Verhängnisvolle Träume - Marie Cordonnier - E-Book

Verhängnisvolle Träume E-Book

Marie Cordonnier

4,8

Beschreibung

Ganz London wartet gespannt auf die Verlobung der jungen Königin Victoria. Auch Valerie träumt von der großen Liebe – und wacht in einem Albtraum auf. Im eintönigen Alltag von Carduff-Castle, dem Landsitz des alten Marquis William Frederick Verne, ist die Ankunft des neuen Hauslehrers eine Sensation. Für Lady Valerie, die einzige Erbin der riesigen Ländereien, scheint der Traum von der großen Liebe in Erfüllung zu gehen. Sie verliebt sich in Alexander, der als Lehrer ihren behinderten Cousin betreut. Doch der alte Marquis, Valeries Großvater, ist ein skrupelloser alter Mann, der das gesellschaftliche Ansehen seiner Familie über alles stellt. Seine Kinder zerbrechen unter diesem Zwang. Seine Enkel will er dazu zwingen, die "Ehre" der Familie zu retten und die Zukunft zu sichern. Nur die Liebe, die Valerie für Alexander empfindet, gibt ihr die Kraft, sich gegen den Großvater zu wehren. Doch plötzlich verlässt Alexander das Haus. Da Valerie schwanger ist, flüchtet sie mit Hilfe ihrer Großmutter nach London. So nimmt die Geschichte eine unerwartete Wendung. Schließlich gibt ein altes Familiengeheimnis den beiden Liebenden eine Chance für die Zukunft. Gelingt es ihnen auch, alle Missverständnisse, die sich zwischen ihnen aufgehäuft haben, aus dem Weg zu räumen? „Die Geschichte mag einfach sein, aber sie ist toll geschrieben und ich habe bis zum Schluss mitgelitten bei den dramatischen Ereignissen und bei dem unglücklichen Liebespaar. Unbedingt lesen!“ Liebesromanforum

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ISBN 978-3-86466-240-9
This ebook was created with BackTypo (  http://backtypo.com) by Simplicissimus Book Farm © 2014 by BestSelectBook_Digital Publishers Digitalised by DokuFactory Groß-Umstadt

Table of contents

1. Kapitel

Carduff-Castle: Ende September 1839

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

What man art thou, that, thus bescreen'd in night,

So stumblest on my counsel?

Wer bist du, der du, von der Nacht beschirmt,

Dich drängst in meines Herzens Rat?

1. Kapitel

Carduff-Castle: Ende September 1839

Dass dieser Septembertag des Jahres 1839 den endgültigen Abschied von meiner Kindheit bringen würde, wusste ich an jenem Morgen glücklicherweise noch nicht. Aber ich verspürte eine so starke innere Unruhe, dass ich der üblichen strengen Tageseinteilung auf Carduff-Castle einfach entfliehen musste, auch wenn ich mir damit Ärger einhandeln würde. Wie ahnungslos, unreif und gutgläubig ich damals doch war, in meiner kindischen Rebellion gegen Zwänge und Traditionen.

Der Morgennebel legte sich wie ein feuchter Hauch über meine offenen Haare, während ich mich über die Zinnen des alten Torturmes beugte. In seinem milchigen Weiß glitzerte bereits das Versprechen der Sonne, die ihn in Kürze vertreiben würde. Ein Tag zum Hopfenpflücken, wie die Leute von Kent so gerne sagen. Aber dank der beständigen Witterung der letzten Wochen, lag die Ernte dieses Jahres bereits in den Hopfentürmen, und die klare, kühle Septemberluft enthielt jenen herbstlich typischen Beigeschmack des Rauchs, der durch die voll belegten Darren streicht.

Im Moment jedoch bestand die Welt außerhalb der Zinnen des massigen Turmes lediglich aus verschwommenen Umrissen und gespenstischen Schemen. In meiner Fantasie konnte ich sie leicht für wehende Schleier und blasse Gewänder halten, für die graziösen Tänzerinnen eines eleganten Menuetts, die sich im Rhythmus einer unhörbaren Melodie wiegten. Bezaubernde Geschöpfe, jung und unbeschwert, so wie ich mir die schöne Prinzessin vorstellte, die vor einem Jahr zu unserer Königin gekrönt worden war, und um die meine Gedanken so gerne kreisten.

