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Ronen Steinke

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Beschreibung

Wie tickt der Geheimdienst, den jahrelang Hans-Georg Maaßen führte? Der deutsche Verfassungsschutz ist etwas sehr Besonderes. Einen solchen Geheimdienst haben andere westliche Demokratien nicht. Es ist ein Geheimdienst, der im Inland späht. Er richtet sich nicht gegen Kriminelle, sondern gegen Personen und Gruppen, die politisch für verwerflich erklärt werden. Er spioniert Bürgerinnen und Bürger aus, die keine Gesetze verletzen. Dabei hat der Verfassungsschutz enorm große Freiheiten, enorm große Macht. Er hat viel mehr Einfluss auf politische Bewegungen, als es der Öffentlichkeit bewusst ist.  Schützt der Verfassungsschutz die Demokratie wirklich? Noch nie gab es so viele Agenten, die im deutschen Inland die eigenen Bürger ausforschen. Das Personal des Verfassungsschutzes hat sich in den letzten 20 Jahren verdoppelt, sein Budget verdreifacht. Ein kritischer Blick hinter die Kulissen des Verfassungsschutzes Ronen Steinke recherchiert seit Jahren im Milieu der Inlandsspione. Er hat Spionagechefs interviewt und Agentinnen bei der Arbeit begleitet. Er zeigt, wie V-Leute arbeiten. Und er stellt eine fundamentale Frage: Schützt dieser Geheimdienst die Demokratie – oder schädigt er sie nicht eher?  Eine meinungsstarke Reportage Mit jeweils eigenen Kapiteln zum heimlichen Vorgehen der Inlandsspione gegen die Klimabewegung, zum Wirken rechter Netzwerke und der Causa Hans-Georg Maaßen.

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Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht.

 

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

1. Pssst

2. Gestatten: Ein Geheimdienst gegen »Demokratie-Gefährder«

Agenten-Humor

Die Idee von 1949: Ein Geheimdienst, strikt getrennt von der Polizei

Der größte Verfassungsschutz, den es je gab

3. Der Staat spioniert Bürger aus, die keine Gesetze verletzen

Der Schülersprecher Niema

»Islamischer Staat«, »Oldschool Society«, RAF: Manchmal unterstützt der Verfassungsschutz die Polizei

Legale Zeitungen, legale Protestgruppen im Visier: Das Kerngeschäft

4. Wer definiert, wann legaler Protest »extremistisch« ist?

Die Idee der wehrhaften Demokratie

»Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau«: Verfassungsschutz ist Ansichtssache

Die PDS und ihre »coolen Sprüche«: Verfassungsschutz ist Ansichtssache

Prinz Georg Friedrich und die Monarchisten: Verfassungsschutz ist Ansichtssache

5. Ein politisches Instrument der Regierung

Der Verfassungsschutz versus die AfD

Politischer Druck aus dem CSU-geführten Ministerium

Parlamentarische Kontrolle: Der Einfluss der Regierungsparteien

Der Regierungsgeheimdienst blickt immer nur auf die Opposition

6. So einen Geheimdienst gibt es in anderen liberalen Demokratien nicht

Blick ins Ausland

Beispiel USA: Das FBI und freedom of speech

Beispiel Frankreich: Die DGSI und die liberté d’expression

Beispiel Österreich: Das BVT und die Meinungsfreiheit

7. Im Namen des Wirtschaftssystems: Gegen Klimaaktivisten

Wer ist hier der Demokratie-Gefährder?

»System change not climate change«: Klima und Grundgesetz

Die Grünen in Gorleben: Kontinuitäten der Überwachung

8. Im Namen des Wirtschaftssystems: Gegen legale Linke

Linkspartei, »Solid«, »marx21« und Co.: Wer es wagt, den Kapitalismus überwinden zu wollen

Die »Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes«: Wer es wagt, nach dem KZ noch Kommunist zu sein

