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Es im Leben weit gebracht zu haben, verdankt Vinck seinem einzigen Talent, dem Umgang mit dem Zeichenstift, seiner Widerständigkeit und dem Willen, nicht aufzugeben. Kost und Logis. Mehr hatte der junge Hans Finkelstein, wie der Bub damals noch hieß, von seiner Familie nicht zu erwarten. Schicksalbestimmend wird allerdings, dass ihn die Eltern - quasi als Maturageschenk - zu einem Empfang in der französischen Botschaft mitnehmen. Es kommt zu einer Begegnung mit einer Frau, die um einiges älter ist als er. Eine gemeinsame Nacht und der folgende Tag reichen aus: Es gibt keine Zukunft für ihn ohne sie. Nur, dass Corinne noch am selben Abend nach Paris zurückkehrt. Für sie war Hans ein Abenteuer mit einem zweifellos besonderen Jungen, aber eben doch nur ein Abenteuer. Ihr Mann, lässt sie den jungen Liebhaber beim Abschiedskuss wissen, wird in Orly am Flugsteig auf sie warten. Das hält Hans nicht ab, alsbald den Koffer zu packen, um mit nichts als Furchtlosigkeit und einem väterlichen Taschengeld sein Glück zu versuchen und vielleicht diese einzigartige Frau wiederzufinden. Er setzt darauf, dass sie ihm in Paris zufällig über den Weg laufen wird. Vielleicht hilft ja magisches Denken ... Zunächst findet er hier alle Möglichkeiten, sein Talent mit seiner Obsession zu verbinden, die Welt zu verschönern, um aus dem, was wir als Nicht-Tiere vordringlich brauchen, das wärmende Mäntelchen, mehr zu machen - die radikale Selbsterfindung. Er wird Modeschöpfer. Die Begegnung des Sechzigjährigen mit Tod lässt Zweifel aufkommen. Er beginnt, sich auf die Suche nach dem Eigentlichen, dem Wahren, Authentischen zu machen. Aber gibt's das? Er reift zum jungen Mann, andere Menschen treten in den Vordergrund. Eine Liebelei mit einem Model macht's möglich: Er gelangt an eine Einladung zu einer Modenschau von Cardin. In ihm explodiert es. Modemachen, ja, das ist es. Und da er ein Hans im Glück ist, nebenbei noch begabt und nicht faul, kann er bald am Haus eines berühmten Couturiers in der Schneiderei beginnen. Seine Zeichenmappe landet irgendwann auf den richtigen Tischen. Man wird auf ihn aufmerksam - der junge Mann aus Wien - und schon darf er seine erste Schau machen. Er verliebt sich, heiratet, wird Vater einer Tochter. Das Nächste ist eine eigene Modefirma. Dafür braucht es einen attraktiven Namen. Das Label wird Vinck. Jean-Marie Vinck sein. Eine Möglichkeit, den Finkelstein loszuwerden. Eines Tages steht die Frau vor ihm, deretwegen er einst nach Paris aufgebrochen war. Alles gerät ins Wanken. Der rekonvaleszente Vinck vom Anfang des Romans hat sich kaum in seiner Berliner Villa wieder eingelebt, als er von der Idee heimgesucht wird, den Hebel noch einmal umzulegen. Irgendwo muss das Wahre, das Eigentliche, Authentische in ihm schlummern und nur darauf warten, geweckt zu werden. Es geht auch um "Tikkun Olam", wie er von seinen jüdischen Wurzeln her weiß. Das bedeutet, die Welt, seine Welt in Ordnung bringen. Ihm fallen der Bruder, die Tochter aus erster Ehe, sein irgendwo in Frankreich in einer Einrichtung für Behinderte untergebrachter Enkel ein, Menschen, die aus seinem Leben gefallen sind. Er will sie aufsuchen, vielleicht mit ihnen leben, will reparieren. Für diese letzte Unternehmung opfert er Familie, Freunde, Firma und Geschäftspartner. Am Ende hat sich nicht viel und niemand geändert. Alle bleiben die, die sie sind. Auch der Protagonist. "Tikkun Olam" passiert, wenn, dann das ganze Leben über, mal mehr, mal nie. Das ist das, was bleibt. Und Jean-Marie Vincks Vision, dass das Außergewöhnliche das Gewöhnliche sticht, das Individuelle das Allgemeine, Vivienne Westwood C&A. Vita Est Ludus hatte er seine erste Schau nennen wollen. Man bleibt zwar die- oder derselbe, auch in einem Kostüm von Balmain oder in einem Anzug von Armani. Nur fühlt man sich besser.