Die wenigen Zeitungsberichte über das große Ereignis, die in meine Hände gekommen waren, hütete ich sorgsam auf dem Boden einer kleinen Schatulle, die neben dem wenigen Schmuck, den ich besaß, nur noch ein Miniaturporträt meiner Mutter enthielt. Ich hatte sie so oft gelesen, dass ich sie auswendig kannte, und das Papier an den Faltstellen brüchig geworden war. Es gehörte zu meinen Lieblingsbeschäftigungen, mir die fünfstündige, feierliche Zeremonie in der festlich geschmückten Westminster Abbey von London in allen Einzelheiten zu vergegenwärtigen.

Eine Passage war dabei, die es mir besonders angetan hatte. Es ging um die acht Damen, welche die Schleppe der Königin getragen hatten. Acht Mädchen aus den ersten Familien des Landes, alle über 14 Jahre alt, unverheiratet und schön. In jungfräuliches Weiß gekleidet, waren sie Prinzessin Victoria gefolgt, die ihrerseits eine elegante rote Samtrobe trug, die mit kostbarem Hermelinpelz gesäumt war. Welch Auszeichnung und Bevorzugung, an diesem einzigartigen Tag die Ehrendame der jungen Königin zu sein! Eine Gunst, von der ich nur träumen konnte.

Dabei hätte ich die Voraussetzungen für dieses einmalige Ehrenamt ohne Frage erfüllt. Als Enkelin des Marquis von Carduff, Lord William Frederick Verne, war ich Mitglied des englischen Hochadels. Die Wurzeln unserer Familie reichten bis zu William dem Eroberer zurück. Zudem war ich unverheiratet, von leidlichem Aussehen und wie die Königin zwanzig Jahre alt.

Ja, die Ähnlichkeit ging sogar noch weiter. Wir beide waren am 24. Mai 1819 zur Welt gekommen. Sie als Tochter Edwards von Kent und seiner deutschen Frau Victoria von Sachsen-Coburg-Gotha und ich als einziges Kind des ehrenwerten George Druff und seiner Frau Lady Augusta Verne. Beide hatten wir im frühen Kindesalter einen schweren Verlust erlitten. Meine Eltern kamen 1821 bei einem Kutschenunfall ums Leben, und der Vater der Königin starb ein Jahr zuvor. Danach endeten indes die Parallelen. Die kleine Prinzessin wuchs unter der Obhut ihrer Mutter in London auf, und ich kam nach Carduff-Castle zu meinen Großeltern. Seit ich denken konnte, war das Schloss am Ufer des Medway meine Heimat, und seit dieser ersten und einzigen Reise hatte ich es auch nie verlassen.

»Miss Valerie? Miss Valerie, sind Sie auf dem Wehrgang? So antworten Sie mir doch!«

Der Schleier zerriss. Die Tänzerinnen verwandelten sich wieder in schlichten Morgennebel, und der Weihrauch der Krönungszeremonie in dürftigen Hopfengeruch. Ich hörte Lilly Bradshaw bereits keuchen, ehe sie zu mir ins Freie trat. Die 48 ausgetretenen alten Steinstufen des altertümlichen Wehrturmes waren normalerweise mein bester Schutz. Weder meine Großmutter noch Lilly nahmen diese Strapaze freiwillig auf sich, nur um mir einen Auftrag oder eine der üblichen Rügen zu erteilen.

Wenn Mistress Bradshaw, die seit undenklichen Zeiten das ehrenvolle Amt einer Zofe bei der Marquise bekleidete, hier heraufschnaufte, bedeutete das entweder großen Ärger oder eine unglaubliche Neuigkeit. Bereits ihr empörter Gruß bedeutete, dass es sich heute tun das Erstere handeln musste.

»Natürlich, wusste ich's doch! Auf dem Turm, mit offenen Haaren! Ein Wildfang und keine Dame! Dabei weiß sie ganz genau, dass Master Edward sich schrecklich aufregt, wenn sie ihm nicht zu gewohnter Zeit vorliest, der arme Junge!«

Lilly Bradshaw war eine Frau von unbestimmtem Alter. Das schwarze Zofenkleid und die gestärkte Schürze verbargen eine hagere, große Gestalt, die über nicht mehr Rundungen als eine der abgeernteten Hopfenstangen verfügte. Seit ich denken konnte, war sie Großmamas Sprachrohr, und seit dieser Zeit herrschte Krieg zwischen uns.