Die Zeitung junge Welt: Wer es wagt, von Klassengesellschaft zu sprechen

9. Die Methoden der Inlandsspione: Einfluss durch V-Leute

Günter, der Maulwurf

Diener zweier Herren: Das Spiel mit Insider-Spitzeln

Bündelweise Bargeld: Tino Brandt und andere Neonazis

»Steuernder Einfluss«: V-Leute in der NPD

10. Soziale Medien: Einfluss durch Fake-Accounts

Undercover-Agenten in rechtsradikalen Bubbles

»Natürlich, ich bestärke Menschen in ihrem Weltbild«

»Man braucht ein bestimmtes psychologisches Profil«

Instagram-Storys des Hasses

11. Trojaner im Handy: Einfluss durch Einbrüche

Von Tel Aviv nach Köln-Chorweiler

Werkzeuge, um Handys zu knacken: Zu Besuch bei Q

Digitale Intimsphäre: Was die Verfassung vom Geheimdienst verlangt

12. Der Feind stand immer links: Die historische DNA des Dienstes

Die Tragödie des Otto John

Wenn es der Kommunistenjagd dient: NS-Kontinuitäten

SS-Tätowierung unterm Arm: Adenauers Agenten

Der Radikalenerlass von 1972: Jagd auf die neue Linke

13. Die Entstehung des NSU unter den Augen des Verfassungsschutzes

Schüsse im Internetcafé

Wie Neonazi- und Verfassungsschutz-Strukturen sich gegenseitig bestärkten

Schützende Hand über der Neonaziszene: Thüringer Seilschaften

14. Rechts bis in die Spitzen: Hans-Georg Maaßen

Schöne Grüße aus Ungarn

Der Mann, der aus dem Ministerium kam: Maaßens Reise

»Faust in der Tasche«: Maaßen gegen die Flüchtlingspolitik

»Entgrenzung« nach rechts: Maaßen im Kreis der Kollegen

Hetzjagden: Maaßen gegen die Kanzlerin

Maaßens Ratschläge an die AfD

Maaßen war nicht allein

15. Fazit

Dank

Anmerkungen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

1. Pssst

Es waren martialische Bilder, die Abend für Abend in der Tagesschau gezeigt wurden: Polizisten, die in einen dichten Wald hinein vorrückten, von Kopf bis Fuß gepanzert, schwarz, behelmt. Sie stapften mit ihren Stiefeln auf Waldboden wie eine römische Legion. Es war Frühjahr 2020, in Nordrhein-Westfalen protestierten Klima-Aktivisten, um eine Grabung nach Braunkohle zu verhindern. Der Staat fuhr Räumfahrzeuge auf, rammte Scheinwerfer in den Boden, schloss große Lautsprecheranlagen an Generatoren an.

Viel weniger auffällig, eher diskret, machten aber gleichzeitig auch ein paar andere Beamte die Runde. Sie waren in Zivil gekleidet, teils in Jeans, teils in Kapuzenpullovern. Rund um die Demonstration schwärmten Agenten aus. Einige der jungen Aktivisten, die hier ihren Protest zum Ausdruck brachten, bekamen von diesen Beamten Visitenkarten zugesteckt, auf denen das Landeswappen Nordrhein-Westfalens prangte und das »Referat 614« erwähnt war. Es gehört zum Verfassungsschutz und ist zuständig für »Prävention/Aussteigerprogramme«.

Unter den Demonstranten befand sich auch ein 15-Jähriger, Jeremy M. Als er wieder zu Hause war, guckte er sich die Visitenkarte lange an, dachte nach. Jeremy M. lebte in Krefeld in der Obhut des Jugendamtes. Da er gerade verunsichert und besorgt war, fing er an, WhatsApp-Nachrichten zu wechseln mit dem netten Beamten, der ihm absolute Diskretion versprochen hatte.

An einem Morgen um 10.20 Uhr schrieb der Verfassungsschutz-Agent ihm zurück: »Habe mit der Jugendgerichtshilfe gesprochen. Vielleicht kann ich etwas für Sie erreichen.«

Der 15-Jährige schöpfte Hoffnung. Sein Problem war ein Strafurteil, das er erhalten hatte, eine unangenehme Sache. Es ging um einen Hausfriedensbruch bei einer Demo. Jeremy M. war mit anderen auf das Gelände des Braunkohletagebaus Garzweiler eingedrungen, Privatbesitz des Konzerns RWE. Nun erwarteten ihn ein paar Tage Arrest in einem Jugendgefängnis. Deshalb freute sich der 15-Jährige über eine weitere Nachricht des Agenten: »Wir sind noch im Gespräch und ich will versuchen den Arrest zu wandeln«, schrieb er. Vielleicht würde es klappen, hieß das, vielleicht würde Jeremy M. nicht in die Haft müssen.

