Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich - Ronen Steinke - E-Book
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Ronen Steinke

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Beschreibung

Der Rechtsstaat bricht sein zentrales Versprechen Das Versprechen lautet, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind. Aber sie sind nicht gleich. Das Recht hierzulande begünstigt jene, die begütert sind; es benachteiligt die, die wenig oder nichts haben. Verfahren wegen Wirtschaftsdelikten in Millionenhöhe enden mit minimalen Strafen oder werden eingestellt. Prozesse gegen Menschen, die ein Brot stehlen oder wiederholt schwarzfahren, enden hart und immer härter. In einer beunruhigenden Reportage deckt der Jurist Ronen Steinke systematische Ungerechtigkeit im Strafsystem auf. Er besucht Haftanstalten, recherchiert bei Staatsanwältinnen, Richtern, Anwälten und Verurteilten. Und er stellt dringende Forderungen, was sich ändern muss. Systematische Ungerechtigkeit im Strafsystem Gerichtsverfahren wegen Wirtschaftsdelikten in Millionenhöhe enden mit minimalen Strafen oder oder werden eingestellt. Prozesse gegen Menschen, die ein Brot stehlen oder wiederholt schwarzfahren, enden hart und immer härter.Die Gründe dafür hängen mit den Gesetzen zusammen. Und mit dem, was die Gerichte heute aus diesen Gesetzen machen. Das mag man achselzuckend hinnehmen: Es gibt halt Oben und Unten. Wer Geld hat, der hat es überall leichter. Aber wenn sich der Rechtsstaat so etwas nachsagen lassen muss, dann ist das kein Recht.Es sind angespannte, gereizte Zeiten in Deutschland. Die sozialen Gegensätze verschärfen sich. Arm und Reich entfernen sich immer mehr voneinander. Und die Justiz steht mittendrin – und versucht, die Wogen zu glätten? Die Gleichheit zu verteidigen? Nein, sie macht leider mit beim Auseinandertreiben.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Zitat

Vorwort

I. Anwälte

Je teurer der Verteidiger, desto unschuldiger wird der Angeklagte

1. »Die Angeklagte verteidigt sich selbst«: Ein guter Witz

2. Pflichtverteidiger: Nicht jeder bekommt einen Anwalt

3. Reichenanwälte, Armenanwälte und »Gerichtsnutten«

II. Urteile

Je prekärer die Lebensumstände, desto strenger entscheiden Richter

1. Das Whisky-Experiment: Wer Probleme in der Familie hat, wird härter bestraft

2. »Gewerbsmäßig«: Wer arm ist, wird eher als Berufsverbrecher eingestuft

3. »Sozialprognose«: Wer arbeitslos ist, bekommt seltener Bewährung

III. Geldstrafe

Je vermögender man ist, desto billiger kommt man davon

1. »Tagessätze«: Die schöne Idee, Arme und Reiche würden gleichbehandelt

2. »Schätzung« des Einkommens: Ein Geschenk für reiche Täter

3. Ich zahl’ für dich: Wohl dem, der reiche Gönner hat

IV. Gefängnis

Der neue Schuldturm

1. »Ersatzfreiheitsstrafe«: Wer nicht zahlt, muss in Haft

2. Wenn Menschen vor lauter Not ins Gefängnis wollen

3. »Strafbefehl«: Kafkas Albtraum

V. U-Haft

Wer prekär lebt, wird häufiger präventiv eingesperrt

1. »Fluchtgefahr«: Wer arbeitslos oder einsam ist, kommt eher in Haft

2. »Ohne festen Wohnsitz«: Wer obdachlos ist, hat keine Chance

3. »Kaution«: Wer hat, der hat

VI. Wirtschaftskriminalität

Die Welt der weißen Kragen

1. Wie man Geldstrafen als Spesen abrechnet

2. Wie man Geldstrafen von der Steuer absetzt

3. Wie man einen günstigen »Deal« bekommt

VII. Elendskriminalität

Die Welt der Schwächsten

1. Sex für Heroin: Prostituierte werden kriminalisiert, ihre Freier nicht

2. »Hartz-IV-Betrug«: Der Staat straft viel härter als bei Steuerhinterziehung

3. »Bettelei«: Das Comeback einer Kriminalisierung

VIII. Drogen

Der Konsum geht durch alle Schichten, die Bestrafung nicht

1. 1,2 Gramm Cannabis, vier Monate Freiheitsstrafe: Die Härte

2. »Kontrolldelikt«: Der Staat sieht bei Außenseitern genauer hin

3. Mother’s little helper: Die Highs der gehobenen Gesellschaft

13 Vorschläge, wie es besser gehen könnte

Dank

Anmerkungen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

»Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.«

Grundgesetz, Artikel 3, Absatz 1

Vorwort

Dieses Buch handelt von einem der größten kriminellen Coups der vergangenen Jahre. Von einer milliardenschweren Betrugsmasche, verübt durch den größten Autobauer der Welt, VW. Wenn dessen Chef, Herbert Diess, für seine Rolle in diesem Geschehen eine Geldauflage an das für ihn zuständige Strafgericht in Braunschweig zahlen muss, dann ist das zwar eine große Summe, 4,5 Millionen Euro. Auch wenn das nur ein paar Monatsgehälter sind für den VW-Chef, das klingt nach viel. Aber er bekommt das gar nicht zu spüren. Diese Summe zahlt der VW-Chef nicht. Das verlangt das Gericht nicht. Der VW-Chef braucht sie, so sind die Regeln, nicht persönlich zu zahlen, sondern kann sie aus seiner Unternehmenskasse begleichen lassen. Und das Unternehmen – kann dies als »Betriebsausgabe« von der Steuer absetzen.

Kurzum, das übernehmen am Ende, zumindest zu einem erheblichen Teil, die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler.[1] Vielleicht ja auch Sie.