Da die Abneigung auf Gegenseitigkeit beruhte, hatte es sich Mistress Bradshaw aufgrund ihrer Körpergröße angewöhnt, meist in die Luft irgendwo über meinem Scheitel zu starren, wenn es sich schon nicht verhindern ließ, mit mir reden zu müssen. Bereits mein Anblick bereitete ihr deutliche Magenschmerzen.

Aus diesem Grund sprach sie auch bevorzugt in der dritten Person mit mir. Nicht, weil sie zumindest Respekt vor der Enkelin ihrer Herrin hatte, sondern weil ich in ihren strengen Augen in der Skala der Verächtlichkeit an unterster Stelle rangierte. Ein Ding und kein Mensch.

Niemand auf Carduff-Castle hatte sich je der Mühe unterzogen, sie deswegen zu rügen. Im Gegenteil, im Laufe der Jahre hatte ihr Ton auch auf die anderen Dienstboten abgefärbt, und ich gewöhnte mich daran, möglichst keinen von ihnen in Anspruch zu nehmen. Solange man mich in Frieden meinen Träumen überließ, fühlte ich mich am wohlsten.

Mistress Bradshaw indes dachte nicht daran, mir diesen Gefallen zu tun. »Ausgerechnet heute!« lamentierte sie weiter. »Wo doch alle Welt weiß, dass der neue Hauslehrer für Master Edward eintreffen soll. Das fremde Gesicht wird den armen Jungen nervös genug machen. Man könnte doch meinen, dass ein jeder in diesem Hause das Seine dazutun würde, um ihm den Tag zu erleichtern!«

»Lieber Himmel, Bradshaw! Edward ist es egal, ob nun ein Hauslehrer oder Lord Melbourne persönlich auftaucht. Wenn ihr nicht alle wie die aufgescheuchten Hühner um ihn herumflattern würdet, wäre er wesentlich weniger nervös. Aber du kannst dein Sauerampfer-Gesicht ruhig wieder entknittern. Ich komme ja schon . ..«

Es bereitete mir ausgesprochenes Vergnügen, zuzusehen, wie Mistress Bradshaw auf diese Anrede reagierte. Ihr normalerweise bleiches Gesicht färbte sich wie die Blätter des Blutahorns im Schlosspark, und beim vergeblichen Versuch zu sprechen, gab sie lediglich erstickte Geräusche von sich. Ich raffte meinen Umhang und lief schnell an ihr vorbei die Stufen hinunter.

Das Gefühl, einen kleinen Sieg errungen zu haben, beflügelte meine Schritte und gab dem beginnenden Tag den Hauch von etwas Besonderem. Das Empfinden hielt an und verleitete mich dazu, aus meinen inzwischen ordentlich aufgesteckten Haaren einige schmeichelnde Locken herauszuzupfen, ehe ich zu Edward ging.

Der Spiegel verriet mir, dass es meinen hellen Teint betonte und die blauen Augen intensiver wirken ließ. Wie schade, dass Bradshaw ihre Dienste ausschließlich meiner Großmutter zukommen ließ. Ohne die Hilfe einer geschickten Zofe wollte es mir einfach nicht gelingen, meine schwarzen Haare zu einem jener hübschen Lockentuffs zu formen, wie sie Königin Victoria bevorzugte. Sie waren so glatt und schwer, dass sie jeder Haarnadel widerstanden und im offenen Zustand bis über die Schultern herabfielen. Mehr ein Ärgernis als ein vernünftiger Schmuck.

Freilich war es Edward sowieso egal, welche Frisur ich trug. Seine Zuneigung war nicht von Äußerlichkeiten abhängig. Und was meinen Großvater und Sir Henry, Edwards Vater, betraf, so nahmen sie meine Anwesenheit ohnehin nur ungnädig zur Kenntnis, wenn es mir gelungen war, Lady Mary wieder derart zu verärgern, dass sie es nicht mehr für sich behalten konnte.