»Okay danke«[1], schrieb er um 10.25 Uhr zurück.

Tagelang schrieben sich der Agent, der sich Felix M. nannte, und der Jugendliche auf diese Weise hin und her. In der Tagesschau konnte man derweil zusehen, wie die Politiker in Nordrhein-Westfalen erbittert darüber stritten, ob man wirklich weiter Braunkohle abbauen sollte oder die Demonstrierenden nicht eher recht hätten mit ihrem Verweis auf die Folgen für die Erderhitzung. Der Agent grüßte im Chat stets fröhlich, er verwendete auch Emojis wie zum Beispiel ein vierblättriges Kleeblatt für »Viel Glück«.

Bald ging es um eine Art von Vertrag, den Jeremy M. unterschreiben sollte, den der Agent ihm aber nicht per Chat schicken, sondern nur persönlich zeigen wollte. »Dienstliche Unterlagen werden nicht als WhatsApp versendet«, schrieb der Agent. Sorry, da sei nichts zu machen. »Ich könnte zu ihrer Wohnung kommen und wir reden am Auto.« Aber alles müsse bitte diskret ablaufen, ohne weitere Zeugen, darauf bestand der Verfassungsschützer.

Schließlich wurde Jeremy M. klar, was der Agent ihm anbieten wollte. Zusammenarbeit. Der 15-Jährige zögerte. Er schrieb: »Hallo, Könnten Sie mir eventuell die Sachen die ich unterschreiben soll als Foto schicken damit ich mir das vorher durchlesen kann sowie mit meinem Vater darüber sprechen kann?« Versendet um 18.04 Uhr.

Der Agent antwortete: »Wenn Sie das nicht wollen, kein Problem, Sie entscheiden, ob ihr Leben mit oder ohne unsere Begleitung weiter geht.« Versendet um 20.43 Uhr.

Darum ging es. Der Verfassungsschutz versuchte, eine Beziehung zu diesem wie auch anderen jungen Menschen aufzubauen, die im nordrhein-westfälischen Kohlerevier gegen die weitere Nutzung fossiler Energien protestierten. Das Ziel der Agenten war, sie vom Rest der Szene diskret zu entfremden, sie zu einer Distanzierung zu motivieren. Und damit auch dem erbitterten Protest, der der Polizei und der Politik so viel Kopfzerbrechen bereitete, etwas von seiner Wucht zu nehmen. Prävention eben.

»Wenn Sie das nicht wollen, kein Problem, Sie entscheiden, ob ihr Leben mit oder ohne unsere Begleitung weiter geht«: Man kann das als freundliches Angebot des Verfassungsschutz-Agenten an den 15-Jährigen lesen. Aber auch als Drohung. Denn wenn sich der Verfassungsschutz auf den Standpunkt stellt, dass ein Mensch politisch problematisch ist, uneinsichtig, verhärtet, »extremistisch«, kann bereits dies genügen, dass ihm das Leben ziemlich schwer gemacht wird.

Wenn der Verfassungsschutz diesen Standpunkt einnimmt, dann kann er Karrieren zerstören. Zumindest, wenn Menschen im öffentlichen Dienst arbeiten wollen, als Lehrerin oder Lehrer, zum Beispiel, oder in einem Job bei der Stadt. In München traf es selbst einen Doktoranden der Kommunikationswissenschaft, Kerem Schamberger, der in seiner Freizeit für die Rechte der Kurden demonstriert hatte. Dem Verfassungsschutz missfiel das: Wegen seiner »Selbstbezeichnung als Kommunist«, so schrieb das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz im Jahr 2016 in einem Brief an die Universität, solle man dem jungen Mann lieber nicht, wie geplant, eine halbe Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter geben.

Für Menschen, die keinen deutschen Pass haben und noch um ihre Einbürgerung bangen, ist es sogar noch heikler, wenn sie ins Visier des Verfassungsschutzes geraten. Dafür sorgt das Staatsangehörigkeitsgesetz, Paragraf 10, Absatz 1, Satz 1, Nummer 1a: Wenn jemand eine »Bestrebung verfolgt oder unterstützt oder verfolgt oder unterstützt hat«, die sich aus Sicht der Verfassungsschützer gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richtet, dann ist der Weg zum deutschen Pass schnell abgeschnitten.

