen Lust geht es, wenn man sie richtig versteht, nicht nur um Sexualität oder nur um Genuss. Sie fungiert darüber hinaus auch als Medium weiblicher Selbsterkenntnis und Hoffnung, von Kreativität und Mut, von Konzentration und Initiative, von Glückseligkeit und Transzendierung und als Medium einer Sensibilität, die sich so sehr nach Freiheit anfühlt. Wenn man die Vagina wirklich verstehen will, muss man erkennen, dass sie nicht nur mit dem weiblichen Gehirn verknüpft, sondern im Grunde auch Teil der weiblichen Seele ist.

Als ich diese Aspekte der Vagina besser durchschaute, begann ich, auch Frauen und Forscher zu befragen, die die Verknüpfung der Vagina mit der Kreativität, dem Selbstwertgefühl und der Verbundenheit der Frau zu Dingen und Menschen untersuchten. Die Antworten, die ich erhielt, bestätigten mir, dass ich die richtige Richtung eingeschlagen hatte.

Bevor ich mit meinen Untersuchungen begann, waren mir viele Aspekte der Vagina in Geschichte und Gesellschaft rätselhaft geblieben: angefangen bei der Frage, warum so viele Schriftstellerinnen und Künstlerinnen nach sexuellen Erweckungserlebnissen wahre Kreativitätsschübe entwickelten, über die Frage, warum manche Frauen süchtig nach Liebe werden, und warum sich heterosexuelle Frauen so oft hin und her gerissen fühlen zwischen einem Interesse an bösen Jungs und guten Männern, bis hin zu der düsteren Frage, warum die Vagina in der westlichen Geschichte immer wieder zum Ziel von Missbrauch, Gewalt und Unterjochung wurde.

Je mehr ich über die Neurologie der Vagina und die biochemischen Vorgänge erfuhr, die sie im Gehirn in Gang setzt, desto mehr lösten sich all jene Rätsel auf, die ich mein ganzes Leben lang als kulturell bedingt betrachtet hatte. Die Antworten auf diese scheinbaren Mysterien liegen auf der Hand, sobald man erkannt hat, was Wissenschaftler in den fortschrittlichsten Laboratorien und Kliniken weltweit mittlerweile bestätigen – nämlich dass die Vagina und das Gehirn im Wesentlichen ein Netzwerk oder ein «geschlossenes System» bilden, wie es gern genannt wird, und dass die Vagina uns Frauen Selbstbewusstsein, Kreativität und Spiritualität schenkt.

Im ersten Abschnitt dieses Buchs untersuche ich die gravierendsten Missverständnisse in Bezug auf die Vagina. Indem ich jüngste Forschungsergebnisse heranzog und sowohl persönlich als auch online Befragungen anstellte, fand ich heraus, dass die Erfahrungen mit der eigenen Vagina – auf einer biologischen Ebene – uns Frauen ein gesteigertes Selbstwertgefühl schenken beziehungsweise zu mangelndem Selbstwertgefühl führen können; sie können weibliche Kreativität entfesseln oder diese blockieren. Diese Erfahrungen tragen dazu bei, dass eine Frau ein genussvolles Gefühl für die Verknüpfung von stofflicher und spiritueller Welt entwickeln kann – oder dazu, dass sie sich voller Trauer bewusst wird, es verloren zu haben. Sie können ihr helfen, einen Zustand mystischer Transzendenz zu erreichen, der großen Einfluss auf den Rest ihres Leben hat – oder sie an der Schwelle zu diesem Zustand mit der Ahnung verlassen, dass da doch noch «mehr» sein muss. Letztere Erfahrung wiederum kann nicht nur eine schwindende Lust auf Sex zur Folge haben, sondern auch dazu führen, dass sich im Leben der Frau eine existenzielle Depression oder gar Verzweiflung einnistet.

Der zweite Abschnitt dieses Buchs erforscht, inwiefern die soziale Kontrolle der Vagina und ganz allgemein der weiblichen Sexualität ein Instrument war, mit dem in der Geschichte des Westens das Denken und Innenleben der Frau gesteuert wurde.

Der dritte Abschnitt des Buchs nimmt unsere heutige Zeit unter die Lupe und zeigt, inwiefern moderne Zwänge, etwa die allgemeine Verbreitung der Pornografie, sowohl Männer als auch Frauen für das erhabenere «Eigenleben» der Vagina unempfänglich machen.

Der letzte Abschnitt widmet sich der Frage, wie sich «die Göttin zurückholen lässt» – wie sich also unser Bild und das unserer Liebhaber von der Vagina zurechtrücken lässt, und zwar in Bezug auf ihre neurologische Aufgabe, als Vermittlerin und Schützerin des höchsten, genussvollsten und unverbrüchlichsten Guts der Frau zu fungieren: nämlich ihres Selbstverständnisses. Ich werde einen Blick darauf werfen, was Frauen wirklich – zur sexuellen Glückseligkeit und Erfüllung, aber auch zu ihrem allgemeinen Wohlbefinden – brauchen, und zwar vom Standpunkt der Neurowissenschaften aus wie auch auf der Grundlage dessen, was ich von verschiedenen tantrischen Meistern gelernt habe. Sie verbringen ihr Leben damit, Frauen zu heilen oder wachzurütteln, die sexuell und emotional verletzt sind oder dahindämmern.

Die meisten Beispiele in diesem Buch (vor allem die zur weiblichen Physiologie der Erregbarkeit und des Orgasmus) gelten für Frauen jedweder sexuellen Orientierung – ob sie nun lesbisch, hetero- oder bisexuell sind. Dennoch ist eines meiner vordringlichen Ziele die Erforschung der physischen und emotionalen Interaktion von heterosexuellen Frauen mit Männern. Einige der angeführten wissenschaftlichen Studien konzentrieren sich ausschließlich auf die Physiologie heterosexuellen Geschlechtsverkehrs.

Mein Fokus rührt nicht etwa daher, dass ich Erregung, Orgasmus, Beziehungen oder die Körper-Geist-Verbindung bei Lesbierinnen und Bisexuellen für weniger faszinierend als bei heterosexuellen Frauen hielte. Ich glaube (mittlerweile), dass die sexuellen Reaktionen wie auch die Körper-Geist-Verbindung der Frau so komplex sind und einer so vorsichtigen, individuellen Herangehensweise bedürfen, dass man ihnen durch den politisch durchaus korrekten Ansatz, alle weiblichen Erlebniswelten kategorisch in einen Topf zu werfen, nicht gerecht werden kann. Vielmehr bin ich der Meinung, dass die parallelen Fragen nach der Physiologie des lesbischen und bisexuellen Eros, der lesbischen und bisexuellen Körper-Geist-Verbindung und der Vagina im lesbischen und bisexuellen Kontext ein jeweils eigenes Buch verdient hätten.

Ebenso wenig richten sich die Fragen an Frauen, die sich gerade in einer Beziehung befinden; während sich, wie erwähnt, viele Beispiele auf die körperliche Liebe konzentrieren, rekurrieren diese Erkenntnisse in erster Linie auf die sexuelle Beziehung der Frau zu sich selbst.

Was ist «die Göttin»?

In diesem Buch beziehe ich mich auf eine Gemütslage oder einen weiblichen Bewusstseinszustand, die ich der Einfachheit halber, aber auch weil es gut klingt, «die Göttin» nenne. Es ist ganz und gar nicht meine Absicht, Bilder von müslikauenden, heidnischen Gottesanbeterinnen auf Siebziger-Jahre-Frauen-Retreats in irgendwelchen Parks heraufzubeschwören; ebenso wenig habe ich damit ein allzu simplifizierendes Popkultur-Kürzel für «Selbstwertgefühl» im Sinn. Stattdessen schaffe ich einen rhetorischen Raum, der noch nicht existiert, wenn wir über die Vagina sprechen, der aber etwas sehr Reales meint.

