Verzweiflung und Zuversicht - Gustav René Hocke - E-Book
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Gustav René Hocke

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Beschreibung

Märchen, Traum- und Zauberwelten, Horror, Wahnsinn und das Abstruse … Phantastische Kunst und Literatur ist keine Erfindung unserer Zeit: Es gibt sie, seitdem Menschen künstlerisch tätig sind. In seinem originellen und atemberaubenden Streifzug durch die Kunst- und Literaturgeschichte Europas legt Gustav René Hocke anhand seines beeindruckenden Wissens den kulturgeschichtlichen Strang der Phantastik oder des Manierismus frei, der sich von der Antike bis in unsere heutige Zeit wie ein Roter Faden durch alle Epochen europäischer Kunstgeschichte zieht, bis er in unserer Zeit zu einer dominierenden Kunstform aufblüht. In »Verzweiflung und Zuversicht«, dem dritten Band der Manierismus-Bibliothek von Gustav René Hocke, reflektiert der Journalist und Schriftsteller über die philosophischen Hintergründe der Neuzeit, die den Nährboden für das Phantastische bilden.

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Gustav René Hocke

Verzweiflung und Zuversicht

Zum Manierismus in Kunst und Literaturam Ende des 20. Jahrhunderts

Einheit aus Vielheit von Verschiedenem

von Konrad Lorenz

»Viele Denker, Philosophen wie Naturforscher, haben erkannt, dass der Fortschritt im organischen Werden fast immer dadurch erzielt wird, dass eine Anzahl von einander verschiedener und bis dahin unabhängig von einander funktionierende Systeme zu einer Einheit höherer Ordnung integriert wird und dass, im Verlaufe dieser Integration, Veränderungen an ihnen auftreten, die sie zur Mitarbeit in dem neu entstehenden übergeordneten System-Ganzen geeigneter machen. Goethe definierte bekanntlich Entwicklung als Differenzierung und Subordination der Teile. Ludwig von Bertalanffy hat in seiner theoretischen Biologie diesen Vorgang mit großer Exaktheit dargestellt und viele Beispiele gebracht. W. H. Thorpe hat in seinem Buch ›Science, Man and Morals‹ sehr überzeugend dargetan, dass die Entstehung einer Ganzheit aus einer Vielfalt von verschiedenen Teilen, die dabei einander noch unähnlicher werden, das wichtigste schöpferische Prinzip in der Evolution ist: ›Unity out of diversity‹. Teilhard de Chardin schließlich hat dasselbe in die kürzeste und poetisch schönste Form gebracht: ›Créer, c’est unir.‹ Schon bei der ersten Entstehung von Leben muss dieses Prinzip am Werke gewesen sein.«[1]

Vorwort

Die geistigen Spannungsfelder in heutigen Weltkulturen haben sich verschoben. Die bisherigen Pole von Angst und Hoffnung haben sich in der allgemeinen Weltstimmung zu Polen von Verzweiflung und Zuversicht auseinandergezogen. Das sind merkwürdige, historisch einzigartige Kontraste. Sie haben viele Gründe. Ein nicht geringer sind die verhängnisvollen Gegensätze von archaischer Machtpolitik und technischem Fortschritt; von gesellschaftlicher Rückständigkeit und raffiniertestem Komfort für Eliten; von Analphabetismus und hoch differenzierter Bildung.

Der »subjektive« Mensch wird immer heimatloser, in den Hemisphären des Westens wie des Ostens. Die Angst, die in Verzweiflung umschlägt, verführt zum Drogengenuss. Mehr oder weniger stark ausgeprägte Neurosen gehören zur internationalen Grundkrankheit unserer Zeit. Der Logos ist in Misskredit geraten. Der Mythos gilt mehr als Spiegel des Unbewussten denn als Mittel, Äußerungen des Unbewussten Sinn zu verleihen. Die »Große Angst« an der Wende unseres Jahrtausends hat für viele das seelisch Ertragbare überschritten.

Demgegenüber stehen wir vor Symptomen einer berechtigten Zuversicht. Sie leiten also über das Gefühl bloßer Hoffnung hinaus. Dass die heutige Menschheit auch die Verwirklichung vieler Hoffnungen erreicht hat, ist unbestreitbar. Der Abbau einseitiger Ideologien, die den Einzelmenschen auf ein determiniertes Produkt von Nation, Klasse, Rasse, Staat oder abstraktem Geist reduzieren wollen, ist unaufhaltsam. Ein neuer Universalismus, der das Individuum nur noch in der Fülle seiner jeweiligen Bestimmungen beschreibt und ihm dabei seine auch subjektive Freiheit sichern will, zeichnet sich im Westen wie im Osten ab. Die Welt-Wirtschaft hat sich neu organisiert. Der Waren-Austausch hat eine Intensität erreicht, die Karl Marx sich in seinen kühnsten Träumen nicht hätte vorstellen können. Auch der weniger Bemittelte kann Zeit und Raum fast nach Belieben überspringen. Die Atom-Angst wurde durch einen zumindest vorläufigen Potenz-Ausgleich unter den Weltmächten reduziert. Die Fortschritte der Naturwissenschaft und Medizin übertreffen Vorstellungen der Science-Fiction aus der Zeit vor zehn Jahren um ein Beträchtliches. Die Kirchen, bisher mehr oder weniger »dogmatisch« und »autoritär«, werden von einem Frühlingssturm erfasst, der sie an die Ursprünge des Glaubens zurückführt. 1968 betraten zum ersten Mal Menschen den Mond. Kein Grund zu unkritischem Jubel, aber eine welthistorische Neuheit; die Möglichkeit konstruktiver menschlicher Kooperation wurde spektakulär bestätigt.

Das umstrittene Wort »Dialektik« zwingt sich auf, angesichts der beiden Pol-Bezirke unserer Weltspannungen, »Dialektik« im Rahmen eines neuen realistischen Humanismus, der wieder – wie Leonardo und Goethe – den differenzierten Menschen vor sich sieht und für sich haben will, den Menschen in allen Sphären seines so problematischen Seins. Nein, die Vision eines »Untergangs des Abendlandes«, der vor 50 Jahren Oswald Spengler verfiel, lässt sich heute nicht wiederholen. Wir stehen gegenwärtig vor einem Drama, vor einem Antagonismus destruktiver Kräfte und konstruktiver Kräfte, wie ihn die Menschheit zur Zeit Descartes, Leibnizens, Hegels und Marxens, ja noch zur Zeit Toynbees und Croces, Max Webers und Ortega y Gassets, Schelers und Camus noch nicht erfahren konnte. Das gehört zum Thema des ersten Teils (Kapitel 1 bis 2).

Welche Funktion spielt auf dieser neuen Weltbühne der Mensch, der vor allem er selber, nämlich Mensch bleiben will, der Mensch, der Glück braucht, abenteuerliches Ausschweifen auch im Denken und Fühlen, aber auch Ordnung und gut geleitete Sicherheit? Das ist die Zentralfrage dieses Buches. Signale für beunruhigte, aber auch für in sich selber zurückfindende Menschlichkeit gaben von jeher vor allem Künstler, Dichter, Komponisten, Philosophen, Deuter der Polis und der Gesellschaft. Welche Warnungen und Wegweisungen geben sie heute? Wie spiegeln sie, am Ende dieses wahrhaft entsetzliche Verzweiflung und Zuversicht erzeugenden Jahrhunderts, die Ängste und die Hoffnungen unserer Zeit? Darüber wird im zweiten Teil (Kapitel 3 bis 5) berichtet.

Seit Jahren wandeln sich unsere Auffassungen über diese »Boten« unserer Verzweiflungen und Zuversichten. Die Geisteswissenschaft befindet sich, auch sie, in einer heilsamen Revolution. Alle unsere Epochen- und Stilbegriffe sind in eine Krise geraten. Die besten Kritiker unserer Zeit erkennen immer mehr gleichsam »Urformen« künstlerischen Verhaltens: eine subjektivistische, die auch alle individuellen Tiefenregungen des Einzelmenschen anerkennt, und eine andere, die sein überindividuelles Ordnungsdenken und seine entsprechenden trans-subjektiven Harmonisierungs-Tendenzen besser begreift als gestern. Eine spannungsvolle Dramatik auch innerhalb aller geistigen Räume ergibt sich.

Wenn hier eine Synthese angestrebt wird, so bedeutet das nicht Synkretismus; auch nicht sogenanntes »bourgeoises« Glättungsstreben und pseudowissenschaftliches, pharisäisch-»kapitalistisches« Harmonisierungs-Denken. »Platonismus« mag »einseitig« sein. »Aristotelismus« allein ist es auch. Beide müssen neu konfrontiert werden. Nicht um sie zu versöhnen, sondern um sie im Bilde des heutigen Menschen mit seinen neuen Erfahrungen logisch anders zu organisieren. Ohne eine echte Integration, die sich nicht aus abstrakten Bezügen, sondern aus der komplexen, vielschichtigen Natur des Menschen selber ergibt, für die die Zeugnisse des Denkens, Fühlens, des Verzweifelns und der Zuversicht in Theologie, Philosophie, Soziologie, Kunst, Literatur und Musik noch immer den stärksten unmittelbaren Wert haben, ist und bleibt jede bloß theoretische Dialektik unfruchtbar.