Auch finanziell wird es dann schwierig: Sobald eine Organisation den Stempel erhält, dass sie vom Verfassungsschutz beobachtet wird, kann sie in der Regel nicht mehr als gemeinnützig anerkannt werden, wie es im entsprechenden Gesetz, in der Abgabenordnung, im Paragrafen 51, Absatz 3, Satz 2 heißt. Sie verliert damit alle steuerlichen Privilegien, muss dem Finanzamt womöglich auch auf einen Schlag hohe Beträge nachzahlen. Diese bittere Erfahrung hat im Jahr 2019 etwa die »Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten« gemacht.[2]

Das ist die Macht, über die der Verfassungsschutz verfügt. Damit schwächt er gezielt bestimmte politische Strömungen, erschwert ihnen Bündnisse. Deshalb können seine Agenten in politischen Diskussionen – sei es mit 15-Jährigen oder auch den leitenden Personen von Protestbewegungen – mitunter sehr, nun ja, überzeugend sein. Das geschieht aber stets diskret, hinter den Kulissen, die Öffentlichkeit soll nicht zu viel darüber erfahren.

»Was hälst du davon«, so schrieb der nordrhein-westfälische Agent noch in einer Chat-Nachricht an den 15-jährigen Jeremy M., »dass wir uns in der nächsten Woche an gleicher Stelle wie zuvor zum Gespräch treffen?« Versendet um 8.59 Uhr. Der Jugendliche solle nur bitte sicherstellen, dass sie ungestört reden könnten.

2. Gestatten: Ein Geheimdienst gegen »Demokratie-Gefährder«

Agenten-Humor

Der Inlandsgeheimdienst in Deutschland ist föderal aufgebaut, es gibt ihn im Bund und in den Ländern. Seine Zentrale befindet sich in Köln-Chorweiler: Eine riesige Betonburg auf einer grünen Wiese bildet das Hauptgebäude des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Innen besitzt der Bau den Charme einer 1970er-Jahre-Gesamtschule. Trübes Glas, Türen aus Metall, farbig lackierte Geländer. Am Eingang stehen Schließfächer. Handys muss man als Besucher einschließen, bevor man hineingeht, das gilt auch für die Agentinnen und Agenten, von denen hier knapp 4000 angestellt sind.

Wenn sie nicht gerade inkognito draußen unterwegs sind, arbeiten die meisten von ihnen am Computer. Auf ihren Schreibtischen stehen jeweils zwei Telefone. Nur mit dem schwarzen, kryptierten dürfen heikle Dinge besprochen werden, für alles andere gibt es das weiße. Und wenn man als Besucher dann zum Chef hinauf möchte, zum Meister der Spione, intern »P« genannt, dann führt der Weg durch einen langen Gang, vorbei an gerahmten Schwarz-Weiß-Bildern seiner Vorgänger. Hubert Schrübbers hängt da zum Beispiel, ein ehemaliger NS-Staatsanwalt und Mitglied von Hitlers Schlägertruppe SA. Und am Ende der Reihe Hans-Georg Maaßen.

Das Bundesamt für Verfassungsschutz besitzt außerdem noch ein paar Kasernengebäude im Berliner Stadtteil Treptow, verschanzt hinter hohen Metallzäunen – und eine große Anzahl an Büros im ganzen Land, denen man gar nicht ansieht, dass dort der Geheimdienst sitzt. Bei vielen stehen irgendwelche bürokratischen Tarnnamen an der Klingel. »Bundesanstalt für Immobilienaufgaben«. »Bundesservice Telekommunikation«. Andere sind als Software-Klitschen kostümiert, so war es bei der Firma »TeFor-System« in der Erfurter Häßlerstraße.

Als diese Verfassungsschutz-Tarnfirma im Jahr 2014 aufflog, lobte eine entzückte Linken-Politikerin aus dem Landtag einen Wettbewerb aus. Wer herausbekomme, wo der Verfassungsschutz seine nächste sogenannte Außenstelle betreibe, der gewinne ein 007-Einsteigerset mit Richtmikrofon und den Memoiren des einstigen Thüringer Verfassungsschutz-Chefs Helmut Roewer, der mittlerweile als Autor für rechtsradikale Verlage unterwegs ist.

