Valentina 3 - Geheimnisvolle Verführung - Evie Blake - E-Book

Valentina 3 - Geheimnisvolle Verführung E-Book

Evie Blake

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Beschreibung

Wer Liebe sucht, muss seine Fesseln lösen

Ein prickelnder Auftrag führt die italienische Fotografin Valentina Rosselli nach New York. Dort erwarten sie lustvolle Entdeckungen und überraschende sexuelle Begegnungen ... Doch je weiter Valentina in diese neue, verruchte Welt abtaucht, desto deutlicher merkt sie: Ihr Herz gehört Thomas Steen. Dem Mann, der einst alles für sie getan hätte – und der sie vor ihre größte Herausforderung stellte. Ist sie jetzt endlich bereit, sie anzunehmen? Und wird es ihr gelingen, Thomas zurückzuerobern?

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Seitenzahl: 543

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Evie Blake

Valentina.GeheimnisvolleVerführung

Roman

Aus dem Englischen von Charlotte Seydelund Veronika Dünninger

Die englische Originalausgabe erscheint 2013unter dem Titel »Valentina Unlocked« bei Headline, London.

1. AuflageDeutsche Erstveröffentlichung November 2013bei Blanvalet, einem Unternehmender Verlagsgruppe Random House GmbH, München.Copyright © der Originalausgabe 2013 by Noelle HarrisonFreely inspired by the character Valentina by Guido Crepax© Character and storyline Guido Crepax, Crepax Estate. All rights reserved.Negotiated by Vicki Satlow Literary AgencyCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013by Blanvalet, in der Verlagsgruppe Random House GmbHDas Gedicht von E. E. Cummings wird zitiert nach: E. E. Cummings, erotic poems. Erotische Gedichte,C. H. Beck, München, 2011, übersetzt von Lars Vollert.Umschlaggestaltung und -motiv: Johannes Wiebel | punchdesignunter Verwendung von Motiven von Shutterstock.comRedaktion: Ivana MarinovicES · Herstellung: samSatz: DTP Service Apel, HannoverISBN: 978-3-641-12786-2www.blanvalet.de

Für Barry, den Schöpfer meines Herzens.

(teure, ich werdedich berühren mit meinem geist.) Dichberühren, das ist alles,sanft und du wirst völlig werdenmit endloser leichtigkeitdas gedicht das ich nicht schreibe.

(E. E. Cummings, Erotische Gedichte)

Tina1989

Tina hält Valentinas Hand fest in ihrer. Die Hand ihrer kleinen Tochter fühlt sich angenehm kühl an, denn obwohl es ein bitterkalter Novembertag ist, treibt die Aufregung Hitzewellen durch Tinas Körper. In ihrer Handfläche hat sich ein Schweißfilm gebildet, und es kommt ihr vor, als würde sie mit der ihrer Tochter verschmelzen. Während sie sich gemeinsam an den vielen Menschen vorbeischlängeln, hat sie das Gefühl, eins mit ihrer Tochter zu sein. In der Menge sucht Tina nach Karel. Sie mochten sich zwar fünf Jahre nicht gesehen haben, doch sein unglaublich schönes Gesicht wird sie nie vergessen. Sie ist sicher, dass sie ihn finden wird.

Jetzt ist es endlich so weit, Tina kann es kaum noch erwarten. Sie sieht die Ostberliner über den Grenzübergang Bornholmer Straße strömen. Sie ist überzeugt, dass Karel unter ihnen ist. Hatten sie es sich nicht versprochen? Wenn die Mauer fiele, egal wann, egal wie, würde Tina auf ihn warten. Sie sollte sich fünf Tage nach Grenzöffnung um zwölf Uhr mittags an dem Grenzübergang einfinden, den man zuerst geöffnet hatte. Tina blickt auf ihre Armbanduhr. Es ist fünf Minuten vor zwölf, in wenigen Minuten wird Valentina ihren Vater kennenlernen.

Die letzten Tage waren ihr irgendwie surreal vorgekommen. Nie wird Tina vergessen, wie sie die Abendnachrichten eingeschaltet hat und auf einmal dieses Interview mit dem Journalisten der italienischen Presseagentur sah. Es war ein Tag wie jeder andere gewesen, ausgefüllt mit Arbeit und ihren Mutterpflichten. Am Vormittag hatte sie Fotoaufnahmen für die Elle gemacht. Am Nachmittag war sie mit Valentina in den Park gegangen und hatte sie auf der Schaukel angestoßen, bis es zu kühl wurde. Auf dem Nachhauseweg hatte Tina etwas zu essen gekauft und vor der Wohnung ein paar Worte mit ihrer Nachbarin gewechselt. Während die Tomatensauce im Topf vor sich hin simmerte und Valentina am Wohnzimmertisch saß und malte, hatte Tina mit ihrem Sohn Mattia in Amerika telefoniert. Valentina war ein sehr unkompliziertes Kind, das nie viel Aufmerksamkeit forderte. Tina verabschiedete sich von Mattia und nahm die Sauce vom Herd. Sie hatte sich gerade auf einen Stuhl gesetzt und gelangweilt, an einem Glas Wein nippend ferngesehen, als das Programm plötzlich unterbrochen und ein Interview mit dem SED-Politbüromitglied Günter Schabowski gesendet wurde. Ein Journalist fragte aufgeregt, wann das neue Gesetz in Kraft träte, das allen DDR-Bürgern das Passieren der Grenzübergänge zwischen Ost- und Westdeutschland sowie Westberlin erlaube. Noch immer hallten Schabowskis Worte in ihrem Kopf nach:

Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.

Vor Schreck hatte Tina ihr Glas fallen lassen. Es zersplitterte auf dem Boden, und der Rotwein ergoss sich über den Teppich, wo er für immer einen Fleck hinterließ.

Unverzüglich.