Soweit es möglich ist, werden somit alle wichtigen Aspekte von Deutungen des Humanen berücksichtigt. Der Einseitigkeit, auch eine Krankheit unserer Epoche, soll damit Schach geboten werden. Der »Kreis« des Menschen hat viele Segmente. Zur Schizophrenie unserer Epoche gehört es, jeweils nur ein einzelnes Segment in diesem Kreis des »totalen« Menschseins zu verabsolutieren. Die Infantilität des Teildenkens hat das Selbstverständnis des Menschen reduziert, anstatt es zu bereichern. Man subtrahierte, anstatt zu addieren, man reduzierte, anstatt zu integrieren. Die Neurosen-Epidemie konnte nicht ausbleiben.

Somit bietet sich als religiöse, politische, soziale, wirtschaftliche Pflicht ein neues, modernes, d. h. nicht bloß »repressives« oder gar »reaktionäres« Integrations-Denken geradezu an. Europa speziell braucht ein neues »Rückgrat«, auch geistiger Art.

Unsere Untersuchungen haben vor allem diesen Zweck: Abbau von Illusionen, aber Anregung zu neuer … skeptischer Zuversicht des Menschen, auch und gerade in seinem »Ich-Sein«, in seinem Wunsch, trotz aller neuen Weltverhältnisse ein »Individuum« zu bleiben, d. h. ein »Unteilbares«, dessen Substanz sich ebenso im »Erkennbaren« wie im »Geheimnis« befindet.

Der heutige Leser, Student, Forscher oder das Individuum, das durch Lektüre Bewusstseinserweiterung anstrebt, verlangt heute vor allem Information und Dokumentation. Wir haben daher aus manchen Werken, die uns für die Zukunft wichtig erscheinen, Zitate geboten. Auf diese Weise sollen auch »subjektive« Stilelemente sichtbar werden, die in der Reproduktion durch »indirekte Rede« verloren gehen würden. Belegt wird damit in jedem Falle, dass es uns nicht – wie in früheren Publikationen (›Die Welt als Labyrinth‹, ›Manierismus in der Literatur‹, das ›Europäische Tagebuch‹ u. a.) um Einzelprobleme der Philosophie-, Kunst- oder Literaturgeschichte geht, sondern um Grundaspekte einer neuen realistischen Menschenkunde.

Unser Bericht steht allerdings im Zusammenhang mit Forschungszielen einer »vergleichenden« Strukturanalyse der Gegenwart. Er bleibt nicht nur auf Kunst und Literatur bezogen; er beschränkt sich auch nicht nur auf Europa. Er empfiehlt also, wenigstens im Versuch, Schritte zu einer neuen Universalbildung hin, deren bedeutendster Wegweiser für eine neue Generation in der ganzen Welt bisher der englische Historiker Arnold Toynbee geworden ist.

Die Literatur ist in den Anmerkungen zitiert. Aus ihrer Gesamtheit ergibt sich die Grundlage für eine internationale Bibliografie zu unserem Thema.

Eine solche »Anatomie« der geistigen Substanz unserer jetzigen Zeit muss freilich durch konkrete Porträts, durch Monografien über maßgebende Künstler von heute – zu diesem Thema – ergänzt werden. Solche Schilderungen, bezogen vor allem auf die Manifestation dieser Polarität zwischen Verzweiflung und Zuversicht, sind im Herbst 1974 unter dem Titel ›Neo-Manierismus‹ im Limes-Verlag, Wiesbaden, erschienen.

Für Anregungen und Korrekturen danke ich Dr. Hans Rössner vom R. Piper u. Co Verlag und Frau Heidi Bohnet sowie Frau Dr. Helly Hohemenser in Rom, vor allem aber meiner Frau Traude, geb. Effenberger, für unermüdliche Mitarbeit.

Gustav René Hocke,Rom, Ostern 1974

1. Angst und Verzweiflung

a) Neue Pole

Vor einem Generationsalter bemerkte der amerikanische Dichter Auden, wir lebten in einem »Zeitalter der Angst«. In den Jahren 1938–1947 schrieb in den USA Ernst Bloch sein inzwischen berühmt gewordenes Buch ›Das Prinzip Hoffnung‹[2]. Eine viel beachtete Ausstellung wurde 1963 in Darmstadt unter dem Titel ›Zeugnisse der Angst in der modernen Kunst‹ eröffnet[3]. Gleichzeitig fand ein Gespräch statt über das Thema ›Angst und Hoffnung in unserer Welt‹[4]. Diese Pole unserer Zeit – zwischen Angst und Hoffnung – haben sich inzwischen zu den Extremen hin verschoben. Aus Angst wurde Verzweiflung, aber merkwürdigerweise andererseits aus »bloßer« Hoffnung vielfach schon Zuversicht.

Das Verhaltenspanorama in Europa und Amerika ist neu: Es ergibt sich ein Chaos von Neurosen, die durch Drogengenuss falsch gebändigt, d. h. nur »wilder« gemacht werden. Die Angst – ohne das rettende Vorgefühl der Hoffnung – schlug in Verzweiflung um, weil die »Anstrengung des Begriffs«, die Hegel forderte, im Zuge der »wohltuenden« Vernunft fehlte[5]. Zur Droge, d. h. zur erregenden oder dämpfenden Materie, greift gerade ein Teil der des-orientierten Jugend, weil sie der »Ordnung«-stiftenden Macht des Logos misstraut, weil sie zur Gesellschaft ein oft nur noch protestierendes Verhältnis hat und weil sie sich, angesichts der »Verdinglichung« des Subjekts in den jetzt hoch industrialisierten kapitalistischen und sozialistischen Staaten, nun auf hoch artifizielle, vielfach leider auch auf morbid-manierierte Weise »selbst«-behaupten will.

Allerdings könnte man am Ende unseres Jahrhunderts schon fast von einem Recht auf Verzweiflung sprechen. Die Darstellungen in Huxleys ›Brave New World‹ werden allmählich von uns erlebte Wirklichkeit. In seinem Essay ›2000 – La grande Peur‹ schreibt Eric Muraise über das verzweifelte Katastrophen-Gefühl der siebziger Jahre und bezieht sich auf entsprechende Darstellungen von Louis Armand über die Situation des Jahres ›2000 moins 30‹[6], Muraise weist auf die Gründe hin, den »Selbstzerstörungsprozess unserer Zivilisation«. Die hemmungslose Gefühlsreaktion darauf vergleicht er mit entsprechenden Verzweiflungshysterien in »Endzeiten« im Jahre 1000, am Anfang der Renaissance und kurz vor der Französischen Revolution. Die Reiter der Apokalypse heißen heute: Hunger, Umweltzerstörung, Erschöpfung der Energiequellen, thermonuklearer Selbstmord. Vor dem Jahre 2000 werde die Weltbevölkerung sechs Milliarden mehr oder weniger verstörter Seelen betragen. Falls der Bevölkerungsdruck in diesem Ausmaß anhält, werde in wenigen Jahrhunderten für einen Einzelmenschen nur noch ein Quadratmeter Erde zur Verfügung stehen, selbst wenn man bisher unbewohnbare Gebiete miteinbezieht. 1969 gab es 810 Millionen erwachsene Analphabeten auf unserem Planeten, und ihre Zahl wächst. Die 400 Säugetierarten, die frei leben, werden im Jahre 2000 vermutlich ausgestorben sein. Die Ozonschicht, die die Erde vor ultravioletten Strahlen schützt, wird verschwinden, falls die Abschüsse von Raketen vom Typ Saturn V zunehmen. Die Meere und Flüsse werden vergiftet, die Wälder zerstört. Ein solches Potenzial an Kernwaffen steht bereit, dass für die Tötung eines einzigen Menschen heute schon 15 Tonnen TNT vorhanden sind. Innerhalb der Konsumgesellschaft, die den Menschen auf neue Weise verfremdet, nimmt ein neuer Gewaltkult zu. Keine Form der Gesellschaft bleibt unumstritten[7].