Dabei lag es keineswegs in meiner Absicht, die alte Dame zu verstimmen. Die Fülle der Verhaltensmaßregeln und Vorschriften, die sie und Bradshaw mir dauernd auferlegten, war schlicht zu umfangreich, um sie in allen Einzelheiten zu befolgen. Auch vermochte ich nur schwer einzusehen, weshalb es so wichtig sein sollte, dass ich mich in jeder Sekunde des Tages wie das Ebenbild einer vollendeten Lady benahm. Meine Großeltern hatten keine Freunde, und unser gesellschaftliches Leben beschränkte sich auf den sonntäglichen Kirchgang. Wenn Sir Henry das Bedürfnis nach Abwechslung verspürte, verschwand er für einige Wochen nach London.

Ob ich mich langweilte, danach fragte niemand. Und schon die winzigste Andeutung genügte, damit sich meine alltäglichen Pflichten wie Motten in einer alten Kleidertruhe vermehrten. Der letzte Vorstoß hatte mir die vormittägliche Vorlesestunde bei Edward eingetragen und die wenige Zeit, die mir für mich selbst blieb, weiter beschnitten.

Als ich die Gemächer des künftigen Marquis von Verne erreichte, saß er inmitten seiner Spielzeugsoldaten und weinte bitterlich. Das Küchenmädchen, das ihm sein Frühstückstablett gebracht hatte, war aus Versehen auf den Herzog von Wellington getreten und hatte dem Sieger von Waterloo ein unrühmliches Ende bereitet.

Lady Mary versuchte eben vergeblich, ihn zu trösten, aber wie üblich hatte sie es nur fertiggebracht, Edward in noch tiefere Verzweiflung zu stürzen. Sie redete auf ihn ein, während die bombastischen schwarzen Röcke ihres Gewandes unter den Fußtruppen des Herzogs weitere Verheerungen anrichteten. Im letzten Moment konnte ich Napoleons Figur vor ihr retten.

»Keine Angst, Großmama«, versuchte ich sie aus dem Weg zu schaffen, denn leider gehorchte sie im Gegensatz zum Küchenmädchen nicht einem bloßen Wink. »Edward wird sich sofort beruhigen, wenn ihr uns beide allein lasst!«

»Valerie! Dem Himmel sei Dank! Wo hast du gesteckt, Kind? Bradshaw sucht dich überall. Du weißt doch, dass der Junge empfindlich ist und deine Hilfe braucht. Aber nein, das gnädige Fräulein muss vor dem Spiegel herumtändeln. Dabei hast du nicht einmal dein Haar ordentlich aufgesteckt. Was sollen diese Strähnen in der Stirn?«

In den achtzehn Jahren auf Carduff-Castle hatte ich das Talent vervollkommnet, mit der gehorsamsten Miene nicht hinzuhören. Außer Edward gab es keinen Menschen in Carduff-Castle, dem ich es recht machen konnte. Vermutlich hätte sich sogar seine arme Mutter, meine Tante, Lady Sarah, die bei seiner schwierigen Geburt ums Leben gekommen war, in die Reihe meiner Kritiker gestellt, obwohl die älteren Dienstboten von ihr erzählten, dass sie das sanfteste und liebenswerteste der Kinder des alten Marquis gewesen sei.

Ich ging neben Edward in die Knie und streichelte sacht seine zuckenden Schultern. Es dauerte eine Weile, bis die regelmäßige Berührung durch sein Unglück drang, und das Schluchzen an Heftigkeit verlor.

»Du musst nicht weinen, Edward«, murmelte ich.

»Auch der beste Feldherr kann in einer Schlacht verletzt werden. Der Herzog kommt ins Lazarett, und ein Feldscher wird ihn wieder zusammenflicken. Ich will sehen, ob ich von Baines ein wenig Leim bekomme, dann kann der Herzog vielleicht schon morgen wieder seine Soldaten anführen!«

»Val!« Er warf die Arme um meinen Hals und hätte mich damit fast aus dem Gleichgewicht gebracht. Seine Vorliebe für Süßes, verbunden mit seiner Abneigung gegen jede Art von körperlicher Anstrengung, hatte ihn schwer und tollpatschig gemacht. Auch seine von Natur gefälligen Züge hatten in den vergangenen Jahren unter dieser schädlichen Kombination gelitten. Tränennass schienen sie noch verquollener und schwammiger als sonst. Kein Wunder, dass Großmama seinen beklagenswerten Anblick ohne Widerrede floh. »Val! Hilf mir! Sie waren böse zu mir!«

In seinen hellblauen Augen stand ein Nichtbegreifen, das mich immer wieder in tiefes Mitleid stürzte. Er trug keine Schuld an dem, was aus ihm geworden war. Armer Edward! Mein morgendlicher Ausflug in das Reich der Fantasie geriet in Vergessenheit, und ich kehrte in die Wirklichkeit zurück. In eine Realität, die so tragisch und erbarmungslos war, dass mir mein Hang, in Träume zu fliehen, heute viel verständlicher als damals erscheint.