Tina sprang vom Sofa auf, klatschte in die Hände und stieß einen leisen Schrei aus. Überrascht blickte Valentina von ihrer Zeichnung auf. Die Berliner Mauer fiel. Tina hatte recht gehabt. Sie hatte Karel gesagt, er solle die Hoffnung nicht aufgeben. Und jetzt würde er endlich frei sein. Nichts auf der Welt konnte sie daran hindern, in fünfTagen an dieser Grenze zu stehen. Es hatte nichts damit zu tun, dass sie Karel noch liebte. Bestimmt war er inzwischen mit einer anderen Frau zusammen, und das war gut so, sie hatte schließlich Phil. Sie fuhr nicht ihretwegen dorthin, sondern wegen ihrer Tochter. Das ist Valentinas einzige Chance, ihren leiblichen Vater kennenzulernen.

»Mir ist kalt, Mama.« Valentina zittert neben ihr.

»Jetzt dauert es nicht mehr lang, mein Schatz«, beruhigt Tina sie.

»Wo sind wir hier?«, jammert die Kleine. »Ich will nach Hause.«

Tina will Valentina erst von Karel erzählen, wenn er da ist. Sie will sie auf keinen Fall unnötig aufregen. Tina muss erst wissen, dass Karel Valentina noch immer kennenlernen will.

Sie geht auf den Grenzposten zu und beobachtet, wie die Ostberliner in Massen über die Brücke strömen. Die meisten wollen offenbar nur einen Tag auf der anderen Seite verbringen, den Westen kennenlernen, und dann wieder nach Hause zurückkehren. Aber andere kommen für immer, wanken mit großen Koffern heran oder schieben schwer bepackte Fahrräder neben sich her. Wieder andere haben ihren Trabant vollgeladen.

Tina sieht ihnen zu, während sie wartet und die Minuten verrinnen. Gegen halb eins fängt sie an zu zweifeln. Um eins ist Valentina so kalt, dass ihre Zähne klappern. Was soll Tina tun? Vielleicht ist Karel aufgehalten worden. Doch wenn sie jetzt geht und er kommt, wird sie ihn verpassen. Sie blickt sich um und entdeckt einen Stand mit heißen Getränken und mit Brezeln.

Als Tina einen Becher heißer Schokolade an Valentinas blaue Lippen führt, zittern sie beide. Dem Kind ist so kalt, dass es aufgehört hat zu jammern. Stattdessen zupft Valentina hin und wieder am Ärmel ihrer Mutter, doch Tina darf den Grenzübergang nicht aus den Augen lassen. Sie darf Karel nicht verpassen. Während die Zeit vergeht, beobachtet Tina die Ostberliner, die über die Grenze kommen: Einige strahlen, andere weinen. Autohupen ertönen, es herrscht allgemeiner Jubel. Dazwischen spielen sich bewegende Szenen ab. Familien finden wieder zueinander und fallen sich weinend in die Arme. Und noch immer wartet Tina auf Karel. Im Geiste fleht sie ihn an zu kommen. Doch die Menge strömt weiter über die Brücke, und er ist nicht darunter. Tina blickt erneut auf ihre Armbanduhr, und zu ihrem Entsetzen ist es bereits drei. Sie war sich so sicher gewesen, dass er kommen würde.

Als Phil an jenem Abend spät nach Hause kam, hatte Tina es nicht abwarten können, ihm die Neuigkeiten über die Berliner Mauer zu erzählen.

»Hast du es schon gehört?«, fragte sie und stürzte in den Flur, noch bevor er den Mantel ausgezogen hatte.

»Was?« Er war ganz grau im Gesicht und sah schrecklich müde aus. Sein Anblick versetzte Tina einen Stich, sie machte sich Sorgen um ihn.

»Die Berliner Mauer … sie ist offen.«

»Wirklich?« Seine Augen hellten sich auf. Er ging ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein. Dort zeigte man Bilder von Ostberlinern, die über die Grenze an der Bornholmer Straße stürmten und die Bösebrücke überquerten.

»Das ist ja fantastisch«, freute sich Phil. »Wir sind Zeugen eines historischen Moments.«

Tina legte eine Hand auf seinen Arm, und er wandte sich zu ihr um.

»Lass uns nach Berlin fahren«, bat sie.

»Was? Jetzt? Um zuzusehen, wie die Mauer fällt?«

»Nein, ich meine, lass uns dort eine Weile leben. Du hast gesagt, wir sollten Italien verlassen und … jetzt ist die Grenze offen.« Sie deutete mit dem Kopf auf Valentina. »Sie kann ihn kennenlernen.«

Phil blickte sie ungläubig an.

»Das ist nicht dein Ernst, Tina.«

»Doch, natürlich«, entgegnete sie. »Ich habe Karel versprochen, fünfTage nach Öffnung der Grenze mit Valentina dort zu sein.«

»Aber sie kennt ihn nicht, Tina. Für sie bin ich ihr Vater.«

»Aber du bist nicht ihr Vater, Phil. Er ist ihr leiblicher Vater. Sie muss ihn kennenlernen.«

Phil hatte verletzt ausgesehen.

»Du weißt, dass ich sie liebe«, sagte er.

»Es tut mir leid, das weiß ich.« Sie bemerkte, dass sie etwas schroff klang. »Du bist ein wunderbarer Vater, aber verstehst du denn nicht, dass ich Karel verspochen habe, Valentina zu ihm zu bringen?«, fügte sie etwas weicher hinzu.

»Kann er nicht herkommen?«

»Das wird er deinetwegen nicht tun. Da bin ich mir sicher.«

»Das ist verrückt, Tina. Wie willst du ihn überhaupt finden? Du suchst die berühmte Stecknadel im Heuhaufen.«

»Wir haben eine Vereinbarung. Wir haben es einander versprochen.«

»Wie romantisch«, stellte Phil sarkastisch fest.