Dieses Buch handelt zugleich von einem kleinen Bagatelldiebstahl, wie er in Deutschland täglich Tausende Male vorkommt, eine Stehlerei, von der man nicht reich wird. Ein Mann mit schmaler Rente, Ioannis V., hat in einem Berliner Supermarkt »zwei Grapefruits, vier Kürbiskernbrötchen, einen Eisbergsalat, eine Gurke sowie eine Packung Tomaten« eingesteckt, wie es im Urteil des zuständigen Strafgerichts heißt. Zufällig zur selben Zeit, im September 2020, als bei VW über Stellenabbau infolge des Milliardenbetrugs diskutiert wird.

Der Dieb in Berlin bekommt seine Strafe aufs Schärfste zu spüren. Die Justiz bittet den Rentner zur Kasse, auch wenn der sich noch nie etwas hat zuschulden kommen lassen. Weil er ein Obstmesser in der Seitentasche seines Rucksacks trug, das das Gericht als »Waffe« einstuft, erhält er eine besonders erhöhte Strafe. Er soll 1350 Euro zahlen, das entspricht fast seiner kompletten Jahresrente, da der Mann nur 136 Euro im Monat erhält.

Falls sich übrigens jemand erbarmen und die Geldstrafe für ihn begleichen wollen sollte, keine Chance. Das Sozialamt wertet so etwas als »Zuwendung« von außen und würde es dem Rentner sofort von seinem Wohngeld abziehen.[2]

So ist die Lage in Deutschland. Der Rechtsstaat basiert auf dem Versprechen, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind. Aber die Realität ist oft eine andere, Arme und Reiche sind vor dem Strafrecht in vielerlei Hinsicht ungleich. Die Justiz begünstigt jene, die begütert sind. Und sie benachteiligt jene, die nichts haben.

Das Vermögen in Deutschland ist so ungleich verteilt wie in keinem anderen Land der Eurozone. Das reichste Hundertstel der Bürger verfügt über ein Drittel des Vermögens. Am anderen Ende besitzen Millionen Menschen kaum etwas, oder sie sind überschuldet.[3] Und ähnlich wie in unserem Bildungssystem, wo die Chancen für Kinder abhängig von ihrer Herkunft ungleich verteilt sind, ist dieses Gefälle auch im Rechtssystem steil.

Da sind einerseits die Manager-Prozesse, bei denen aufseiten der Verteidigung große Anwaltskanzleien in Stellung gebracht werden. Akribisch und hartnäckig werden die Vorwürfe durchgearbeitet, kleinste Zweifel aufgezeigt. Da gibt es Fälle, in denen sich das Rechtssystem als äußerst milde erweist. Die Justiz bietet an, die Sache geräuschlos zu beerdigen, man müsse sich nur über den Preis unterhalten. Eine Geldauflage.

Und da ist andererseits der Bereich, in dem sich die vielen Armen bewegen. Eigentums- und Vermögensdelikte machen hierzulande satte 57,7 Prozent aller Fälle aus, mit denen sich die Strafverfolger beschäftigen. Nur bei 3,3 Prozent der Delikte, die von der Polizei verfolgt werden, handelt es sich um Gewalttaten.[4] Auch in den Gefängnissen bilden die wegen Eigentums- und Vermögensdelikten Inhaftierten die größte Gruppe. Oft sind es Geschichten von Elend, zwei Drittel aller Insassen waren vorher arbeitslos, ein Drittel suchtkrank.[5]

Hier fehlt es an vielem, meist schon an einem Anwalt. Anders als in den meisten europäischen Staaten bekommen Arme in Deutschland nicht automatisch einen Strafverteidiger auf Staatskosten gestellt. Ob der oder die Beschuldigte eine Chance hat, die etwaige Unschuld zu beweisen, die eigenen Rechte wahrzunehmen, ja, mitunter überhaupt erst zu erkennen: Darüber entscheidet der Geldbeutel. Und da sieht es meist schlecht aus.

In Deutschland wird gelegentlich eine »Zweiklassenmedizin« oder auch eine »Zweiklassenbildung« beklagt. Bezüglich der Justiz gibt es viel weniger ein Bewusstsein dafür. Die Leidtragenden haben kaum eine Lobby. Davon handelt dieses Buch.

Bücher mit dem bösen alten Wort »Klassenjustiz« auf der Titelseite sind zuletzt vor etwa hundert Jahren erschienen. Für den damaligen SPD-Politiker Karl Liebknecht war sie eine traurige Tatsache: Die Mittel- und Oberschicht sitzt zu Gericht über die Unterschicht.[6] Der FDP-Politiker (und Lord des britischen Oberhauses) Ralf Dahrendorf kam noch im Jahr 1960 zu dem kühlen Befund: In den Gerichten sei »die eine Hälfte der Gesellschaft über die ihr unbekannte andere Hälfte zu urteilen befugt«.[7]

Das war schon damals etwas plump. Das stimmt heute sicher nicht mehr. Die Justiz hat sich gewandelt. Worüber man heute aber sprechen muss, das sind Mentalitäten, Vorverständnisse. Die Art, wie Menschen, die die Justiz prägen, auf die Welt blicken. Das ist etwas anderes als ein simpler »Klassenstandpunkt«.[8] Das sind Anschauungen, die eingeübt und tradiert werden. Sie zeigen sich teils schon im Wortlaut von Gesetzen, teils erst in der Art, wie diese Gesetze interpretiert werden. Und sie haben zur Folge, dass die unterschiedliche Behandlung von Arm und Reich noch immer sehr real ist. Nein, mehr noch: Seit Beginn des 21. Jahrhunderts nimmt sie erstaunlicherweise zu.

Das Problem wächst – messbar. Schon lange gilt im deutschen Recht das Prinzip, dass Menschen in Haft müssen, wenn sie eine Geldstrafe nicht bezahlen können. 1903 sprach der damals prominenteste Kriminologe, Gustav Aschaffenburg, kritisch von einer »Klassenstrafe«, weil in diesen Fällen nicht das Ausmaß der Schuld über die Inhaftierung entscheide, sondern lediglich der Geldbeutel des Verurteilten.[9]

Neu ist: Mehr als hundert Jahre später ist das nicht seltener geworden, sondern viel häufiger, ein regelrechtes Massenphänomen. Je mehr Arme durch das Hartz-IV-System gezwungen sind, erst einmal ihren Besitz zu versilbern, bevor sie Stütze erhalten, desto schneller stehen sie am Abgrund, wenn sie eine Geldstrafe bezahlen sollen.