Der Psychologe William James begründete eine Denkrichtung, die als «biologisches Bewusstsein» bekannt ist – also die Erforschung, wie der physische Körper die Gemütsverfassung beeinflusst. 1902 veröffentlichte James seinen Klassiker, Die Vielfalt religiöser Erfahrung[4]. In diesem Buch, auf dem ein Teil meiner Argumentation aufbaut, untersuchte er, welche Rolle transzendente Erfahrungen – die viele Menschen nur andeutungsweise und flüchtig erleben, die aber der aktuellen Forschung zufolge dennoch den meisten Menschen bis zu einem gewissen Grad zuteil werden – bei der Heilung von Traumata oder Depressionen spielen.[5] Ohne Behauptungen über die objektive Natur «Gottes» oder «des Erhabenen» aufzustellen, vermutete James in der Neurologie die Grundlage für diese allgemeinen mystischen Erfahrungen. Er vertrat die Meinung, dass die Wandlung eines Menschen dann möglich sei, wenn das Gehirn jene Zustände erlange, die mit diesen Erfahrungen in Zusammenhang stehen, auch wenn es vor allem körperbetonte Erfahrungen sind: «Es ist ein psychologisches Faktum, daß mystische Zustände ab einer bestimmten Ausprägung für die Betroffenen meist richtungsweisend sind.»[6]

James glaubte, dass wir durch das Tor des Unterbewusstseins jene Gefühlslagen erlangen, die er und wir «mystisch» nennen und die der Dichter William Wordsworth als ein uns allen zuweilen eigenes Gefühl der Vertrautheit mit einer «Herrlichkeit» beschrieb, welche von anderswoher rührt.[7] «Von mystischen Zuständen geht nicht allein deshalb schon Autorität aus, weil sie mystische Zustände sind … Sie erzählen von der Überlegenheit des Ideals, von Unermeßlichkeit, von Vereinigung, von Geborgenheit und von Ruhe. Sie bieten uns Hypothesen an, Hypothesen, die wir willentlich ignorieren, aber denkend nicht außer Kraft setzen können.»[8] Diese Zustände sind flüchtig und passiv, doch James betonte, dass als Ergebnis solcher Bewusstseinszustände oft Heilung, Kreativität und sogar Glückseligkeit in großem Maße ins Leben der Betroffenen Einzug hielten. Waren viele Menschen tatsächlich glücklicher, liebevoller und kreativer, weil sie für einen Moment lang «Gott» oder «das Erhabene» geschaut hatten, gleichgültig, ob diese Gefühlslagen «nur» durch biochemische Vorgänge herbeigeführt wurden? James jedenfalls vertrat diese Meinung.

Noch bevor die jüngsten Erkenntnisse der Neurowissenschaften erbrachten, dass das weibliche Gehirn beim Orgasmus eine Aktivität zeigt, bei der sich gewissermaßen die Grenzen des Egos auflösen, bei der sich eine mystische oder transzendente Erfahrung einstellt (sie mag nicht identisch mit dem sein, was James untersuchte, aber doch in der Auswirkung nicht viel anders), wusste die Wissenschaft, dass es einen sehr alten Zusammenhang zwischen Orgasmus und der Ausschüttung von Opioiden im Gehirn gibt. Opioide – eine bestimmte Form von Neuropeptiden – bringen Erfahrungen von Ekstase, Transzendenz und Glückseligkeit hervor. Sigmund Freud setzte sich in seinem 1930 erschienenen Buch Das Unbehagen in der Kultur mit dem auseinander, was Romain Rolland als «ozeanisches Gefühl» bezeichnet hatte. Rolland umriss damit die emotionale Dimension von Religiosität, das «ozeanische» Gefühl der Grenzenlosigkeit. Freud nannte diese Sehnsucht infantil.[9]

Aber Freud war ein Mann; jüngste Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass Frauen – zumindest im Orgasmus – auf einzigartige Weise sehr wohl dieses ozeanische Gefühl erleben. Kernspintomogramme, die 2006 von Janniko Georgiadis und seinem Team erstellt wurden, zeigten, dass Areale des weiblichen Gehirns, die mit Selbstwahrnehmung, Hemmung und Selbstkontrolle korreliert sind, während des Orgasmus kurzfristig stillgelegt wurden.[10] Das kann sich für die betreffende Frau wie das Wegschmelzen jeglicher Begrenzung anfühlen, wie ein Verlust des Ich und – sei das nun beglückend oder beängstigend – ein Kontrollverlust.

Viele Neurowissenschaftler haben in den letzten 30 Jahren mehr oder weniger bestätigt, dass James auf biochemischer Ebene recht hatte: Es sind tatsächlich Veränderungen im Gehirn zu verzeichnen, die zu einer Erfahrung des «Erhabenen» passen. Menschen, die solche Gefühlslagen quasi kultiviert haben, profitieren enorm davon – durch tiefere Empfindungen von Liebe, Mitgefühl, Selbstakzeptanz und Verbundenheit. Das haben auch Dan Golemans Buch von 1995 über «emotionale Intelligenz» und die Arbeiten des Dalai-Lama über Meditation bestätigt. Westliche Forscher konnten ebenfalls darlegen, dass Zustände meditativen Glücks mit der Ausschüttung von Opioiden einhergehen können. Alle Frauen können multiple Orgasmen haben, wie wir noch sehen werden; das erwähnte mystische oder transzendente Potenzial der weiblichen Sexualität erlaubt es der Frau, oft und auf einzigartige Weise, wenn auch nur kurz, ein leuchtendes, «göttliches» oder höheres Selbst (oder Nicht-Selbst, wie es im Buddhismus heißt) zu erfahren oder eine Verbundenheit zwischen allen Dingen zu spüren. Die Stimulation, die für diese Gemütsverfassung notwendig ist, ist Teil der evolutionären Aufgabe der Vagina.

Seit Jahrhunderten sprechen Philosophen von einem «von Gott geschaffenen Vakuum» im Menschen – der Sehnsucht des Menschen nach einer Verbindung mit etwas Größerem, die ihn dazu veranlasst, sich auf die religiöse und spirituelle Suche zu begeben. Oder wie es Blaise Pascal, der berühmte französische Philosoph aus dem 17. Jahrhundert, ausgedrückt hat: «Was schreit aus dieser Gier und dieser Unmacht, wenn nicht das, daß ehemals der Mensch wirklich im Glück war, wovon uns nichts blieb als die Narbe und die völlig leere Spur, die der Mensch nutzlos mit allem, was ihn umgibt, zu erfüllen trachtet, da er von dem Ungegenwärtigen erlangen will, was er von dem Gegenwärtigen nicht erlangen kann; wenn nicht das, daß alles hierzu ungeeignet ist, da diesen unendlichen Abgrund nur ein Unendliches und Unwandelbares zu erfüllen vermag, das heißt nur Gott allein?»[11]

Wissenschaftler haben die Tatsache bestätigt, dass diese Sehnsucht, dieser Hunger danach, einen «unendlichen Abgrund» zu füllen, eine neuronale Anlage ist, mit der wir alle auf die Welt kommen, eine angeborene Fähigkeit, uns mit etwas zu verbinden, das sich subjektiv wie Transzendenz anfühlt. Die Arbeiten des Dalai-Lama über Meditation legen ebenso wie die von Dan Goleman, Lama Oser und dem E. M. Keck Laboratory for Functional Brain Imaging and Behavior nahe, dass bestimmte Areale im Gehirn aktiviert werden, wenn der Proband einen meditativen Zustand erreicht; und auch Neurowissenschaftler aus Stanford haben die Neurologie des Glücks entdeckt.[12] Üblicherweise fühlt man sich in dieser Gemütsverfassung eins mit sich selbst und dem Universum, und alle Qualen und Begrenzungen des Egos fallen weg. Künstler haben nach solchen Erfahrungen einige der großartigsten Werke der Musik, Malerei und Dichtkunst geschaffen.

In diesem Buch vertrete ich die These, dass es eine Art Verbundenheit mit dem «Erhabenen» gibt – selbst wenn auch sie wie Rollands «ozeanisches Gefühl» nur ein neurologischer Trick unseres märchenhaft komplizierten Gehirns sein sollte –, die wir Frauen in und nach Momenten größter sexueller Lust erfahren können. Ich behaupte, dass dieses Gefühl unauflöslich verknüpft ist mit dem Erlebnis der Selbstliebe oder der Selbstachtung sowie mit einem Gefühl der Freiheit und des Tatendrangs. Deshalb ist die Frage, ob die weibliche Sexualität liebe- und respektvoll behandelt wird, auch so wesentlich. Solche Momente erhöhter sexueller Empfindsamkeit lösen in einer Frau das Bewusstsein aus, dass sie sich in einem Zustand der Vollkommenheit befindet, in Harmonie und Verbundenheit mit der Welt. In diesem Bewusstseinszustand verstummen die altbekannten inneren Stimmen, die der Frau sagen, sie sei nicht gut genug, nicht schön genug oder nicht anziehend genug für andere, und ein tieferes Gefühl der Verbundenheit – das ich aus Mangel an Alternativen das universelle oder göttliche Weibliche nenne – kann sich einstellen.