»Ich will, dass du mitkommst, Phil. Dass wir alle zusammen fahren.«

Er schüttelte den Kopf.

»Auf keinen Fall. Wenn du unbedingt fahren und deinen jungen Gigolo treffen willst, dann mach das. Aber ich teile dich nicht mit jemand anders. Nicht mehr.«

»Was meinst du mit ›nicht mehr‹?«

Er musterte sie mit kühlem Blick, sagte jedoch nichts.

Sein Verhalten verwirrte sie. Das war nicht ihr Phil. Normalerweise war er locker und alles andere als besitzergreifend.

»Ich muss hinfahren, Phil. Ich muss es für Valentina tun. Bitte komm mit.«

»Nein, entweder er oder ich.«

Sie fasste es nicht. Phil musste doch verstehen, wie wichtig es war, dass sie nach Berlin fuhren.

»Das ist nicht fair. Denk an Valentina. Meinst du nicht, dass es ihr Recht ist, Karel kennenzulernen?«

»Sie hat keine Ahnung, wer zum Teufel er ist«, widersprach Phil aufgebracht. »Für sie bin ich ihr Vater. Aber wenn du mich nicht mehr in eurem Leben haben willst, ist das okay. Ich haue ab und lass dich in Ruhe.«

Er war aus dem Zimmer gestürmt und hatte die Tür hinter sich zugeschlagen. Tina war fassungslos. Wieso reagierte er so heftig?

Sie hatte erwartet, dass Phil in jener Nacht zu ihr kommen würde, damit sie darüber reden könnten, aber seine Seite des Betts blieb leer und Tina schlief allein. Am nächsten Morgen fand sie Phils Nachricht, dass er für eine Weile nach London ginge. Tina war zutiefst verletzt und auch wütend auf ihn gewesen. Wie konnte er so selbstsüchtig sein? Sie hatte Karel versprochen, dass er sein Kind kennenlernen würde. Ein solches Versprechen bricht man nicht.

Doch nun scheint Karel es zu brechen. Es sei denn, er ist absolut nicht in der Lage zu kommen. Vielleicht, weil er krank ist oder nicht mehr in Ostberlin lebt. Das kann sie nur herausfinden, indem sie zu seiner Wohnung geht.

Es fühlt sich merkwürdig an, wieder durch die Ostberliner Straßen zu laufen. Hier scheint heute jeder auf dem Weg in den Westen zu sein, sei es für einen Tag oder für immer. Tina findet das Haus in Prenzlauer Berg, in dem Karel gewohnt hat, sofort. Nach dem letzten Mal hätte sie den Weg hierher nie vergessen können. Trotz ihrer einstigen Pracht wirkt die Fassade noch baufälliger als in ihrer Erinnerung. Die Fenster sind dreckig und gesprungen, der Putz bröckelt von den Wänden und entblößt Backsteingemäuer und abblätternde Farbe. Sie tritt durch die Haustür und steigt die Treppe hinauf. Valentina ist müde, zerrt an ihr und nörgelt.

»Komm schon, sei ein braves Mädchen. Wir haben es gleich geschafft«, ermuntert sie ihre Tochter.

Tina denkt an das letzte Mal, als sie in diesem Gebäude war. Karel hatte sie die Treppe hochgetragen, sie waren beide schneebedeckt. Das kühle Nass schmolz in ihrem Schoß, gewärmt von der Hitze seiner Brust. Sein Herzschlag im Einklang mit dem Herzen seiner kleinen Tochter in ihrem Bauch. Sein Atem auf ihrer Stirn, als er die Schneeflocken von ihrem Scheitel pustete. Seine Gegenwart in diesem Gemäuer fühlt sich plötzlich so real an, dass Tina beinahe den Klang seines Cellos die Treppe herunterschweben hört.

Doch als sie Karels Wohnung erreichen, steht sein Name nicht mehr an der Tür. Die Musik ist verstummt, stattdessen hallt der schrille Ton der Klingel durchs Treppenhaus. Sie umklammert Valentinas Hand und murmelt im Stillen ein Gebet, obgleich sie weiß, dass sie kaum hoffen darf.

Eine stämmige Frau reißt die Tür auf. Sie hat graues Haar, scheint aber nur wenig älter als Tina. Da sie kein Deutsch kann, spricht Tina die Frau auf Englisch an.

»Wohnt Karel Slavik hier?«

Aber die Frau schüttelt lediglich mit einem mürrischen Blick den Kopf.

Bevor Tina fragen kann, ob sie wisse, wo er sei, schlägt sie ihr die Tür vor der Nase zu.

Langsam gehen Mutter und Tochter die Treppe hinunter und zurück auf die Straße. Die Dunkelheit bricht herein. Ein unangenehmer Nieselregen weht ihnen ins Gesicht und durchnässt ihre Mäntel. Sie kann nicht glauben, dass es vorbei ist. Dass sie Karel niemals wieder sehen wird. Und nun hat sie Phil auch noch verloren. Sie ist ganz allein. Plötzlich zittert sie so heftig, dass ihr gesamter Körper zuckt.

»Was ist mit dir, Mama?«, fragt Valentina und sieht mit ihren großen Kinderaugen zu ihr auf.

»Ich bin ein bisschen traurig. Ich fühle mich ein bisschen einsam«, erklärt sie.

»Nicht traurig sein«, antwortet ihre Tochter. »Du bist nicht allein, du hast doch mich.«

Ja, aber das reicht nicht, würde sie am liebsten sagen. Ich brauche einen Mann. Nur dann kann ich mich selbst lieben, mich ganz fühlen.

Zurück im Hotel ist Tina so erschöpft, dass sie in ihren Kleidern einschläft, während sie Valentina eine Gutenachtgeschichte vorliest. In ihrem Traum begegnet sie Karel. Er lebt mit diesen armen Punks von damals in einem verlassenen Haus in der Schönhauser Allee. Er sitzt gelassen auf einem Trümmerhaufen, als sei es der bequemste Ort der Welt. Zwischen seinen Beinen klemmt sein Cello und er wartet auf Valentina und sie. Tina winkt ihm zu.

