Verbotene Leidenschaft - Ruth Gogoll - E-Book

Verbotene Leidenschaft E-Book

Ruth Gogoll

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Beschreibung

Sich in die eigene Chefin zu verlieben, wenn diese augenscheinlich hetero ist, gehört in jedem Fall zu den Dingen, die eine Lesbe nicht tun sollte. Doch in Kim erwacht eine Leidenschaft, die sie sich zunächst verbietet – bis sich unerwartet eine Affäre mit ihrer verheirateten Vorgesetzten Sonja Kantner entwickelt. Aber Kim will mehr als nur eine Affäre sein, Sonja hingegen hält an ihrer Ehe fest, eine Scheidung kommt für sie absolut nicht infrage. Und als sich Sonja dann auch noch mit einem Mal äußerst seltsam und abweisend verhält, wird Kim mit einer riesigen Überraschung konfrontiert ...

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Ruth Gogoll

VERBOTENE LEIDENSCHAFT

Roman

© 2007 Zweite Auflage © 2023édition el!es

www.elles.de [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-369-2

Coverillustration: © -Misha – Fotolia.com

Teil 1

1

Auf dem Bildschirm tanzten die kleinen Buchstaben vor Kims Augen. Sie strich sich erschöpft über die Lider. Stundenlang am Computer zu arbeiten war nicht gerade erholsam. Aber wenn sie nicht mehr konnte, ging sie auf eine ganz bestimmte Internetseite, mit der sie sich ein wenig entspannen konnte. Es gab Geschichten dort, die sie immer wieder las. Ganz besondere Geschichten. Von Frau zu Frau.

Langsam ließ Kim sich in die Geschichte hineingleiten. Die Frau mit dem kastanienbraunen Haar sank auf der Couch zurück, und die andere beugte sich über sie –

»Frau Wolff?«

Kim fuhr herum. Ihre Chefin stand in der Tür. Das kastanienbraune Haar fiel sanft auf ihre Schultern, glänzend und verführerisch. Kim schluckte.

»Haben Sie gerade etwas Dringendes zu tun?«, fragte ihre Chefin. »Oder können Sie gleich zu mir kommen?«

»Ich kann . . . kommen«, brachte Kim mühsam heraus. Das stimmte wohl. Das hätte sie vermutlich bald gekonnt.

Sonja Kantner, Abteilungsleiterin und der Traum von Kims schlaflosen Nächten, blickte kurz auf den Bildschirm, aber sie war zu weit entfernt, der Bildschirm stand zu schräg, und die Buchstaben waren zu klein. Kim dankte allen Göttinnen im Himmel dafür.

»Ich speichere das nur noch schnell«, bemerkte Kim mit heißem Kopf. Hoffentlich war sie nicht knallrot geworden. Aber eigentlich neigte sie nicht dazu. Das war ihr Glück. Auf jeden Fall in diesem Augenblick.

»Gut, tun Sie das«, bestätigte Sonja Kantner nickend und drehte sich um.

Kim sah ihren knackigen Po aus der Tür verschwinden. Musste sie so attraktiv sein? Es war eine tägliche Qual.

•••

Als Kim ihre neue Chefin zum ersten Mal gesehen hatte, bei der Vorstellung vor sechs Wochen im Konferenzraum, war Kim fast in Ohnmacht gefallen. Sie arbeitete sofort einen Plan aus, wie sie das Abteilungsleiter-Büro, das normalerweise direkt neben ihrem lag, aus für die Firma strategisch wichtigen Gründen ans andere Ende des Ganges verlegen konnte – oder am besten in eine andere Etage. Noch besser in ein anderes Gebäude.

»Stellen Sie sich doch selbst einmal vor, Frau Kantner«, forderte der Chef aller ihrer Chefs sie auf, nachdem er einiges über den Werdegang seiner neuen Abteilungsleiterin erzählt hatte.

Er zog sich zurück, und Sonja Kantner trat vor. Sie wiederholte noch einmal in etwas anderer Form, was er schon über sie mitgeteilt hatte, aber das interessierte Kim sowieso nicht. Was sie interessierte, sagte Sonja Kantner gleich zu Anfang: verheiratet, keine Kinder.

»Noch«, fügte sie charmant lächelnd hinzu.

Richtig geraten. Kim seufzte fast, als sie die Bestätigung für das bekam, was sie ohnehin schon wusste. Sonja Kantner war hetero, und zwar massiv. Aber was hätte es auch genützt, wenn es anders gewesen wäre? Kim grübelte wieder über ihren Plan nach, sie in ein anderes Gebäude zu verfrachten. Gab es nicht auch Zweigstellen im Ausland? Konnte Sonja Kantner nicht vielleicht da tätig werden?

Eines jedenfalls wusste Kim: Sie würde es nicht lange aushalten, Sonja Kantner so nah neben sich zu haben, jeden Tag, fast jede Minute. Vielleicht konnte Kim sich an sie gewöhnen, würde mit der Zeit abstumpfen? Kim musterte Sonja Kantners Körper noch einmal von oben bis unten, während sie sprach. – Nein. – Nein, die Wahrscheinlichkeit war ausgesprochen gering. Eher würde das Gegenteil eintreten.

Als die Versammlung sich auflöste, wollte Kim schon gehen, da winkte der oberste Chef in ihre Richtung. »Frau Wolff? Kommen Sie mal?«

Kim atmete tief durch und straffte ihre Schultern. Mut! Sie ging zu den beiden hinüber, und er stellte sie lächelnd vor. »Das, Frau Kantner, ist Ihre engste Mitarbeiterin, Frau Wolff.«

Sonja Kantner lächelte auch und gab Kim die Hand. Kim hätte sie lieber nicht berührt, aber sie konnte sich ja schließlich kaum weigern. Sonja Kantners Hand in ihrer war weich und warm. Am liebsten hätte Kim sie nun gar nicht mehr losgelassen, aber Frau Kantner zog ihre zurück, nach der angemessenen Zeit, wie es sich gehörte.

»Es freut mich, Sie kennenzulernen, Frau Wolff«, sagte sie. »Ich hoffe, wir werden gut zusammenarbeiten.«

Zusammenarbeiten? dachte Kim, aber laut erwiderte sie, was von ihr erwartet wurde: »Das hoffe ich auch, und ich freue mich ebenfalls darauf.« Sie lächelte zuversichtlich oder hoffte zumindest, dass es so ankam. Das Kribbeln, das sich von ihrer Hand langsam über ihren ganzen Körper ausbreitete, hinderte sie ein wenig daran, ihre Reaktionen kontrollieren zu können.

»Sie werden Frau Kantner dann durch die Firma führen und ihr alles zeigen, nicht wahr, Frau Wolff?«, vermutete ihr oberster Chef in freundlichem Befehlston.

Kim versuchte, nicht zu schlucken. »Ja«, erwiderte sie mühsam beherrscht; deshalb klang ihre Stimme sehr leise, »selbstverständlich. Ich werde ihr alles zeigen.« Wenn das nur gegangen wäre! Was Kim ihr nicht alles hätte zeigen wollen . . .!

Sonja Kantner lachte. »Aber erst morgen! Heute habe ich noch die Tour durch die Chefetage.«

Der oberste Chef schmolz vor ihrem charmanten Lächeln ebenso dahin wie Kim, nur durfte er es zeigen, Kim nicht. Ein Tag Schonfrist! Wenigstens das!

»Dann bis morgen«, lächelte Sonja Kantner jetzt wieder Kim an. »Wann werden Sie da sein?«

»Um acht«, quetschte Kim hervor.

»Gut«, lächelte Frau Kantner. »Ich werde um sieben da sein.«

»Das wäre wirklich nicht nötig gewesen, Frau Wolff«, begrüßte Frau Kantner sie strahlend.

So früh am Morgen schon so gut gelaunt – das konnte ja heiter werden! Wann war sie aufgestanden? Kim war pünktlich gewesen, aber Sonja Kantner saß schon am Schreibtisch, als Kim ihr Büro betrat.

Sie kam auf Kim zu, um ihr die Hand zu geben. »Guten Morgen«, sagte sie, als sie Kim erreicht hatte, und ihre Augen senkten sich mit einem unwiderstehlichen Blick in Kims.

Wahrscheinlich wusste sie gar nicht, was für eine Wirkung das auf Kim hatte . . . sie auf Kim hatte –

»Sie hätten ruhig erst um acht kommen können«, fuhr Frau Kantner fort. »Ich weiß, dass ich alle damit nerve, dass ich so eine Frühaufsteherin bin. Aber ich arbeite morgens gern in aller Ruhe Sachen auf. Dann, wenn noch niemand da ist. Sonst kommt man ja nicht dazu.« Sie lachte ungeheuer sympathisch.

Sie hatte gerade erst angefangen. Was wollte sie da aufarbeiten? Kim rang sich zu einem verständnisvollen Lächeln durch und zog ihre Hand weg, die Frau Kantner immer noch hielt. »Da haben Sie recht«, stimmte sie zu. »Ich mache das allerdings lieber abends, wenn dann alle weg sind.«

Sonja Kantner lachte erneut und ging zu ihrem Schreibtisch zurück. »So hat halt jeder seine Vorlieben«, sagte sie. Sie drehte sich zu Kim um. »Wie lange sind Sie dann abends im Büro?«, fragte sie.

»Manchmal bis um zehn«, antwortete Kim, »aber ich komme morgens auch erst –« Sie brach ab. Sie sollte ihrer neuen Chefin vielleicht lieber nicht verraten, wann sie morgens normalerweise kam.