Dazu kommt die pornografische Sturzflut. Sie führt zum taedium amoris und – Missbrauch der »Pille« hinzugenommen – zur Impotenz. Nach medizinischen Untersuchungen sind schon heute mehr als die Hälfte aller Männer chronisch impotent[8]. Die »sexuelle Revolution«[9] tötet die Intimität, die Neugierde, die Fantasie – die Erotik. Soziologen sagen eine Rückkehr des Menschen zu der sexuellen Periodizität einer ein- oder zweimonatigen Brunst- und Brutzeit der Tiere voraus. Das Wort »Liebe«, von salbungsvollen Predigern missbraucht, gilt als inhaltlos; Beatrice, Laura und Gretchen erscheinen als infantile Figuren mit Über-Ich-Belastungen. Die schöpferische Ambivalenz des Eros weicht dem allzu eindeutigen »Naturalismus« des bloßen »Sex« und dekomponiert daher auch nur rudimentäre Sublimierungs-Tendenzen. Der Sünden-Begriff, ein trieb-verstärkender Tabuismus, geht verloren. Allzu wissende Hemmungslosigkeit ergibt aber keine Triebsteigerung, sondern Libido-Ermattung. Es bleibt bei der elementaren Tatsache, dass der Mensch, ohne speziell »manieristische« Spiel-Zufuhr gerade im »Verbergenden«, auch im Geschlechtsakt, wieder dem nur noch »nützlichen« Verhalten im Geschlechtsleben der Tiere angeglichen wird. Ohne mystisch-religiöse »Erhöhung« und ohne manieristische Sublimierung im esoterischen Spiel wird die menschliche Libido demzufolge der bloßen »List der Natur« folgen, sie wird zur Reproduktion aus nur dumpfem Lust-Erleben[10]. Jean Améry schreibt von einer »Revolution des Ennui«. Die Abnutzung erotischer Reize sei verblüffend. Wer den Erotismus retten wolle, stünde vor der Aufgabe, eine längst nicht mehr bestehende »Moral« zu erneuern und aufzuzwingen. »Die Revolution des Ennui« triumphiere. »Aber sie hat ihre Kinder schon gefressen. Der Erotismus, im Scheitelpunkt seines Sieges, gibt den Geist auf, der ihn gebar. Lustloser Blick starrt aus toten Augen in eine freudenleere Welt.«[11] Alle diese Gründe für den Umschlag von Angst in Verzweiflung, vor allem sein Sichtbarwerden in künstlerischen Erscheinungen unserer so spannungsvollen Übergangskultur werden wir näher erörtern[12].

Vorerst noch zur anderen Wende, zum seltsamen »Überspringen« von Hoffnung in Zuversicht, in anderen Bezirken der Welt-»Stimmung«: Tatsächlich stoßen wir bei der Betrachtung internationaler Kultur-Phänomene heute auf eine vielleicht einzigartige Situation: einmal wachsende Verzweiflung und sodann zunehmende Zuversicht, und zwar in kapitalistischen wie in sozialistischen Staaten. Einmal schlägt die Angst in Verzweiflung um, zum andern weitet sich die Hoffnung zur Zuversicht aus. Wie ist dieser zweite Umschwung von Hoffnung in Zuversicht zu erklären? Das soll in diesem Abschnitt, der einer Hermeneutik der Verzweiflungsphänomene in der heutigen Kunst und Literatur dienen soll, nur kurz geschehen, weil davon im nächsten Kapitel ausführlicher die Rede sein wird.

Aus Hoffnung wurde für die wachsten Geister unserer Zeit also Zuversicht, weil der Abbau oder das Abbröckeln einseitig determinierender Ideologien, seien es solche rassistischer, klassenhafter, etatistischer oder nationalistischer Art – für sie – überall sichtbar wird. Die »terribles simplificateurs« des 19. Jahrhunderts verlieren erst im letzten Drittel unseres Jahrhunderts an überzeugender Kraft. Die Völker nähern sich, trotz aller noch bestehenden Spannungen, geistig und wirtschaftlich einander an. Die Kunst hat kosmopolitische Aspekte. Arnold Schönberg und Paul Klee erörtert man in Europa wie in Amerika und Asien intensiver als einst vergleichsweise Descartes, Hobbes oder Fichte. Die Hippies, deren Bewegung nur Mikrozephalen unterschätzen können, strahlen – eher manieriert als manieristisch – wenn auch nicht Zuversicht, so doch programmatisch Zuversichtliches aus. Eine neue, vielleicht zum ersten Mal in etwa rationalisierte Weltwirtschaft hat zu einem Warenaustausch geführt, der die sogenannte freie Marktwirtschaft enorm beflügelte, auch wenn die meisten Einwohner dieser warenfetischistischen Staaten mit diesem Segen seelisch noch längst nicht fertig geworden sind. Sogar soziale Trends werden in diesem neuen Mammonismus sichtbar, wenn auch von geringem Ausmaß, sodass man in diesem Punkt manchem Kritiker an der »freien« Marktwirtschaft – wie z. B. Marcuse – nicht ganz unrecht geben kann.

Ferner: Seit 1946 hat es zumindest ein Dutzend Möglichkeiten für einen neuen, diesmal »atomaren« Weltkrieg gegeben, von der Berlin- über die Korea- bis zur Suez- und Vietnamkrise. Dennoch gibt das Atom-Patt, das Gleichgewicht der atomaren Rüstungsverhältnisse, wenigstens vorerst Grund zu einer skeptischen Zuversicht. In Naturwissenschaft und Medizin werden echte Fortschritte verzeichnet, und am 21. Juli 1968 um 4 Uhr 56 Minuten 31 Sekunden betraten Menschen zum ersten Mal den Mond. Der humanistische Gewinn bleibt umstritten, aber auch die Skepsis kann die nun extra-mundane Zuversicht nicht einschränken; sie darf allerdings nicht in einen alten Erbauungsstil, in das Pathos der Pharisäer zurückfallen.

Zu beachten sind zudem die Wandlungen in fast allen christlichen und nicht-christlichen Bewegungen. Nur die weltflüchtige, drogenabhängige »schöne Seele« von heute, die offenbar vor allem Informationen scheut, kann übersehen, dass das II. Vatikanische Konzil in Rom (1962–66) zu einer heilsamen Erschütterung in allen Sektoren des Menschen-Kreises geführt hat. Dieser Wandel, der die Konstantinische katholische Macht-Kirche Roms wieder dem ebenso gesellschaftlich-ethischen Engagement ebenso wie dem theistischen Glauben des Frühchristentums annähern soll, ist noch nicht abgeschlossen. Doch ist er in vollem Gange. Davon zeugen heute jüngere und ältere Theologen von prophetischem Rang des katholischen, protestantischen, aber auch des buddhistischen und mohammedanischen Glaubens. Hier handelt es sich nicht mehr um Hoffnungen auf ein Etwas, das vor zehn Jahren noch als utopisch bezeichnet wurde, sondern um erste Zu-Versichten in Bezug auf inzwischen – wenn auch nur stückweise – Errungenes.

Das Wort Zuversicht (aus dem Althochdeutschen fuofirsiht) trifft diese neue, nicht mit Optimismus zu verwechselnde »Stimmung« besser als das lateinische fides oder fiducia, das – wie in allen romanischen Sprachen und im Englischen – Glauben bzw. Vertrauen bedeutet. Zuversicht heißt Mit-Sicht-zu-Sehen und bedeutet (wie schon bei Notker) nicht nur »Vertrauen« auf Gott. Hier erweist die deutsche Sprache – ähnlich wie das Griechische – wieder einmal ihren existenziellen Ausdrucksreichtum. Das gilt auch für das Wort »Verzweiflung«. Während das lateinische Wort »disperatio« den bloßen Hoffnungsverlust ankündet (wie in den romanischen Sprachen und im Englischen), weist Verzweiflung nicht nur auf Zweifel hin, d. h. nicht nur auf einen unschlüssig geteilten Sinn, auf ein angstvolles Trennen der Dinge, sondern – durch die verstärkende Vorsilbe »Ver« – auf eine verdoppelte Spaltsucht, auf hoffnungslose Zweifelei. Verzweifeln geht über berechtigtes Zweifeln hinaus: in die dürren Abgründe der Ausweglosigkeit. Die Kirchenväter schon sahen es als Sünde an. Auch für die heutige katholische Moraltheologie darf Verzweiflung nicht mit Angstzuständen verwechselt werden, in denen sich oft auch »gerechte Seelen« befinden. Verzweiflung ist Sünde gegen die Hoffnung, die mit Glaube und Liebe zu den christlichen Kardinaltugenden gehört. Die Kirche spricht von »Akten« der Hoffnung, von einer notwendigen »Bestätigung« der Hoffnung. Man sündigt schon dann gegen die Hoffnung (vor allem auf Gott und Unsterblichkeit), wenn man auf sie auch nur verzichtet[13].

Die Unterschiede von Angst und Verzweiflung sowie von Hoffnung und Zuversicht hat uns Ernst Bloch in den Analysen dargestellt, die zu seinen besten gehören. Demgemäß beginne der erste und grundlegende Erwartungsaffekt, die Angst, noch als der am meisten stimmunghaft-unbestimmte. »Der Angstvolle sieht niemals das Etwas bestimmt vor sich oder um sich, aus dem es ihn anweht; dieses Gefühl ist nicht nur in seinem leiblichen Ausdruck, sondern auch in seinem Gegenstand schlotternd. – Aber mit den vorhandenen sozialen Zuständen, die Lebens- wie Todesangst reichlich aus Eigenem beleben, wo nicht erzeugen dürften, ist der negative Bezugsinhalt überhaupt hier ausgelassen, d. h. das objektiv Angsterregende, ohne das sich Angst gar nicht konstituieren könnte«[14].