Wir sind hier, ruft sie, ich habe sie dir mitgebracht.

Karel lächelt ihr zu und blickt voller Stolz auf Valentina hinab. Es ist ein so großherziges Lächeln, so verständnisvoll, mitfühlend und liebevoll. Er ist ein guter Vater. Er hebt seinen Bogen und fängt an zu spielen. Oh, es ist das Stück, das er für Tina komponiert hat. Sie erkennt es sofort wieder. Sie steht vor seiner Burg aus Trümmern und lauscht den Klängen seiner Liebe. Die Melodie trägt Valentina und sie, sodass ihre Füße einen Augenblick über dem Boden schweben. Und während Tina zusieht, wie Karel auf seinem Cello spielt, spürt sie seinen Bogen auf ihrem nackten Körper. Die Saiten streichen über ihre Brüste und ihre Nippel, während seine flinken, geschickten Finger ihr tiefer unten eine Melodie entlocken. Er erspürt die Vibrationen ihres Körpers und bringt ihre Seele zum Schwingen.

Und während er spielt, verwandeln sich die Schatten der heruntergekommenen Häuser in Menschen, denen sie einst in Ostberlin begegnet ist: Sabine und Rudolf, Hermann und Simone, und Lottie. Karel ist das warme strahlende Licht, um das sich alle versammeln.

Tina erwacht schweißbedeckt, ihre Kleider kleben an ihrem Körper. Valentina schläft tief und fest. Tina steht auf und zieht sich aus. Was kann der Traum bedeuten? Dann begreift sie. Es gibt eine letzte Möglichkeit, Karel zu finden. Sie schaltet die Nachttischlampe ein und sucht in der Tasche nach ihrem Adressbuch. Sie holt es heraus und blättert, bis sie Lotties alte Berliner Adresse findet.

Als Lottie am nächsten Morgen ihre Wohnungstür öffnet, erkennt Tina sie auf den ersten Blick. Ihr Punk-Look ist zwar etwas zahmer – die Haare nicht ganz so stachelig, die Augen nicht so stark geschminkt –, doch sie hat immer noch diesen herben Charme, der Tina damals bewogen hatte, sie als Model zu buchen. Lottie starrt sie einen Moment lang sprachlos an, sie ist überrumpelt, sie zu sehen. Schließlich ist das letzte Mal fünf Jahre her.

»Mein Gott, Tina!«, ruft sie endlich. »Und das, ist das da deine Tochter? Hallo.« Sie beugt sich zu Valentina hinunter und reicht ihr die Hand.

»Hallo, freut mich, dich kennenzulernen«, antwortet Valentina höflich auf Italienisch.

»Ach, wie süß.« Lottie richtet sich wieder auf. »Was machst du in Berlin?«, fragt sie überschwänglich. »Na ja, klar, die Mauer ist offen. Ist das nicht aufregend? Seit dem neunten ist hier jeden Tag Party.«

Sie führt ihre Besucher in eine unordentliche Küche.

»Tut mir leid, hier sieht es schlimm aus. Wollt ihr eine Tasse Tee?«

»Nein, danke. Warst du schon drüben?«

»Na klar! Am neunten war ich genau um halb zehn am Brandenburger Tor. Es war unglaublich. Ich habe echt geweint.«

»Hast du dich mit Sabine getroffen? Ihr müsst ein großes Familienfest gefeiert haben.«

Das Thema scheint Lottie unangenehm zu sein, ihre blassen Wangen erröten etwas.

»Ja, meine Eltern sind rübergefahren, um ihre Familie zu treffen«, sagt sie und wechselt das Thema. »Die Atmosphäre in der Stadt ist einfach fantastisch. Endlich sind alle Deutschen vereint.« Sie strahlt.

»Und hast du dich mit Hermann getroffen?«, erkundigt sich Tina weiter.

Lottie verkrampft ihre Hände ineinander, ihr Lächeln erstirbt.

»Hermann ist tot«, sagt sie, wendet den Blick ab und schaut durch das trübe Küchenfenster.

Tina beißt sich auf die Lippe. Warum musste sie so taktlos sein?

»Das tut mir schrecklich leid, Lottie. Was ist geschehen?«, fragt sie sanft.

»Deshalb habe ich den Kontakt zu meiner Cousine Sabine abgebrochen«, erklärt Lottie und bietet Tina mit einer Handbewegung einen Stuhl auf der anderen Seite des Küchentischs an. »Ich hatte immer schon vermutet, dass ihr widerwärtiger Freund bei der Stasi ist, aber es hat sich herausgestellt, dass Sabine selbst ebenfalls als Informantin gearbeitet hat.«

»Aber sie war doch so ein nettes Mädchen«, sagt Tina und denkt zurück an die reizende junge Frau.

»Sie war schwach, nicht nett«, erwidert Lottie bitter. »So hat sie Rudolf überhaupt kennengelernt. Er hat sie verhört, und ich schätze, dass er sie psychisch irgendwie unter Druck gesetzt hat. Er hat ihr Angst eingejagt und sie so zum Spitzel gemacht.«

»Aber was hat das mit Hermann zu tun?«, bohrt Tina weiter.

»Ich habe den Fehler begangen, Sabine von Hermann und Simone zu erzählen. Dass ich ihnen Musik und Klamotten mitgebracht habe. Sie hat es Rudolf weitererzählt. Kurz danach hat man sie hochgenommen. Aus irgendeinem Grund haben sie sich auf Hermann eingeschossen. Simone haben sie laufenlassen. Die Stasi hat ihn eingesperrt und psychisch gefoltert. Als sie ihn schließlich wieder freigelassen haben, war er fertig.« Lottie tippt sich an den Kopf. »Er hat sich das Leben genommen, hat sich mit einer Glasscherbe die Pulsadern aufgeschnitten.«

Sie wendet den Blick von Tina ab. Da bemerkt sie, dass Valentina neben ihr steht und sie mit großen Augen ansieht.