Große kreative Schübe und beeindruckende Arbeiten können einer transzendenten Erfahrung dieser Art entspringen. Ich glaube fest daran: Wenn wir Frauen lernen, ein solchermaßen definiertes Bewusstsein für die «Göttin» zu erkennen und zu kultivieren, werden sich unser Verhalten uns selbst gegenüber und unsere Erfahrungen im Leben zum Besseren wandeln – denn selbstzerstörerisches Handeln, Scham und das Dulden von schlechter Behandlung können vor dieser inneren Einstellung keinen Bestand haben.

Aber ich möchte behaupten, dass «die Göttin» – weniger wörtlich, sondern eher als geschlechtsspezifisches Selbstverständnis gemeint, das Strahlkraft besitzt und ohne jeden Schaden, ohne Angst oder Furcht ist – jeder Frau innewohnt und dass wir Frauen es tendenziell intuitiv wissen, wenn wir einen kurzen Blick darauf erhascht oder es berührt haben. Wenn wir Frauen den Funken der «Göttin» in uns entdecken, zieht das gesündere, respektvollere Verhaltensweisen uns selbst gegenüber nach sich. Die Vagina dient physiologisch gesehen dazu, jene Matrix chemischer Stoffe zu aktivieren, die das weibliche Gehirn als «die Göttin» empfindet – das heißt als ein Bewusstsein für ihre eigene Würde und für eine große Selbstliebe als Frau, als strahlender Teil des universellen Weiblichen.

Die Vagina mag ein «Vakuum» sein, aber eines, das, wenn man es richtig versteht, die Göttin geschaffen hat.

IHat die Vagina ein Bewusstsein?

1Lernen Sie Ihre unfassbaren Beckennerven kennen

Poesie, Wissenschaft, Erotik – was kümmerte es die Phantasie, welchem Herrn sie diente?

Ian McEwan, Solar[1]

Der Frühling 2009 war wunderbar. Ich war emotional und sexuell glücklich, intellektuell in Hochstimmung und frisch verliebt. Doch es war auch der Frühling, in dem ich langsam zu merken begann, dass etwas ganz und gar nicht mit mir stimmte.

Ich war sechsundvierzig. Ich hatte eine Beziehung zu einem Mann, der in verschiedener Hinsicht extrem gut zu mir passte. Seit zwei Jahren bescherte er mir großes emotionales und körperliches Glück. Ich hatte nie Probleme mit sexueller Reaktionsfähigkeit, und diesbezüglich lief alles sehr gut. Doch fast schleichend begann ich, eine Veränderung an mir festzustellen.

Ich war immer zu klitoralen Orgasmen fähig gewesen; in meinen Dreißigern hatte ich zudem gelernt, «gemischte» oder klitoral-vaginale Orgasmen zu haben, die dem Erlebnis eine weitere psychologische Dimension hinzufügten. Ich hatte stets einen postkoitalen Rausch positiver emotionaler und körperlicher Gefühle erlebt. Nach dem Orgasmus nahm ich, als ich älter wurde, für gewöhnlich Farben heller wahr, und die Details der Schönheit der Natur kamen mir schärfer und verlockender vor. Ein paar Stunden lang spürte ich die Verbindung zwischen allen Dingen deutlicher. Meine Laune hob sich, und ich wurde gesprächiger und energiegeladener.

Doch allmählich ging mir auf, dass sich etwas veränderte. Ich verlor langsam, aber sicher die Empfindsamkeit innerhalb meines Körpers. Und das war noch nicht das Schlimmste. Zu meiner Verwunderung und Bestürzung geschah nach dem Sex etwas mit meinem Geist, während meine klitoralen Orgasmen so stark und lustvoll wie eh und je blieben.

Eines Tages, als ich vom Schlafzimmer unseres kleinen Landhauses aus in die Baumwipfel hinaussah, bemerkte ich, dass der übliche postkoitale Rausch der Vitalität, die sich in die Welt verströmte, der Freude an mir selbst und allem um mich herum und der kreativen Energie in allem, was lebte, der körperlichen Lust nicht mehr wie früher folgte. Mir wurde klar, dass es beim Sex zunehmend nur noch um diese körperliche Lust ging. Es war immer noch ein schönes Gefühl, aber ich erlebte Sex immer weniger als emotional mit Bedeutung aufgeladen. Ich wollte ihn physisch – es war wie Hunger und Sattwerden –, aber ich erfuhr ihn nicht mehr in einer poetischen Dimension; er war nicht mehr ganz wesentlich mit allem anderen in meinem Leben verbunden. Mir war der Rausch abhandengekommen, der mich die Verbindung zwischen allen Dingen sehen ließ; stattdessen erschienen mir auf eine für mich ganz und gar nicht typische Art die Dinge allein für sich stehend und ohne Bezug zu mir. Und Farben waren nur noch Farben – sie kamen mir nach dem Geschlechtsverkehr nicht mehr leuchtender vor. Ich fragte mich: Was passiert da gerade mit mir?

Obwohl in meinem Leben sonst alles in Ordnung war – und meine Beziehung weiterhin wunderbar –, stellte sich eine depressive Verstimmung bei mir ein; dann registrierte ich ein Gefühl der Verzweiflung, das tief unter allem lauerte. Es war wie in einem Horrorfilm, als das Licht und das Funkeln der Welt immer weiter schwanden – mittlerweile nicht mehr nur nach dem Sex, sondern auch im ganz alltäglichen Leben. Die innere Betäubung schritt fort; ich konnte nicht so tun, als würde ich mir alles nur einbilden. Eine emotionale Betäubung ging gnadenlos damit einher. Ich hatte das Gefühl, als würde ich irgendwie das verlieren, was mich zu einer Frau machte; als würde ich es nicht ertragen, in diesem Zustand den Rest meiner Tage zu verbringen.

Nichts von alldem, was ich recherchiert hatte, gab mir Aufschluss darüber, was diesen unglaublichen, traumatischen Verlust möglicherweise auslöste. Eines Nachts, während ich am längst erkalteten, schmiedeeisernen Holzofen saß, allein, voller verzweifelter Fragen und ohne jede Hoffnung, begann ich, buchstäblich mit dem Universum zu handeln, wie man das in Krisenzeiten eben so tut. Eigentlich betete ich und bot einen Deal an: Wenn Gott (oder wer auch immer gerade zuhörte, mir war jeder recht, der mein Rufen vernahm) mich irgendwie heilte – mir irgendwie wiedergab, was ich verloren hatte – und wenn ich etwas Sachdienliches über mein Befinden erfuhr, würde ich darüber schreiben, sofern auch nur die geringste Möglichkeit bestand, dass das, was ich erfahren hatte, auch anderen Frauen helfen könnte.

Schweren Herzens – und voller Angst, hören zu müssen, dass man nichts für mich tun könne – vereinbarte ich einen Termin bei meiner Gynäkologin, Dr. Deborah Coady. Das war mein großes Glück, denn sie gehört zu den sehr wenigen Ärzten, die sich auf jenen Teil des weiblichen Körpers spezialisiert haben, mit dem ich – wie sich bald herausstellte – Probleme hatte: den Beckennerven.

Dr. Coady ist eine reizende Frau in den Vierzigern mit weichem, braunem Haar, das ihr bis auf die Schultern fällt, und einem Gesicht, das leise Erschöpfung und Empfänglichkeit für das Leiden der anderen ausdrückt. Dank ihrer Spezialisierung auf Funktionsstörungen der weiblichen Beckennerven im Allgemeinen und im Besonderen auf eine ihrer schmerzhaftesten Ausprägungen namens Vulvodynie, die ich zum Glück nicht hatte, hat sie häufig mit Frauen zu tun, die eine breite Palette an Beschwerden erleben. Deshalb ist sie so ungewöhnlich umsichtig und mitfühlend geworden.