Sonja Kantner lächelte. Sie war zu klug, um sich so einfach hinters Licht führen zu lassen. »Sie kommen morgens weder um sieben noch um acht, nicht wahr?«

Kim seufzte. »Ja«, bestätigte sie. »Aber ich werde das natürlich ändern«, fügte sie hastig hinzu. »Wenn Sie um sieben da sind, werde ich es auch sein.«

»Das ist nicht nötig«, erwiderte Sonja Kantner. »Wie ich zu Beginn schon sagte: Ich weiß, dass ich alle mit meinen frühen Anfangszeiten nerve, aber ich verlange das von niemand.« Sie lächelte wieder. »Abends um zehn liege ich allerdings normalerweise schon im Bett. Also sollten wir uns auf eine Zeit dazwischen einigen.«

Im Bett? Kim sah sie an. Wie verführerisch musste sie erst aussehen, wenn sie im Bett lag, wo sie tagsüber schon so attraktiv war? Sie hatte sicher wundervolle Dessous für die Nacht . . . und wenn sie gar nichts trug . . .?

»Wann könnten Sie denn frühestens hier sein?«, fragte Sonja Kantner nun, während sie in einem Aktenordner auf ihrem Schreibtisch blätterte, den ihr Vorgänger hinterlassen hatte.

Kim musste sich erst von ihren Gedanken losreißen. »Halb neun?«, schlug sie dann vor. Das würde sie wahrscheinlich gerade mal so schaffen.

Sonja Kantner blickte auf. »Gut«, sagte sie. Dann lächelte sie erneut auf diese ungeheuer sympathische, fast liebevolle Art. »Und wenn es mal neun wird, macht das auch nichts. Ich nehme an, das war die Zeit, die Sie eigentlich vorschlagen wollten, nicht wahr?«

Sie musste eine Menge Führungsseminare absolviert haben, um so gut zu sein. »Ja«, gab Kim zu.

»Wir werden uns schon zusammenraufen!«, lachte Sonja Kantner. »Zeigen Sie mir jetzt die Firma?«

Zusammen raufen – was für eine nette Vorstellung, dachte Kim noch, bevor sie Sonja Kantner den Vortritt ließ, um das Büro zu verlassen.

Und sie hatten sich tatsächlich zusammengerauft, wenn man so wollte. Mit Sonja Kantner zu arbeiten, war ein Genuss. Was Kim weniger genüsslich fand, war die körperliche Nähe, die meistens dabei entstand, und die Sonja Kantner auch gar nicht zu vermeiden versuchte. Sie beugte sich über Kims Stuhl, während sie hinter ihr stand und Kim ihr etwas auf dem Bildschirm zeigte. Wenn sie am Besprechungstisch etwas klärten, saß sie dicht neben Kim, weil sie gemeinsam irgendwelche Papiere studieren mussten. Immer wieder lachte sie, wenn sie sich unterhielten – natürlich rein geschäftlich – und strich Kim dabei über den Arm, dass die Gänsehaut meilenweit zu sehen war – oder zu sehen gewesen wäre, wenn Kim sich nicht angewöhnt hätte, im Büro stets langärmlige Blusen zu tragen.

Heterofrauen! Nie dachten sie darüber nach, dass auch eine Frau vielleicht für solche Dinge empfänglich sein könnte. Für sie existierten in dieser Hinsicht eben nur Männer. Kim grauste jetzt schon vor dem Sommer. Ihre T-Shirts und kurzärmligen Hemden würden wohl im Schrank versauern, und sie würde schwitzen wie ein Schweinepriester. Aber das war ihr immer noch lieber, als wenn Sonja Kantner es sah.

Natürlich sehnte Kim sich auch nach ihrer körperlichen Nähe. Es war gewissermaßen eine süße Qual, wenn ihre Chefin sie zu sich rief oder zu ihr herüberkam, um zu arbeiten. Wenn sie so entsetzlich nah war und Kim ihr doch nicht näherkommen durfte.

Nie hätte Kim gewagt, sie zu berühren, wie sie es mit ihr tat, ihr einfach über den Arm zu streichen . . .

Kim wäre explodiert – auf der Stelle.

•••

Kim kehrte in die Gegenwart zurück. Ich sollte hinübergehen, dachte sie. Sie wird sich schon wundern, wo ich bleibe.

Als sie Sonja Kantners Büro betrat, lächelte diese sie an wie immer. »Setzen wir uns da hinüber«, sagte sie und wies auf den Besprechungstisch.

Oh nein, nicht schon wieder! Kim hatte sich noch kaum beruhigt, seit Sonja Kantner sie am Bildschirm so unangenehm überrascht hatte – aber Frau Kantner wusste ja von nichts. Für sie war das alles harmlos. Sie war ja hetero.

Kim ließ sich ergeben auf einem Stuhl nieder und erwartete, dass Sonja Kantner sich neben sie setzen würde, aber das tat sie nicht. Sie setzte sich auf die andere Seite des Tisches und legte Kim einen Prospekt vor.

Kim nahm ihn und blickte hinein. »Sie fahren zu dem Seminar?«, fragte sie. Göttin sei Dank! Ein paar Tage Ruhe!

»Ja«, erwiderte Frau Kantner, »und ich möchte, dass Sie mitkommen.«

War wohl nichts mit Erholung. »Ich?«, fragte Kim erstaunt. »Das ist ein Managerseminar.« Sie blickte Sonja Kantner an. »Brauchen Sie jemand fürs Protokoll?«

»Nein.« Sonja Kantner schüttelte den Kopf. »Sie sollen nicht Protokoll schreiben. Sie sollen daran teilnehmen, genauso wie ich.«

»Aber ich . . . ich bin doch keine Führungskraft«, wunderte Kim sich etwas kraftlos.

Sonja Kantner beugte sich vor und sah Kim erneut mit diesem intensiven Blick an, den Kim kaum ertragen konnte. »Aber Sie könnten eine werden«, behauptete sie. Sie lehnte sich wieder zurück. »Ich bin der Meinung, dass Sie in Ihrer jetzigen Stellung weit unterfordert sind. Sie haben ganz andere Qualitäten als die, die Sie hier einsetzen können. Und die will ich fördern. Wenn Sie dieses Seminar absolviert haben, sind formal die Voraussetzungen für eine Beförderung geschaffen. Die könnte dann im Herbst erfolgen.«

Andere Qualitäten? Was meinte sie damit? Hatte sie bemerkt, dass . . . Wollte sie Kim loswerden? Kim warf einen kurzen Blick auf ihre Chefin. Nein, sie wirkte freundlich und kompetent wie immer. »Im Herbst?«, fragte Kim verdattert.

»Ja, früher geht es nicht«, bedauerte Sonja Kantner. »Beförderungen werden nur einmal im Jahr ausgesprochen.«

»Ich weiß«, erwiderte Kim.

»Und? Was sagen Sie?«, fragte Frau Kantner mit einem auffordernden Lächeln. »Fahren Sie mit?«

»Wenn Sie wollen . . .«, erwiderte Kim vage. Sonja Kantner war ihre Chefin. Wenn sie sagte, Kim musste, musste Kim.

»Nein, nein!« Sonja Kantner schüttelte den Kopf. »Ich will Sie zu nichts zwingen. Sie können auch Nein sagen. Aber ich denke, das ist eine große Chance für Sie, oder nicht?« Sie blickte Kim fragend an.

»Ja. – Ja, das ist es wohl«, gab Kim zu.

Kims Bedenken waren ja auch nicht beruflicher Natur. Die Beförderung hätte sie durchaus gern in Anspruch genommen. Das war sicherlich auch mit mehr Geld verbunden. Aber auf so einem Seminar würden sie sich noch näher sein als hier im Büro. Und es gab keinen Feierabend, an dem sie sich trennen würden, um nach Hause zu gehen.

Kim kannte diese Seminarhotels. Da war nichts drumherum. Das hieß, man saß abends gemeinsam in der Bar mit den anderen Seminarteilnehmern, weil man gar nichts anderes tun konnte, trank noch etwas und sprach miteinander. Belanglosigkeiten und normalerweise kein Problem, außer dass die Langeweile unvermeidlich war, aber wenn Sonja Kantner dabei war, würden Kim und sie sich wahrscheinlich ziemlich aufeinander konzentrieren, weil sie niemand anderen kannten. Und das bis weit nach Mitternacht, bis es dann endlich Zeit war, schlafen zu gehen.

Gut, diese paar Stunden allein in ihrem Hotelzimmer würde Kim wenigstens haben, um sich von ihr zu erholen, von ihrem ständigen Anblick, von ihrer ununterbrochenen Gegenwart.

Sonja Kantner betrachtete Kim immer noch und wartete auf ihre Antwort. Wahrscheinlich wunderte sie sich, dass Kim überhaupt zögerte. Jede andere hätte sicherlich sofort begeistert zugesagt.

Kim nickte. »Gut. Ich freue mich.« Sie lächelte Sonja Kantner möglichst enthusiastisch an, um ihr Zögern vergessen zu machen.

»Schön.« Sonja Kantner stand auf. »Haben Sie den Bericht schon fertig, den wir heute Morgen besprochen hatten?«, fragte sie, während sie zum Schreibtisch zurückging und ihre Gedanken offensichtlich bereits wieder mit etwas anderem beschäftigt waren.

»Fast«, erwiderte Kim. »Die Besprechung mit der Projektgruppe hat länger gedauert. Dadurch bin ich noch nicht dazu gekommen, ihn abzuschließen.« Und dadurch, dass Kim noch einen kleinen Ausflug ins Internet machen musste . . . Aber das brauchte Sonja Kantner wohl kaum zu erfahren.

»Wann?«, fragte ihre Chefin knapp. Sie war äußerst effizient, wenn es um die Arbeit ging.

»In einer Stunde«, versprach Kim.

Ihre Chefin nickte. »Bringen Sie ihn mir dann sofort, bitte.« Sie setzte sich, und damit war Kim entlassen.