»Und sie erst, (die Verzweiflung) nicht die Angst, ist wirklich bezogen auf das Nichts; die Angst ist noch fragend-schwebend, noch von Stimmung und vom Unbestimmten, auch Unausgemachten ihres Gegenstands bestimmt, wogegen eben Verzweiflung in ihrem Gemütszustand ein Definitives, in ihrem Gegenstand, außer dem Definitiven, ein schlechthin Definiertes an sich hat. – Ihre sämtlichen Wachträume (nur das Entsetzen hat keine Zeit dazu, einen zu bilden) kreisen letzthin um ein negativ Unbedingtes: das Höllenhafte. – Gänzlich im Gegensatz dazu erscheinen nun in, wie hinter all diesem die positiven Erwartungsaffekte. Ihre Zahl ist freilich viel geringer, es gab bisher nicht so viel Anlass für sie. Ihrer sind nur zwei: die Hoffnung, welche die Furcht zuschanden macht, und die Zuversicht, welche der Verzweiflung korrespondiert.«[15] … »Tritt aus der Hoffnung gar Zuversicht vor, dann ist der absolut positiv gewordene Erwartungsaffekt da oder so gut wie da, der Gegenpol zur Verzweiflung. Wie diese ist auch Zuversicht noch Erwartung, nämlich als aufgehobene, als Erwartung eines Ausgangs, an dem kein Zweifel mehr statthat. Die Verzweiflung berührt fast völlig jenes Nichts, dem alle negativen Erwartungsaffekte sich annähern; die Zuversicht dagegen hat im Horizont fast das Alles, auf das sich bereits die schwächste, sogar die mit unechter Zukunft versetzte Hoffnung wesentlich bezieht. Die Verzweiflung transzendiert, indem ihr Nichts die Intention in Untergangsgewissheit niederschlägt, die Zuversicht, indem ihr Alles die Intention in Heilsgewissheit eingehen lässt.«[16]

Es folgt ein weiteres Zitat von Ernst Bloch zu dem faszinierenden Panorama der heutigen »Zeitenwende«, das jenem der »Renaissance« entspreche, wobei allerdings – nach den soziologischen Untersuchungen von Arnold Hauser zur Spätrenaissance – unserer Meinung nach besser der Manierismus in der Zeit von der Mitte des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts zu nennen wäre[17]: »Während dieser Zeiten und so oft sie aktuell sind, ist also nicht bloß physiologisches Frühlingsgefühl in der Luft, sondern mehr noch: Wendezeiten sind schwül, es scheint eine Donnerwolke in ihnen eingesperrt. Wetter- oder Geburtskategorien wurden daher von je auf sie angewandt: als Ruhe vor dem Sturm oder als März in der Geschichte oder am stärksten, konkretesten: als Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht. Zeiten wie die unsere verstehen den Wendezustand gut; selbst seine Feinde, die Faschisten in Italien und Deutschland, konnten nur noch betrügen, indem sie sich revolutionär verkleideten, ein Marasmus als Frühlingssonne. Die Zeitwenden sind selber die Jugendzeiten in der Geschichte, das heißt, sie stehen objektiv so vor den Toren einer neu heraufkommenden Gesellschaft, wie die Jugend sich subjektiv vor der Schwelle eines bisher unaufgeschlagenen Lebenstags stehen fühlt. Das überblickbarste Exemplar solcher Wende ist bis jetzt die Renaissance, besonders auch nach der ideologisch-kulturellen Seite. … Der Mensch fühlt sich in solchen Zeiten deutlich als nicht festgestelltes Wesen, als eines, das zusammen mit seiner Umwelt eine Aufgabe ist und ein riesiger Behälter voll Zukunft.«[18]

b) Angstträume

Wie reagieren die Künstler, Dichter und Komponisten von heute auf das, was wir die Verzweiflungskomponente unserer Zeit nennen möchten? Diese Frage stellt sich vor allem, wenn wir eine wirklich brauchbare Hermeneutik, eine konkrete Deutungslehre neo-manieristischer Schöpfungen herauszubilden versuchen[19], die vor allem jungen Menschen mehr sinnliches Brot als intellektuelle Steine bietet. Immer schon haben Künstler, Dichter und Komponisten, wie auch die Philosophen, die auf Innenerfahrung und Lebensbeobachtung nicht ganz verzichten, wie Barometer auf die Schwankungen jeder Art von Zeitgeist reagiert. Was man im Manierismus in nahezu allen seinen Manifestationen ablesen kann, sind zunächst einmal Angstträume[20].

Manierismus sei hier kurz definiert, weil dazu meine Manierismus-Bücher nicht nur geistesgeschichtliche Aspekte, sondern auch formale Elemente bieten. Ferner wird in diesem Text noch davon ausführlich die Rede sein. Manierismus, der sich in allen Kulturzeiten nicht nur Europas manifestiert, kann als die Ausdrucksform des Subjektiven gelten, als Kunst, die vorzugsweise geistige und seelische Vorgänge mit auch »irregulären« Form-Mitteln darstellt. Sie begnügt sich also nicht mit der klassizistischen »Nachahmung der Natur«. Die Form-Geometrie des »Goldenen Schnitts« lehnt sie ab. Man könnte sie auch »Idea-Kunst« nennen, wenn man den meisterhaften Untersuchungen von Erwin Panofsky[21] folgt. Doch gibt es eine Kunst, die nicht nur »manieristisch« und nicht nur »klassizistisch« ist. Man könnte sie als »Integrationskunst« bezeichnen. Darüber mehr in den Kapiteln 3 bis 5.

Erinnern wir hier an ein Wort des Malers Giulio Clovio, als er den bedeutendsten Maler des Alt-Manierismus, El Greco, zu einem Spaziergang auffordern wollte. El Greco lehnte mit den Worten ab: »Nein! Das Tageslicht stört mein inneres Licht.« »Sind Manieristen so?«, fragte sich Giulio Clovio. Für ihn antwortet Panofsky: »Wir würden nicht zögern, diese rhetorische Frage mit Ja zu beantworten.«[22]

Jeder Psychiater wird bestätigen, dass die meisten Menschen von heute in ihren Wach- und Nachtträumen mehr von wirren Bildern der Angst geplagt als von Bildern irgendeiner Seligkeit beglückt werden. So ergibt es sich auch, dass eine mehr oder weniger verschleierte Angst am Rande der Verzweiflung die figurativen wie »gegenstandlosen« Gebilde des Neo-Manierismus aufs Stärkste mitbestimmt. Hinzu kommt, dass auch die weniger Gebildeten durch die Popularisierung der Tiefenpsychologie heute nicht nur auf ihre Träume mehr achten als etwa in »klassischen« Zeiten, ja sogar mehr als in der Epoche so merkwürdiger Ideal-Träume, der Romantik. Man weiß heute auch in breiteren Kreisen, dass Angstträume als Symptome für ein Krank-Sein gelten können wie Herzschmerzen oder ein Hautausschlag. In Träumen suchen die Psychiater von heute nicht nach der »blauen Blume«, sondern nach »wunden Punkten« in der psychosomatischen Struktur des Menschen, der vielfach geradezu als anomal gilt, wenn er nicht mindestens eine Prä-Neurose hat[23].

Die Erörterung der Ursachen von Angstträumen hat zwischen Psychiatern zu lebhaften Streitigkeiten geführt, die bis heute noch nicht geschlichtet sind. Seitdem der Bahnbrecher der Methode, Traumdeutungen zur Heilung von Neurosen einzusetzen, Sigmund Freud, jeden Traum als Vorspielung von Wunscherfüllungen erklärte, ist es zu einem geradezu teuflisch verzwickten oneirischen Akademismus gekommen, dessen Haarspaltereien nur mit den Begriffs-Virtuositäten der katholischen Spät-Scholastik, mit den Syllogismen der Sophisten oder mit den abstrusen Meditations-Grammatiken des Spätbuddhismus verglichen werden können – oder mit der manieristischen Moral-Theologie des 16. Jahrhunderts[24].

Sigmund Freud äußert sich über Angstträume eher verlegen als überzeugend, denn die Frage bleibt ja einschneidend: Wie können Angstträume als symbolische »Es-Ereignisse« von Wunscherfüllungen gedeutet werden. Freud führte den Begriff der »Traumarbeit« ein. Der Traum zensiert, verkleidet. Ein Beispiel: Ein wütender Stier, der einen auf die Hörner nimmt, wobei man sich verbluten fühlt, entspricht sexuellen Wünschen und ihrer Erfüllung.

Doch wie steht es mit der »Wahrheit« von Angstträumen? Was verursacht sie wirklich? Freud schrieb, ein psychischer Vorgang, der Angst entwickle, »kann doch eine Wunscherfüllung sein«[25]. Und dann entscheidet er schroff, ein solcher Vorgang gehöre in die Neurosen-Psychologie. »Wir haben weiter nichts mit ihm zu schaffen!«[26] Warum eigentlich nicht? Hier würde – von heute aus gesehen – die sogenannte Neuro-Psychologie erst anfangen. Freuds Irrtum lag darin, die Angstträume – so gut wie alle – aus »sexuellen Quellen« abzuleiten, d. h. lediglich aus einer »persönlich« bestimmten Intimsphäre besonderer Art erklären zu wollen. Hauptursachen von Angstträumen sind laut Freud u. a.: Die Trennung des Kindes von der Mutter und seine Geworfenheit in eine total fremde Welt, unerlaubte sexuelle Regungen gegenüber der Mutter, gekoppelt mit »Hass« gegen den Vater.