Der künftige Marquis of Carduff, Edward Verne, war an diesem Tag bereits vier Monate älter als 22 Jahre. Aber unter seiner breiten Stirn lebte das kranke Gehirn eines fünfjährigen Kindes, und seine Gesundheit war trotz der bulligen Figur so labil wie sein armer Verstand.

»Der neue Hauslehrer ist gekommen, Lady Valerie!« Eines der Stubenmädchen hatte die Botschaft im Vorbeigehen übermittelt, auf dem eiligen Weg in das Studierzimmer, das sich Sir Henry im Ostflügel des Herrenhauses eingerichtet hatte. Edwards Vater, mein Onkel, hatte es sich zur Aufgabe gemacht, dort die Chronik des Hauses Verne aufzuschreiben.

Seit er durch die Heirat mit Lady Sarah in die Familie gekommen war, galt sein ganzes Interesse der historischen Bedeutung der Vernes, die seit vielen hundert Jahren auf Carduff-Castle residierten. Es erschien mir trotz meiner Ahnungslosigkeit besonders tragisch, dass ausgerechnet er, mit dessen einzigen Erben die männliche Linie des Hauses untergehen würde, dieses geradezu fanatische Interesse an der Familiengeschichte entwickelte.

Doch an diesem Vormittag hatte ich keine Zeit, mich in solchen Gedanken zu verlieren. Die Neugierde siegte über jedes Pflichtbewusstsein. Ich ließ den getrösteten Edward mit seinen Spielzeugsoldaten allein und huschte über die große Galerie zur Haupthalle. Wenn ich Glück hatte, gelang es mir vielleicht noch, einen Blick auf diesen neuen Hauslehrer zu erhaschen, ehe er im Schulzimmer offiziell in seine Aufgabe eingeführt wurde.

Es hatte sich in meinem bisherigen Leben meist als vorteilhaft herausgestellt, wenn ich wusste, mit wem ich es zu tun haben würde. Schon um Edwards Willen, sagte ich mir. Was würde das für ein Mann sein, der es auf sich genommen hatte, einen Kranken zu unterrichten, dessen Fähigkeiten nicht über das Spielen mit Holzfiguren und das Betrachten von Bildern hinausgingen?

Sir Henry traf gleichzeitig mit mir ein, nur dass er die Haupttreppe in die Halle wählte und keine Ahnung davon hatte, dass ich durch das geschnitzte Rankwerk der alten Spielmannsgalerie nach unten spähte. Niemand hatte sich bisher die Mühe gemacht, den Fremden in den Salon oder in die Bibliothek zu bitten. Er stand zwischen einem Koffer und einer Reisetasche und vermittelte mir allein durch seine Haltung den eigenartigen Eindruck, zwischen hilflosem Zorn und Belustigung zu schwanken.

Ich hätte nicht zu sagen gewusst, was mir dieses Gefühl verschaffte. Doch es kam mir vor, als sei ich mit ihm durch ein fremdartiges und unsichtbares Band verbunden. Ich konnte Carduff-Castle und seine Bewohner plötzlich mit seinen Augen sehen. Und es war ein kritischer Blick, der wenig Respekt vor dem ehrwürdigen Gemäuer verriet.

Er befand sich in einem Gebäude, das eine absonderliche Mischung aus mittelalterlicher Burg und elisabethanischem Adelspalast war. Die nötigen Flügel für die angedeutete E-Form wurden durch den Torturm und den alten Wohnturm gebildet. Dazwischen hatte sich über Generationen hinweg ein Haus geklemmt, das mit seinen endlosen Gängen, geschnitzten Treppen, Zimmerfluchten und Wirtschaftsräumen mehr einem Irrgarten denn einem Herrensitz glich.

Trotzdem konnte man Carduff-Castle eine gewisse trotzige Würde nicht absprechen. Eine Patina, welche die architektonischen Sünden der vergangenen Verne- Generationen mit Stolz ummantelte. In einer Schlinge des Medway gelegen, verkörperte es das Anrecht der Vernes auf alles Land, soweit das Auge reichte. Ein Erbe, das mir und meinem künftigen Mann zufallen würde, da Edward nur dem Namen nach Marquis von Carduff werden konnte.