Kim blickte noch einmal auf den Prospekt hinunter, als sie aufstand. »Soll ich die Zimmer bestellen?«

Sonja Kantner sah kurz auf. »Nein, das mache ich schon. Das ist mit der Anmeldung gekoppelt. Ich wollte da sowieso noch etwas fragen«, lehnte sie ab und senkte den Blick wieder auf ihre Akten.

Kim nickte, verließ das Büro und suchte erst einmal den Kaffeeautomaten auf. Auf den Schreck musste sie etwas trinken. Leider hatte die Firmenleitung keine stärkeren Getränke für solche Anlässe vorgesehen. Ein Schnaps wäre ihr jetzt gerade recht gekommen. Kim kannte zwar den einen oder anderen Kollegen, der garantiert eine Schnapsflasche in seinem Schreibtisch versteckte, aber so weit, dort zu fragen, wollte sie denn doch nicht gehen.

2

Das Seminar fand bereits anderthalb Wochen später statt.

Die Fahrt dauerte knapp zwei Stunden, und sie unterhielten sich über Firmeninterna, Termine der nächsten Woche, wenn sie wieder zurücksein würden, Organisatorisches. Sonja Kantners Nähe wurde Kim immer bewusster, während ihre Chefin fuhr und gleichzeitig redete, ganze Konzepte entwickelte. Kim musste hauptsächlich zuhören, und so konnte sie Sonja Kantner völlig unverfänglich die gesamte Zeit über betrachten.

Der Wagen, Sonja Kantners Wagen, war groß, doch Kim drängte sich unauffällig an den äußersten Rand, an die Tür. Die breite Konsole der Automatikschaltung in der Mitte trennte sie zwar, aber es war nicht genug, um sie Sonja Kantners Körperwärme nicht mit zunehmender Intensität spüren zu lassen, und ihr Parfüm. Ihren Duft, den Kim kannte, der aber hier in der Enge des Wagens noch verstärkt wurde. Er löste unanständige Fantasien in ihr aus. Kim stellte sich vor, wie sie roch, wenn sie erregt war, wenn sie im Bett lag und die Beine spreizte –

»Denken Sie, so können wir es machen?«, fragte Sonja Kantner und blickte kurz zu Kim herüber.

Kim hatte nicht zugehört. »Ja. – Ja, sicher. Auf jeden Fall«, antwortete sie schnell. Irgendwie würde sie später schon herausfinden, auf was ihre Chefin sich bezogen hatte.

Die wandte ihre Aufmerksamkeit wieder von Kim ab und der Straße zu. Zehn Minuten später waren sie da, und kurz darauf steuerten sie die Rezeption an. Frau Kantner erledigte alles, während Kim sich umblickte und darauf wartete, dass der Portier ihr ihren Schlüssel aushändigen würde.

Als Sonja Kantner fertig war, drehte sie sich um und ließ eine Plastikkarte, die hier wohl als Schlüssel diente, vor Kims Gesicht baumeln. »Wollen Sie . . .?«, erkundigte sie sich einladend lächelnd.

»Ist das mein Schlüssel?«, fragte Kim zurück. Sie war etwas erstaunt. Normalerweise gab der Portier die doch einzeln aus, und man musste etwas unterschreiben.

»Unserer«, erwiderte Sonja Kantner ebenfalls leicht verwundert. »Das habe ich Ihnen doch vorhin im Auto erklärt. Die Anmeldung war zu kurzfristig. Sie hatten keine Zimmer mehr frei. Und die anderen Teilnehmer sind alles Männer. Da haben sie uns zwei Mädels zusammengelegt.« Sie lachte über den Witz, erwachsene Frauen als ›Mädels‹ zu bezeichnen. »Vorhin im Auto haben Sie doch zugestimmt. Oder möchten Sie lieber mit einem anderen Teilnehmer –?« Sie brach ab. Noch verwunderter als zuvor.

Mit einem Mann? Oh nein, sicher nicht! Dann schon lieber mit dir. Obwohl Kim das auch nicht gerade verlockend fand. Das hieß, verlockend schon – aber das würde wohl kaum zur Debatte stehen. Dann war es also noch nicht einmal etwas mit der Erholung nachts allein im Zimmer. Selbst dann würde sie da sein.

Warum hatte Kim bloß nicht zugehört vorhin im Auto? Aber was hätte das geändert? Wenn es keine anderen Zimmer mehr gab . . .

»Nein, natürlich nicht«, versicherte Kim ihr. »Das ist schon in Ordnung. Ich hatte es nur schon wieder vergessen.«

Sie bezogen das Zimmer, und Kim betrachtete mit großer Sorge das Doppelbett. Es war breit, wie immer in solchen Hotels, aber wie Kim befürchtete, nicht breit genug. Sonja Kantner würde neben ihr liegen, Kim würde sie atmen hören, sie riechen, ihre Wärme spüren . . .

Kim stellte ihre Tasche in den Schrank und ging zur Tür. »Ich gehe schon mal runter«, sagte sie. Wenigstens fünf Minuten. Bitte –! Bitte, lass sie hierbleiben!

Sonja Kantner nickte. »Ich packe noch ein paar Sachen aus. Dann komme ich nach.«

Aufatmend verließ Kim das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Sie ging zur Treppe und langsam hinunter. Sie brauchte Luft. Den Lift hätte sie jetzt nicht noch einmal ertragen. Darin hing sicher immer noch ihr Geruch von eben, als sie gemeinsam in ihm hochgefahren waren. Unten angekommen, durchquerte Kim die kleine Halle zum Ausgang hin und trat auf die Einfahrt hinaus.

Die Landschaft, in die man frech dieses Hotel gesetzt hatte, war herrlich. Nur Berge ringsum, grüne Wiesen, in nicht allzu weiter Entfernung muhte eine Kuh. Vermutlich auf irgendeiner der nahen Almweiden. Es hätte richtig schön sein können, entspannend, erholsam . . . Aber war es nicht. Denn dazu hätte Kim mehr Abstand von ihr haben müssen – wenigstens nachts.

Nun ja. Kim seufzte. Sie musste sich damit abfinden, zumindest für diese drei Tage. Auch die würden verstreichen, sie würden zurückfahren, und nichts würde passiert sein. Nichts würde sich geändert haben zwischen ihnen. Das auf jeden Fall schien sicher.

Kim sah auf die Uhr. Für einen Spaziergang war es leider schon zu spät. Das Seminar würde gleich beginnen. Als sie die Halle wieder betrat, kam Sonja Kantner gerade die Treppe herunter. Sie hatte ebenfalls auf den Lift verzichtet, aber – so, wie Kim sie einschätzte – wohl eher wegen der Figur als wegen Kims betörendem Duft. Kim hätte gleich noch mal seufzen können.

Aber da steuerte Frau Kantner schon auf Kim zu. »Gibt es gar nichts zur Begrüßung?«, fragte sie lächelnd.

»Doch. – Doch, sicher. Drüben im Empfangsraum.« Kim musste schlucken. »Kaffee und Croissants.«

»Die könnten sich auch mal was Neues einfallen lassen«, seufzte Sonja Kantner ein wenig, aber trotzdem wandte sie sich in die Richtung, in die Kim gedeutet hatte.

Kim folgte ihr. Sie bekamen zwei Ansteckschildchen mit ihren Namen und eine dünne Mappe mit Unterlagen. Auf den Tischen standen bereits vorbereitete Namensschilder aus Plastik, die bezeichneten, wer welchen Platz einzunehmen hatte. Kim blieb stehen. Ihren eigenen Namen sah sie, aber den ihrer Chefin nicht.

Die ging auf die andere Seite der U-förmig gestellten Tische hinüber. »Ah, hier!«, sagte sie lachend und hielt ihr Schild hoch.

Kim versuchte, ihre Erleichterung nicht allzu deutlich zu zeigen. Sie würde nicht den ganzen Tag neben ihr sitzen! Gerettet! Zumindest tags. Was nachts sein würde, war ein anderes Thema . . . Welch ein Glück, dass hier irgendjemand die Schilder offensichtlich recht willkürlich verteilt hatte und nicht nach Firmenzugehörigkeit geordnet wie meistens.

Nachdem sie ihre Plätze gefunden und ihre Unterlagen abgelegt hatten, gingen sie noch einmal hinaus und gesellten sich zu den teilnehmenden Herren. Frau Kantner beachtete nicht einmal, wie ihnen allen sofort die Zunge heraushing, als sie sie sahen. Sie hätte zehn Tassen Kaffee und ebenso viele Croissants auf einmal zu sich nehmen müssen, um die Angebote zu befriedigen. Sie wählte gnädig einen älteren Mann.

Kim und sie stellten sich an einen der hohen Bistrotische und warteten auf seine Rückkehr.

»Männer!«, bemerkte Frau Kantner. »Mit ihnen kann man nicht leben und ohne sie auch nicht!« Sie lachte noch einmal.

Na, Letzteres würde ich stark bezweifeln, dachte Kim. Aber Sonja Kantner kannte es eben nicht anders. »Sie sind doch verheiratet«, meinte Kim dennoch etwas erstaunt. Seit sie in der Firma war, hatten sie nie darüber gesprochen, aber sie wechselten ja auch kaum ein privates Wort miteinander.

»Ja«, erwiderte Sonja Kantner ausgesprochen knapp und lächelte dann gleich darauf ihren zurückkehrenden Diener hinreißend an, der sich verzweifelt bemühte, zwei Kaffeetassen und zwei Croissants mit zwei ungeschickten Männerhänden zu balancieren. Zu Hause tat das wahrscheinlich seine Frau, aber die war vermutlich auch nicht fünfundzwanzig Jahre jünger als er und sah aus wie Sonja Kantner.