Dr. Coady untersuchte mich, stellte mir mit leiser Stimme Fragen und erklärte schließlich, sie glaube, dass die Taubheit, unter der ich litt, von einer Kompression der Nerven herrührte. An diesem Punkt bekam ich eine so panische Angst, die emotionale Dimension meines Lebens und meiner Sexualität zu verlieren, dass sie mich in ihr privates Sprechzimmer bat.

Dort zeigte sie mir in dem Bestreben, mich zu beruhigen, zwei Netter-Bilder – wunderschön gezeichnete anatomische Illustrationen in Farbe. Frank Netter war ein begabter medizinischer Illustrator, dessen Bilder von den verschiedensten Bereichen des menschlichen Körpers heute Klassiker sind und von einigen Neurologen, Gynäkologen und anderen Spezialisten gesammelt werden, da sie ihren Patienten anhand dieser Grafiken besser abstrakte medizinische Sachverhalte erklären können.

Das erste Bild zeigte, wie sich die Nerven ausgehend vom unteren Teil des Rückenmarks in das weibliche Becken verzweigen.[2] Das zweite stellte die Innervation von Vulva und Klitoris dar: Der Schamnerv mit seinen drei Ästen, die sich immer weiter verästeln, versorgt u.a. die Klitoris, die Schamlippen und den Dammbereich.[3] Das dritte Bild verdeutlichte das komplexe innere Nervengeflecht, das sich am oberen Teil der Vagina, des Gebärmutterhalses und der Gebärmutter befindet und in das Beckennervengeflecht übergeht.[4] Diese Komplexität – das sollte ich später erfahren – ermöglicht der Frau Becken-Orgasmen in verschiedenen Bereichen des Beckenraums; von hier aus laufen alle Nervenstränge ins Rückenmark und weiter hinauf ins Gehirn.

Dr. Coady vermutete, dass mein Problem auf eine Kompression eines der genannten Nervenäste im Spinalbereich zurückzuführen war.

Doch sie versicherte mir, dass ich dank der komplexen Nervengeflechte des weiblichen Körpers und unabhängig von der Schwere der vermuteten Kompression niemals die klitorale Orgasmusfähigkeit verlieren würde. Nur wenig getröstet verließ ich ihre Praxis mit einem Termin für eine Kernspinuntersuchung und einer Überweisung zu Dr. Jeffrey Cole, dem New Yorker Beckennervenspezialisten.

 

Ich traf Dr. Cole im Kessler Institute for Rehabilitation in Orange, New Jersey. Er, ein stiller Mann mit leisem Humor und altväterlichem, beruhigendem Auftreten, hatte sich meine Röntgenbilder angesehen, meine Körperhaltung geprüft, während ich vor ihm stand, und mir dann schnell ein Rezept für eine scheußliche schwarze Rückenbandage ausgestellt.

Zwei Wochen später ging ich zur Kontrolle zu Dr. Cole. Die Azaleen standen nun in voller Blüte – wir steckten noch immer mitten in der schönsten Phase des Frühlings –, doch ich wurde fast ohnmächtig, während ich auf dem Rücksitz eines verbeulten Taxis in die Vorstadt bretterte. Ich fühlte mich auch deshalb sehr unwohl, weil ich in den letzten beiden Wochen die verordnete Rückenbandage getragen hatte. Sie reichte von kurz über der Hüfte bis unter den Brustkorb, sodass ich nur ganz kerzengerade sitzen konnte.

Ich hatte wirklich Angst vor dem, was Dr. Cole mir zu sagen hatte, nun, da ihm, wie ich wusste, meine Ergebnisse aus der Kernspintomografie vorlagen. Die Bilder, so Dr. Cole, zeigten, dass ich eine degenerative Erkrankung am unteren Ende der Wirbelsäule hatte: Meine Rückenwirbel waren dort abgenutzt und drückten gegeneinander. Ich war sehr überrascht, hatte ich doch nie Schmerzen oder überhaupt Probleme mit meinem Rücken gehabt.

Die Röntgenbilder, die er ebenfalls beim ersten Termin gemacht hatte, erschreckten mich. Keine Chance, es zu übersehen oder falsch zu interpretieren: Im Bereich von L6 und S1 sah mein unterer Rücken, meine Wirbelsäule wie ein Turm aus Legosteinen aus, der sich exakt um die Hälfte aus der Mitte geschoben hatte, sodass die eine Hälfte jedes Wirbelkörpers Kontakt mit dem benachbarten Wirbelkörper hatte und die andere Hälfte in der Luft hing.

Ich zog mich wieder an und setzte mich auf den Besucherstuhl in Dr. Coles Sprechzimmer. Er unterzog mich einer unerwartet hartnäckigen und direkten Befragung: «Haben Sie jemals einen Stoß gegen den unteren Rücken erhalten? Hat irgendetwas jemals Ihren Rücken getroffen?» Er sagte, dies sei eine ernsthafte Verletzung, und ich müsse doch eine Erinnerung daran haben, wie sie zustande gekommen sei. Ich wiederholte, dass ich von einem solchen Trauma nichts wisse. Als ich endlich begriff, was seine Fragen noch bedeuten konnten, versicherte ich, dass ich niemals geschlagen worden war.

Aber nachdem es fünf Minuten so hin und her gegangen war, fiel mir ein: Ja, ich hatte mich tatsächlich einmal heftig gestoßen. Mit Anfang zwanzig hatte ich in einem Kaufhaus den Halt verloren, war eine Treppe hinuntergestürzt und auf dem Rücken gelandet. Es hatte nicht sehr weh getan, aber ich war sehr erschrocken gewesen. Ein Krankenwagen war gekommen und hatte mich ins St. Vincent’s Hospital gebracht, wo man mich röntgte. Doch man hatte keinerlei Befund festgestellt und mich deshalb wieder entlassen.

Dr. Cole nahm diese Informationen auf und ordnete eine weitere Untersuchung an – diesmal detailliertere Röntgenbilder. Außerdem führte er einen unangenehmen Test mit mir durch, bei dem er mit Hilfe von Nadeln elektrische Impulse in mein Nervensystem sandte, um zu sehen, welche Areale «aufleuchteten» und welche dunkel blieben.

Bei unserem dritten Termin musste ich erneut auf den Untersuchungstisch. Dr. Cole berichtete, die neuen Röntgenbilder hätten exakt offenbart, was mit mir los war. Ich war mit einer milden Form von Spina bifida geboren worden, jener Anomalie, bei der sich die Spinalnerven nicht vollständig ausbilden. Der Aufprall von vor zwanzig Jahren hatte die ohnehin anfälligen und unvollständig ausgebildeten Wirbelkörper brechen lassen. Mit der Zeit hatte sich meine Wirbelsäule um die Verletzung herum verschoben und drückte nun auf einen Ast der Beckennerven, den mir Dr. Coady auf dem Netter-Bild gezeigt hatte – jenen, der den Vaginalkanal versorgte.

Ich hätte unverschämtes Glück gehabt, weil ich bisher keinerlei Symptome entwickelt hatte, sagte er. Angesichts der Schwere der Verletzung konnte ich mich ebenfalls glücklich schätzen, keine Schmerzen zu haben, während die Taubheit fortschritt. Obwohl ich nicht gern Sport machte, hatte es den Anschein, dass lebenslanges, widerwilliges Training meinen Rücken und Bauch ausreichend gekräftigt hatte, um der Manifestation schlimmerer Symptome vorzubeugen. Doch die Zeit hatte ihr Werk getan: Dort, wo sich die beiden Abschnitte der Wirbelsäule verschoben hatten, waren die Beckennerven eingeklemmt und zusammengedrückt, und die Weiterleitung der Signale aus einem ihrer Nervenstränge ans Rückenmark und ins Gehirn war blockiert. Die neuronalen Impulse aus diesem Bereich meines Körpers waren «erloschen». Auch wenn ich zu gehemmt war, danach zu fragen, überlegte ich, ob dies etwas mit meinem Gefühl – oder vielmehr Nicht-Gefühl – nach dem Sex zu tun hatte. Dr. Cole erklärte, ich würde über eine Operation nachdenken müssen, bei der die Wirbelkörper miteinander verbunden würden, um den Druck auf die Nerven zu lindern.