»Tut mir leid, das Kind hatte ich ganz vergessen«, murmelt sie.

»Das ist schon okay, sie versteht kein Englisch«, beruhigt Tina sie. »Das mit Hermann tut mir wirklich leid. Und was ist mit Simone passiert?«

Lottie seufzt und schüttelt den Kopf.

»Du hast ja gesehen, wie schlecht es ihr ging. Nachdem Hermann weg war, hat sie einfach aufgegeben.« Lotties Stimme bricht. »Sie sind beide tot, Tina. Deshalb bin ich nicht mehr in den Osten gegangen. Ich konnte es nicht ertragen. Ich hatte das Gefühl, irgendwie für ihren Tod verantwortlich zu sein.«

Tina legt eine Hand auf Lotties Arm.

»Du weißt, dass das nicht stimmt.«

Lottie zuckt mit den Schultern, nimmt ein Päckchen Zigaretten vom Küchentisch und bietet Tina eine an.

»Nein, danke.« Sie schüttelt den Kopf.

Lottie zündet sich eine Zigarette an und zieht nachdenklich daran.

»Will sie sich setzen?« Sie deutet auf Valentina, die noch immer reglos dasteht und Lottie anstarrt wie einen großen bunten Vogel.

Tina wendet sich an Valentina und ermahnt sie auf Italienisch, sich an den Tisch zu setzen und nicht so zu starren. Widerwillig lässt sich Valentina auf einen Stuhl rutschen, kann jedoch noch immer nicht den Blick von Lottie lösen.

Tina holt Luft und versucht, die Schmetterlinge in ihrem Bauch zu beruhigen. Sie muss Lottie nach Karel fragen, gleichzeitig hat sie Angst vor der Antwort. Jetzt nimmt sie doch eine von Lotties Zigaretten. Lottie mustert Tina neugierig, sie spürt, dass etwas in ihr arbeitet. Tina nimmt einen tiefen Zug von ihrer Zigarette.

»Weißt du eigentlich, was aus Karel Slavik geworden ist? Dem Cellisten?«, fragt sie, in dem Versuch möglichst beiläufig zu klingen.

»Das weißt du nicht?«, fragt Lottie.

»Nein.« Tina schüttelt den Kopf. Ihr Magen krampft sich bedrohlich zusammen

»Ich wusste von dir und ihm«, sagt Lottie und drückt ihren Zigarettenstummel auf einem Teller aus. »Ich habe euch in der Nacht im Auto gesehen.«

»Nicht vor Valentina«, wispert sie, obwohl ihre Tochter kein Wort von dem versteht, was sie sagen.

»Ach, ja, entschuldige.« Lottie mustert Valentina und blickt in die Augen des Kindes. »Jesus«, sie stößt einen leisen Pfiff aus und sieht dann wieder zu Tina, »jetzt verstehe ich, weshalb du Karel suchst. Sie ist ihm ja wie aus dem Gesicht geschnitten.«

»Und weißt du, wo er ist?«, fragt Tina. Sie ist plötzlich ungeduldig. Sie kann die Ungewissheit nicht länger ertragen.

Lottie betrachtet Valentina wie gebannt. Sie schüttelt sich, als würde sie aus einer Trance erwachen, dann blickt sie zu Tina. Sie spricht langsam, jedes Wort scheint ihr schwerzufallen.

»Ja, ich weiß, wo er ist. Ich bringe dich hin.«

Valentina2013

Valentina steht am Rand der Klippe und beugt sich gefährlich weit über den Abgrund. Fasziniert betrachtet sie das klare blaue Wasser, sie fühlt sich von der funkelnden Tiefe angezogen. Dort unten irgendwo ist Thomas.

Das Meer verspottet sie, es hat genau dieselbe Farbe wie Thomas’ Augen. Valentina empfindet eine starke Abneigung gegen die wilde, ursprüngliche Insel. Sie hat diesen Ort einmal sehr geliebt, doch die Küste hat ihr den Geliebten genommen und ihr das Herz gebrochen.

Als sie sich noch weiter über die Felskante beugt, drückt zusätzlich der Wind gegen ihren Rücken. Es wäre so leicht, sich einfach über den Rand der Klippe ins Meer fallen zu lassen. Sich zu Thomas in seinem Grab auf dem Meeresgrund zu gesellen. Möwen kreisen über Valentinas Kopf und kreischen, als wollten sie Valentina warnen, doch sie tritt nicht vom Abgrund zurück. Heute vor einem Jahr ist Thomas vor der Küste Capris im Mittelmeer verschwunden.

Seine Leiche wurde nie gefunden. Valentina hat gehört, dass seine Eltern zu Hause in New York eine Trauerfeier für Thomas abgehalten haben, aber daran hatte sie auf keinen Fall teilnehmen wollen. Wie sollte sie den Eltern ihrer großen Liebe unter diesen Umständen zum ersten Mal begegnen? Schließlich hatte sie sich geweigert, sie kennenzulernen, als Thomas noch lebte, weil sie Angst vor Verbindlichkeiten hatte. Sie schämt sich, ihnen jetzt gegenüberzutreten.

Valentina kann nicht glauben, dass sie noch immer lebt, dass ihr Herz weiterschlägt, obwohl Thomas tot ist. Sie dreht den Verlobungsring an ihrem Finger und streicht mit der Fingerspitze über die geschliffenen Kanten des Saphirs. Es tröstet sie. Sie sollte den Ring in ihrer Schmuckschatulle vergraben, aber irgendwie kann sie sich von dem letzten Stück, das Thomas ihr geschenkt hat, nicht trennen. Valentina starrt auf das blaue Meer und denkt an Thomas’ Augen. Sprich mit mir, fleht sie, aber abgesehen von dem Kreischen der Möwen und dem Tosen der Brandung hört Valentina nichts.