Hinter Gittern, weil man die Geldstrafe nicht bezahlen kann: Die Anzahl der davon Betroffenen ist seit der Jahrtausendwende deutlich gestiegen. Neuerdings, und das ist ein denkwürdiger Moment im noch jungen 21. Jahrhundert, ist dies sogar der häufigste Grund, warum Menschen in Deutschland eine Gefängnisstrafe antreten müssen. Wenn das Gustav Aschaffenburg 1903 geahnt hätte.

Mancher mag das achselzuckend hinnehmen: Es gibt halt Oben und Unten. Wer Geld hat, der hat es überall leichter. Wer arm ist, sollte sich halt besser zweimal überlegen, ob er sich dem Verdacht einer Straftat aussetzt. Aber egal, wie man zur Vermögensverteilung in Deutschland steht: Es gibt bestimmte Orte, an denen das keinen Unterschied machen darf. Orte, an denen der Staat alle Menschen gleichbehandeln muss, egal ob arm oder reich. Die Schule ist so ein Ort. Ganz sicher auch der Gerichtssaal.

Das Wort »Klasse« kommt mir dabei schwer über die Lippen. Es klingt nach einer Vereinfachung eines Problems, das viel komplexer ist. Die ärmeren Milieus sind kein Monolith. Menschen werden durch ganz unterschiedliche Umstände in Armut getrieben oder gehalten. Migrantisch zu sein in Deutschland, kann ein Faktor sein. Die Mechanismen, die ich in diesem Buch beschreibe, treffen deshalb nicht allein, aber überproportional auf Menschen mit Migrationshintergrund zu.[10]

I. Anwälte

Je teurer der Verteidiger, desto unschuldiger wird der Angeklagte

 

1. »Die Angeklagte verteidigt sich selbst«: Ein guter Witz

»Deutsch?«, fragt die Richterin. Eine Frau in orangefarbener Jacke steht etwas verloren in der Mitte des kleinen Berliner Gerichtssaals. Ihr Gesicht wirkt wächsern und grau, die blondierten Haare kleben am Hinterkopf.

»Hm?«

»Deutsch?«

»Wie?«

»Ob Sie deutsch sind!!«

»Hm?«

Die Frau hat Schwierigkeiten, die Fragen nach ihren Personalien zu verstehen. Sie ist 76 Jahre alt und auf beiden Ohren schwerhörig, wie sie entschuldigend sagt. Das Geburtsdatum ging gerade noch, die Frau, die Irene von B. heißt, hat genickt, als der Tag im November 1944 vorgelesen wurde. Für den Rest braucht es jetzt mehrere Anläufe. Kein guter Anfang für einen Prozess. Amtsrichterin Anja Grund versucht jetzt einfach, sehr laut zu sprechen. Die Angeklagte, die schwarze Leggings trägt, scheint das nicht als Unfreundlichkeit aufzufassen – wenn man das denn beurteilen kann als Zuschauer, der Irene von B. zum ersten Mal sieht. Oder auch als Richterin, die sie zum ersten Mal sieht.

Frau von B. wurde vorgeladen wegen einer Packung Kerzen zum Preis von 4,99 Euro.[11] Diese soll sie in der Rossmann-Filiale in der Berliner Schloßstraße eingesteckt haben, »um meinen Adventskranz zu vervollständigen«, wie sie selbst sagt. Das war ein paar Tage vor Weihnachten. »Das ist für mich eine Sache, die ich brauche für meine Gemütlichkeit, weil ich ohnehin allein zu Hause bin.«

Die Kerzen, und daneben auch die Tatsache, dass Frau von B. sich seit ihrem Eintritt ins Rentenalter schon ein paarmal bei ähnlichen kleinen Taten hat erwischen lassen, seien ihr äußerst peinlich, sagt sie. »Ich fühle mich dabei gar nicht wohl. Ich mein’, ich hab die Kerzen ja trotzdem bekommen. Der Polizist hat mir die Kerzen gekauft. Der konnte es ja selbst nicht verstehen, dass ich mir wegen ein paar Kerzen so einen Ärger einfange.«

Die Richterin sagt: »Sie müssen diese Frage nicht beantworten, aber mögen Sie uns sagen, wie viel Geld Sie im Monat zur Verfügung haben?«

Irene von B. dreht sich um, schaut zu einem jungen Mann, der sie in den Saal begleitet hat. Er sagt: »Knapp 1000 Euro Rente.«

»Und wer sind Sie, bitte?«, fragt die Richterin.

Er sei der gesetzliche Betreuer von Frau von B. An dieser Stelle müsste man eigentlich stutzen, denn einen gesetzlichen Betreuer bekommt man in Deutschland an die Seite gestellt, so steht es im Bürgerlichen Gesetzbuch, wenn man »aufgrund einer psychischen Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung seine Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht besorgen« kann.[12] Der junge Mann erläutert dann noch, dass Frau von B. seit ihrem Schlaganfall halbseitig gelähmt sei. »Auch kognitiv gibt’s erhebliche Einschränkungen.«

Schlaganfall. Das war dem Gericht bis dahin nicht bekannt.

Gerichtsverhandlungen in Deutschland sind eigentlich öffentlich. Das ist ein ehernes Prinzip, es soll Beschuldigte vor Willkür schützen. Eigentlich ist deshalb auch die Verhandlung gegen die 76-jährige Frau von B. öffentlich. Aber es ist vielleicht kein Zufall, dass auf den drei Holzbänken für das Publikum in diesem kleinen, linoleumgefliesten Gerichtssaal niemand sitzt. Man müsste dazu ja wissen, dass es dieses Schnellgericht überhaupt gibt, das offiziell »Bereitschaftsgericht« heißt. Draußen steht nur »Polizei« und »Landeskriminalamt«.