Ich stolzierte vor ihm hin und her, damit er meinen Gang beurteilen und sichergehen konnte, dass meine Beine nicht in Mitleidenschaft gezogen waren; er vermaß meine Schultern und kam zu dem Ergebnis, dass sie gleich hoch standen. Anschließend erwähnte ich ihm gegenüber – vielleicht auch, um eine zweite Meinung einzuholen und mich zu vergewissern –, dass Dr. Coady mir versichert hätte, meine klitoralen Orgasmen würden nicht beeinträchtigt, selbst wenn der verletzte Bereich der Beckennerven sich niemals wieder besserte. Er bestätigte, das sei korrekt; wenn der klitorale Strang des Nervengeflechts hätte geschädigt werden können, wäre dies schon längst geschehen. Die Tatsache, dass keinerlei Beeinträchtigung vorlag, war reiner Zufall und meiner Nervenverflechtung zuzuschreiben. Und dann erklärte er noch eher beiläufig: «Jede Frau ist anders innerviert. Bei einigen Frauen verzweigen sich die Nerven mehr in die Vagina, bei anderen mehr in die Klitoris. Bei manchen wird hauptsächlich der Damm versorgt oder der Muttermund, also der Eingang des Gebärmutterhalses. Das ist der Grund für die großen Unterschiede in der weiblichen Erregbarkeit.»

Vor Überraschung wäre ich beinahe vom Untersuchungstisch gefallen. Das sollte vaginale und klitorale Orgasmen erklären? Die Verflechtung der Nerven? Nicht Kultur, nicht Erziehung, nicht Patriarchat, nicht Feminismus, nicht Freud? Selbst in den Frauenzeitschriften wurde die Vielfalt der weiblichen Erregungstypen oft so dargestellt, als wären hauptsächlich die Emotionen daran schuld, ein Abrufen der «richtigen» Fantasien oder Rollenspiele, die Erziehung, das «schlechte Gewissen» der Betroffenen, die «Freizügigkeit» oder Kunstfertigkeit des Partners. Ich hatte noch nie gelesen, dass frau ihren Orgasmus der grundlegenden Nervenverflechtung verdankte. Dies war eine viel weniger geheimnisgeschwängerte, viel weniger mit Werten überfrachtete Botschaft über die weibliche Sexualität: Sie deutete ganz offenkundig an, dass jede Frau einen eigenen neuronalen «Bauplan» besitzt, mit dem sie – oder ihr Partner bzw. ihre Partnerin – sich vertraut machen und einfach das Muster ihrer Funktionsweise beherrschen lernen konnte.

Ich stammelte, auch wenn ich – verdutzt, wie ich war – meine Gefühle noch nicht wieder so weit unter Kontrolle hatte, um zu bedenken, dass Dr. Cole die Tragweite der Debatte, die ich ihm zu beschreiben im Begriff stand, vielleicht nicht so bewusst war wie mir: «Ist Ihnen eigentlich klar, dass Sie eben eine Frage beantwortet haben, über die Freudianer und Feministinnen und Sexualforscher seit Jahrzehnten streiten? All diese Leute dachten, die Entscheidung darüber, ob eine Frau eher vaginale oder eher klitorale Orgasmen haben kann, hätte damit zu tun, wie die Frau erzogen wurde … oder welche soziale Rolle von ihr erwartet wurde … oder ob sie frei war, ihren eigenen Körper zu erforschen oder nicht … oder ob sie die körperliche Liebe an fremde Erwartungen anpasste. Und Sie sagen, dass der Grund einfach darin liegt, dass die Nervengeflechte aller Frauen unterschiedlich gestaltet sind? Dass einige neuronale Verdrahtungen eher den vaginalen Orgasmus begünstigen und andere den klitoralen? Dass deshalb einige Frauen den G-Punkt besser spüren und andere weniger? Dass es also meistens physisch bedingt ist?»

«Die Nervengeflechte aller Frauen sind ganz unterschiedlich», bekräftigte er sanft, als spräche er mit jemandem, der nicht ganz richtig im Kopf war. «Das ist der Grund, warum Frauen auf so verschiedene Weise sexuell erregbar sind. Die Beckennerven verzweigen sich höchst individuell bei jeder Frau. Derlei Unterschiede sind physischer Natur.» (Später sollte ich erfahren, dass sich diese komplexe, vielfältige Aufteilung von der sexuellen Innervierung des Mannes in hohem Maße unterscheidet. Nach allem, was wir über den dorsalen Penisnerv wissen, ist er viel homogener verteilt.)

Ich schwieg und versuchte zu verdauen, was er gesagt hatte. Frauen bilden sich so viele Urteile über sich selbst, wenn es um ihre Orgasmusfähigkeit geht. Unser Diskurs über weibliche Sexualität, der diesen neuronalen Gegebenheiten – den eigentlichen Mechanismen des weiblichen Orgasmus – keinerlei Rechnung trägt, deutete bisher, in unserer liberalen Zeit, stets an, dass es doch bestimmt irgendwie die Schuld der Frau sei, wenn sie Schwierigkeiten habe, zum Orgasmus zu kommen: Sie sei sicher zu gehemmt, zu unerfahren oder nicht «offen» genug für ihren Körper.

Dr. Cole räusperte sich taktvoll. Höflich versuchte er, meine Aufmerksamkeit auf meine eigene missliche Lage zurückzulenken.

 

Dr. Cole überwies mich zu Dr. Ramesh Babu, einem Neurochirurgen am New York Hospital, und auch das war ein außerordentlicher Glücksfall. Ich war – vielleicht irrationalerweise – sofort beruhigt, als ich entdeckte, dass Dr. Babu, ein weltmännisch gekleideter und charismatischer indischer Arzt, in sein Regal zwischen all der neurowissenschaftlichen Literatur die gleiche kleine Statue von Guanyin, der chinesischen Göttin des Mitgefühls, gestellt hatte, wie sie auch in meinem Regal zu Hause stand. Dr. Babu bot mir einen Apfel an und eröffnete mir dann bestimmt, aber freundlich, dass es notwendig sei, unverzüglich zu operieren. Erschreckenderweise wollte er mir zusammen mit einer Reihe von Metallschrauben eine lange Metallplatte in den unteren Rücken einpflanzen und so die beschädigten Wirbel versteifen. Zum Glück war sein Wille so eisern wie meiner.

Ich vereinbarte einen OP-Termin. Nach einer vierstündigen Operation erwachte ich furchtbar zerschlagen in einem Klinikbett als frischgebackene Besitzerin dieser Metallvorrichtung, die die Wirbel in meinem unteren Rücken mit vier Schrauben fixierte. Ich hatte eine vertikal verlaufende Narbe auf dem Rücken, die mein Partner – in dem Bemühen, mich zu beruhigen – in Anspielung auf die Punkrockband gleichen Namens als «sehr Nine-Inch-Nails-mäßig» bezeichnete. All diese Veränderungen waren jedoch zu vernachlässigen, verglichen mit der neuen Hoffnung, dank meiner entlasteten Beckennerven mein verlorenes geistiges und kreatives Leben zurückzugewinnen.

Nach drei Monaten durfte ich wieder Geschlechtsverkehr haben. Ich fühlte mich besser, aber noch nicht vollkommen wiederhergestellt. Ich wusste, dass die Regeneration der Nerven viele Monate dauern konnte, falls sie sich überhaupt einstellte. Über sechs Monate hinweg kam ich stetig wieder zu Kräften und wartete so gespannt wie ängstlich darauf, was in meinem Kopf vor sich gehen würde, sobald die Beckennerven – wenn überhaupt – wieder ganz frei von jeglicher Blockierung waren. Würden sich die Nerven vollkommen erholen? Und was noch wichtiger war: Würde sich mein Geist vollkommen erholen? Würde ich wieder jene emotionale Freude, jene Verbindung zwischen allen Dingen spüren können?

Dank Dr. Babu und vielleicht auch dank jenes Wesens im Kosmos, das mein Rufen erhört haben mag, genasen meine Nerven vollständig, was niemand aus dem behandelnden Team als selbstverständlich vorausgesetzt hatte. Diese besondere Art der neuronalen Kompression wird selten in medizinischen Fachzeitschriften beschrieben, auch wenn sie nicht gänzlich unbekannt ist; ich bin sozusagen eine wandelnde Kontrollgruppe, wenn es darum geht, die Impulswirkung der Beckennerven auf das weibliche Gehirn zu studieren. Da die Informationen zu diesem Thema so spärlich sind, empfinde ich es als meine Schuldigkeit den Frauen gegenüber, niederzuschreiben, was als Nächstes geschah.