Zahlreiche Psychiater halten das auch heute noch für richtig, wohl fast ebenso viele für falsch. Tatsächlich ist diese These aus der manieristischen Jugendstil-Zeit Wiens weder falsch noch richtig, sondern nur einseitig. Wie Marx das ökonomische Verhalten des Menschen verabsolutierte und der Engländer Chamberlain (und in seiner plagiatorischen Nachfolge ein kleinbürgerlicher Fantast niedrigsten Ranges wie Alfred Rosenberg), die Rasse, so Freud den Sexus. Ähnlich hatte Fichte den sogenannten absoluten Geist nur im Bloß-Ich erkennen zu können geglaubt, Darwin dagegen in bloß zoologischen Evolutionen. Gegen diese Einseitigkeit hat sich ein ebenso skeptischer wie enthusiastischer Denker wie Ernst Bloch gerichtet, wenn er auf die »multiplen« Situationen in Angstträumen speziell der Menschen in unserer technisierten Gesellschaft hinweist. Darüber später Genaueres.

Die Angsttraum-Situation unseres »mechanisierten Daseins« (Rathenau) hat vielfältigere Ursachen als die genialen Traumdeuter, die ihre Wurzel noch im 19. Jahrhundert hatten, so Freud, Adler, Jung usw. annehmen konnten. Welchen furiosen Reigen von verzweifelten Irr-Sinnigkeiten zeigen heutige Angstträume, die – per se – gar nicht mehr durch Bilderkaleidoskope erklärt werden können wie diejenigen zur Zeit Charcots oder Freuds, der als ersten Traum denjenigen analysierte, den er in der Nacht vom 23. auf den 24. Juli 1895 geträumt hatte[27] – also vor zwei Weltkriegen, etlichen Revolutionen und bevor die Verfremdung des Menschen in der technisierten Massengesellschaft heutige Ausmaße erreicht hatte[28].

Wir müssen neue Wege suchen. So fragt bereits Werner Kemper in seinem Buch ›Der Traum und seine Be-Deutung‹[29]: »Wie kann der Traum Schlafhüterfunktion haben, wenn es eine Kategorie von gar nicht so seltenen Träumen gibt, wie die Angstträume, die Albträume, die Verfolgungsträume, die Träume, in denen man qualvoll etwas sucht und nicht findet, in denen man in größter Not hinter einem davonfahrenden Zug her rennt, in denen man sich zu seiner höchsten Beschämung ungeziemend gekleidet in offizieller Gesellschaft bewegt? Widersprechen sie nicht eindeutig der Wunscherfüllungstheorie des Traumes und ebenso seiner Schlafhüterfunktion, da man in der Regel aus ihnen verstört und schweißgebadet aufschreckt? Oder sollten dies lediglich misslungene Versuche sein, die aber grundsätzlich nicht gegen die Richtigkeit der Auffassung des Traumes als Schlafbewahrers sprächen? Sinngemäß auf den Traum angewandt, würden somit die Entstellungen, Verschleierungen, Spurenverwischungen durch all die früher aufgezählten Mittel der Traumarbeit (wie Verschiebung, Verdichtung, Symbolisierung, Darstellung durch das Gegenteil u. a.) solche Selbsthilfen unseres nächtlichen Schlafbewahrers (eben jener Traumarbeit) darstellen. Und dann nur, wenn diese Mittel sich ihm als unzureichend erwiesen, ein entfachtes ›Feuer‹ in Schach zu halten, also nur dann, wenn ernsthafte Gefahr eines Großfeuers besteht, würde mittels Angsttraumes das Alarmzeichen zum Aufwachen gegeben. Das alles klingt zwar nicht gerade besonders überzeugend, gäbe aber immerhin eine Erklärungsmöglichkeit ab. Aber welchem ›Feuer‹ oder gar ›Großfeuer‹ sollten wir denn als Schlafende bzw. Träumende ausgesetzt sein?«[30]

Wieder eine offene Frage! Ernst Bloch hilft uns auch hier weiter. Es geht um die Kritik an einem Psychologismus ohne soziale Analyse der Umwelt. Bloch integriert andere Elemente zum Verständnis der Angst in unserer Zeit, die wir nicht nur für unsere Deutungen der »Botschaften« in der Idea-Kunst von heute brauchen[31]. Diese Kritik betrifft Grundzüge auch der universaleren Menschenkunde. Sie macht auf das Gefühl der Hoffnung in oder mit der Angst aufmerksam. Bloch geht zunächst noch von Freuds These aus, laut der in Angstträumen ein dem »Traum-Ich« nicht genehmer, ein besonders verworfener Wunsch im Begriff sei, auf besonders unverhüllte Weise »befriedigt« zu werden. Die Angstentwicklung vertrete die Stelle der Zensur. Letzter Ursprung der Angst sei der Geburtsakt, jener »erste Angstzustand, der aus der Trennung von der Mutter hervorgegangen ist, also Verlassenheit signalisiert, Schutzlosigkeit, Preisgegebenheit«. Hinzu komme, bei Freud, Kastrationsangst, die sich später als Gewissensangst fortsetzt. Und hier fragt Bloch nun, ob denn die Festlegung auf sexuelle Libido zur Angsterzeugung ausreiche. »Kommt die negative Wunscherfüllung oder Angst ausschließlich vom Subjekt her, ausschließlich vom ›objektlos gewordenen Libido-Affekt‹?«

Bloch hebt hervor, dass Freud, in der Spätphase seines Wirkens, Angst weit über das biologische Innen- und Anfangserlebnis des Geburtsaktes hinaus erklärt habe, nämlich in der Weise, dass nach den Worten Freuds, »eine gefürchtete Trieb-Situation im Grunde auf eine äußere Gefahrensituation« zurückgehen könne.

Nun setzt Bloch aber mit seiner vielstimmigeren Komposition ein. Der Passus kann klassisch genannt werden. Ernst Bloch schreibt zu den multiplen Ursachen der Angst: »Das Gefühl der Preisgegebenheit hätte ja gar keinen Inhalt, wären die fremden Gesichter, die Dunkelheit und dergleichen lediglich – Nicht-Mutter und sonst neutral. Stattdessen gibt es auch hier Hunger, Nahrungssorge, ökonomische Verzweiflung, Lebensangst, positiv und objektiv genug.[32] Die bürgerliche Gesellschaft war bis vor Kurzem tatsächlich und ist heute noch ihrer Anlage nach auf freie Konkurrenz gegründet, folglich auf ein antagonistisches Verhältnis, auch in der gleichen Klasse und Schicht. Die derart gesetzte, ja geforderte feindliche Spannung zwischen Individuen produziert unaufhörliche Angst; und diese braucht nicht erst Libido und Geburtsakt, um sich daran anzusetzen. Sie ist mit dieser Art Außenwelt genügend gesetzt, zuletzt noch mit zwei Weltkriegen in ihr … Die Angst und ihre Träume mögen im Geburtsvorgang ihren ersten Erreger haben, so wie am Tod ihren letzten biologischen Inhalt. Wo Angst aber als nicht nur biologische, sondern in einer nur bei Menschen vorfindlichen Weise, vorzüglich gerade als Angsttraum, auftritt: Dort hat sie wesentlich gesellschaftliche Blockierungen des Selbsterhaltungstriebs zur Grundlage. In der Tat ist es einzig der vernichtete, ja der in sein Gegenteil gewandelte Inhalt des Wunsches, der Angst, zuletzt Verzweiflung macht.«[33]

Bloch unterscheidet scharfsinnig zwischen Tag- und Nachtträumen. Nachtträume enthalten viel »archaisches« Material. Tagträume hingegen antizipieren die Zukunft; sie schwärmen – hoffnungsvoll – von zukünftigen Möglichkeiten. Sie bauen Luftschlösser. Bloch schreibt: »Das Luftschloss ist keine Vorstufe zum nächtlichen Labyrinth, eher liegen noch die nächtlichen Labyrinthe als Keller unter dem täglichen Luftschloss«[34]. Und hier spricht Bloch auch von »Fantasieglück«! Gewiss, geradezu entfesselte Fantasie zwischen Angst und Hoffnung, zwischen Verzweiflung und Zuversicht! Deswegen bezeichnen sich so viele Künstler heute als Vertreter einer neuen »fantastischen Kunst«. Das Wort ist nicht glücklich gewählt, auch wenn es jetzt als Mode-Slogan überall angewandt wird. Die tiefere, neo-manieristische Idea-Kunst, die solchem »Fantasieren« zugrunde liegt, ihre Voraussetzungen, Antriebe, ihre Formen, Strukturen und Symbole, wollen wir im Verlaufe dieser Mitteilungen deutlicher machen. So wird sich diese Einleitung mit dem Thema organisch ergänzen.

»Vorwärts-Intention« in Tagträumen. Blochs Daseinsanalytik hat futurologischen, messianischen Charakter. Martin Heideggers »Fundamentalanalyse des Daseins« dagegen hat gewiss einen ganz anderen Kontrapunkt. Auch sie hält die Zukunft im Blick, aber vorwiegend die des Todes, der – wenigstens für das »Subjekt« – jede Zukunft beendet. Deswegen sind Heideggers »Interpretation des Daseins auf die Zeitlichkeit« und die »Explikation der Zeit als des transzendentalen Horizonts der Frage nach dem Sinn«[35] nicht weniger fundamental als die sozial-politisch »nach vorne« gerichteten Analysen Blochs.