Und man müsste dann in diesem Gebäude, gelegen an einer vierspurigen Bundesstraße, dem Tempelhofer Damm, auch erst den Weg durch eine verschlossene Tür finden, an einem Wachtmeister vorbei, der den Ausweis und die Taschen kontrolliert, dann weiter durch einen langen Gang. Sitzungssaal 0202, gegenüber stehen bunte Müllbehälter für Altglas, Restmüll, Gelber Sack.

An der Wand neben der Tür ist, wie bei Gerichtssälen üblich, ein A4-Zettel angeschlagen. Auf ihm finden sich die Namen von neun Angeklagten, die an diesem Tag herbestellt worden sind. Und Uhrzeiten: 10.45 Uhr. 11.00 Uhr. 11.15 Uhr. 11.30 Uhr. 11.45 Uhr. 12.00 Uhr. 12.15 Uhr. 12.25 Uhr. 12.40 Uhr.

An diesem unscheinbaren Ort wickelt Deutschlands größtes Strafgericht, das Amtsgericht Berlin-Tiergarten, jene Fälle ab, für die es sich besonders wenig Zeit nehmen möchte. Solche Schnellgerichte gibt es in fast allen größeren Städten. »Einfach gelagerte Fälle«, heißt es im Amtsdeutsch, darf die Justiz in besonders beschleunigten Verfahren bearbeiten.[13]

Fast immer handelt es sich um Ladendiebstahl oder Schwarzfahren, deutscher Alltag. Vorhin ging es in Saal 0202 um Lebensmittel im Wert von 5,57 Euro. Die Angeklagte hieß Nicole B., 57, sie war teilweise geständig, wie die Richterin vom Blatt ablas. »Sie gesteht Müsli, Schrippen, Lachgummi, Corned Beef«, sagte die Richterin. »Katzenfutter bestreitet sie.« Und sie bat um Entschuldigung. Da es aber nicht der erste derartige Diebstahl war, erhielt sie 30 Tagessätze Geldstrafe.[14] Übersetzt bedeutet das, dass ihr ein Monat Hartz IV gestrichen wurde.

Manchmal werden in diesem Gerichtssaal 20 oder 30 Prozesse erledigt, an einem einzigen Tag. Für die Justiz geht es darum, einen Teil der enormen Masse an Verfahren wegzuschaffen, unter denen sie in Berlin so ächzt. »Wir sind die Massendrescher«, sagt eine Frau, die dort arbeitet. »Wir müssen effektiv und schnell sein. Je höher die personelle Not, desto schneller wird gedroschen.«

Wenn es diese ultrakurzen Prozesse nicht gäbe, dann würde vielleicht – wie in New York – bis in die Nacht hinein verhandelt werden müssen: mit Ladendieben, die noch bei Mondschein auf der Anklagebank sitzen, und mit Richterinnen, die tagsüber schlafen und erst um 17.30 Uhr zur Spätschicht in den »Night Court« kommen.

Das Schnellgericht ist kein Ort für hohe Strafen. Hier werden nur Fälle aufgerufen, bei denen die Justiz mit maximal sechs Monaten Freiheitsentzug rechnet. Es ist auch kein Ort des völligen Unverständnisses gegenüber Menschen in schwierigen Lebenslagen. Manchmal ergeht auch Gnade vor Recht. Vor einer Stunde zum Beispiel kam ein 27-Jähriger herein, der im Kaufland »diverse Lebens- und Genussmittel« im Gesamtwert von 42,13 Euro entwendet haben soll. So hat es die Anklägerin vorgelesen. »Eistee der Sorte Lipton Sparkling, Wurst, Fisch und zwei Backwaren.«[15]

Der Angeklagte: Phillip S., breite Figur. Die Basecap nahm er ab für seinen kurzen Auftritt, die Kapuzenjacke behielt er an. Er sagte, es sei ihm damals nicht gut gegangen. Er habe wegen seiner Hautkrankheit unter einer Depression gelitten. »Ich konnte mich nicht bewegen, ohne dass was aufgerissen ist.« Inzwischen gehe es ihm zum Glück besser. »Ich bin jetzt beim Rheumatologen, kriege monatlich Spritzen.« Einen Job habe er auch wieder.

Phillip S. hat keine Vorstrafen. Er sagte, er habe zum ersten Mal im Leben etwas im Supermarkt eingesteckt. Das Geld war alle, der Kühlschrank leer. »In dem Moment war es die einfachste Lösung. Jemand nach Geld fragen? Nee.« Richterin Anja Grund hatte da schon Luft geholt, um etwas zu sagen, aber Phillip S. schob leise hinterher: »Aber war scheiße, klar.«

Hier sind sich die Richterin und die Anklägerin schnell einig gewesen, sie haben auf eine Strafe verzichtet. Nach Paragraf 153 der Strafprozessordnung darf man ein Verfahren ganz ohne Auflagen einstellen. »Die Kosten des Verfahrens trägt die Staatskasse«, hat die Richterin gesagt und Phillip S. nach nicht einmal zehn Minuten verabschiedet und Gesundheit und Erfolg gewünscht.

»Aber das bleibt bei uns vermerkt«, sagte die Anklägerin noch. »Also, es sollte nicht noch mal vorkommen. Das müssen Sie uns wirklich versprechen.«

»Versprochen. Ja.«

Aber Gnade ist die Ausnahme. Auch hier, im Schnellgericht. Wer nicht zum ersten Mal erwischt worden ist wie der 27-Jährige, sondern schon zum achten Mal im Supermarkt etwas Kleines eingesteckt hat wie die 76-jährige, halbseitig gelähmte Irene von B., gilt als unbelehrbar. Da wird die Justiz strenger.