Während meine verlorengegangene Empfindsamkeit im Becken allmählich zurückkehrte, kehrten auch meine verloren geglaubten Bewusstseinszustände zurück. Langsam, aber sicher wurde der Sex für mich auch wieder ein emotionales Erlebnis, während die innere Sensibilität neu erwachte und mir die gewohnten, «gemischten» vaginal-klitoralen Orgasmen wieder möglich waren. Diese sexuelle Genesung war für mich wie der Übergang in Der Zauberer von Oz, wenn Dorothy aus dem schwarz-weißen Kansas ins bunte, magische Oz tritt. Nach dem Orgasmus flutete wieder Licht durch die Welt um mich herum, und ich war wieder gesellig, wenn ich Sex gehabt hatte – ich wollte reden und lachen. Nach und nach kam das Gefühl einer tiefen emotionalen Verbundenheit wieder, einer postkoitalen kreativen Euphorie, einer Freude an mir selbst und meinem Liebsten, Selbstvertrauen und Redseligkeit sowie ein Empfinden, das ich für immer verloren geglaubt hatte, nämlich dass alles auf eine ganz existenzielle Art und Weise gut war.

Erneut empfand ich nach der körperlichen Liebe eine gesteigerte Verbundenheit mit allem um mich herum, die die romantischen Dichter und Maler «das Erhabene» nannten: das Gefühl einer spirituellen Dimension, die alle Dinge vereint – Anflüge einer Wahrnehmung, dass alle Dinge vor Licht geradezu bebten. Auch das kehrte zurück, und ich empfand es als unermessliches Glück. Es genügte mir, von Zeit zu Zeit einen kurzen Blick darauf zu erhaschen.

Ich erinnere mich daran, dass ich wieder im Schlafzimmer in dem kleinen Landhaus lag; mein Partner und ich hatten eben miteinander geschlafen. Ich sah aus dem Fenster auf die Bäume, die gerade ihre Blätter abwarfen, während der Wind in großen Wellen durchs Geäst fuhr; all das wirkte wie ein intensiv einstudierter Tanz, in dem alles in der Natur etwas ausdrückte. Die sich wiegenden Grashalme, die winkenden Äste der Bäume, die unsichtbar in den fleckigen Schatten singenden Vögel wirkten wieder, als würde alles mit allem kommunizieren. Ich dachte: Es ist wieder da.

Mit diesem Erlebnis begann eine Reise: hin zu einem besseren Verständnis dessen, was mit meinem Geist geschehen war, sowie des Körpers und der Sexualität der Frau.

 

In den folgenden beiden Jahren lernte ich noch viel mehr über die weiblichen Beckennerven hinzu, als ich bisher gewusst hatte – was nicht schwer war, da ich wie die meisten Frauen rein gar nichts gewusst hatte. Und es stellte sich heraus, dass dies gewissermaßen der Schlüssel zum Geheimnis der Weiblichkeit war.

Wenn ich in diesem Buch den Begriff «Vagina» benutze, meine ich damit etwas anderes als das, was er rein technisch bedeutet. Medizinisch gesehen bedeutet «Vagina» nichts weiter als die Scheide. Ich benutze ihn, wenn nicht anders angegeben, für etwas, für das wir eigenartigerweise kein spezielles Wort haben: nämlich für das gesamte weibliche Geschlechtsorgan von den Schamlippen über die Klitoris und Scheide bis hin zum Gebärmutterhals.

Auch wenn wir das Wort «Vagina» in diesem umfassenderen Sinn gebrauchen, neigen wir doch immer noch dazu, sie in sehr beschränkender Weise zu betrachten: nämlich als jene Partien unseres Körpers zwischen den Beinen, die wir sehen und anfassen können – die Vulva und die Klitoris –, beziehungsweise jenen Teil, den wir noch mit den Fingern innerhalb unseres Körpers erreichen können – den Scheidenkanal. Doch wir haben die Vagina schrecklich falsch verstanden, wenn wir sie auf die Hautoberfläche und die erwähnten inneren Membranen reduzieren.

Die Vulva, Klitoris und Scheide sind nur die augenfälligsten Teile dessen, was wirklich mit uns los ist. Es ist buchstäblich weit, weit komplexer und liegt jenseits dieser tastbaren Oberflächen. Die Vulva, Klitoris und Scheide versteht man am besten, wenn man sie als die Oberfläche eines Ozeans begreift, den unter Wasser pulsierende Netze von Blitzen durchzucken – komplizierte und fragile, individuell verschiedene Nervenbahnen. All diese Netze senden unablässig ihre Impulse an Rückenmark und Gehirn, die wiederum durch andere Fasern in denselben Nervenbahnen neue Impulse hinabfunken, um eine vielfältige Wirkung hervorzurufen. Dieses dichte Geflecht von Nervenbahnen durchzieht den gesamten Beckenraum weit unterhalb der Haut des äußeren Genitalbereichs und der inneren Scheidenhaut (auch wenn letzterer Begriff ebenfalls medizinisch-technisch unzutreffend ist: Die Haut in der Scheide wird mit einem der vielen unangenehmen Termini, die wir für etwas so Wunderbares haben, als «Schleimhaut» oder «Mukosa» bezeichnet).

Aus den Netter-Bildern, die online gestellt sind, können Sie ersehen, dass Ihr herrliches, kompliziertes Netzwerk von Nervenbahnen mit Ihrem Rückenmark verknüpft ist. Diese Nervenbahnen «feuern» fortwährend, wie die Neurologen es nennen, elektrische Impulse ab – je nachdem, was gerade mit Ihrer Klitoris, Vulva und Vagina geschieht.

Lassen Sie mich eine zweite Metapher einführen. Stellen Sie sich vor, Sie hätten einen Klumpen Seetang am Strand gefunden, den Sie nun aufheben wollen. Die schwereren Teile bleiben in einem Geflecht im Sand liegen, doch einige Stränge werden daraus vertikal in die Höhe gezogen. Genauso ist unser Nervennetzwerk angelegt: Es sieht wie ein wirres Knäuel aus hunderttausend goldenen Fäden aus, die daraus hervorragen. Die meisten davon sammeln sich im Becken, doch einzelne Stränge reichen hinauf bis zum Rückenmark und zum Gehirn. Netter-Bild 3093 veranschaulicht dies.[5]

Die Beckennerven nehmen im unteren Rücken bei den Sakralwirbeln ihren Anfang. Von dort verästeln sie sich immer weiter in tiefer führende Nervengeflechte, u.a. in das Gebärmutter-Vagina-Nervengeflecht und die beiden Nervengeflechte des Rektums und der Blase. Auch der Schamnerv, der mit seinen drei Ästen Klitoris, Schamlippen, Damm und Anus innerviert, entspringt bei den Sakralwirbeln. Zu all den Wundern Ihrer unglaublichen Nerven und ihrer zahlreichen Seitenstränge zählt, dass sie, wie wir gesehen haben, bei jeder Frau auf Erden vollkommen einzigartig und individuell gestaltet sind – nicht bei zwei Frauen ist dieses Geflecht gleich.

Wie Sie aus den Netter-Bildern ersehen können, ist das Nervengeflecht im weiblichen Becken höchst komplex. Diese Komplexität ist ein Grund für die Individualität seiner Ausprägung. Weit einfacher «gestrickt» zu sein scheint im Gegensatz dazu das Nervengeflecht im männlichen Beckenraum, das in einem sehr regelmäßigen, fast schematisierten Gitter aus Nervenbahnen zusammenläuft, einem regelrechten Kreis der Lust rund um den Penis. Die größere Komplexität der sexuellen Innervierung bei uns Frauen ist darauf zurückzuführen, dass wir Organe sowohl für die Fortpflanzung als auch für den Sex besitzen – etwa den Gebärmutterhals und die Gebärmutter –, die Männer nicht haben.