Sie seufzt und blickt zum Himmel hinauf. Valentina beobachtet die kreisenden Vögel am blauen Firmament und schwankt gefährlich über dem Nichts. Plötzlich erinnert sie sich an einen anderen Tag, an dem sie ebenfalls einen strahlend blauen Himmel betrachtet hatte. Thomas und sie hatten im Mailänder Parco Sempione auf dem Rücken im Gras gelegen. Es war ein heißer Junitag gewesen, kurz nachdem sie sich kennengelernt hatten. Knapp zwei Jahre war das nun her. Sie hatten sich an den Händen gehalten und in den makellosen Himmel hinaufgeblickt.

Da verspürte Valentina den Impuls, Thomas nahe zu sein. Sie rollte sich auf die Seite, kniete sich über ihn, schloss die Augen und küsste Thomas. Sie hatten Eiscreme gegessen, und er schmeckte süß. Seine Lippen fühlten sich kühl und weich auf ihren an.

»Öffne die Augen«, hatte Thomas geflüstert.

Sie wollte nicht, schüttelte den Kopf, vergrub das Gesicht an seinem weichen Nacken und atmete seinen Geruch ein.

»Bitte, Valentina«, beharrte Thomas, »sieh mich an.«

Sie fühlte sich bedrängt, sie wollte genießen, wie wundervoll ihre Körper in der heißen Sonne miteinander verschmolzen. Wenn sie die Augen öffnete, bedeutete das eine Trennung.

»Was ist los?«, hatte sie gezischt, den Kopf zurückgeworfen und ihn mit funkelnden Augen angesehen. Ihre Stimme klang deutlich gereizt.

Thomas sah sie unverwandt an. In seinen kühlen blauen Augen brannte unbändiges Verlangen, und Valentinas Gereiztheit löste sich augenblicklich in Nichts auf. Thomas’ Blick sagte mehr als tausend Worte. Tief im Innern wusste Valentina, was er für sie empfand. Es bereitete ihr große Angst. Noch nie hatte ein Mann sie auf diese Weise angesehen, noch nie hatte jemand in sie hineingesehen. In dem Augenblick wusste Valentina, dass Thomas sie liebte. Monate, bevor er es ihr sagte, und fast ein Jahr, bevor sie es ihm selbst gestand. Als dann ein Lächeln auf seinem Gesicht erschien, war ihr das Herz aufgegangen und auch sie hatte sich in ihn verliebt.

Valentina begreift, dass sie sich an jenem Juninachmittag ineinander verliebt hatten.

»Guck nicht so ernst, Valentina«, hatte Thomas sie geneckt, seine Arme um sie gelegt und sie so fest an seine Brust gezogen, dass sie seinen Herzschlag spürte. Sie hatte sich in seine Arme gegeben und die Wärme seiner Umarmung genossen. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte Valentina sich nicht allein gefühlt.

Valentina lässt den Kopf sinken und blickt erneut hinunter auf das tosende Meer, das sich an Capris Felsen bricht. Seine Dämonen rufen nach ihr, und sie rückt noch näher an den Rand der Klippe. Valentina ist kurz davor aufzugeben, doch da flackert erneut die Erinnerung an jenen Junitag auf, und sie hört Thomas’ Stimme:

»Du bist etwas ganz Besonderes, Valentina«, hatte er gesagt.

»Jeder ist irgendwie besonders«, hatte sie entgegnet.

»Natürlich«, hatte er geduldig geantwortet. »Ich meinte, dass du etwas ganz Besonderes für mich bist. Ich bin noch nie einer Frau wie dir begegnet.«

Sie hatte sich von ihm herunter ins Gras gerollt, sich aufgesetzt und zu ihm hinuntergeblickt.

»Ist dir eigentlich klar, wie kitschig das klingt?«

Er hatte sich schützend die Hand über die Augen gehalten und zu ihr aufgesehen. Schatten fielen auf sein Gesicht.

»Ich meine es so«, sagte er ernst. »Du hast einfach alles: Du bist schön, klug und begabt … und du bist so unglaublich sexy.« Er lächelte. »Aber noch attraktiver wirst du für mich, weil du bist, wie du bist, und durch das, was du tust.«

Valentina hatte ihn überrascht angesehen und nicht gewusst, was sie darauf erwidern sollte. Kein Mann, mit dem sie bislang zusammen gewesen war, hatte sich je für ihre Arbeit interessiert, vielmehr hatten sie ihren Schwung und Elan und vor allem ihren Erfolg als bedrohlich empfunden.

»Versprich mir etwas, Valentina«, hatte Thomas gesagt und sich auf seine Ellbogen aufgestützt. »Egal, welches Unglück dir im Leben widerfahren mag, du musst immer fotografieren.«

»Ich mache einfach genau dasselbe, was meine Mutter getan hat: Modeaufnahmen. Ich kopiere sie bloß.«

Er schüttelte den Kopf und sah sie an, als wüsste er es besser.

»Du bist weitaus mehr als Tina Rossellis Tochter. Deine Bilder besitzen eine Tiefe, die ihre nicht haben. Ich bin sicher, dass deine Arbeit wegweisend sein wird.«

Sie gab ihm einen freundschaftlichen Stoß, es war ihr etwas peinlich, dass er derart an sie glaubte.

»Du hörst dich wie ein Kunsthistoriker an«, widersprach sie neckend.