Anthropologisch ergänzen sie sich, denn selbst in einem verwirklichten utopischen Vollkommenheits-Staat wird vor allem die Todes-Angst nicht bloß verwaltet oder bloß weggeredet werden können. Man weiß aus kommunistischen Staaten, dass ein wachsendes Unbehagen nicht nur durch Mangel an Freiheit und irrigen ökonomischen Dispositionen entsteht, und nicht nur durch einen Mangel an religiöser, sondern auch durch den Mangel einer auch nur psychologischen Sinngebung des Todes. Die Todes-Angst läuft gleichsam leer. Historischer und biologischer Materialismus, die den Tod ausklammern, bzw. nur als »natürliches Phänomen« ansehen, helfen dem metaphysisch, mythisch und religiös vereinsamten »Subjekt« ebenso wenig weiter wie Fünf- oder Zehnjahrespläne von meist kleinbürgerlichen Theoretikern, denen das elementar Kauf-Männische ebenso fremd ist wie das Ein-Mal-Eins auch einer nur »stoffgebundenen« Parapsychologie.

Die Todes-Angst wird – aus diesem Mangel an Sinngebung – stärker, sofern der Mensch nicht zum banalen Zyniker wird. Gerade der »Mann der Straße« aber ist in dieser Beziehung selten zynisch, wenn das Einzel-»Dasein« nur noch kollektiven, also keinerlei individuellen Sinn mehr hat und wenn der Tod mit einer Eintragung im Einwohner-»Meldeamt« erledigt wird. »Das Sein zum Tode und die Alltäglichkeit des Daseins« (Heidegger)[36] kennt keine Grenzen zwischen kapitalistischen und sozialistischen Staaten. Ebenso wenig wie die »daseinsanalytische« Idea-Kunst von heute, die, wie wir schon gesagt haben, eine neue Sprache allgemeingültiger Menschlichkeit sucht, sodass – wie Welt-Literatur – heute Welt-Kunst entsteht, Welt-Kunst der Grenzgänger zwischen nicht mehr erträglichen politischen und philosophischen Reduzierungs-Terrorismen jeder Art. Sorge erzeugt, nach Heidegger, »Selbstheit«. Der inzwischen weltberühmt gewordene Paragraf 40 des 1927 zum ersten Mal erschienenen und Husserl gewidmeten Hauptwerks von Heidegger, ›Sein und Zeit‹, behält daher seinen klassischen Wert, auch wenn man Heidegger Unverständnis für »soziale« und »politische« Ursprünge der Angst (und Verzweiflung) vorgeworfen hat[37]. Man muss nur richtig lesen, um festzustellen, dass auch Heidegger das »Umfassende« der Angst erkannt hat.

So schreibt er – freilich abstrakt, aber alles Logische auch »umschließend« – den Satz, der letzthin nicht nur Sartres Dramen grauenhafter Verzweiflung beeinflusst hat: »Wenn sich demnach als das Wovor der Angst das Nichts, das heißt die Welt als solche herausstellt, dann besagt das: wovor die Angst sich ängstet, ist das In-der-Welt-Sein.«[38] Diese Angst schließt wohl alles ein, auch Angst vor den Geheimpolizisten aller Diktaturen, vor den Fragebogen aller Bürokratien, vor dem Leistungsprinzip kapitalistischer wie sozialistischer Staaten, vor dem Alter, vor der Krankheit, vor der tragischen Unschärfe-Relation jeder Art menschlichen Lebens in einem Dasein, dessen absoluten Sinn mathematisch genau bisher noch keiner nachweisen konnte.[39]

Erst recht nicht die Ideologen aller Farbe, die sich mehr oder weniger zähneknirschend in den Dienst einer so oder so gearteten Staatskonzeption gestellt haben.

Ein weiteres Wort von Heidegger, das auch für das Verständnis der neuen Gehalte und Formen der neo-manieristischen Idea-Kunst wichtig ist: »In der Angst versinkt das umweltlich Zuhandene, überhaupt das innerweltlich Seiende. Die ›Welt‹ vermag nichts mehr zu bieten, ebenso wenig das Mitdasein anderer.« … »Die Angst vereinzelt das Dasein auf sein eigenstes In-der-Welt-Sein, das als verstehendes wesenhaft auf Möglichkeiten sich entwirft.« Allerdings: »Die Angst offenbart im Dasein das Sein zum eigensten Seinkönnen, das heißt das Freisein für die Freiheit des Sich-Selbst-Wählens und -Ergreifens.«

Nun, diese Sprache, die Adorno, der ihr nicht selten selber verfiel, als »Jargon der Eigentlichkeit« bezeichnete, klingt uns heute unverfänglicher als gestern, als sie nämlich politisch missbraucht wurde und ein fürwahr unerträgliches Jünger-Geschwätz spät-manierierter Art erzeugte. Nichtsdestoweniger hat Heidegger etwas Einzigartiges zustande gebracht: die Explikation der Not (Sorge, Angst) des Individuums am Anfang der »totalitären« Diktaturen jeder Art, auch wenn er, Heidegger, das, 1927, im vollen Maße noch gar nicht erkannt hatte. Doch hatte ein wahrer Prophet schon eine mächtige Ouvertüre zu dieser manieristischen Angst-Symphonie angestimmt, nämlich Kierkegaard mit seinem ersten Grund-Akkord über die Daseins-Befindlichkeit von Angst (und Verzweiflung) am Anfang der heutigen Industriegesellschaften.

Es bleibt das Verdienst von Marx und Feuerbach, idealistische anthropologische Konstruktionen auf den Kopf gestellt zu haben, um ökonomische und soziale Zusammenhänge als auch existenzielle Determinanten sichtbar zu machen. Heideggers Leistung wird allerdings ebenfalls Dauer haben, weil er »die Abhebung des existenzial-ontologischen Zusammenhangs von Zeitlichkeit, Dasein und Weltzeit gegen Hegels Auffassung der Beziehung zwischen Zeit und Geist«[40] vollzogen hat. Er wies dem »Subjekt« und damit auch der »abstrakten« Idea-Kunst einen neuen Rang zu.

Das hat Franz Kafka, auch er vor einer geistigen Transsubstantiation der Angst in Hoffnung noch zögernd, wenn auch keineswegs trostlos, prophetisch geahnt. Daher seine »doppelte« Angst, die Jahr für Jahr stärker in Verzweiflung mündet. Kafka hat in seinen Romanen die konkretesten Angstträume der modernen Literatur in einfachste dichterische Gleichnisse gebracht.

Er hat, wie kaum ein Dichter seiner Zeit, unter der Ambivalenz unserer Zeit-Deuter gelitten. So entstanden die ersten Dokumente, schon bevor Heidegger, der das Erlebnis des Nichts-Charakters des Seins analysierte, Dokumente, die aus nun hoffnungsloser Angst von der »Aussichtslosigkeit« der puren Verzweiflung künden, ob es sich um Sein als Nichts oder um Nichts als Sein handelt. Berühmt wurde, aber fast vergessen ist inzwischen in der nun schon hyperverzweifelten Happening-Anti-Kultur unserer Zeit[41] die wahrhaft entsetzliche Situation K’s in Kafkas Roman ›Der Prozess‹: »›Was willst Du denn jetzt noch wissen‹, fragte der Türhüter, ›Du bist unersättlich.‹ ›Alle streben doch nach dem Gesetz‹, sagte der Mann, ›wie kommt es, dass in den vielen Jahren niemand außer mir Einlass verlangt hat?‹ Der Türhüter erkennt, dass der Mann schon am Ende ist, und um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an: ›Hier konnte niemand sonst Einlass erhalten, denn dieser Eingang war nur für Dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.‹«

Diese Situation ist zumindest so grausig wie diejenige der Sünder am Eingang der Hölle Dantes mit ihrer Aufschrift: »Lasciate ogni speranza voi ch’entrate.«[42]

Und wie mit Kafkas Stimme tönte in der damaligen Literatur das polyfone Wortgeflecht von James Joyce, dem E. R. Curtius vorwarf, er schildere nur das Höllische im menschlichen Dasein. Es fehle ihm das »Paradies«. Aber wo hätte Joyce es in seiner menschlichen Umwelt, zwischen zwei Weltkriegen, finden können? Deformationen, Raum-Brüskierungen, Zeit-Zerstörungen, Reduzierungen der Kunst zu einer willkürlichen Kombination auch von Dreck-Elementen, sind sie wirklich so »willkürlich«? Die »Gefahr«, in der dies alles steht, ist eindeutig, aber zumindest manche dieser Äußerungen der Anti-Kunst künden mehr von echter Verzweiflung als von bloßer Willkür. Sie gleiten zweifellos in einen grauen Zirkus der Desperation hinab, aber sind sie bloße Willkür? Darüber später mehr.