Vom weiblichen Becken aus verlaufen viel mehr Nervennetze zum Rückenmark als vom Penis aus. Das können Sie den Netter-Bildern «Innervation of External Genitalia and Perineum», «Innervation of Female Reproductive Organs» und «Innervation of Male Reproductive Organs» entnehmen.[6] Das weibliche Nervengeflecht ist eindeutig diffuser als das männliche, und es laufen viel mehr Prozesse darin ab: Bei Frauen lässt sich ein Cluster neuronaler Aktivität an der Gebärmutter feststellen, zu beiden Seiten der Vagina, am Rektum, an der Blase, der Klitoris und entlang des Damms. Im männlichen Becken hingegen lassen sich weniger abgegrenzte neuronale Cluster feststellen. (Der Damm liegt zwischen Anus und Vagina: Lassen Sie mich hervorheben, dass es das hier liegende Dammnervengeflecht ist, das – wie ein Arzt, der diesen Abschnitt las, alarmiert bemerkte – «bei einem Dammschnitt im Verlauf einer schwierigen Geburt routinemäßig durchtrennt wird». Wie ich schon in Misconceptions – Truth, Lies and the Unexpected on the Journey to Motherhood dargelegt habe, werden in Amerika und Westeuropa bei normal verlaufenden Geburten unnötigerweise Dammschnitte vorgenommen, obwohl sie eigentlich nicht erforderlich sind, säßen den Kliniken nicht der wirtschaftliche Druck der Liegezeiten und eventuell drohende Prozesse im Nacken. Kein Wunder, dass in Amerika und Westeuropa Frauen nach der Entbindung und vor allem nach einem Dammschnitt über ein eingeschränktes sexuelles Empfinden klagen, zumal die Krankenhäuser oder Ärzte sie fast nie darüber aufklären, dass ein Dammschnitt ein Nervengeflecht der Geschlechtsorgane durchtrennt.)[7]

Wenn Sie sich das Muster der neuronalen Netzwerke in den Netter-Bildern und den Illustrationen in diesem Buch ansehen, werden Sie bemerken, dass wir Frauen dazu geschaffen sind, Lust zu empfinden und auf Orgasmustrigger zu reagieren, und zwar in Form von geschickter, zärtlicher und rhythmischer Druckausübung auf viele, viele Teile unseres Körpers. Das pornografische Modell des Geschlechtsverkehrs – selbst das konventionelle Modell des Geschlechtsverkehrs in unserer Kultur, der schnell, zielgerichtet, geradlinig ist und sich auf die Stimulation von vielleicht einem oder zwei Bereichen des weiblichen Körpers konzentriert – funktioniert einfach nicht für viele Frauen, oder jedenfalls nicht nachhaltig: Denn er spricht ja nur den an der Oberfläche liegenden Teil des weiblichen Erregungsapparats an.

Bei manchen Frauen entspringen die meisten Nervenbahnen in der Klitoris; ihre Vagina ist weniger gut innerviert – sprich weniger gut neuronal versorgt. Diese Frauen werden die klitorale Stimulation als sehr lustvoll empfinden und weniger die Penetration. Andere Frauen besitzen viele Nervenenden in der Vagina und kommen leicht durch Penetration zum Höhepunkt. Die dritten mögen viele Nervenenden im Damm oder am Anus haben – sie bevorzugen eher Analsex und sind in der Lage, dadurch zum Orgasmus zu kommen, während das eine neuronal anders vernetzte Frau völlig kaltlässt oder ihr sogar Schmerzen bereitet. Bei einigen Frauen liegen die Beckennerven dicht unter der Hautoberfläche, sodass es ihnen leichter fällt zu kommen; bei anderen sind sie tiefer ins Gewebe eingebettet, sodass sie und ihre Partner mehr Geduld und Einfallsreichtum an den Tag legen müssen, da der Höhepunkt schwieriger zu erreichen ist.

Kulturelle Prägung und Erziehung haben definitiv Einfluss darauf, wie Sie zum Orgasmus kommen oder ob überhaupt. Aber das ist noch nicht alles. Dieses Thema überhäuft Millionen von Frauen unnötigerweise mit Schuld- und Schamgefühlen oder führt dazu, dass sie sich im Gegenteil – je nach Vorliebe – wie leicht Perverse vorkommen. Haben Sie das Gefühl, dass Sie Ihren Partner oder Ihre Partnerin zu etwas vergewaltigen, weil Sie (anders als seine oder ihre letzte Freundin) vor allem einfach Oralsex von ihm oder ihr wollen? Ist es Ihnen peinlich, darum zu bitten, dass beide Körperöffnungen stimuliert werden? Brauchen Sie manchmal länger, als Ihnen lieb ist, um zum Höhepunkt zu kommen, oder haben Sie manchmal grundsätzlich Schwierigkeiten damit? Hey: Das ist nicht die Schuld Ihrer Großmutter, die Sie dazu verdonnert hat, mit den Händen über der Bettdecke einzuschlafen, oder der sittenstrengen Nonnen in der Mittelstufe. Sie sind nicht weniger ein sexuelles Wesen oder notwendigerweise gehemmter als seine letzte Freundin. Welche Vorlieben und Bedürfnisse Sie im Bett auch haben – als Frau in all ihrer Wandelbarkeit –, diese Präferenzen sind womöglich auf nichts anderes als Ihre körperliche Veranlagung zurückzuführen.

2Ihr verträumtes vegetatives Nervensystem

Das läßt mein

Herz im Innern mutlos zusammenkauern.

Blick ich dich ganz flüchtig nur an, die Stimme

stirbt …

es über-

rauscht meine Ohren,

mir bricht der Schweiß aus, rinnt mir herab, es beben

alle Glieder, fahler als trockne Gräser

bin ich, einer Toten beinahe gleicht mein

Aussehn …

Sappho, Fragment[1]

Für Frauen gehört zur sexuellen Reaktion ein veränderter Bewusstseinszustand. Dessen Veränderung erfolgt abhängig von Ihrem verträumten vegetativen oder autonomen Nervensystem, kurz VNS bzw. ANS. Dieses System, das alle Kontraktionen der glatten Muskulatur in Ihrem Körper kontrolliert, umfasst den Sympathikus und den Parasympathikus und steuert sämtliche Vorgänge in Ihrem Körper, die unbewusst ablaufen. Beide Teilsysteme arbeiten Hand in Hand. Bei der Frau ist die Biologie der sexuellen Erregung komplizierter, als die meisten von uns wissen, und sie ist maßgeblich an dieses empfindliche, magische, nur langsam zu besänftigende und leicht zu störende System gekoppelt.

Natürlich geht dem Orgasmus die Erregung voraus. Damit das Netzwerk der Beckennerven seine Arbeit tun kann, muss zunächst das autonome Nervensystem tätig werden. Die Forscher Cindy Meston und Boris Gorzalka entdeckten 1996, dass der weibliche Sympathikus mitbestimmt, ob die sexuelle Erregung bei einer Frau erfolgreich beziehungsweise überhaupt möglich ist.[2]

Das autonome Nervensystem bahnt den neuronalen Impulsen von Vagina, Klitoris und Schamlippen den Weg zum Gehirn. Dieses faszinierende System reguliert die Reaktion der Frau auf die Entspannung und Stimulation durch die «Göttinnenmatrix», also das Liebesspiel ihres Partners oder ihrer Partnerin. Das ANS steuert innerkörperliche Vorgänge, die wir bewusst nicht kontrollieren können. Hierzu gehören viele der körperlichen Reaktionen, die mit sexueller Erregung und Orgasmus zusammenhängen, so etwa die Atmung, das Erröten, die Durchblutung der Haut und der Corpora cavernosa – also der schwammartigen Klitorisschwellkörper, die sich mit Blut füllen, damit die Klitoris «erigieren» kann –, die Durchblutung der Scheidenwände, die notwendig ist, um einen Feuchtigkeitsfilm zu erzeugen, die Erhöhung der Herzschlagfrequenz, die Erweiterung der Pupillen und so fort.