»Nun, das ist irgendwie logisch, denn schließlich bin ich ja auch einer.«

Als sie sich kennengelernt hatten, war Valentina überrascht gewesen, dass Thomas Professor für Kunstgeschichte an der Mailänder Universität war. Er hatte sie beeindruckt, denn sie war noch nie einem so modernen Akademiker begegnet. Er war stets wach und geistreich und immer auf der Suche nach neuer Kunst. Ständig nahm er neue Perspektiven ein, betrachtete Kunstwerke auf eine andere Weise und ermutigte Valentina, die Grenzen ihres Berufs als Modefotografin zu sprengen. Er hatte ihr so viel beigebracht, nicht nur über Kunst, sondern auch über Filme, Bücher, Musik, Politik und Geschichte. Valentina erinnert sich jetzt, dass sie dieser dynamische Mann in den ersten Tagen sogar etwas verwirrt hatte. Dauernd war er unterwegs, verschwand zu Vorlesungsreisen oder beriet Kunsthändler überall auf der Welt. Thomas war jedoch nicht, was er zu sein vorgab. Somit hatte sie ihr erster Eindruck nicht getäuscht. Ja, Thomas war Akademiker, aber er hatte noch einen anderen geheimen, gefährlicheren Beruf, der ihn schließlich das Leben kostete.

Eigentlich hätte Valentina an seiner Stelle sterben sollen. Fast wäre sie damals ertrunken, doch Thomas hatte sie gerettet. Es war, als hätte er sein Leben für sie gegeben, doch sie würde ihm so gern sagen, dass ihr Leben ohne ihn wertlos ist.

Valentina würde am liebsten von der Klippe springen. Erneut fühlt sie sich von der Tiefe angezogen. Würde ihr Körper unten an den Felsen zerschellen, oder würde sie an ihnen vorbei ins Wasser fallen? Würde sie wie ein Stein auf den Grund sinken, ihr Mund sich mit Meerwasser füllen, bis ihre Lungen barsten? Der Drang ist überwältigend stark, dennoch weicht Valentina von dem Felsvorsprung zurück.

Versprich mir etwas, Valentina. Egal, welches Unglück dir im Leben widerfahren mag, du musst immer fotografieren.

Sie hatte es Thomas versprochen, das ist das Problem. Valentina seufzt, öffnet ihre Tasche und sucht, bis sie ihre Digitalkamera findet. Sie schaltet sie ein, blickt auf das kleine Display, richtet die Kamera nach unten auf das rauschende blaue Meer und macht ein Foto. Sie dreht sich um, streckt den Arm aus und richtet das Objektiv auf sich selbst. Sie weiß nicht, was genau sie festhält, während sie spontan den Auslöser drückt. Als sie die Bilder betrachtet, sieht sie einen Teil ihres traurigen Gesichts mit vom Wind zerzausten Haaren vor dem blauen Mittelmeer und den Kreidefelsen. Schon fühlt sie sich etwas besser. Wenn Valentina eine Aufnahme von sich macht, hilft ihr das, sich von ihren Gefühlen zu distanzieren und einen Prozess zu dokumentieren. Ist es der Prozess ihrer Trauer? Deshalb ist sie doch überhaupt nach Capri gekommen. Ihre Freunde denken, sie würde sich in ihrer Trauer suhlen. Leonardo hatte ihr eine lange E-Mail geschrieben und ihr geraten, nicht wieder auf die Insel zu fahren.

In jener schrecklichen Woche vor einem Jahr war Leonardo bei ihr gewesen. Sie hatte ihn angerufen, um ihm zu sagen, dass Thomas vermisst wurde. Und am nächsten Tag war Leonardo da gewesen. Wie erleichtert Valentina gewesen war, ihn zu sehen. Er wich nicht von ihrer Seite und begleitete sie die vielen Male, die sie mit einem Ruderboot hinaus zur Blauen Grotte fuhr, um in der Höhle nach einer Spur von Thomas zu suchen. Das Wasser leuchtete, als werde es von unten mit Scheinwerfern angestrahlt, das Tageslicht schimmerte durch die blauen Schichten empor. Wenn Valentina die Hände in die azurblaue Oberfläche tauchte, glänzten sie silbern. Dieser magische Ort mit dem irisierenden Licht war für Valentina nun zum Tor zur Hölle geworden. Sie konnte bis auf den Boden der Grotte sehen, doch dort war nichts. Was wollte sie auch finden, was die Polizei nicht gefunden hätte? Doch Leonardo begleitete sie über die Insel, während sie mit Fischern sprach, mit Ladeninhabern, mit anderen Touristen und den Besitzern der Trattorien. Valentina konnte einfach nicht glauben, dass Thomas ertrunken war. Doch es war die einzig logische Erklärung, denn sie wusste, dass er sie nie verlassen hätte. Das war unvorstellbar, sie hatten sich gerade erst verlobt.

Valentina erinnert sich an den letzten Abend ihrer Suche. Beim Abendessen hatte Leonardo ihr so schonend wie möglich beigebracht, dass es an der Zeit sei, nach Mailand zurückzukehren. Die Polizei werde sie benachrichtigen, sollte sie irgendetwas finden. Valentina war wütend auf ihn gewesen, wusste aber insgeheim, dass Leonardo recht hatte. Sie hatte zu viel Wein getrunken, was ihre Wut noch befeuert hatte. Als sie wieder im Hotelzimmer waren, war Valentina gemein geworden und hatte ihrem Freund vorgeworfen, er sei nur bei ihr, weil er eigentlich etwas ganz anderes von ihr wolle. Valentina wird nie vergessen, wie verletzt Leonardo ausgesehen hat, doch gleichzeitig erkannte sie an einem Flackern seiner Augen, an einem kaum merklichen Zucken seiner Lider, dass sie einen Nerv getroffen hatte. Für eine kurzen Moment hatte Valentina gesehen, was Leonardo für sie empfand.

»Du willst, dass ich Thomas aufgebe«, hatte sie ihm vorgeworfen.