»Danke«, sagte sie, als er endlich ankam. Viel Kaffee war in den Tassen nicht mehr. Sie nahm ihm eine ab und stellte sie vor Kim hin, sodass er ihr die zweite mit galanter Geste überreichen konnte.

Sie hatten kaum ihr Croissant probiert, als ein Mann um die Vierzig den Raum betrat – ein für Heterofrauen offensichtlich attraktiver Mann, wie Kim sofort an Sonja Kantners Blick bemerkte. Sie musterte ihn mit deutlichem Interesse. Zudem war er im Gegensatz zu ihrem Kaffee-Galan im richtigen Alter. Sie war fünfunddreißig, wie Kim aus ihrer Personalakte wusste.

Der Neuankömmling stellte sich als ihr Seminarleiter Klaus vor und bat alle, in den Kursraum zu kommen. Er stutzte, als Sonja Kantner an ihm vorbeiging, und sie lächelte, als sie es bemerkte. Die beiden hatten noch kein Wort miteinander gesprochen, aber schon ging es zwischen ihnen ab.

Kim hätte gern mit ihm getauscht.

Während des Seminartages merkte Kim, wie die Spannung zwischen den beiden wuchs. Vielleicht würde sie doch allein in ihrem Zimmer schlafen heute Nacht. Eifersüchtig beobachtete sie Sonja Kantner, wenn sie sich dem Kursleiter zuwandte, ihn bezaubernd anlächelte oder ihn etwas fragte.

Kim versuchte, nicht mehr hinzusehen, aber sie konnte nicht. Sonja Kantner saß ihr gegenüber, und manchmal fiel auch ein freundliches Lächeln für Kim ab, wenn sie in ihre Richtung blickte. Aber mit denen, die sie ihm schenkte, war das nicht zu vergleichen. Kims Eifersucht wuchs.

Sie ist meine Chefin, verdammt, nicht meine Freundin – und schon gar nicht meine Geliebte. Leider. Kim versuchte sich das immer wieder zu sagen, um dem Seminar wenigstens teilweise folgen zu können. Aber wenn Kim zu ihm blickte, sah sie, wie er Frau Kantner fixierte, also schweiften Kims Augen wieder zu ihr hinüber, und Kim bemerkte ihr Interesse an ihm. Es war teuflisch.

Nach Ende des Seminartages trafen sich alle in der Bar. Klaus ließ sich zwei Gläser geben, Champagnerkelche. Damit kam er an den Tisch und stellte einen davon vor Sonja Kantner hin. Er wusste, was Frauen mochten. Widerwillig machten die anderen Platz, sodass Klaus sich neben Frau Kantner setzen konnte. Sie stießen miteinander an, blickten sich tief in die Augen, und danach riss Klaus sich los und prostete auch den anderen zu.

Klaus achtete darauf, dass Frau Kantners Glas nie leer war, und sie wurde immer vergnügter. Sie lachte gern, selbst im Büro, aber hier an diesem Abend bekam ihr Lachen eine andere Qualität. Sie flirtete mit Klaus und er mit ihr.

Kim beobachtete die beiden, und jedes Mal versetzte es ihr einen Stich ins Herz, was sie mitansehen musste. Ihr Innerstes zog sich zusammen. Ich sollte ins Bett gehen, dachte sie, und mir diesen Anblick ersparen.

Aber sie konnte nicht. Es war wie eine Sucht, Sonja Kantner ansehen zu müssen, ihr Lachen zu genießen, auch wenn es nicht Kim galt, und ihre Anwesenheit.

Als sie später zur Toilette ging, hörte sie ein unterdrücktes Geräusch auf dem Gang, hinter der nächsten Ecke. Sie folgte dem Geräusch und sah – ihre Chefin.

Klaus hatte ihren Rock schon halb hochgeschoben und drängte sie an die Wand. Sie küssten sich, und Frau Kantner stöhnte und drängte sich ebenso an ihn wie er sich an sie.

Oh nein, das muss ich mir wirklich nicht antun! Kim drehte sich weg, aber in diesem Moment hörte sie ihre Stimme.

»Klaus . . . Klaus«, seufzte sie abgehackt und erregt, doch dann wandelte sich ihr Ton. »Nein, Klaus, bitte nicht.«

Er versuchte es weiter. »Ach komm«, sagte er überredend und küsste sie erneut, was Kim sah, da sie wieder um die Ecke spinxte. »Was ist denn schon dabei?«

»Ich bin verheiratet«, erwiderte sie leicht atemlos.

»Ich auch«, sagte er erregt lachend mit heiserer Stimme. »Aber weder dein Mann noch meine Frau sind hier. Also was soll’s?« Er küsste sie erneut, und sie wehrte ihn auch in keiner Weise ab.

Das tat sie erst, als er ihr wieder unter den Rock fasste. »Nicht, Klaus«, sagte sie und hielt seine Hand fest. »Nicht so und nicht hier. Das mag ich nicht.«

»Wo dann?«, fragte er.

»Höchstens bei dir«, sagte sie. »Ich teile das Zimmer mit meiner Mitarbeiterin.«

»Ja, richtig«, erinnerte er sich. Er ließ sie los. »Machen wir’s nicht ganz so auffällig«, schlug er vor. Er tat das sicher nicht zum ersten Mal auf einem seiner Seminare. »Ich gehe zuerst, und du kommst nach. 125.«

Das war wohl seine Zimmernummer. Ob seine Frau wusste, wie er sich vergnügte, wenn er nicht zu Hause war?

Er drehte sich um, und Kim musste schnell verschwinden, als er auf sie zukam. Sie saß schon fast wieder am Tisch, als er auftauchte. Eine Weile später erschien Frau Kantner, und keine zwei Minuten danach wurde Klaus plötzlich wahnsinnig müde und gähnte. »Ich gehe schlafen«, verkündete er. »War doch ziemlich anstrengend heute.« Er klopfte kurz auf den Tisch. »Gute Nacht.«

Ein allgemeines Nicken und Gemurmel antworteten ihm, und drei der anderen schlossen sich ihm an.

Frau Kantner wartete ein paar Minuten, dann erhob sie sich ebenfalls. »Für mich wird es auch langsam Zeit«, sagte sie. Sie blickte in Kims Richtung. »Sie können aber gern noch hierbleiben«, bot sie ihr an.

Wie großzügig! Aber Kim wusste ja, warum sie es tat. Sie nickte. »Ja«, sagte sie. »Ich bin noch nicht müde.« Kim folgte ihr mit den Blicken, als sie die Bar verließ. Glücklicher Klaus . . .

Kim kam erst gegen zwei in ihr Zimmer, doch Frau Kantner war immer noch nicht da. Sie suchte sich eine Seite des Bettes aus und legte sich hin. Der Alkohol, den sie aus Verzweiflung reichlicher als üblich konsumiert hatte, half ihr beim Einschlafen. Dennoch bekam sie mit, dass Sonja Kantner sich irgendwann später vorsichtig neben sie legte.

Kim lag steif wie ein Brett da, aber so sehr sie es auch versuchte, sie konnte Sonja Kantners Gegenwart nicht ignorieren, ihre Wärme, ihren Duft, der wie ein verführerischer Schleier über Kim hinwegzog. Mit großer Mühe, inklusive Schäfchenzählen, brachte sie es endlich fertig, wieder in einen unruhigen Schlaf zu fallen, doch es war unvermeidlich: Sie träumte von Frau Kantner. Von ihr und von sich. Kim streichelte sie, massierte ihre Brust und strich mit dem Daumen über die Brustwarze. Sonja Kantner seufzte. Kim erwachte mit einem Schlag. Es war bereits hell. Ihre Hand lag auf Frau Kantners Brust, und die seufzte erneut. Schnell zog Kim ihre Hand weg, bevor ihre Chefin aufwachte.

Kim stand hastig auf und stürzte unter die Dusche. Länger neben ihr zu liegen konnte sie nicht aushalten, und wahrscheinlich gab es ohnehin bald Frühstück. Ihr wurde schlecht, als sie daran dachte. Nach Essen war ihr heute wirklich nicht zumute, nach all dem Alkohol. Aber ein paar Alka-Seltzer dürfte das Hotel wohl auch zur Verfügung stellen, nahm sie an.

Sie ging hinunter und fragte die Bedienung danach. Die prompte Erfüllung ihres Wunsches zeigte an, dass Kim vermutlich nicht die Einzige war, die nach so etwas zum Frühstück verlangte. Einen Kaffee nahm sie auch noch und setzte sich hin, um darauf zu warten, dass das Medikament wirkte. Es dauerte eine Weile, dann wurden die Kopfschmerzen besser. Langsam bekam sie sogar Hunger.

Sie stand auf und holte sich etwas vom Buffet. Kurz nachdem sie an ihren Tisch zurückgekehrt war, erschien ein anderer Seminarteilnehmer. Er sah zum Fürchten aus. Er schien immer noch zu wanken, als er auf Kim zukam und sich an ihren Tisch setzte.

»Dir scheint’s ja gut zu gehen«, bemerkte er mit einem vor Widerwillen verzogenen Blick auf ihren halbgefüllten Teller.

Kim winkte der Bedienung. »Bringen Sie dem Herrn hier das Gleiche wie mir vorhin«, bat sie sie.

Die Bedienung nickte und verschwand. Gleich darauf kam sie zurück und stellte das Glas mit der trüben Flüssigkeit vor ihn hin.

»Was ist das?«, fragte er misstrauisch.

»Trink das, dann geht’s dir bald besser«, versprach Kim. »So habe ich es vorhin auch gemacht.«

Er trank, und als Kim bereits mit ihrem Frühstück fertig war, trat bei ihm endlich der gleiche Effekt ein wie bei ihr. »Mann, war das ’ne Nacht!«, stöhnte er mit um den Kopf gelegten Händen. Dann grinste er. »Habt ihr gut geschlafen, ihr zwei Mädels?«, fragte er hinterlistig.