Das Gehirn nimmt Einfluss auf das ANS, das wiederum auf die Vagina einwirkt; so ist es möglich, dass Sie, sofern Sie eine Frau sind, an Ihren Partner denken, erregt werden und plötzlich feucht sind. Doch die Vagina nimmt ihrerseits auch Einfluss auf das Gehirn, das wiederum auf das ANS einwirkt. Es ist eine fortwährende Feedbackschleife. Eine als positiv empfundene Berührung der Klitoris oder Vagina sendet das Signal ans ANS, eine komplexe Reihe von fast unmerklichen Veränderungen im Körper der Frau auszulösen. Diese eine Berührung – sofern sie vorsichtig und kundig und sensibel für die Reaktion der Frau bleibt – verändert die Atmung dergestalt, dass die Frau schwerer zu atmen oder sogar zu keuchen beginnt. Ihr Herzschlag beschleunigt sich, und damit steigt auch ihr Blutdruck; dies wiederum rötet ihre Haut, ihre Brustwarzen richten sich auf, und ihr ganzer Körper wird empfindsamer. Ihr beschleunigter Herzschlag schickt, wenn die Stimulation durch den Partner weiterhin achtsam und aufmerksam erfolgt, rhythmisch Blut in die Blutgefäße des Beckenraums, die sich als kompliziertes Äderchengeflecht u.a. bis in die Schamlippen, die Klitoris und die Scheide verästeln, und lässt sie anschwellen. Dieses Anschwellen der Blutgefäße vergrößert sowohl die kleinen als auch die großen Schamlippen, was sie noch empfänglicher für Lustgefühle macht; es lässt die Klitoris erigieren, was es dieser gestattet, uns die Lust noch viel deutlicher spüren zu lassen als sonst; außerdem hilft es, die Scheidenwand mit einem Feuchtigkeitsfilm zu überziehen.

Diese maximale Aktivierung des ANS macht eine Frau ganz heiß auf die Liebe und ermöglicht es ihr, diese in allen Dimensionen zu erleben. Doch damit dieser Prozess zum Abschluss kommen und Erfüllung finden kann, muss die Stimulation ohne Eile und umsichtig der Reaktion der Frau angepasst werden. Dieser Vorgang erfordert Aufmerksamkeit und Zeit. Wie wir sehen werden, steigert eine entspannte Herangehensweise die ideale Aktivierung des ANS noch – und «schlechter Stress» stört sie.

Wirklich nur, wenn das ANS vollständig aktiviert ist, wird das «große Dahinschmelzen» oder der «ultimative Orgasmus» der Frau möglich – den ich (obwohl unser Vokabular rund um die sexuelle Erregung der Frau so unzureichend ist) als jenen Orgasmus bezeichnen möchte, der auf intensivste Weise den tiefstmöglichen Trancezustand induziert und alle Körpersysteme einbezieht, sodass sich die Frau ganz und gar erfüllt fühlt und auch die Aktivität ihrer Hirnchemie das höchstmögliche Niveau erreicht. In unserem Kulturkreis wissen wir über die Aktivierung des Nervennetzwerks im Beckenraum Bescheid – wir wachsen damit auf, das «Sex» zu nennen (auch wenn unser allgemeines Verständnis dieses Netzwerks viel zu oberflächlich ist, wie wir schon gesehen haben). Doch bei der Frau dreht sich die volle sexuelle und emotionale Erfüllung um eine Idee, die unserem Diskurs über Sex bislang fremd ist: Aktivierung. Ideal ist die Aktivierung des gesamten weiblichen ANS – also von Atmung, Befeuchtung und Herzschlag –, was wiederum das Anschwellen der Vagina, muskuläre Kontraktionen und den Orgasmus herbeiführt: Wenn eine Frau an Sex denkt, lösen äußere Stimuli schon vorab die Ausschüttung von Dopamin aus; durch den Orgasmus werden Opioide und Oxytocin freigesetzt. In unserem Kulturkreis wachsen die meisten Menschen damit auf, den «Aktivierungsniveaus» der Frau nicht viel Bedeutung beizumessen. Wenn die ANS-Reaktion einer Frau ignoriert wird, kann sie Geschlechtsverkehr haben und zum Höhepunkt kommen; doch sie wird nicht notwendigerweise Befreiung, Verzückung, Erfüllung oder Liebe empfinden, denn nur ein oberflächlicher Teil ihrer Reaktionskapazitäten wurde angesprochen oder einbezogen.

Das ANS reagiert ebenfalls auf das weibliche Gefühl für Sicherheit oder Gefahr. Es sendet dem Gehirn und von dort aus dem restlichen Körper das Signal, dass sie in Sicherheit ist, sodass sie sich entspannen, essen und verdauen oder entspannen und schlafen oder entspannen und Sex haben kann. Die «Entspannungsreaktion», ein wirkungsvolles Phänomen, das im Westen 1975 von Dr. Herbert Benson entdeckt wurde (aber schon lange vorher vielen östlichen Kulturen wohlbekannt war), tritt ein, wenn Sie sich so weit entspannen, dass Ihr Gehirn die Heilungsarbeit des ANS begünstigt – und die Effektivität dessen unterstützt, was Ihr Körper tut und was nicht Ihrer bewussten Kontrolle unterliegt.[3] Mittlerweile gibt es tatsächlich Hunderte von Studien, die die Kraft der Entspannungsreaktion wie auch ihren Nutzen für Körper und Geist belegen, von einer schnelleren Wundheilung nach Operationen über eine verbesserte Konzentrationsfähigkeit bis hin zu einer sinkenden Zahl von Herzerkrankungen.

Diverse jüngere Studien zeigen, dass die Entspannungsreaktion noch wichtiger für die sexuelle Erregbarkeit der Frau ist, als wir dachten. Wie bereits gesehen, bewies die Studie von Dr. Georgiadis und seinem Team, dass, während die Frau auf den Orgasmus zusteuert, jene Hirnareale deaktiviert werden, die das Verhalten steuern.[4] Man könnte sagen, dass sie aus biochemischer Sicht zur wilden Frau oder Mänade wird. Sie wird so enthemmt und unempfindlich für Schmerz, als würde sie sich in einem anderen Bewusstseinszustand befinden. Eine Frau, die einen Orgasmus erlebt, dringt tiefer in diesen Trancezustand vor als in jeder anderen Situation. Ihr Urteilsvermögen wird dabei außer Kraft gesetzt, ja, die Frau spürt selbst Schmerzen nicht auf dieselbe Weise wie im Normalzustand.

Das ANS bringt sie an diesen Punkt; es lässt die Frau entspannen, tief atmen, kurbelt die Durchblutung an den richtigen Stellen an, verschafft ihr den Energiekick ausgeschütteten Dopamins und führt sie schließlich – geschützt – in jene Art von Trancezustand, die ich oben beschrieben habe. Gleichzeitig spürt sie intensivste Unterleibskontraktionen, die sie ermüden, ermatten und überschwemmen mit Wellen aus Opioiden und Oxytocin – Glückseligkeit und Zärtlichkeit, die wiederum Eingang in ihr Leben und ihre Beziehungen finden.

Der Haken ist nur: Wir können das ANS nicht willentlich beeinflussen. Wir können ihm nicht sagen: «Mach mich geil.» Das trifft auch auf andere Vorgänge zu, die es reguliert: So können wir das Einschießen der Milch nicht kontrollieren, wie viele junge Mütter erst lernen müssen; ebenso wenig können wir die Verdauung absichtlich beschleunigen oder verzögern oder leichter entbinden. Wie viele Frauen (und Männer) zu ihrer Enttäuschung erfahren müssen, kann es umso schwieriger werden, zum Höhepunkt zu kommen, je mehr man sich anstrengt.

Um den transzendentalen Zustand zu erreichen, der das weibliche Gehirn in den Orgasmus katapultiert, muss frau sich absolut sicher fühlen – sicher vor schlechtem Stress, und zwar durch das Wissen, dass sie in besagten Trancezustand in Gegenwart eines anderen Menschen eintritt, der sie beschützen wird, wenn das nötig sein sollte, und sie nicht in Gefahr bringt oder in eine Situation, die sich ihrer Kontrolle entzieht. Der Trancezustand ist ja eine schöne Sache, wenn wir uns gerade in einer Hotelsuite in der Karibik befinden, aber was hat er unseren Urahninnen gebracht, wenn sie mitten in der Savanne ein verstohlenes Schäferstündchen hatten? Es liegt auf der Hand, dass es ziemlich gefährlich und damit evolutionär nicht sinnvoll gewesen wäre, angesichts wilder Tiere oder Angreifer von einem feindlichen Stamm oder anderer Bedrohungen in diesen Trancezustand einzutreten. Diese biologische, evolutionäre Verknüpfung zwischen potenzieller Ekstase und emotionaler Sicherheit enthält Implikationen, die gar nicht deutlich genug herausgestrichen werden können. Entspannung ist die Voraussetzung für die sexuelle Erregbarkeit einer Frau.