Bei manchen steht auch gar nichts an der Klingel. Man fährt dann mit dem Aufzug hinauf, im ersten und zweiten Stock passiert man Firmenschilder, im vierten Stock fehlt plötzlich jegliche Beschilderung, alles ist weiß. Aber die Tür ist mit einer Videokamera und einem Iris-Scanner gesichert. Voilà, nach innen öffnet sich eine spezielle Schleuse, man wird begrüßt von einer Deutschland- und einer Europaflagge, die in der Ecke stehen. Von einem Bild an der Wand lächelt der Bundespräsident herab.

Rundherum gibt es noch die 16 Landesämter für Verfassungsschutz, verstreut über die ganze Republik, Stützpunkte für mehr als 3700 weitere Agentinnen und Agenten. Manche sitzen einfach mit unter dem Dach eines Landesinnenministeriums. Im Land Berlin belegen die Agenten sogar die oberste Etage, hier sitzt der Geheimdienstchef noch über der Innensenatorin, allerdings in einem wesentlich kargeren Büro. In anderen Landeshauptstädten sind sie in gesichtslose Bauten an der Peripherie verbannt, umgeben von einem hohen Zaun, Videokameras, vor ihnen ein Parkplatz, unter ihnen eine geheimnisvolle Kelleretage voller Technik.

Im sächsischen Dresden, wo böse Zungen behaupten, die Sicherheitsbehörden würden rechtsradikale Gruppen manchmal nachsichtig betrachten, steht das Gebäude des Verfassungsschutzes auf einem weitläufigen Areal der Polizei. Wer dort hineinwill, wird von privaten Security-Leuten gemustert. Einer von ihnen, so stellte sich im Frühjahr 2022 heraus, war im bürgerlichen Leben ein langjähriger NPD-Politiker gewesen, Hartmut Krien. Kurz zuvor hatte er noch im Dresdner Stadtrat gesessen. Die Verfassungsschutz-Agenten, die sich mit so etwas auskennen sollten, hatten das einfach nicht bemerkt. Oder jedenfalls hatten sie niemandem etwas davon gesagt.

Als im Herbst 2018 in Chemnitz ein Solidaritätskonzert gegen Rassismus unter dem Titel #wirsindmehr stattfand, waren die sächsischen Verfassungsschützer indes aufmerksamer. 60 000 Menschen nahmen damals teil, die »Toten Hosen« spielten kostenlos, die Punkband »Feine Sahne Fischfilet« auch. Sachsens Geheimdienstler prangerten die Veranstaltung in ihrem öffentlichen Jahresbericht als ein Event des Linksextremismus an, wovor man nur warnen könne.

Mal ist der Dienst beeindruckend groß, mal nur ganz klein. In München ist das Landesamt für Verfassungsschutz eine Art Festung mit wuchtigen Mauern, Kameras und grimmig dreinblickenden Pförtnern. Es ist eines der größten Landesämter überhaupt, unter den Agentinnen und Agenten sind Cyberspezialisten, Islamwissenschaftlerinnen, Sprachexperten, Psychologinnen. In einem anderen Bundesland ist es nur eine winzige Truppe, bloß ein paar Dutzend Beamte. Sie passen in ein paar schmale Büroflure, die das Land in den Eingeweiden eines Flughafens angemietet hat, zwischen Reiseveranstaltern und Mietwagenfirmen.

Im thüringischen Erfurt hat das achtstöckige Gebäude, dessen obere fünf Etagen das Landesamt für Verfassungsschutz beherbergen, schon Patina angesetzt. Die Teppiche sind abgewetzt, an den Bürotüren hängen hier und da Zeitungsausschnitte, die schon ausgefranst und vergilbt sind. Darunter befindet sich auch eine Fotomontage, soll wohl witzig sein. Man sieht zwei schielende Jugendliche mit Zahnlücken. Darüber steht: »Du hast nichts gelernt? Du hast keine Ahnung? Dann willkommen bei der Antifa.«

Büro-Humor. Willkommen bei den Spionen, die etwas dürfen, was sonst niemand darf in Deutschland: Sie dürfen Bürgerinnen und Bürger ausforschen, selbst dann, wenn diese gegen kein einziges Gesetz verstoßen haben. Die Verfassungsschützer, die im Auftrag der Bundesregierung und der 16 Landesregierungen innerhalb Deutschlands nach bestimmten politischen »Bestrebungen« spionieren dürfen, betreiben nicht bloß einen großen, sorgsam verborgenen Lauschapparat, also ein Netz aus V-Leuten, Online-Fake-Accounts, Hackern. Sie tun noch mehr als das. Sie greifen auch aktiv ein, ausdrücklich mit dem Ziel, die politische Dynamik im Inland zu verändern. Und zwar stärker, als die meisten Bürgerinnen und Bürger ahnen.