»Versuch’s gar nicht erst, ich verrate es dir nicht«, warnte Kim ihn.

Er wollte natürlich wissen, ob Sonja Kantner überhaupt da gewesen war. Keinen hatte das Ablenkungsmanöver der beiden getäuscht. Jeder hatte mitbekommen, wie kurz nacheinander sie gegangen waren.

»Aha«, sagte er, immer noch grinsend. »Sie war also nicht da.«

»Nichts ›aha‹«, erwiderte Kim ärgerlich, »natürlich war sie da.«

Warum verteidigte sie ihre Chefin? Dafür gab es doch gar keinen Grund. Schließlich war Sonja Kantner erwachsen und konnte tun und lassen, was sie wollte. Kim war nicht für ihren Ruf verantwortlich. Wenn sie für Klaus die Beine breitmachen wollte und das alle mitbekommen hatten, war das einzig und allein Frau Kantners Angelegenheit.

»Diese verheirateten Singles«, grinste ihr Gegenüber immer noch. »Die haben sie doch nicht alle. Da bin ich schon lieber ein richtiger.« Er sah Kim interessiert an. »Und du bist doch auch einer, oder?«

Kim blickte zurück. Was sollte sie ihm sagen? Die Wahrheit? »Ja, bin ich«, antwortete sie und trank einen letzten Schluck Kaffee. »Ich bin ein echter Single.«

»Nicht verbandelt, nicht verheiratet?«, fragte er sicherheitshalber noch einmal nach und blickte kurz auf ihren Ringfinger. Aber da prangte nichts.

»Weder noch«, bestätigte Kim.

»Ich mag dich«, sagte er mit einem tiefen Blick in ihre Augen. »Sehr.« Er lachte. »Ich habe noch nie eine Frau erlebt, die so viel vertragen kann!«

Kim schüttelte den Kopf. »Wenn das der einzige Grund ist . . .« Sie stand auf.

Als sie am Eingang des Frühstücksraums ankam, stieß sie fast mit Frau Kantner zusammen.

Die Bedienung kam gleichzeitig aus der Küche und sah erst Kims Chefin an und dann Kim. »Alka-Seltzer?«, fragte sie mitfühlend.

Kim nickte, da ihre Chefin dessen nicht fähig zu sein schien. Die Bedienung verschwand erneut. Es war schon wie ein eingespieltes Ritual.

Kim wollte weitergehen, aber Sonja Kantner hielt sie am Arm fest. »Ich muss mit Ihnen sprechen, Frau Wolff«, sagte sie etwas mühsam. Sie hatte vielleicht nicht so viel getrunken wie Kim, aber auch eine ganze Menge. Ihr Kopf musste brummen wie ein Bienenschwarm.

»Das Seminar beginnt gleich«, erwiderte Kim abwehrend. Was wollte sie? Beichten? Ihr? Das konnte sie sich sparen. Ihr Privatleben ging Kim schließlich überhaupt nichts an, woran sie Kim zu ihrem Bedauern durch ihr Verhalten ja auch stets und ständig erinnerte.

Sonja Kantner sah Kim immer noch an. »Kann ich mich auf Ihre Diskretion verlassen?«, fragte sie leise und mit leicht rauer Stimme. Sie war offensichtlich noch ziemlich mitgenommen.

Kim blickte in ihr gequältes Gesicht – möglicherweise mehr gequält wegen des Alkohols als wegen des Seitensprungs, aber auch das ging sie ja nichts an – und nickte. »Natürlich«, sagte sie. Sie schaute zu ihrem Kollegen hinüber, mit dem sie eben noch am Tisch gesessen hatte. »Ich habe behauptet, Sie wären die ganze Nacht da gewesen.«

»Danke«, sagte Sonja Kantner. »Sie wissen, ich bin verheiratet –«

»Ich weiß«, sagte Kim, sie schnell unterbrechend. Sie konnte es nicht mehr ertragen. Sie ließ ihre Chefin einfach stehen und ging.

Beruhigend war zumindest, dass Frau Kantner von Kims morgendlichem Fauxpas im Bett anscheinend nichts mitbekommen hatte. Das wäre dann doch zu peinlich gewesen: so viele Geständnisse auf einmal; und das von beiden Seiten. Kim hoffte nur noch, dass diese drei Tage ohne weitere Zwischenfälle vorübergehen würden.

Vielleicht hatte die freundliche Bedienung auch ein paar Schlaftabletten. Kim würde sie danach fragen.

Während des Tages hielten Klaus und Frau Kantner sich erstaunlich zurück. Keine flirtenden Blicke mehr, keine Fragen von ihrer Seite, und seine Aufmerksamkeit schien sich jetzt auch etwas mehr auf die anderen Teilnehmer zu verteilen, sogar auf Kim. Dieser Casanova! Er blinzelte ihr doch tatsächlich zu!

Aber wahrscheinlich war das alles nur Einbildung. Gestern waren sie alle betrunken gewesen, und heute hatten sie alle einen Kater – die beiden auch. Sein Blinzeln war wahrscheinlich nichts anderes als ein vor Überanstrengung zuckendes Augenlid. Oder war irgendetwas vorgefallen? In seinem Zimmer? Frau Kantner würdigte ihn kaum eines Blickes, und in den Pausen saßen sie so weit wie möglich voneinander entfernt. Selbst beim Mittagessen suchten sie sich Plätze an den entgegengesetzten Enden des langen Tisches.

Vielleicht plagte sie aber beide auch nur das schlechte Gewissen. Verheiratet, wie sie waren. Möglicherweise hatte Kim ihn falsch beurteilt, und er war gar nicht so ein Hallodri. Bei ihr wusste Kim ja auch nicht, ob sie das gewohnheitsmäßig tat, wenn sie mal von zu Hause weg war. So hatte Kim sie bislang eigentlich nicht eingeschätzt. Aber eine attraktive Frau wie sie war natürlich ständigen Versuchungen ausgesetzt. Viele Männer würden es bei ihr probieren. Und einige davon hatten eben Erfolg.

Sonja Kantner hatte noch nie über ihren Mann gesprochen, und er hatte auch noch nie angerufen. Auf ihrem Schreibtisch stand kein Bild wie bei vielen anderen. Aber das musste ja nichts bedeuten. Sie wollte vielleicht nur ihre Privatsphäre wahren.

Am Abend in der Bar beobachtete Kim die beiden weiter, und tatsächlich unterhielt sich Klaus ostentativ nur mit den Männern und Frau Kantner mit allen außer Klaus.

Kim zuckte innerlich die Schultern. Heterogezicke. Von ihm wie von ihr. Nichts Wichtiges. Für Kim jedenfalls hatte es keine Bedeutung, für sie änderte sich nichts.

Sie beobachtete Frau Kantner, soweit ihr das möglich war, ohne sie auffällig anzustarren. Sie ist einfach unglaublich schön, dachte sie. Wenn sie die Haare zurückwarf, sah es aus, als ob Tausende kleiner Federn sich erst in die Höhe erheben und dann wieder zu einem samtenen Kleid zusammenfügen würden. Der dunkelrote Schimmer ihres kastanienbraunen Haares schien zu leuchten, wenn Licht darauf fiel. Wie glattpoliertes, wunderbar gemasertes Holz. Ihre Augen, ihre Lippen, ihre Stirn, wenn sie sie nachdenklich runzelte und dann gleich darauf lachte, dass die winzigen Augenfältchen in sämtliche Richtungen strahlten – alles an ihr war perfekt.

Sie hatte ein kleines Grübchen am Kinn, das man nur sah, wenn es aus einem bestimmten Blickwinkel angeleuchtet wurde und sie gerade den Kopf drehte. Es sah süß aus, und Kim versuchte stets, in der richtigen Position zu sitzen, um es sehen zu können. Die ganze Frau war einfach hinreißend.

Ich muss mir das abgewöhnen! Kim straffte ihre Schultern und schaute mit Gewalt in die andere Richtung. Sie ist hinreißend, ja – hinreißend hetero! Es hatte nun einmal keinen Sinn, sich an so eine Frau zu hängen, auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden. Als sexuelle Fantasie war sie ja ganz geeignet, aber doch nicht für irgendetwas Reales. Das war eben ausgeschlossen.

Noch zwei Nächte, es sind nur noch zwei Nächte . . . Eine Nacht hatte sie schon geschafft, den Rest würde sie auch noch irgendwie hinter sich bringen.

Sie konnte nicht ewig auf den Tresen starren, sie musste ihren Kopf zurückdrehen und – landete direkt in Sonja Kantners Augen. Anscheinend hatte ihre Chefin sie beobachtet, so wie auch Kim es zuvor umgekehrt getan hatte.

»Sie langweilen sich?«, fragte Frau Kantner.

»Oh . . . hm . . . nein, eigentlich –« Kim war völlig verwirrt von dem samtenen Blick dieser goldbraunen Augen. Noch nie waren sie ihr so nah gewesen und hatten sie so direkt angesehen.

»Es ist nicht gerade aufregend, ich weiß, aber das hatte ich Ihnen ja auch nicht versprochen. Sie brauchen nur das Zertifikat für die Beförderung.« Sie hob leicht entschuldigend die Augenbrauen. »Ich hätte Sie vielleicht vorwarnen sollen.«

»Hm . . . nein . . . ich –« Wird das noch mal was heute? Kim räusperte sich. »Ich kenne ja diese Seminare, nur nicht unbedingt als Teilnehmerin, aber ich habe schon das eine oder andere Mal Protokoll geführt oder die Organisation übernommen.«

»Ich weiß«, sagte Sonja Kantner lächelnd. »Ich kenne Ihre Personalakte.«

Oh, dieses Lächeln . . . Verdammt! »Natürlich«, versuchte Kim über einen Frosch im Hals hinweg zu erwidern.