Auch diese Anti-Kunst der Verzweiflung hat Franz Kafka schon vorweggenommen, als er in einem Brief an Max Brod verlangte, dass man – mit nur wenigen Einschränkungen – »alles, was sich in meinem Nachlass (also im Buchkasten, Wäscheschrank, Schreibtisch, zu Hause und im Büro, oder wohin sonst irgendetwas vertragen worden sein sollte und Dir auffällt) an Tagebüchern, Manuskripten, Briefen, fremden und eigenen, Gezeichnetem und so weiter findet, restlos und ungelesen zu verbrennen, ebenso alles Geschriebene oder Gezeichnete, das Du oder andre, die Du in meinem Namen darum bitten sollst, haben. Briefe, die man Dir nicht übergeben will, soll man wenigstens selbst zu verbrennen sich verpflichten«[43].

Verzweiflung, nun konkret ausgedrückt, also mehr als Angst, Berichte über »bloße« Angst, findet man in Kafkas Tagebuch deswegen in so erschütternder Weise, weil seine Sprache, bei aller Bloßstellung subjektiver Weltverlorenheit in »dürftiger« Zeit, meist klassisch bleibt, an Goethes bester Prosa geschult. So schreibt Kafka am 28. Januar 1922, also schon zwischen den beiden Weltkriegen: »… Es sind nur Visionen der Verzweiflung, besonders in jenen Zeiten, in denen ich auch dort – (im Hoffnungsland Kanaan), der Elendste von allen bin.« Am 3. Februar 1922 trägt er ein: »Dann wird aber wiederum nur der Irrsinn mich aufnehmen, da ich den Aufstieg, den man nur erreicht, wenn man ihn will, nicht wollte.« Am 5. März 1922: »Drei Tage im Bett. Kleine Gesellschaft vor dem Bett. Umschwung. Flucht. Vollständige Niederlage. Immer die in Zimmern eingesperrte Weltgeschichte.«

Kafka berichtet über das Leben eines Verzweifelten, der alles opfern wollte und musste, um schreiben zu können. »Ich bin ja wie aus Stein«, so versucht er seinen Zustand zu beschreiben, »wie mein eigenes Grabdenkmal bin ich, da ist keine Lücke für Zweifel oder für Glauben, für Liebe oder Widerwillen, für Mut oder Angst im Besonderen oder Allgemeinen, nur eine vage Hoffnung lebt, aber nicht besser als die Inschriften auf den Grabdenkmälern« (15. Dezember 1910).

Geradezu gespenstische Doppel-Ich-Erfahrungen ergeben sich. Am 6. November 1911 liest Kafka in einem eigenen »alten Notizbuch«: »Jetzt abend, nachdem ich von sechs Uhr früh an gelernt habe, bemerkte ich, wie meine linke Hand die rechte schon ein Weilchen lang aus Mitleid bei den Fingern umfasst hielt.« Oder, im Entsetzen des »Ennui«: »Jetzt abends vor Langeweile dreimal im Badezimmer hintereinander mir die Hände gewaschen« (23. Mai 1912)[44].

Doch bleibt es im Wesentlichen bei der Verzweiflung, die diesen »negativen« Pol in den Spannungskräften unserer Zeit schon voraussieht – neben der Zuversicht –, und zwar mit der ganzen Kraft eines genialen Propheten in einem weltgeschichtlich neuen Bewusstsein des Scheiterns.

In einer Art Lähmung des Verzweifelns und in gleichzeitiger Erstarrung der Hoffnung wird hier ein Nullpunkt des Daseins erfahren; in diesem Augenblick ergibt sich ein neuer Höhepunkt der Existenzerfahrung. Kafka legt die Verlorenheit des Menschen bloß, wie vor ihm kein Tagebuchschreiber Europas; doch schimmert in diesem ausweglosen Labyrinth die Kernkammer viel heller auf als in mehr theoretisch-intellektuellen, schulphilosophisch-existenzialistischen Abhandlungen oder in logistisch-gnostischen Traktaten unserer Epoche. Das meditierende Tagebuch-Ich wird damit zu einem Spiegel des ontischen Über-Ichs, wenn auch zu einem »trüben« Spiegel, denn Kafka ist und will ganz Angehöriger, ja Geschöpf seiner mythenlosen Zeit sein. Er will den Weg der Melancholie, des Absurden, der Sinnlosigkeit, des Ennui, der Einsamkeit, der Bruderlosigkeit zu Ende gehen, denn er weiß, dass schon, wenn er nicht ausweicht, wenn er weiterhin tapfer ins Schaurige vordringt, die Kehrseite der Nacht allmählich aufleuchtet, schwach zwar, aber mit seltsam bitterer Süße der Verheißung[45].

Nur schwache Hoffnungsschimmer, auch schon vor 50 Jahren? Heute begreift man die neuen zwingenden Inhalte und Formen der noch immer so verfemten zeitgenössischen neo-manieristischen Idea-Kunst besser als gestern. Doch sind die Widerstände in kapitalistischen wie sozialistischen Staaten gegen sie noch immer groß. Man kann nach manchen Statistiken vermuten, dass 1974 noch immer mindestens 80 % der Nicht-Fachleute den menschlichen subjektiven Offenbarungswert der sogenannten modernen Kunst ebenso wenig begriffen haben wie ein fast ähnlich hoher Prozentsatz von »akademischen« Kunstdeutern. Noch immer versteht man nicht, dass einerseits das Subjekt sich zum ersten Male gegen eine fast totale (technisch-soziale) Mechanisierung der Welt und gegen den »Umwelt«-Tod bewusst wehrt. Man erkennt meist auch nicht, dass andererseits das »Unbewusste«, d. h. das Erfahren des Subjektiven im Unbewussten – also auch ohne den Willen eines Subjekts X oder Y – elementar gegen eine allmählich totale Verdüsterung des Humanen revoltiert. Gültig bleibt allerdings der so besorgte Ruf von Lukács nach einem sozusagen unerbittlichen »Realismus«[46], doch wurde ihm der vielfältigere Wirklichkeitsbezug von Expressionismus, Surrealismus und auch vom Existenzialismus, selbst in der Sonderart von Sartre, nur in polemischer Weise zugänglich. »Wesen« heißt für Lukács, auch spät, noch immer »wirklicher Zusammenhang« von »Erlebnissen mit dem wirklichen Leben der Gesellschaft«[47]. Gerade dies ist für einen Dichter wie Solschenizyn, den nur sture stalinistische Reaktionäre als »anti-marxistisch« zu bezeichnen wagen, nicht genug. Max Weber steht Solschenizyn heute wieder näher als Lukács etwa dem bloß rationalistisch so schwer begreifbaren Dostojewski[48].

Das bloß materielle »Nichts«, das an die Stelle des »umfassenden« »Seins« (Jaspers) gerückt ist, inthronisiert, »gebiert«, nach Kierkegaard, verstärkte Angst. Thure von Uexküll, Professor für Innere Medizin, bestätigt die Richtigkeit dieser These, die auch in der Anthropologie anregend wirkte. »Die Unmöglichkeit des Geängstigten, sich in Aktionen Luft zu machen, seine Hilflosigkeit, erklärt auch, warum Angst so leicht in Verzweiflung, Resignation und Selbstaufgabe umschlagen kann«, schreibt Uexküll[49]. Es ergebe sich eine »Unentrinnbarkeit« der Angst. Angst könne nur als eine »Macht« begriffen werden, als eine Macht, die verwandle und verzaubere, eine dunkle dämonische Macht »finsterer und qualvoller Verzauberungen«. »Angst ist offenbar eine Form der Begegnung des Menschen mit sich selbst.« Um zu einer neuen, konstruktiven Bewertung der Angst zu kommen, meint Uexküll, müssten wir mit einer jahrtausendealten Tradition brechen, die Angsthaben als etwas »Schimpfliches« bezeichnet habe. Wir müssten eine neue Tradition schaffen mit Vorbildern von Menschen, die gelernt hätten, mit Angst zu leben und mit ihrer Angst umzugehen. »Ich glaube, wir können in unserer Zeit nur dann von Hoffnung sprechen, wenn es gelingt, die Menschen zu überzeugen, dass Angst-haben-Können mit Mensch-sein-Können zusammengehört.«[50]

Eine derartig nüchterne und positive Stellungnahme von so berufener medizinischer Seite muss doch schließlich und endlich die neue Kunst-Literatur und -wissenschaft zu einer neuen Ikonografie, Formenkunde und Hermeneutik anregen, d. h. sie aus ihrem vielfach noch klassizistischen Schmollwinkel vertreiben. In den Zusammenhängen der Darmstädter Diskussion sprach Ernst Bloch von »Übersteigerung der Hoffnung im Osten, wie es hierzulande eine Übersteigerung der Angst gibt«[51].

Das sind fast zehn Jahre her! Die Gewissenskrise bester russischer Schriftsteller von heute beweist uns, dass im Osten die Hoffnung der Angst (auch metaphysischer Art) weicht. Und im Westen erfahren wir – in weiten Bezirken des geistigen Lebens –, dass Angst zumindest Grenzbezirke der Verzweiflung erreicht hat.