Irene von B. ist schon 2009 zu 15 Tagessätzen verurteilt worden, wie die Anklägerin nun vorträgt. Damals musste sie eine halbe Monatsrente als Strafe zahlen. Dann noch mal 2011. Und wieder 2013. 2014. 2015. 2016. 2020. Von Mal zu Mal wurde die Strafe leicht erhöht. So ist es üblich. Auch wenn die Taten Bagatellen bleiben, die Strafen werden irgendwann empfindlich.

Im Gerichtssaal hält jetzt die Anklägerin ihr Plädoyer wegen des Diebstahls der Kerzen für 4,99 Euro. Sie ist keine »Volljuristin«. Zu den Bagatelltätern schickt die Berliner Justiz nicht ihre Staatsanwältinnen, das wäre zu teuer, sondern Rechtspflegerinnen, die eine dreijährige Zusatzausbildung zur sogenannten Amtsanwältin absolviert haben. Zwei Drittel der Kriminalitätsfälle in der Hauptstadt werden so abgearbeitet. Meist gibt es nicht mal einen Prozess, die Justiz schickt dann gleich ein schriftliches Urteil, einen sogenannten Strafbefehl, fertig. Wer will, kann Widerspruch einlegen.

Die Anklägerin im Saal also lobt: Es sei immerhin anerkennenswert und strafmildernd, dass die 76-jährige Angeklagte alles zugegeben habe. Und auch der Wert des Diebesguts sei ja minimal. Aber diese vielen Vorstrafen, die offenbar nichts gebracht hätten, »was soll man denn da machen mit Ihnen?«. An die Richterin gewandt, fordert sie eine harte Geldstrafe, 40 Tagessätze.

An dieser Stelle müsste jetzt eigentlich ein Verteidiger erwidern. Er könnte für einen etwas gnädigeren Blick werben. Sicher, Irene von B. scheint trotz der vielen Vorstrafen wieder gestohlen zu haben. Aber was wäre, wenn man ehrlich ist, das Schlimmste, was die Gesellschaft noch zu befürchten hätte von dieser Rentnerin, die alle ein bis zwei Jahre mal etwas klaut? Wofür will man sie noch mit Härte abschrecken? Sie ist 76, schwer gezeichnet, und selbst wenn sie wieder einen kleinen Ladendiebstahl begehen sollte, bliebe der Schaden doch sehr gering.

Der Strafverteidiger könnte auch mit dem argumentieren, was der Bundesgerichtshof »Strafempfindlichkeit« nennt.[16] Gemeint ist, dass Frau von B. heute offensichtlich kränker ist denn je und dass sie mit dem wenigen Geld, das sie noch hat, mehr zu kämpfen hat denn je. Knapp 1000 Euro Rente: Davon geht die Miete ab, Heizung, Strom. Was bleibt, ist in etwa Hartz-IV-Niveau. Neuerdings zerbrächen ihr ständig Sachen, hat sie der Richterin erzählt. Gerade erst habe sie auf der Straße auch ihre Brille verloren. Also auch wenn man die Geldstrafe gar nicht erhöhen würde, dürfte Frau von B. unter dem Geldentzug härter leiden als früher.

Der Strafverteidiger könnte auch die Frage nach der Schuldfähigkeit von Frau von B. aufwerfen. Vielleicht müsste er das sogar. Womöglich wüsste er auch etwas mehr zu sagen zu den »erheblichen kognitiven Einschränkungen«, von denen der gesetzliche Betreuer so knapp gesprochen hat. Und über die auch die Richterin nicht mehr weiß, weil sie nicht nachgefragt hat. Auch die Anklägerin hat nicht nachgefragt.

Wer weiß, vielleicht würden einem Strafverteidiger auch noch ganz andere Dinge einfallen, die der Angeklagten Irene von B. nicht in den Sinn kommen in diesem Moment. Aber nichts von alldem passiert. Niemand steht auf. Frau von B. verteidigt sich selbst. Niemand hat ihr einen Pflichtverteidiger zur Seite gestellt.

Ein Recht auf einen vom Staat bezahlten Anwalt hat man in Deutschland nur in seltenen Fällen. Bei Straftaten nämlich, die so schwer wiegen, dass sie voraussichtlich zu einer Haftstrafe von mindestens einem Jahr führen.[17] Daneben gibt es noch ein paar Extraregeln, die in Paragraf 140 der Strafprozessordnung aufgelistet sind. Dort steht auch: Der Staat muss eine Verteidigerin oder einen Verteidiger bestellen, wenn »ein seh-, hör- oder sprachbehinderter Beschuldigter die Bestellung beantragt«.[18]

Aber ob die Angeklagte Irene von B. das weiß? Ob sie von diesem Recht je gehört hat? Im Gerichtssaal jedenfalls hat niemand sie darauf hingewiesen.

Die Entscheidung, ob ein Angeklagter, der kein Geld hat, einen Strafverteidiger bekommt, trifft allein die Richterin, nicht etwa eine neutrale Instanz von außen, ein Sozialamt zum Beispiel. In Deutschland entscheidet das dieselbe Richterin, die anschließend auch den Prozess führt; die also mit diesem Anwalt womöglich streiten oder sich kritisieren lassen müsste, was ja Zeit und Nerven kostet.

Die Justiz entscheidet auch selbst, dass Fälle wie der von Irene von B. »einfach gelagert« seien, also keine zu große Mühe wert. Dahinter steht die Vorstellung, die sogenannten einfachen Leute hätten ein einfacheres Leben, was ziemlich anmaßend ist.[19] Um dieses Leben geht es ja, nicht um Kerzen oder Lachgummi. Der Sinn von Strafverfahren soll sein: in das Leben von Menschen auf eine Weise einzugreifen, die sie möglichst auf den Weg des Rechts zurückholt.

Man sieht in diesem Schnellgericht durchaus einmal Anwälte. Vorhin zum Beispiel saß am Verteidigertisch für eine Weile eine Frau mittleren Alters, die auf einem rosafarbenen Handy spielte. »Fuchsvideos aus Russland, so süß«, sagte sie einmal entschuldigend zur Richterin, als diese sie angesprochen hatte. Die Anwältin und die Richterin: Sie haben ein paar Minuten gewartet auf eine Angeklagte, die nicht aufgetaucht ist. Dann ist die Anwältin wieder gegangen.