»Das Geschäftsleben ist manchmal recht öde«, seufzte Frau Kantner. »Das lässt sich leider nicht vermeiden. Man muss es sich einfach so angenehm wie möglich machen. Solche Seminare sind auch nicht unbedingt mein Geschmack, aber das Thema wird in anderen Seminaren so selten behandelt, da musste es einfach sein.«

Kim hob die Hände. »Ich habe absolut nichts dagegen. Ich fand das Seminar bis jetzt recht interessant.« In verschiedener Hinsicht, fügte sie in Gedanken hinzu.

»Das freut mich.« Sonja Kantner lächelte wieder, und Kim wusste nicht, wo sie hinschauen sollte, ohne unhöflich zu sein. Diese Lippen . . . sie fühlte ihre samtige Weichheit schon, als ob sie sie berühren würden. Denk an was anderes!

»Ich glaube, ich gehe heute etwas früher schlafen«, sagte Kim. »Ist doch recht anstrengend, so ein ganzer Tag Zuhören.« Sie gähnte hinter vorgehaltener Hand und stand auf.

»Ich schließe mich Ihnen an.« Sonja Kantner stand ebenfalls auf.

Muss das sein?

»Sonja, kann ich dich kurz sprechen?« Klaus blickte herüber.

Im Seminar duzten sich alle, aber Frau Kantner und Kim hatten bewusst darauf verzichtet, um ihre Arbeit nach dem Seminar wie davor fortsetzen zu können.

Sonja Kantner zögerte unmerklich, nickte dann jedoch. »Selbstverständlich.«

Klaus stand auf und wies auf eine Ecke mit zwei Sesseln, die im Foyer stand. »Dort?«

Er und Sonja Kantner gingen zu der Besprechungsecke hinüber. Ein Schmunzeln ging durch die Reihen, dem sich Kim leider nicht anschließen konnte. Sie verließ die Bar. Auf dem Weg in ihr Zimmer schloss sich ihr Alka-Seltzer-Leidensgenosse ihr an.

»Ob da wieder was läuft zwischen den beiden?«, fragte er grinsend.

»Da läuft nichts.« Kim antwortete scharf.

»Meine Güte, bist du eine Glucke! Sieht man dir gar nicht an.« Er lachte. »Sie ist deine Chefin, nicht deine Tochter. Du musst ihre Tugend nicht schützen.« Er lachte wieder. »Ich glaube, darüber ist sie hinaus. Scheint eine ziemlich heiße Nummer zu sein.«

Kim warf ihm einen vernichtenden Blick zu.

»Oh, Entschuldigung!« Er hob die Hände. »War nicht so gemeint. Die Dame ist höchst attraktiv, wollte ich sagen.«

Kim schwieg.

»Andere Damen aber auch«, fuhr er fort und legte leicht den Kopf schief. »Du zum Beispiel.«

»Was du nicht sagst.« Kim verzog ironisch die Mundwinkel.

»Und ich meine es ernst.« Er blieb neben ihr stehen, während sie die Plastikkarte schon in der Hand hielt, um ihre Zimmertür zu öffnen. »Du bist viel attraktiver als sie – auf deine Art.«

»Auf meine Art? Welche Art ist das denn?« Kim musste schmunzeln. Sehr fragwürdige Komplimente verteilte ihr Kollege da.

»Du bist eben . . . na ja . . . netter«, erwiderte er vage. »Du gefällst mir einfach.«

»Weil ich zufällig die einzige Frau außer Frau Kantner auf diesem Seminar bin?« Kim konnte ein Grinsen kaum mehr unterdrücken. »Die Auswahl ist nicht sehr groß, das musst du zugeben.« Sie steckte die Plastikkarte in den Schlitz an der Tür. Die Tür machte pling und schaltete auf grün.

»Gebe ich zu«, sagte er. »Aber auch wenn noch mehr Frauen hier wären –«

»Würdest du dich auf der Stelle in mich verlieben?« Kim lachte. »Das glaube ich sofort.« Sie öffnete die Tür.

Ihr Kollege trat einen Schritt auf sie zu und war so schon mit einem Fuß im Zimmer. »Du bist nicht so kalt wie sie«, flüsterte er heiser. »Die ist doch ein Eisklotz, die reine Sahara.«

»Ein Eisklotz in der Sahara würde vermutlich schmelzen«, sagte Kim, amüsiert aber auch genervt. »Und vorhin hast du noch behauptet, sie wäre heiß.« Was führe ich hier eigentlich für Gespräche? dachte sie irritiert.

»Na ja, irgendwie schon, aber –« Er wand sich.

»Aber sie spielt nicht in deiner Klasse. Wolltest du das damit sagen?« Kim schüttelte den Kopf. »Sprich, ich tue das in deinen Augen?« Sie schaute ihn starr an. »Dann lass dir eins gesagt sein, mein Freund, ich spiele noch in einer ganz anderen Klasse als sie. In deiner auf keinen Fall.«

Er blickte sie entgeistert und verständnislos an.

Kim drückte mit ihrem Bein seinen Fuß beiseite, betrat ihr Zimmer und schloss hinter sich die Tür. Du meine Güte!

Eine Minute später klopfte es. Kim nahm nicht an, dass es ihr Kollege war, und öffnete. Sie hatte recht gehabt. Sie ließ ihre Chefin herein.

»Entschuldigen Sie«, sagte Sonja Kantner ein wenig verlegen. »Ich wollte nicht . . . aber ich muss ja auch irgendwo schlafen.«

Sie wirkte wahnsinnig süß, wie sie da so stand. Warum konnte Kim sie jetzt nicht einfach küssen?

»Wollen Sie nicht zu ihm gehen?«, fragte Frau Kantner. »Ich wollte Sie wirklich nicht daran hindern –«

Wie rührend besorgt sie um Kims Sexualleben war! Wenn sie das nur in der richtigen Form gewesen wäre . . .

»Nein«, sagte Kim, »Sie haben mich an nichts gehindert. Es ist schon in Ordnung so.« Sie ging zum Bett und holte ihr Nachthemd unter dem Kissen hervor.

»Männer können manchmal schon furchtbar sein«, bemerkte Sonja Kantner plötzlich ziemlich bitter.

Was hatte Klaus ihr nur letzte Nacht getan? Davor war sie doch noch nicht dieser Meinung gewesen.

Konnte Kim sie danach fragen? Wohl kaum. Das ging sie nichts an. Sie war nicht ihre Freundin, sondern ihre Chefin. Sie hatten keinerlei privates Verhältnis, wie sehr Kim das auch immer wieder bedauerte. Das änderte nichts an den Tatsachen.

»Sie sagen es«, stimmte Kim ihr zu und ging ins Bad.

Als sie zurückkam und sich ins Bett legte, bereitete Sonja Kantner sich darauf vor, ebenfalls ins Bad zu gehen. Sie zog sich tatsächlich nackt aus und ging dann so an Kim vorbei.

Kim hielt den Atem an. Ihr Körper war – oh Gott, ihr wurde entsetzlich heiß . . . Ihr Körper war ein Gedicht. Ihre Brust hatte Kim ja schon berührt, aber auch der Rest . . . sie war wirklich schön – und wahnsinnig begehrenswert. Aber was Klaus sich letzte Nacht genommen hatte, konnte Kim nicht haben.

Kim drehte sich um und kuschelte sich in ihre Decke. Ein armseliger Ersatz für ihre Haut, nach der Kim sich sehnte, für das Streicheln ihrer Hand, das Kim nie würde erfahren dürfen, außer wenn sie sie zufällig am Arm berührte, für einen Kuss von ihr, nach dem Kim sich verzehrte.

Und Kim wollte auch noch mehr von ihr. Sie wollte dieselben Laute von ihr, die sie Klaus geschenkt hatte, dieses Seufzen und Stöhnen. Kim wollte, dass sie ihren Namen flüsterte, wie sie seinen geflüstert hatte. Ach, sie war verrückt. Das alles würde nie geschehen, und Kim wusste es.

Sonja Kantner kam aus dem Bad zurück – immer noch nackt – und warf sich erst an ihrer Seite des Bettes ein Negligé über. Kim schloss kurz die Augen, um sich zu beruhigen. Es war ein extravagantes Teil. Ob sie nichts Einfacheres hatte? Nur für eine Fahrt zu einem Seminar? Aber vielleicht hatte sie es darauf angelegt gehabt, sich hier zu vergnügen. Und dementsprechend hatte sie sich vorbereitet.

Sie legte sich hin. »Würde es Sie stören, wenn ich noch etwas fernsehe?«, fragte sie, während sie die Decke über sich zog. »Ich bin eigentlich noch gar nicht müde. Ich wollte einfach nur weg von diesen . . . Männern.« Sie sprach das letzte Wort ziemlich verächtlich aus. »Aber wenn Sie schlafen wollen –«

»Nein, gar nicht«, antwortete Kim sofort. »Ich bin auch noch nicht müde.«

Sonja Kantner lächelte ein wenig. »Schön.« Sie stand auf, um die Fernbedienung zu holen.

»Bringen Sie doch noch etwas aus der Minibar mit und ein paar Nüsse oder Chips«, sagte Kim. »Die liegen da irgendwo rum.« Sie schmunzelte etwas. »Ich weiß, man soll nach dem Zähneputzen nichts mehr essen, aber für mich gehört das zum Fernsehen einfach dazu.«

Sonja Kantner nickte. »Ja, für mich eigentlich auch. Obwohl sich meine Mutter solche Mühe mit dem Zähneputzen bei mir gegeben hat.« Sie schmunzelte nun auch.