Die Idee von 1949: Ein Geheimdienst, strikt getrennt von der Polizei

Polizisten mit Uniform, Handschellen, Pistolen am Gürtel gab es in den drei westdeutschen Besatzungszonen schon, als die alliierten Besatzungsmächte im Frühjahr 1949 beschlossen, parallel zu ihnen noch eine zweite, andere Form von Sicherheitsbehörde zuzulassen. Die Alliierten teilten diese Entscheidung per Brief mit. Diesen Brief schickten sie am 14. April 1949 an die Väter und Mütter des Grundgesetzes. Die berieten gerade im Parlamentarischen Rat in Bonn. In dem Brief schrieben die Alliierten, dass sie den Deutschen gestatten wollten, »eine Stelle zur Sammlung und Verbreitung von Auskünften über umstürzlerische, gegen die Bundesregierung gerichtete Tätigkeiten einzurichten«.

Die Alliierten Hohen Kommissare, das heißt die Vertreter der USA, Großbritanniens und Frankreichs, die vom Bonner Petersberg aus über die westdeutsche Politik wachten, wollten eine starke Abwehr gegen Kommunisten wie Faschisten gleichermaßen installieren. Ihre Sorge war: Schon der kleinste Versuch eines Staatsstreichs, egal ob von rechts oder links, könnte der Sowjetunion als Vorwand für einen militärischen Einmarsch in die Bonner Republik dienen. Die Hohen Kommissare meinten, man müsse so wachsam sein wie nur möglich. Man brauche einen Geheimdienst, der sehr genau hinhöre, was da geflüstert werde in der Bevölkerung.

Aber ihnen war von Beginn an auch klar, wie leicht ein politischer Geheimdienst von der jeweiligen Regierung missbraucht werden könnte. Die Alliierten – und viele Deutsche – hatten noch das furchterregende Beispiel der Gestapo vor Augen, der »Geheimen Staatspolizei« der Nazis. Die hatte so hart zugepackt wie eine Polizei, oft sogar viel härter – interessierte sich dabei aber gar nicht dafür, ob Menschen irgendwelche Straftaten begangen hatten, sondern allein dafür, ob jemand Kommunist oder auf andere Weise Regierungsgegner war.

Deshalb machten die Alliierten eine sehr klare Vorgabe. Schon 1946 hatten sie mit ihrem Kontrollratsgesetz Nummer 31 explizit »alle deutschen Polizeibüros und -agenturen, die die Überwachung und Kontrolle der politischen Betätigung von Personen zum Zweck« hatten, verboten. Dabei sollte es auch unbedingt bleiben. Die Polizei sollte die Bevölkerung nicht mehr einer politischen Überwachung unterziehen. Das wäre Gift für eine Demokratie. Und so schrieben die Alliierten nun in ihrem Brief an die Väter und Mütter des Grundgesetzes, adressiert an den Präsidenten des Parlamentarischen Rates, Konrad Adenauer, dass der künftige neue Geheimdienst gegen »Umstürzler« unbedingt eine wichtige Bedingung erfüllen müsse: »Diese Stelle soll keine Polizeibefugnisse haben.«

So ist es bis heute. Das ist der große Unterschied zwischen dem Verfassungsschutz und der Polizei: Die Verfassungsschutz-Agentinnen und -Agenten, die die Bevölkerung politisch scannen, dürfen etwas anderes nicht: Sie verhaften niemanden, sie haben keine »Exekutivbefugnisse«, wie es in der Fachsprache heißt. Sie tragen keine Uniform, keine Handschellen, keine Pistolen. Die gesetzliche Vorgabe ist: Sie sollen nur lauschen, möglichst unauffällig, sich Notizen machen. Ihre Aufgabe ist die »Sammlung und Auswertung von Informationen« über »Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung« gerichtet sind. So steht es heute in Paragraf 3 des Bundesverfassungsschutzgesetzes. Ziel ist nicht die operative Gefahrenabwehr, sondern die politische Information: So hat das Bundesverfassungsgericht diese Mission einmal zusammengefasst.[3]