Danach saß dort der Anwalt Frank Scherf, 53 Jahre alt. Die schwarze Robe hat er gar nicht erst übergestreift. Es lohnte sich nicht. Ein paar Minuten lang hat er gewartet. Auch sein Mandant ist nicht erschienen. Es sei »manchmal schwierig«, vorher Kontakt zu den Mandanten aufzunehmen, sagt er. »Da gibt es auch welche, die lernt man erst zehn Minuten vor dem Prozess kennen. Die meisten bräuchten eine engere medizinische Betreuung.«

Die 76-jährige Irene von B. in ihrer orangefarbenen Daunenjacke sitzt jetzt auf einem Stuhl. Es hat eine Weile gedauert, bis das geklappt hat; bis die beiden Frauen in schwarzen Roben, die Richterin und die Anklägerin, durch gemeinsames lautes Rufen in Richtung der Angeklagten überhaupt klarmachen konnten, welcher Stuhl für sie vorgesehen ist.

»Einfach gelagert« sind Fälle womöglich nur genau so lange, wie kein Anwalt ins Spiel kommt, der Fragen stellt und sich für die Rechte einer Beschuldigten starkmacht. Für den Staat, für den es schnell gehen soll, ist es so sicher einfacher. Aber ist es auch immer gut für die Wahrheitsfindung oder für die Gerechtigkeit?

Ein letztes Mal wendet sich die Richterin an Irene von B.: »Sie haben das letzte Wort, möchten Sie noch etwas sagen?«

Irene von B. schüttelt den Kopf. »Nein, es tut mir wahnsinnig leid, dass ich das gemacht habe. Es soll nicht wieder vorkommen.«

Es folgt das Urteil: Keine 20 Minuten sind vergangen seit den ersten Verständigungsschwierigkeiten, da wird Irene von B. wieder hinausgeschickt, beladen mit einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen à 20 Euro, insgesamt 800 Euro. Sie darf das in Raten abbezahlen, es dürften trotzdem ein paar schwierige Monate werden für sie.

Ein paar Tage später folgt dann die schriftliche Urteilsbegründung, die gerade mal aus sechs Sätzen besteht. Sätze wie diesem: »Aus der Anklage ergeben sich die erwiesenen Tatsachen und das angewendete Strafgesetz.«[20] Zu körperlichen und kognitiven Einschränkungen von Irene von B. kein Wort.

Die Nächste, bitte.

2. Pflichtverteidiger: Nicht jeder bekommt einen Anwalt

Viele Menschen in Deutschland glauben: Wer vor Gericht angeklagt wird, bekommt immer eine Anwältin oder einen Anwalt. Notfalls auf Staatskosten. Aber so ist es nicht. Überhaupt nicht. Es ist sogar eher die Ausnahme, dass der Staat in dieser Situation hilft. Nur bei besonders schweren Delikten gewährt er ein Recht auf einen Pflichtverteidiger, nur in etwa zehn Prozent der Fälle.[21] In der großen Masse der Verfahren, die täglich die Amtsgerichte beschäftigen, bei den kleinen Diebstählen, den einfachen Betrügereien, den Trunkenheitsfahrten, tut er dies nicht.[22] Da kann man es sich entweder leisten, einen Anwalt zu engagieren, oder man kann es nicht.

Es gäbe für Gerichte durchaus die Möglichkeit, großzügig zu sein. Die Gerichte dürfen Anwälte auf Staatskosten spendieren, »wenn wegen der Schwere der Tat, der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge oder wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann«. So steht es in Paragraf 140 der Strafprozessordnung.

(Die Kosten des Pflichtverteidigers bekommt der Beschuldigte dann eigentlich nicht geschenkt, sondern der Staat geht nur in Vorleistung. Prinzipiell holt er sich das Geld später wieder. Aber nur, wenn der Beschuldigte leistungsfähig ist. Bei Hartz-IV-Empfängern und Menschen, die unter der Pfändungsgrenze leben, verzichtet er darauf. Dies sei praktisch der Regelfall, hieß es 2018 in einer »Finanzkostenabschätzung« des Bundesjustizministeriums.[23] Bei etwa 80 Prozent dieser Fälle übernimmt der Staat also tatsächlich die Rechnung.)

Aber Begriffe wie die »Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage« sind dehnbar. Die Gerichte geben immer wieder eine wenig gönnerhafte Linie aus. Ein drei Tage dauernder Berufungsprozess mit neun Zeugen zum Beispiel – das sei noch nicht »schwierig« genug, um dem Beschuldigten ein solches Recht auf einen Pflichtverteidiger zu geben. So hat 2011 das Oberlandesgericht im nordrhein-westfälischen Hamm entschieden.[24]

Oder in einem Prozess im ebenfalls nordrhein-westfälischen Düren, bei dem trotz Videoaufnahmen unklar blieb, wer der Täter war. Die Ankläger gaben deshalb eine molekulargenetische Untersuchung in Auftrag. Da müsse der mittellose Beschuldigte allein durch, entschied 2020 das Amtsgericht, da gebe es keine Hilfe vom Staat. Das Gericht fand zur Begründung sogar die hübschen Worte: DNA-Gutachten seien auch für Laien »leicht verständlich«.[25]

Leute, die sich damit auskennen, sehen das oft anders. Selbst über Wirtschaftsbosse, die mit allen Wassern gewaschen sind, sagt der Düsseldorfer Strafverteidiger Sven Thomas: »Der Angeklagte ist in einer fremden Welt, egal welch hohe Kompetenz er sonst in der Außenwelt hat.« Der Anwalt hat auch schon Mandanten mit Doktortiteln und politischer Erfahrung verteidigt. Dazu gehörte auch der milliardenschwere Formel-1-Boss Bernie Ecclestone sowie der Fußballmanager Uli Hoeneß. »Die meisten sind klug genug zu sagen: Das ist eine andere Welt, da fehlt mir die Kompetenz.«[26]

Der Frankfurter Rechtsprofessor Matthias Jahn war früher Staatsanwalt und arbeitet heute nebenamtlich als Strafrichter. Im Gerichtssaal gälten unsichtbare Regeln, sagt er, vieles bleibe für Laien schlicht schleierhaft. Er zieht folgenden Vergleich: »Stellen wir uns vor, ich gehe zum Arzt. Auch wenn es nicht um etwas Kompliziertes geht: Ich habe doch keine Ahnung, was das alles bedeutet! Ich vertraue auf den Menschen im weißen Kittel, was bleibt mir anderes übrig.« Genau so, sagt Jahn, sei es für die meisten Menschen auch vor Gericht.