Sie brachte die Sachen mit, und sie klopften ihre Kissen auf, damit sie sie in den Rücken stopfen konnten.

Wie ein altes Ehepaar, dachte Kim.

Sonja Kantner schaltete den Fernseher ein, und sie einigten sich auf eine Woody-Allen-Komödie, eine richtige, nicht eine derjenigen mit dem jammrigen Unterton.

Es war herrlich. Sie saßen im Bett, knabberten Chips und Erdnüsse, tranken Cola und Wein – wen interessierte schon, ob das zusammenpasste? – und lachten sich halbtot über Woody Allens Späße. Ab und zu sah Kim zu Sonja Kantner hinüber, wenn sie es nicht bemerkte, und genoss es, ihr lachendes, entspanntes Gesicht von der Seite zu betrachten. Was für eine wunderbare Frau.

Als der Film endete, unterhielten sie sich noch ein bisschen darüber, lachten erneut über ein paar sehr lustige Szenen und legten sich dann schlafen.

Sonja Kantner löschte das Licht auf ihrer Seite und Kim auf ihrer. Kim hörte, wie sie einschlief, ihr Atem wurde tiefer, ruhiger. Sie grummelte ein bisschen vor sich hin, als sie schließlich ganz hinübersank.

Kim begehrte sie, hätte sie gern berührt, aber gleichzeitig genoss sie auch einfach nur ihre Gegenwart, selbst jetzt, während sie schlief. Es war schön zu wissen, dass sie da war, dass sie neben ihr lag, dass sie miteinander gelacht und sich gut verstanden hatten. Das alles war schon ein großer Teil von dem, was Kim sich von einer Frau, ihrer Frau, wünschte.

Der Rest – nun ja, das würde nie geschehen, und das war auch gut so. Kim seufzte. Sie konnte sich nicht länger wehren, als der Schlaf nach ihr griff, ihr Sand in die Augen streute und ihr deutlich befahl, jetzt endlich ihren Motor abzuschalten.

Sie sank hinüber in einen Traum, der durchaus Ähnlichkeit mit dem von letzter Nacht besaß, nur dass ihre Chefin diesmal noch verführerischer aussah, weil Kim nun ihren nackten Anblick, den sie ihr aufgedrängt hatte, in ihre Traumsequenzen einbauen konnte.

Kim erwachte, weil sie jemand weinen hörte. Zuerst dachte sie, es sei eine Sinnestäuschung, ein Überbleibsel ihres Traumes, obwohl darin niemand geweint hatte, ganz im Gegenteil, aber dann bemerkte sie, dass die Geräusche, die von der anderen Seite des Bettes kamen, echt waren. Kim beugte sich hinüber und berührte Sonja Kantners abgewandte Schulter. Das fahle Mondlicht ließ ihren Rücken hell schimmern.

Sie schien nicht wach zu sein; sie schlief immer noch. Aber sie weinte – sie weinte im Schlaf, eindeutig. Was sollte Kim tun? Sie wecken? Vielleicht war es ihr peinlich, wenn sie bemerkte, dass Kim es mitbekommen hatte. Aber Kim konnte sie doch nicht einfach so weinen lassen. Sonja Kantner schluchzte. Es war herzzerreißend.

»Frau Kantner . . .« Kim schüttelte sie ganz vorsichtig an der Schulter. »Frau Kantner, bitte wachen Sie auf.«

Sie warf sich plötzlich mit einem Ruck herum und an Kims Brust. »Halt mich!«, schluchzte sie. »Bitte, halt mich fest!«

Sie war wohl immer noch nicht wach. Dennoch tat Kim, um was sie sie bat, und hielt sie in ihren Armen, streichelte tröstend ihren Rücken und ließ sie weinen. Sonja Kantner beruhigte sich langsam, das Schluchzen wurde leiser, die Abstände dazwischen, in denen sie tief ein- und ausatmete, größer.

Es schien, als schliefe sie an Kims Brust einfach weiter. Nun ja – so richtig hatte Kim ja nichts dagegen, aber es machte sie doch an, wie sie so in ihren Armen lag, wie ihr Atem ihre Haut streifte und Kim ihre spüren konnte, genauso weich, wie sie sie sich vorgestellt hatte.

Kim hob ihre Hand und strich ganz vorsichtig über Sonja Kantners Gesicht, nur mit einem Finger und ganz leicht, damit sie nicht aufwachte. Oh, es war wundervoll! Was hätte Kim darum gegeben, sie weiterstreicheln zu dürfen. Nicht nur ihr Gesicht, ihren ganzen Körper, ihre Brüste, ihren Bauch, ihre Schenkel, und dann dazwischen –

Irgendetwas an Sonja Kantners Haltung veränderte sich plötzlich, sie erstarrte in Kims Arm und schien kaum mehr zu atmen – sie war aufgewacht.

Kim nahm schnell ihre Hand weg, und Sonja Kantner schlug die Augen auf, bemerkte, wo sie lag, und zog sich blitzartig auf ihre Seite des Bettes zurück. »Was . . . was ist passiert?«, fragte sie verstört.

»Nichts«, versicherte Kim ihr beruhigend. Sie griff zum Lichtschalter. Mit etwas Beleuchtung war das alles hier vielleicht nicht so intim.

»Nicht«, sagte Frau Kantner. »Bitte nicht.«

Kim ließ ihre Hand sinken und starrte weiter durch das nur schwach erleuchtete Dunkel zu ihrer Chefin hinüber. Erkennen konnte sie kaum etwas, aber in Frau Kantners Augen bildeten sich schimmernde Reflexe, wenn sie sich bewegte.

Doch sie bewegte sich kaum. Sie saß nur zitternd da – das Zittern spürte Kim durch das Bett; sehen konnte sie es nicht – und wartete offensichtlich auf irgendetwas, eine Reaktion von Kim oder dass sie aus diesem bösen Traum erwachte. Aber es war kein Traum mehr.

»Was ist passiert?«, fragte sie noch einmal, diesmal fester und mit wacherer Stimme, aber sie klang trotzdem immer noch verstört.

»Sie haben geweint, im Schlaf, und dann haben Sie bei mir . . . Schutz gesucht, und ich habe Sie festgehalten. Dann sind Sie aufgewacht. Den Rest wissen Sie«, erklärte Kim ihr so besänftigend wie möglich.

»Es . . . es tut mir leid«, sagte Sonja Kantner mit einem Ausdruck äußerster Beschämung in der Stimme. »Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie so belästigt habe. Ich weiß nicht, wie das geschehen konnte. Verzeihen Sie bitte.«

»Sie haben schlecht geträumt«, beschwichtigte Kim sie. »Das passiert doch jedem mal hin und wieder.«

Sonja Kantner lachte todunglücklich auf. »Aber nicht jeder wirft sich deshalb in die Arme einer Frau! Zumal wenn man selbst eine Frau ist.« Sie richtete sich etwas mehr auf. »Ich muss mich aufrichtig bei Ihnen entschuldigen. Das war sicher . . . nicht sehr schön für Sie.«

Sie tat Kim leid. Das war nicht fair. Sonja Kantner dachte, es sei ihr höchst unangenehm gewesen, und dabei hatte Kim es ja genossen. Kim bedauerte sogar sehr, dass sie aufgewacht war. »Das würde ich so nicht sagen«, erwiderte Kim nun ehrlich. Sie wollte sie nicht mehr länger belügen. »Ich bin das gewöhnt.«

Aus der Dunkelheit antwortete ihr nur Schweigen. Dann, nach einer Weile: »Wie . . . wie meinen Sie das?« Sonja Kantner lachte etwas nervös auf. »Trösten Sie öfter mal jemand an Ihrer Brust?«

»Das weniger«, gab Kim zu. »Obwohl – ist natürlich auch schon vorgekommen. Aber was ich meinte, ist, dass ich es gewöhnt bin, eine Frau im Arm zu halten.«

Sonja Kantner stand auf, ging zum Bad hinüber und machte dort das Licht an. Durch den Schein, der aus der Tür fiel, war es nicht mehr so dunkel. Aber richtig hell war es auch nicht. Das wollte sie offensichtlich immer noch vermeiden. Ihr Gesicht lag weiterhin im Schatten. »Das bedeutet . . .?«, fragte sie unsicher.

Sie wusste schon, was es bedeutete, nahm Kim an, sonst wäre sie nicht so schnell aufgestanden. »Da ich weder Krankenschwester noch Sozialarbeiterin bin«, seufzte sie, »bedeutet es genau das, was ich sage: Ich stehe nicht auf Männer, sondern auf Frauen.« Wie Sie, hätte Kim am liebsten noch hinzugefügt, aber das hätte der anderen dann vielleicht doch einen zu großen Schlag versetzt.

Sonja Kantner verschränkte die Hände vor ihrem Schoß und ging zu der kleinen Sitzgruppe hinüber, die in einer Ecke des Zimmers stand, zwei Sessel und eine winzige Sitzcouch. Sie ließ sich in einem der beiden Sessel nieder.

In ihrem dünnen Negligé! dachte Kim besorgt. Sie sollte sich etwas anziehen.

Frau Kantner sagte nichts, saß einfach nur da und starrte vor sich hin.

»Sie werden sich erkälten«, sagte Kim. »Wollen Sie nicht lieber wieder ins Bett kommen?«

Sonja Kantners Kopf schnellte hoch. Nein, das wollte sie offensichtlich nicht . . .

Kim wusste auch nicht, was sie sagen sollte. Eigentlich war nichts geschehen. Also füllte sich der Raum mit Schweigen.

Es dauerte einige Zeit, bis Sonja Kantner sprach. »Die Situation ist etwas . . . fremd für mich«, bemerkte sie kühl. »Sie verzeihen, wenn ich nicht genau weiß, wie ich darauf reagieren soll.« Ihre Stimme klang ausdruckslos.