»Ich versuche nur, dir zu helfen, Valentina«, widersprach Leonardo. »Thomas war einer meiner besten Freunde.«

»Sprich nicht in der Vergangenheitsform von ihm!«, hatte sie Leonardo angeschrien. »Vielleicht lebt er noch … vielleicht ist er nur verletzt … vielleicht hat Glen ihn entführt.«

»Nach Aussage der Polizei sieht es so aus, als hätten Thomas und dieser Glen im Meer gekämpft und seien beide … nun …«, fuhr Leonardo stockend fort.

Valentina schauderte, als sie sich an Glen mit seinen aalglatten Gesichtszügen und den blonden Haaren erinnerte, die wie ein Heiligenschein um seinen Kopf standen. Er war der bösartigste Mensch, dem sie je begegnet war. Er hatte versucht, Thomas und sie zu vernichten. Anscheinend mit Erfolg, nur hatte er dafür offenbar sein eigenes Leben opfern müssen.

Leonardo und Valentina starrten einander an, bis allmählich die bittere Erkenntnis zu ihr hindurchsickerte. Es gab nichts mehr zu sagen. Thomas war tot. Mit einem Mal wurde all ihre Energie, ihre leidenschaftliche Suche nach Thomas, das Antreiben der Polizei, ihre Wut auf Leonardos Vorschlag aufzugeben, von einer überwältigenden Welle der Trauer hinfort gespült. Ein unmenschlicher Laut entrang sich ihrem Innern, eine tiefe, kehlige Klage.

»Ich will nicht, dass er tot ist«, flehte sie.

Leonardo hatte sie in die Arme genommen und festgehalten. Valentina konnte nicht weinen, sie zitterte nur unkontrolliert. Erst da setzte der Schock über Thomas’Tod ein. Sie hatte Leonardo gebeten, mit ihr in einem Bett zu schlafen, und er hatte sie die ganze Nacht in den Armen gehalten. Es hatte ihr Halt gegeben, sein gleichmäßiges Atmen zu hören und zu spüren, wie sich seine Brust hob und senkte. Doch Valentina schlief nicht und wiederholte die ganze Nacht über wie ein Mantra im Geiste: Thomas ist tot. Thomas ist tot.

Als die Sonne vor dem offenen Fenster aufging, belebte ihr rosiger Glanz Valentinas müden Körper und weckte in ihrer geschundenen Seele den Wunsch nach Nähe. Sie drehte sich zu Leonardo um und küsste ihn. Er bewegte sich im Schlaf und schloss sie instinktiv in die Arme. Valentina drängte sich an ihn. Sie brannte vor Lust, mit der sie den Schmerz zu verdrängen hoffte. Sie spürte, wie Leonardos Glied sich an ihrem Bauch regte. Doch als ihr Freund richtig erwachte, wich er augenblicklich zurück, schüttelte den Kopf und sah sie mitfühlend an. Sie hatte sich augenblicklich geschämt und war ihm dankbar gewesen, dass er darüber kein Wort verloren hatte. Stattdessen war er aufgestanden und ins Bad getappt, damit Valentina Gelegenheit hatte, sich zu sammeln.

Eine Woche nachdem sie nach Mailand zurückgekehrt waren, hatte Leonardo verkündet, er werde nach Indien gehen, um dort Yoga zu studieren. Valentina hatte sich oft gefragt, ob sie etwas mit dieser Entscheidung zu tun hatte. Leonardo wusste, wie empfindlich sie war. Aber er war ebenfalls verletzlich. War er vor ihr davongelaufen? Manchmal war sie wütend auf ihn gewesen und hatte sich im Stich gelassen gefühlt. Sie vermisste ihn. Und doch wusste sie, dass er das Beste für ihre Freundschaft getan hatte. Hätte er mit Valentina geschlafen, als es ihr so schlecht ging, wäre das auf eine Katastrophe hinausgelaufen.

Valentina wendet sich von dem Felsvorsprung ab und macht sich auf den Rückweg ins Zentrum von Capri. Hin und wieder bleibt sie stehen und fotografiert: eine kleine vom Wind zerzauste Blume, die trotz widriger Umstände überlebt hat, die zerklüftete Küste, das Meer, auf dem in der Ferne ein einsames weißes Segelboot schaukelt, oder einen Inselbewohner, der auf seinem Moped vorbeifährt. Valentina beschäftigt sich. So hat sie das letzte Jahr überstanden. Indem sie fotografiert und ununterbrochen gearbeitet hat. Sie glaubt, dass Thomas stolz auf sie wäre. Sie wirft einen letzten Blick auf die Klippe und wird sich bewusst, wie knapp sie heute davor gewesen ist, ihr Leben wegzuwerfen. Doch sie wird weiterleben. Für Thomas. Aber wird sie jemals wieder lieben können?

Tina1984

Auf dem gesamten Flug von Mailand nach Berlin fragt Tina sich, warum sie Phil angelogen hat. Obwohl es das erste Mal war, ist ihr die Lüge ganz leicht über die Lippen gegangen.

»Ich muss nach Berlin. Sie haben niemand anders für die Aufnahmen gefunden. Es geht nicht anders.«

Sie hatte das Gefühl gehabt, ihr stünde das Wort Lügnerin auf die Stirn geschrieben, aber Phil hatte keinen Verdacht geschöpft. Warum sollte er auch?

»Ach, das ist ja schade. Ich wollte dich morgen Abend zum Essen ausführen. Es ist unser Jahrestag.«

»Wir sind noch nicht einmal verheiratet, Phil.«

»Der Tag, an dem wir uns zum ersten Mal begegnet sind«, hatte er grinsend erklärt. »Erinnerst du dich? Du bist wie eine Irre mit diesem kleinen Triumph gedüst. Ich dachte, mein letztes Stündlein hätte geschlagen.«

»So schlimm war es auch nicht«, grummelte Tina.

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