Den Agentinnen und Agenten ist dabei etwas gestattet, was die Polizei in einer Demokratie niemals dürfte: Sie dürfen politische Aktivisten überwachen, selbst wenn diese sich an alle Gesetze halten. Sie sind ein Politik-Beobachtungs-Geheimdienst. Sie beobachten Menschen, die erst einmal nur von ihrem politischen Grundrecht auf Meinungsfreiheit Gebrauch machen, und zwar in den meisten Fällen auf vollkommen legale Weise – indem sie etwa Flugblätter drucken lassen oder Demonstrationen anmelden. Das brisante Geheimwissen, das die Agenten auf diese Weise zusammentragen, sollen sie dann ihrer Regierung zuflüstern. Im Juristendeutsch: Sie sollen die Regierung »unterrichten«.

Von der Polizei müssen diese Agentinnen und Agenten strikt Abstand halten. Das war den Alliierten im Jahr 1949 wichtig, und der Grund dafür leuchtet auch bis heute ein. Ein Politik-Beobachtungs-Geheimdienst, der Bürgerinnen und Bürger bei deren legalen Aktivitäten – sei es als Stadtrat der legalen Partei NPD oder als Besucher eines legalen Konzerts der Band »Feine Sahne Fischfilet« – überwacht, ein solcher Politik-Beobachtungs-Geheimdienst sollte niemals direkt der Polizei ins Ohr flüstern dürfen: Guckt euch mal diesen politisch unliebsamen Bürger ganz besonders gründlich an. Oder auch: Rechtlich haben wir gegen diese Bürgerin zwar nichts in der Hand, aber sie bräuchte trotzdem mal einen dezenten Schuss vor den Bug.

Um solchen Versuchungen aufseiten der Sicherheitsbehörden vorzubeugen, müssen ein Politik-Beobachtungs-Geheimdienst und eine Polizei sauber getrennt bleiben. Das ist ein wichtiges Prinzip. Verfassungsrechtlich spricht man vom »Trennungsgebot«. So steht es heute im Verfassungsschutzgesetz des Bundes, Paragraf 2: »Das Bundesamt für Verfassungsschutz darf einer polizeilichen Dienststelle nicht angegliedert werden.« Sowie in Paragraf 8: »Polizeiliche Befugnisse oder Weisungsbefugnisse stehen dem Bundesamt für Verfassungsschutz nicht zu; es darf die Polizei auch nicht im Wege der Amtshilfe um Maßnahmen ersuchen, zu denen es selbst nicht befugt ist.«

Die Polizei darf sich grundsätzlich nicht dafür interessieren, welche Partei ein Bürger favorisiert, welche Zeitschriften er abonniert, für welche politischen Anliegen er eintritt, für welche Bürgerinitiative er sich engagiert. Sie darf nur darauf schauen, ob der Mensch sich an die Gesetze hält. Das ist alles. Das ist der Anspruch, den man an eine rechtsstaatlich begrenzt agierende Polizei in einer Demokratie haben muss. Das unterscheidet die Polizei fundamental von der großen Freiheit, die der Politik-Beobachtungs-Geheimdienst genießt.

Dessen Agentinnen und Agenten sind, genau wie Polizistinnen und Polizisten, Beamte. Sie werden genauso bezahlt. Aber sie werden anders ausgebildet. Sie besuchen keine Polizeischule, sie erleben auch keine feierliche Vereidigung auf das Grundgesetz mit Blaskapelle und Fotos fürs Erinnerungsalbum. Der Verfassungsschutz rekrutiert seine Mitarbeitenden diskret, gern von Universitäten, und er schickt sie gern auch auf eigens eingerichtete Spionageschulen. Eine von ihnen befindet sich in einem alten Gebäude, umgeben von Wäldern im kleinen Ort Heimerzheim, 45 Kilometer von Köln entfernt. Es ist eine Art Agenten-Internat, die »Akademie für Verfassungsschutz«. An der Wand hängen Fotos von Abschlussjahrgängen, in den Klassenzimmern stehen die Tische in U-Form. Vor fast jedem Raum steht ein grauer Kasten – ein Aktenvernichter.