Mancher Angeklagte hat vielleicht schon mal davon gehört, dass Beweise »unverwertbar« sein können. Zum Beispiel dann, wenn die Polizei an der Wohnungstür geklingelt hat, um eine Person bloß wegen Lärmbelästigung zu ermahnen – und dann hat sie in der Wohnung zufällig Marihuana gerochen und ist hineingegangen, ohne einen richterlichen Beschluss zu haben. Was nützt es, wenn der Angeklagte dies für ungerecht hält?

Er könnte die Beweise für »unverwertbar« erklären. Diese Möglichkeit hat er. Dazu muss er aber vor der Richterin oder dem Richter einen sogenannten Verwertungswiderspruch erheben, und das ist eine kleine Wissenschaft für sich. Es ist wie beim Kartenspiel Mau-Mau: Er muss zu einem ganz bestimmten Moment im Prozess eingelegt werden und zudem in einer bestimmten Form. Sonst ist er unwirksam.[27]

Man wird von der Richterin nur darüber »belehrt«, dass man schweigen darf. Mehr nicht. Was hilft das? Man bekommt nicht alle juristischen Probleme erklärt. Also ahnt man als Laie auch gar nicht, wann es ratsam ist zu schweigen und wann nicht. »Da sitzen mir also zwei Schwarzbekittelte gegenüber«, so fasst der Frankfurter Rechtsprofessor Matthias Jahn diese Situation zusammen, »die sind vielleicht auch ganz nett und zugewandt, aber es ist doch klar: Die wissen, wie das hier funktioniert, und ich weiß es nicht.«

Wenn das Gericht es ablehnt, für den Beschuldigten einen Pflichtverteidiger zu bestellen, dann hilft oft auch kein Protest. Sehr selten wird die Frage dann überhaupt ausdiskutiert. Einer dieser seltenen Fälle spielte sich 2015 vor dem Berliner Landgericht ab. Dort zeigte sich die Justiz hartnäckig: Man sehe keinen Grund, für einen suchtkranken Obdachlosen einen Verteidiger zu bestellen. Denn immerhin, so argumentierte die Richterin am Landgericht, sei der Obdachlose doch fit genug gewesen, Berufung gegen seine Verurteilung einzulegen. Dann könne er auch den Rest allein hinbekommen.[28]

Der obdachlose Mann, geboren 1980 im baden-württembergischen Waldkirch, war schwer drogenabhängig und geistig eingeschränkt, wie aus dem Schriftverkehr hervorgeht. »Jeder Euro wird in Heroin, andere Opiate und andere Drogen und Alkohol investiert.« Es traf auch nicht zu, dass der Mann die Berufung gegen sein Urteil ohne fremde Hilfe eingelegt hatte. Das hatte vielmehr ein Sozialarbeiter für ihn tun müssen. Der Drogenabhängige »war nicht in der Lage, diese Angelegenheit selbst zu regeln, da er weder diesen Brief hätte formulieren können noch schreiben können, noch drucken können, noch versenden können«.

Der Obdachlose war in einer Einrichtung zum beaufsichtigten Konsum harter Drogen gewesen, als ein Sozialarbeiter dort den Mann ermunterte, doch mal in seinen Sachen nach wichtigen Briefen zu schauen. Da habe sich unter »den vielen zerknüllten Blättern« auch die Gerichtspost befunden.[29]

Die Antwort der Richterin: Schweigen. Das bedeutet: Es bleibt dabei. Dass der Obdachlose in dieser Situation einen Verteidiger an seiner Seite haben möchte, bleibt sein eigenes Problem. Pech. Das muss er selbst bezahlen, wenn ihm das so wichtig ist.[30]

Die Idee eines Strafprozesses könnte eigentlich sein, dass sich im Saal zwei gegenübersitzen, die sich gegenseitig ausbalancieren. Hier die Staatsanwaltschaft, dort die Verteidigung. Beide Seiten argumentieren gegeneinander, schauen sich auf die Finger. Wenn die eine Seite etwas verdunkeln will, wird die andere den Scheinwerfer holen. Wenn die eine Seite müde Spekulationen anstellen will, wird die andere hellwach dagegenhalten. Und in der Mitte, seelenruhig: die Richterin oder der Richter, in der besten Lage, sich ein umfassendes Bild zu machen. Welche Richterin, die an Wahrheitsfindung interessiert ist, würde das nicht wollen?

Gewiss: Manchmal mag es so sein, dass Richter schlicht glauben, ein Strafverteidiger sei überflüssig. Keine Sorge, wir spielen fair!, so denken sicher manche. Wir brauchen keine Nachhilfe, danke schön![31]

»Ich kenne keinen Richter, der sich nicht selbst als unparteiisch und unvoreingenommen, als dem Recht und der Gerechtigkeit verpflichtet versteht«, schreibt der Hamburger Anwalt Philip von der Meden in einer Fachzeitschrift. Viele Richter würden die Anwesenheit von Verteidigern eher dulden als schätzen. »Weil das Gesetz den Verteidiger – vielleicht bloß als Vorsichtsmaßnahme gegenüber weniger geeigneten Kollegen aus der Richterschaft? – vorsieht, muss man sich mit ihm arrangieren.«[32]

Auf manche, nicht alle Richter trifft sicher auch zu, was der Hamburger Anwalt ironisch zuspitzt: Sie hielten Strafverteidiger für unnötige Nervensägen. »Es braucht keinen Verteidiger, wenn der Richter nur gut genug ist – und welcher Richter wäre schon nicht gut genug?«

Verteidiger seien aus Sicht mancher Richter nur dazu gut, dem Angeklagten beruhigend die Hand auf den Arm zu legen, schlimmstenfalls würden sie das Gericht viel Zeit kosten mit sinnlosen Beweisanträgen.