»Mister O'Connell?« hörte ich die kühle Stimme von Sir Henry und hatte Gelegenheit, die gleichzeitig elegante, wie zustimmende Verneinung des Fremden zu bewundern. Als er sich wieder aufrichtete, überragte er seinen künftigen Arbeitgeber um gut einen halben Kopf.

Er antwortete mit einer höchst angenehmen Baritonstimme, aber ich war so fasziniert von seiner Erscheinung, dass ich die Worte hörte, ohne sie zu begreifen. Er hatte sich ein wenig gedreht, und deswegen konnte ich ihn endlich richtig von vorne sehen. Wenn ich eine Bewegung machte, dann nur die, mein Gesicht noch näher zwischen die geschnitzten, hölzernen Blütenranken zu pressen, aber so genau weiß ich es heute nicht mehr. Im Bewusstsein ist mir nur der Schock geblieben.

Von dem Moment an, in dem sich die Buchstaben vor meinen Augen zu Worten formten und Bücher nicht allein Dekorationsartikel in der Bibliothek meines Großvaters waren, hatte ich alles verschlungen, was mir in die Hände fiel.

Da sich niemand darum kümmerte, woraus sich meine Lektüre im Einzelnen zusammensetzte, war es eine wilde Mischung aus Meisterwerken, Reisebeschreibungen, wissenschaftlichen Büchern und den Leihbibliotheksromanen geworden, die sich meine Großmutter in regelmäßigen Abständen aus London schicken ließ.

Die ältliche Gouvernante, der meine Ausbildung bis zum 18. Lebensjahr anvertraut gewesen war, hatte glücklicherweise keine Ahnung gehabt, aus welchen Quellen meine ständigen Fragen gespeist wurden, die sie an manchen Tagen zur Verzweiflung brachten.

Es hätte sie noch mehr getroffen, hätte sie gewusst, dass mich von all diesen Büchern, die meiner Großmutter am meisten beschäftigten. Die tapferen Helden und ihre romantischen Damen bevölkerten meine Träume. In meiner Fantasie war ich fest davon überzeugt, dass eines Tages einer dieser Traumprinzen Gestalt annehmen und mich aus der Eintönigkeit von Carduff-Caste erlösen würde. Über seine genaue Erscheinung hatte ich mir bisher keine Gedanken gemacht. Ich würde es wissen, wenn ich ihn sah. Und ich wusste es!

Alexander O'Connell war hochgewachsen und von jener athletischen Sehnigkeit, die zusammen mit seinem bräunlichen Teint bewies, dass er viel Zeit im Freien verbracht haben musste. Die Vormittagssonne schien durch das bunte Mosaikfenster über dem Eingang und verlieh seinen blonden Haaren den goldenen Schimmer reifen Kornes. Sein Gesicht lag im Schatten, aber ich sah das Blitzen der weißen Zähne und den hellen Schimmer aufmerksamer Augen.

Er war in einen schmucklosen Anzug aus flaschengrünem Tuch mit dunkler Weste gekleidet und trug eine Halsbinde von bescheidenem Ausmaß. Trotzdem fielen mir die geschmackvollen Farben auf, die die verhaltene Kraft seiner geschmeidigen Bewegungen eigenartig betonten. Sie Henry, der um diese Zeit seinen Leibrock aus burgunderfarbenem Brokat mit Goldlitzen trug, wirkte neben ihm wie ein fülliger Pfau, der sich vergeblich zu spreizen versucht.

Ich erinnere mich kaum an das Gespräch, das ich zwar belauschte aber nicht erfasste. Ich war so in den Anblick von Alexander O'Connell vertieft, der genau jenem Märchenprinzen glich, den ich erwartete. Kein einziges Warnsignal in meinen Träumen hatte mich jedoch auf die ernüchternde Tatsache vorbereitet, dass er kein Prinz, sondern lediglich ein bescheidener Hauslehrer war. Also keine Partie für die Enkelin des Marquis von Carduff – aber es war bereits zu spät! Das Drama meiner Liebe hatte mit dem ersten Blick von der Spielmannsgalerie seinen Lauf genommen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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