Der größte Verfassungsschutz, den es je gab

Von Jahr zu Jahr stellt die Bundesrepublik mehr Menschen beim Verfassungsschutz ein. Die genaue Zahl an Mitarbeitern lässt sich ziemlich genau rekonstruieren. Die Spur verläuft durch Dokumente, auf denen »VS-Vertraulich« oder gar »GEHEIM« steht. Der Beginn dieses rasanten Wachstums lässt sich auch ziemlich klar datieren: auf den 11. September 2001.

Die islamistischen Flugzeug-Attentäter, die an diesem Tag in den USA in die Türme des World Trade Center rasten, hatten zuvor in Hamburg-Harburg gelebt – in einer Wohngemeinschaft, ohne aufzufallen. Mit ihren mörderischen Anschlägen verband sich deshalb auch eine Blamage für die deutschen Sicherheitsbehörden. Im Haushaltsjahr 2002 erhielt das Bundesamt für Verfassungsschutz, das bis dahin nur 2199 Mitarbeitende beschäftigt hatte, auf einen Schlag 260 neue Planstellen. Die Zeit des Sparens war vorbei. Anders als in den 1990er-Jahren war von Stellenkürzungen nun nicht mehr die Rede. Es war symbolträchtig: In diesem Jahr wuchs der deutsche Inlandsgeheimdienst erstmals über die Größe hinaus, die er in der Hochphase des Kalten Krieges gehabt hatte.[4] Das war der Anfang.

Die Durchleuchtung der islamistischen Szene wurde nun zu einem großen Thema. Die Politik erwartete Insiderinformationen aus deutschen Moscheen, und zwar dringend. Im folgenden Jahr spendierten Bundesregierung und Bundestag noch einmal 146 weitere Planstellen für das Bundesamt für Verfassungsschutz, und so ging es nun weiter, Jahr für Jahr. 2007 kamen zusätzlich 43 Millionen Euro hinzu für eine neue »Anlage zur Telekommunikationsüberwachung« – Spionage-Hightech, die unter dem Projektnamen »Phoenix« eigens entwickelt wurde.

Am 4. November 2011 folgte der nächste große Einschnitt. Auch diesmal war es wieder eine tiefe Blamage, die die Sicherheitsbehörden erschüttert hatte. Im thüringischen Eisenach war an diesem Tag ein Wohnwagen in Flammen aufgegangen, angezündet von zwei Männern, die dann im Wagen Suizid begingen. Sie hießen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos. Mithilfe von CDs, die ihre Komplizin Beate Zschäpe an Medien verschickte, enttarnten sie sich als Mitglieder der Gruppe »Nationalsozialistischer Untergrund«, NSU – als rechtsextreme Mörder also, die mehr als ein Jahrzehnt lang tötend durchs Land gezogen waren, ohne dass die Sicherheitsbehörden dies gestoppt oder überhaupt öffentlich von Akten des Rechtsterrorismus gesprochen hätten.

Als Reaktion darauf gab es im Haushaltsjahr 2013 für das Bundesamt für Verfassungsschutz erneut deutlich mehr Geld als bisher, nämlich 19,5 Millionen Euro extra, unter anderem zur »Stärkung der Bekämpfung des Rechtsextremismus«, wie es in den offiziellen, aber vertraulichen Beschlüssen hieß.

So ging es nun weiter. Der Blick der Politik ist in diesen Jahren sehr oft in Richtung des Verfassungsschutzes gewandert, wann immer es neue Probleme gab, die Sicherheitspolitikern Sorgen bereiteten. Im Herbst 2015 kamen Hunderttausende Flüchtlinge in Deutschland an. Unter den insgesamt 1,3 Millionen Zuwanderern aus dem Nahen und Mittleren Osten, die bis 2020 gezählt wurden, befanden sich auch traumatisierte, frustrierte, radikalisierte. Dazu gehörte ein junger Tunesier namens Anis Amri, der am 19. Dezember 2016 einen Lastwagen in die Menschenmenge auf einem Berliner Weihnachtsmarkt steuerte. Oder auch der Mann, der am 18. Juli 2016 in einem Regionalzug bei Würzburg mit einer Axt losschlug. Oder der Attentäter, der am 24. Juli 2016 in Ansbach auf einem Weinfest einen Sprengsatz zündete.