Gute Ärzte sind heute, bei den wachsenden Krankheitserscheinungen unserer Zeit, vielfach bessere »Zeit«-Diagnostiker als Philosophen, Literatur- und Kunstkritiker ideologischer oder akademischer Provenienz. So fand Thure von Uexküll die Formel: »Unmöglichkeit des Geängstigten, sich in Aktionen Luft zu machen«, weswegen »Angst so leicht in Verzweiflung umschlage«.

Das ist ein Befund von Goldwert, auch für bestimmte Bezirke der geistigen Situation der siebziger Jahre. Zahlreiche Anti-Künstler, Anti-Literaten usw. wollen in einer wahrhaft verzweifelten »Aktion«, durch »Happenings« und »Demonstrationen« aller Art den gesamten sogenannten »Kultur-Rummel« in alten und neuen Gewändern durch eine desperate neue Einheit von Kunst-Aktionen mit Publikumswirkung ad absurdum führen. Es ist kein Zufall, dass Kunst, bzw. Anti-Kunst, jetzt »Aktion« mit (helfender) Publikums-Beteiligung werden soll. Der wahrhaft Verzweifelte steht vor beiden Modi, entweder seinem individuellen Leben ein Ende zu machen oder sich in einer Gemeinschaft nicht nur auszuweinen, sondern in ihr – durch Verständnis für seine Hoffnungslosigkeit – Trost und Beifall zu finden. Daher mehren sich in allen Kulturländern solche künstlerischen »Aktionen«, »Happenings« und »Demonstrationen«, deren Geschmacklosigkeiten uns ärgern, die uns aber wahrhaftig nicht zu bloßem Hohnlachen verleiten sollten.

Wir wollen dieses Panorama über die Verzweiflung in unserer Zeit mit einem Zitat aus einem der hintergründigsten Romane der neuen Desperatio-Literatur unserer Zeit beenden. Er entstammt dem Roman des krudesten italienischen Schriftstellers unserer Übergangszeit, Giorgio Manganelli, und trägt in deutscher Übersetzung den Titel ›Niederauffahrt‹ (Originaltitel ›Hilarotragoedia‹). Der Abschnitt heißt ›Erläuterung zu den Ratten[52]‹: »Dass die Ratten mit uns blutsverwandt sind, steht für mich fest; sie haben Schnurrbärte, übel riechende Körper und Gesinnung, sie sind sich ungemein ähnlich untereinander durch die Trübseligkeit der zugleich feisten und bösartigen Leiber und die Vorliebe für Kotiges. Als Stammgäste der Kloaken, Spezialisten für Scheiße und künstliche Lagerung von Urinen, besitzen sie einen tief gehenden und schamlosen Patriotismus für die Abtrittsgruben; mit täglich frischem Dung versorgen sie ihre geliebten zähne- und krallenreichen Familienmitglieder; sie stimmen rechts, neigen zum religiösen, häuslichen Herdendasein, wie es ihr menschenfresserisches Einschleichen in die Sterbekammer des Empyreum beweist. Nachdem sie sich ins Allerheiligste des Paradieses gestohlen haben, haben sie ihren Gestank – den sie selber ehrlichen Schweiß der Stirn nennen – mit dem Weihrauch zu einer abscheulichen Mischung vermengt, haben die bebenden Saiten der himmlischen Harfen mit Haaren und Auswurf verpappt, haben mit den Überbleibseln ihrer Nahrung sogar die Throne der pausbäckigen Cherubine besudelt; und haben schließlich jenen göttlichen und antigeschichtlichen Ort mit einem Gestank nach toter Kloake angefüllt. Daher ist es nicht zu verwundern, wenn – nachdem das Paradies abmontiert ist und nur noch die Seile von den erratischen Wolken hängen und abgenutzte Bruchstücke Heiliger Kreise hier und dort mittelmäßige Pappkulissen vortäuschen – wenn in der schwarzen und dunkelnden Kammer der Gottesleiche sich die infamen Tanten eingeschlichen haben, die filzigen Ratten, um talgige Mahlzeit zu halten; und wäre es noch verwunderlich – zu schließen aus dem bläulichroten und verblassten Einschnitt an der GROSSEN FERSE, aus den Zahnspuren an der NASE, und zwischen dem SCHENKEL und dem STEISSBEIN –, wenn sie sich auch über den Totem-Onkel hergemacht hätten? (Ich erinnere mich an eine katholische Mama, eine Ratte aus Wahlverwandtschaft, die im Verdacht stand, Ratten und Embryos verspeist zu haben; gegen die rühmenden Anspielungen der Blutsverwandten schirmte sie sich ab mit Schnurrbartlachen; paradigmatisches weibliches Wesen: sie liebte es, nächtlicherweile in Kloaken zu spazieren, sie leerte den Kot im Stehen und las dazu Illustrierte).«

Dazu schreibt Manganelli von einem »verzweifelten Bestreben, sich seiner selbst als Zeichen zu bedienen und zu erkennen«[53].

Kann man einen solchen Text allein mit der Deutung von Lukács verstehen, es handle sich um »jene Zerrissenheit, Diskontinuität, jene Unterbrechungen, die Bloch sehr richtig als bezeichnend für den Bewusstheitszustand vieler Menschen in der imperialistischen Epoche empfindet?«[54] Ganz sicher auch so! Es handelt sich auch und vor allem um die Selbstbehauptung des Subjekts in einer fortschreitend technisierten und verwalteten Welt, um den Kampf für ein freies Ich-Sein in einer Umgebung von Gewalt jeder Art, um die Rückgewinnung einer ideologisch nicht eingeengten Kunst, nenne man sie »realistisch« oder »surrealistisch«, »klassisch« oder »manieristisch«.

Kaum jemand hat das jüngst, nach einem langen Martyrium in der Umklammerung durch doktrinär einschränkende Literaturfunktionäre, für uns besser formuliert als Alexander Solschenizyn in seiner Nobelpreis-Rede. Es handelt sich hier geradezu um den Aufstand eines Dichters, der – im Namen einer von oben diktierten, angeblich »gesellschaftlichen« Verpflichtung – Verfolgung und Inhaftierung erlitt. Solschenizyn sagt: »Das Kunstwerk hat seine Wahrheit in sich selber.« Das »Recht« des Künstlers werde keineswegs verletzt, »wenn er ausschließlich seine eigenen Erfahrungen und die Ergebnisse seiner persönlichen Introspektion zum Ausdruck bringt, auch wenn er alles vernachlässigt, was in der Außenwelt stattfindet«. Doch werde es »schmerzlich«, wenn der Künstler, »sobald er sich in seine von ihm geschaffene eigene Welt oder in die Räume seiner subjektiven Eingebungen zurückzieht, die reale Welt den Händen von Menschen überlassen könnte, die nicht nur unwürdige, sondern auch wahnsinnige Landsknechte sind«.

So protestiert der geistig unabhängige Dichter eines großen sozusagen indoktrinierten Volkes, das im Kollektiv sein Ich, das Ich vieler Einzelner, bewahren will, gegen einen einseitigen Wirklichkeitsbegriff. Was er sucht, ist die Integration aller Werte im Menschsein[55]. Damit dürfte der sogenannte »sozialistische Realismus« als Partei-Literatur, die Marx und Engels im Übrigen gleichfalls als so dürftig angesehen hätten, seinen historischen Todesstoß erhalten haben[56]. Solschenizyn weiß, dass man es nicht nur mit ideologischen »Induktions«-Eseln, sondern überall auch mit schwer bewaffneten Schergen und erbarmungslosen Lagerführern zu tun hat. Subjekt-Werte rettet der Künstler.

Im Grunde geht es um die Autonomie der Person, doch nicht im alten »idealistischen« Sinne. Erhalten werden soll das Selbstsein der Person und dementsprechend die absolute Freiheit des Künstlers, doch im Zusammenhang mit einem neuen sozialen Bewusstsein, besser noch: mit konkreterem Wissen um gesellschaftliche Wirklichkeit. Unter dieser Voraussetzung wird der Gegensatz zwischen Person-Sein und Kollektiv-Bewusstsein zumindest leichter zu überbrücken sein. Man spricht heute von einer »Reziprozität der Perspektiven«. Eine solche aber ermöglicht wieder … Integration[57]. Wie sollte man anders aus dem Höllenkreis der Verzweiflung herauskommen?

Eugène Ionesco schreibt: »Die heutige Kunst ist zum großen Teil nur ein Abstellraum, ein Museum unserer Verzweiflung.«[58]

c) Neurosen

Wir haben Grenzgebiete entfesselter Vorstellungskraft im Zustande der Verzweiflung berührt. Schöpferische Menschen, die von diesem »negativen« Pol in der psychischen Situation unserer Zeit angezogen werden, sind nicht selten. Man denke an Genet, Artaud, Céline, um nur einige der für die Literatur dieser Art bekanntesten zu nennen[59]. Sie wissen sich in ihrer durchaus echten Not nicht allein: Im Bereich der psychiatrischen Heilkunde wird eine neue Art von Neurose ernsthaft und besorgt erörtert, die sogenannte Vakuum-Neurose. Viktor Frankl, Psychiater an der Universität Wien, berichtete darüber 1969 auf dem Jahreskongress der »Akademie für geistige Gesundheit« in New York[60].