Sie musste der Situation irgendwie die Spannung nehmen. Kim lachte auf. »Nun ja, für mich ist die Situation auch etwas fremd. Ich habe noch nie mit einer Frau im Bett gelegen, die ich sieze«, sagte sie, »und die zudem meine Chefin ist.«

Sonja Kantner sah zu ihr herüber und sagte wieder nichts. Kim musste das beenden. Ihre Chefin hatte ein Riesenproblem mit ihr und augenscheinlich auch eins mit sich selbst, das sie im Schlaf weinen ließ. Wenn sie nicht darüber reden wollte, war das ihr gutes Recht. Aber dann konnte Kim ihr auch nicht helfen.

»Sie werden sich den Tod holen«, seufzte Kim und stand auf. »Bitte gehen Sie wieder ins Bett. Ich werde auf der Couch schlafen.«

Frau Kantner blickte kurz zu dem winzigen Teil hinüber. »Dann müssten Sie Liliputanerin sein«, meinte sie trocken. Sie stand ebenfalls auf. »Nein, bleiben Sie nur da, wo Sie sind. Ich benehme mich albern. Es war wohl etwas zu viel für mich in den letzten Tagen. Aber deshalb müssen Sie ja nicht darunter leiden. Sie haben recht. Das Bett ist schließlich groß genug für uns beide.«

Etwas, das sie gesagt hatte, klang in Kim nach: Es war wohl etwas zu viel für mich in den letzten Tagen. Was meinte sie damit? Warum sprach sie sich nicht aus? Wäre das denn so schlimm für sie gewesen? Was war passiert? Aber sie wollte eben nicht.

Sie kam zum Bett zurück, und Kim legte sich ebenfalls wieder hin. Als sie sich unter ihrer Decke verkroch, ohne Kim anzusehen, stand Kim noch einmal auf und löschte das Licht im Bad. Vielleicht hatte sie es absichtlich brennen lassen, um Kim auf Abstand zu halten, aber dann sollte sie etwas sagen. Das tat sie nicht.

Als Kim sich zum Schluss endgültig auf ihre eigene Seite schob, bemerkte sie, dass die andere fast auf der Kante ihres Bettes lag. Wenn sie sich auch nur ein bisschen bewegte, würde sie hinausfallen.

Mein Gott, muss sie Angst vor mir haben! Was dachten Heterofrauen eigentlich von Lesben? Dass sie nichts anderes im Sinn hätten, als über sie herzufallen? So sah es jedenfalls aus.

Aber das musste Kim ja nicht unbedingt interessieren. Sie legte sich in die Mitte ihrer Matratze und drehte sich um.

Wenn sie so unbequem schlafen wollte – bitte.

Aber Kim würde das sicher nicht tun.

3

Als Kim aufwachte, war ihre Chefin schon weg. Beim Frühstück, wie Kim annahm. Sie wollte wohl jede weitere allzu private Situation vermeiden. War Kim auch recht. Sie duschte und ging hinunter.

Sonja Kantner saß allein an einem Tisch. Es war noch recht früh. Die anderen schienen noch nicht aufgestanden zu sein.

Kim ging zum Buffet und versorgte sich, dann wollte sie einen anderen Tisch ansteuern. Sich zu ihrer Chefin zu setzen, wäre ihr zu aufdringlich erschienen. Das wollte die sicher nicht.

Aber als Kim in die andere Richtung schwenkte, rief Frau Kantner sie. »Frau Wolff?«

Kim ging zu ihr hinüber, setzte sich aber nicht. »Guten Morgen«, sagte Kim.

»Guten Morgen«, erwiderte Frau Kantner. Sie musterte Kim, während sie vor ihr stand. »Bitte setzen Sie sich zu mir. Lassen Sie uns zusammen frühstücken.«

Kim zog die Augenbrauen hoch. Das hatte sie nicht erwartet. Aber da ihre Chefin es wünschte, ließ sie sich ihr gegenüber nieder. Die Bedienung brachte den Kaffee, den Kim schon beim Eintritt bestellt hatte.

Eine Weile saßen sie sich stumm gegenüber. Sonja Kantner aß nichts, sondern trank nur Tee. Kim hatte Hunger und biss herzhaft in ihr Brötchen. Angenehm war ihr dieses schweigsame Frühstück nicht, aber deshalb würde sie noch lange nicht darben.

Dann endlich räusperte Sonja Kantner sich. »Ich muss mich erneut bei Ihnen entschuldigen«, sagte sie. »Ich habe mich sehr dumm benommen heute Nacht. Verzeihen Sie. Ich wollte Sie nicht beleidigen.«

Kim schüttelte den Kopf. »Sie haben mich nicht beleidigt«, sagte sie. »Es ist alles in Ordnung. Nichts ist passiert.«

Sonja Kantner lachte trocken auf und lehnte sich zurück. »Oh doch!«, sagte sie. »Eine ganze Menge ist passiert!« Sie sah Kim merkwürdig an. »Bei Ihnen vielleicht nicht, aber bei mir schon«, fuhr sie fort. »Sie müssen bedenken, ich habe noch nie . . . ich habe noch nie an der Brust einer Frau gelegen, außer an der meiner Mutter.«

»Und daran werden Sie sich wohl kaum noch erinnern«, schmunzelte Kim.

Ihre Chefin lachte nun etwas entspannter. »Stimmt«, sagte sie. Sie betrachtete Kim erneut mit diesem sonderbaren Ausdruck. »Sie . . . Sie sind immer mit Frauen zusammen?«

Kim nickte. »Ja. Ausschließlich.« Sie bestrich eine weitere Brötchenhälfte mit Butter und wartete, was nun kommen würde.

»Und waren Sie nie . . . ich meine –« Sonja Kantner brach ab. Es war ihr offensichtlich peinlich. »Entschuldigen Sie«, bat sie schon wieder. »Ich belästige Sie mit meinen Fragen. Das geht mich ja alles nichts an.«

Kim ließ ihr Brötchen liegen und sah sie freundlich an. »Es ist aber auch nichts dabei«, sagte sie. »Für mich ist es ganz normal. Und um Ihre Frage zu beantworten: Ich war nie mit Männern zusammen.« Sie lachte etwas belustigt auf. »Außer in meiner Teenagerzeit. Da denkt man ja immer, man muss so sein wie alle anderen und will es auch ausprobieren. Aber ich habe sehr schnell herausgefunden, dass das nichts für mich ist.«

»Wie –?«, setzte ihr Gegenüber an, ließ es aber gleich wieder sein. Sie schüttelte den Kopf, anscheinend über sich selbst. »Ich bin furchtbar«, sagte sie dann. »So neugierig bin ich doch sonst nicht. Ich weiß gar nicht, was los ist.« Sie lachte etwas verlegen.

Ich könnte dir schon sagen, was los ist, dachte Kim leicht amüsiert. Du interessierst dich dafür. Vielleicht bist du doch nicht ganz so hetero, wie du denkst.

»Was möchten Sie wissen?«, ermutigte Kim sie. »Sie können mich alles fragen. Ich habe absolut kein Problem damit. Wie gesagt: Für mich ist es normal.«

Sonja Kantner musterte Kim erneut, diesmal noch intensiver. Uh, den Blick sollte sie etwas vorsichtiger einsetzen! »Wenn es für Sie so normal ist, warum haben Sie es mir dann nie gesagt?«, fragte sie.

»Haben Sie mir gesagt, dass Sie hetero sind?«, fragte Kim etwas süffisant zurück.

Sonja Kantner lachte überrascht auf. »Nein, natürlich nicht. Das ist ja –« Diesmal brach sie ab, weil ihr offensichtlich eine Erkenntnis gekommen war.

»Das ist ja normal, wollten Sie sagen?«, erkundigte Kim sich immer noch etwas amüsiert. »Sehen Sie, das ist es für mich auch. Also warum sollte ich ständig darüber reden?«

Ihre Chefin saß etwas verblüfft da. »Sie haben recht«, sagte sie. »So habe ich das noch nie betrachtet.«

»Das glaube ich Ihnen«, bemerkte Kim und verzog belustigt die Mundwinkel. »Heterofrauen denken über so etwas nie nach.«

»Heterofrauen!« Sonja Kantner stieß das Wort hervor, als ob es eine unanständige Bezeichnung wäre. Dann lachte sie wieder etwas nervös. »Schon allein das –«, fuhr sie fort. »Dass Sie das so differenzieren. Das ist total fremd für mich. Für mich gab es bisher nur Männer und Frauen. Mehr nicht.«

Kim musste nun doch leicht spöttisch lächeln. »Es gibt eine ganze Menge mehr«, klärte sie auf. »Die Auswahl, die Sie da getroffen haben, ist etwas unvollständig.«

»Ist sie das?« Wieder sah Sonja Kantner Kim so komisch an, als ob mehr dahintersteckte. »Oh Gott, da habe ich mich ja jetzt ganz schön blamiert«, meinte sie dann in der herrlich trockenen Art, die Kim so gern an ihr mochte.

»Aber nein«, wiegelte Kim zuvorkommend ab. »Woher sollten Sie das denn wissen? Wenn es in Ihrem Leben keine Rolle spielt.«

»Sie sind sehr freundlich«, sagte Frau Kantner. »Aber deshalb ist es trotzdem peinlich. Ich komme mir vor wie ein kleines Kind.«

In diesem Moment kamen zwei der anderen Teilnehmer herein und setzten sich zu ihnen, nachdem sie sich am Buffet bedient hatten. Damit war die Unterhaltung beendet, denn in Gegenwart der Männer wollten weder Frau Kantner noch Kim sie weiterführen. Darüber waren sie sich einig, ohne es aussprechen zu müssen.