Aber die Wahrheit ist: Fairness kostet Mühe. Sie kostet Zeit. Ein Gericht, in dem die Position des Beschuldigten nicht von einem Anwalt vertreten wird, kommt schneller zu einem Ergebnis, keine Frage. Aber natürlich leidet die Fairness.

In Frankfurt hat ein Anwalt dazu eine eindrucksvolle Statistik ermittelt. Thomas Scherzberg, der Vorsitzende der Hessischen Strafverteidigervereinigung, bat alle 26 Richterinnen und Richter des Amtsgerichts, ihre Prozessakten aus dem Jahr 2016 durchzusehen. Die Frage war: Wie viele Freisprüche haben Sie in diesem Jahr gefällt, ohne dass ein Verteidiger dabei war?

Wenn ein Verteidiger dabei war, lautete das Urteil in sieben Prozent der Fälle: unschuldig. Wenn keine Verteidiger dabei waren, fielen die Urteile auf wundersame Weise anders aus. Dann gab es fast gar keine Unschuldigen.

Bei 13 Richtern hatte es keinen einzigen Freispruch ohne die Mitwirkung eines Verteidigers gegeben, bei sechs Richtern nur jeweils einen einzigen. »Die Zahlen«, so schreibt der Verfasser der Studie, »wurden durch die entsprechenden Richter herausgesucht, nachdem zuvor meist davon gesprochen wurde, dass ›selbstverständlich‹ kein Unterschied gemacht werde, ob ein Angeklagter verteidigt sei oder nicht«.[33]

Man kann das so zusammenfassen: Wer genug Geld hatte, um sich privat einen Anwalt zu leisten, der hatte zumindest eine gewisse Chance auf einen Freispruch. Wer dieses Geld nicht hatte, der hatte so gut wie keine.

3. Reichenanwälte, Armenanwälte und »Gerichtsnutten«

In Köln ist Nikolaos Gazeas einer jener Strafverteidiger, die ihren Mandanten sehr oft gute Nachrichten überbringen können. Um die 80 Prozent der Ermittlungsverfahren, in die er sich einschaltet, werden eingestellt, bevor es überhaupt zum Prozess kommt. Ob gegen Geldauflage oder auch ohne. Er hat das nachgezählt. Wenn die Staatsanwaltschaft einmal hartnäckiger an einem Vorwurf festhält und eine Sache unbedingt vor Gericht bringen möchte, dann endet es auch dort wieder zu 80 Prozent in einem Freispruch, »gegenüber einer Freispruchquote von insgesamt nur sieben Prozent[34] bei deutschen Gerichten«, wie er hinzufügt. Die Bilanz kann sich sehen lassen.

»Aber machen wir uns nichts vor«, sagt der Anwalt Gazeas, 40 Jahre alt, auch. Das liege nicht nur daran, dass er sein Bestes gebe. »Es liegt auch einfach daran, dass wir einen derart großen Aufwand betreiben.« Gerade hat er den Fall eines Teenagers auf dem Tisch gehabt. So etwas machen sie in seiner Kölner Kanzlei, deren Stundensätze fast nur Manager bezahlen können, eigentlich selten.

»Der hatte zufällig reiche Eltern«, sagt Gazeas. Der Vorwurf lautete: Der Junge soll auf einer Demonstration in Berlin eine Rangelei angezettelt haben. Eine Kleinigkeit, juristisch betrachtet.

Die Kanzlei von Gazeas aber hat sich mit lautstarkem Protest an die Ermittler gewandt, mit allergrößtem juristischen Nachdruck. 14 eng beschriebene Seiten voller Details haben Gazeas’ Mitarbeiter an die Staatsanwaltschaft geschickt, so erzählt er. Man habe »auf Ermittlungsfehler hingewiesen, die Notwendigkeit weiterer Ermittlungen aufgezeigt« und so weiter. 14 Seiten, das gibt es bei solchen kleinen Fällen normalerweise nicht. Diesen Aufwand betreibt kein Anwalt, denn er wird normalerweise von keinem Mandanten bezahlt.

Hier haben die Verteidiger von Beginn an nichts unversucht gelassen. Sie haben, was vollkommen legitim ist, alle Möglichkeiten voll ausgeschöpft. Und wenn nun die Staatsanwaltschaft in Berlin, die ohnehin unter einer Arbeitslast ächzt, die in der Republik ihresgleichen sucht, ein bisschen mehr geneigt sein sollte, ein Auge zuzudrücken und dieses Verfahren möglichst rasch zu den Akten zu legen – wäre man dann überrascht?

Jedenfalls kam ein paar Wochen später ein Antwortschreiben von der Staatsanwaltschaft Berlin. Gute Nachrichten: Das Verfahren werde aus Mangel an Beweisen eingestellt. Ohne Diskussion.

»Das ist auch einfach eine Ressourcenfrage«, räumt der Anwalt Gazeas ein. Die Methode Manpower. Bei der Staatsanwaltschaft ahnt man schnell, dass die Schreiben der Anwälte mit jedem Mal länger werden können. Wer schon zum Auftakt 14 Seiten schickt, der sendet beim nächsten Mal vielleicht 25, 35, 47 …

Anwälte haben einen langen Atem, solange jemand das Geld hat, für ihre Zeit zu zahlen. Die Staatsanwaltschaft nicht. Sie hat nicht beliebig viel Zeit. Sie muss sich gut überlegen, welche Kämpfe sie eingeht. Vor allem, wenn sich bei ihr auch noch andere Akten türmen, die sie nicht vernachlässigen darf.

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