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Seitenzahl: 587
Veröffentlichungsjahr: 2023
Für meinen Vater
Vinck. Jean-Marie Vinck Roman
von
Michael Evers
© 2023 Michael Evers
ISBN Softcover: 978-3-347-95550-9 ISBN Hardcover: 978-3-347-95551-6 ISBN E-Book: 978-3-347-95552-3
Druck und Distribution im Auftrag :
tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrens- burg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrecht- lich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwort- lich. Jede Verwertung ist ohne seine Billigung unzuläs- sig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag , zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impres- sumservice", An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
Das Bildnis einer jungen Frau „Laura“ befindet sich im Kunsthistorischen Museum Wien.
Der Kapitelbeginn mit III soll weniger verwirren, als der Orientierung auf der Zeitschiene dienen
Cover
Widmung
Titelblatt
Urheberrechte
III: Vinck
III, 1: Helen
I: Hans Finkelstein, Ariel Finkelsztajn
I, 1: Hans, Nathan, Alice, Sophie, Ariel Finkelstein
I, 2: Nathan, Hans, Ariel
I, 3: Hans, Nathan, Alice, Corinne
III, 2: Helen, Vinck, Rahel
III. 3: Vinck, Helen, Rahel, David, Rebekka, Freddy, Michaela, Carla Berlin, Ende März 2018
II: Hans, Luigi, Stella, Gilah, Jean- Marie Vinck
II, 1: Hans, Mahir, Stella, Gilah
II, 2: Stella Fabbri, Jean-Marie Vinck, Gilah Mandel
Einladung
IV: Vinck, Ruben
IV, 1: Vinck, Matti
II, 3: Vinck, Gilah, Ruth, Corinne
V: Vinck, Ruth, Jacqueline, Diane
V, 1: Helen, Carmen, Mark
V, 2: Vinck, Ruth
II, 2: Vinck, Corinne
V, 3: Vinck, Béringer, Julien
V, 4: Vinck, Julien, Béringer, Ruth Lyon-Thil Juni/Juli 2018
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III
Vinck
Berlin 8.März 2018
Alles was man vergessen hat, schreit im Traum um Hilfe. Elias Canetti
Ich hasse Seide. Ich hasse Satin. Widerstandsloses Gewebe. Verlogenes Zeug.
Er verstand nicht. Wer hatte ihm diese idiotischen Sätze ins Hirn montiert? Das war niemals sein Text. Er blinzelte. Ein eiskaltes, weißgetünchtes Zimmer. Ein Bild, ein einziges, ein scheußliches, hing 70x100cm Querformat, fast art, in diagonaler Sichtachse an dieser kühlen Schlachthauswand. Er an dem einen Ende, das Bild, dieser Dreck, am anderen. Zittert vor Angst, weil ich es töten werde. Ein Flatscreen-Fernseher, weiß, auf einem Gelenk- arm knapp unter der Decke ihm vis-à-vis.
Steif riechender Baumwolldamast. Hände fuhren über Baumwolldamast. Auch der war weiß, wie er jetzt sah. Die Augen gingen noch schwer. Sie konnten die Umgebung in einem Winkel von vielleicht 30 ° abtasten, nach unten, oben, nach links, rechts. Das Drumherum, der Kopf, gehörte ihm noch nicht.
Farbloses Licht kam von zwei Fenstern, die schön waren in ihrer Einfachheit, lang bis zum Boden und schmal, Metallrahmen, ein Griff, alles weißlackiert. Sie stimmten zum funktionalen Raum. Licht legte sich gleichgültig auf Hände. Wohltuend, dachte er. Farbloses Licht? Einfachheit? Funktional? Gleichgültig? Wer redete hier? So war er nicht gemacht. Erregung war sein Metier. Was war hier los? Sollte ich nicht am Herzen operiert werden?
Die haben mir stattdessen den Kopf ruiniert.
Die Fenster teilten aus seinem Blickwinkel ein Trapez mit ungleichen Schenkeln in zwei Hälften, wie graue Pappe, ist wohl der Himmel und dem Rest aus zwei sich in die Quere kommenden Dächern. Beide von einer Unfarbe.
Im linken Handrücken steckte eine Kanüle, zwischen Zeigefinger und Mittelfinger, sauber und adrett, auf einem Gazepolster, mit Klebeband fixiert. Ein Plastikschläuchlein führte davon weg.
Kein Verfolgungsblick, das könnte die HWS übelnehmen! Er blieb bei den Händen. Alte Hände, rissige Haut, wo sie glatt war, war sie fischig. Silbrige Schuppen mit ein bisschen vertrocknetem Blut an einer Stelle. Er hätte nicht sagen wollen, dass das seine Hände waren.
Wohltuende Stille. Ein Zimmer. Ein Funktionsbett mit einem Funktionsbetttisch daneben. Und er. Vermutlich gab es noch ein paar Apparaturen, die für ihn da waren, im Verborgenen, nicht störten, nur guttaten.
Alles sehr schön. Er genoss, was war. Endlich war nichts. Was passiert hier?
Die Lider fielen langsam wie ein schwerer Vorhang. Er lauschte auf die Baustelle in seinem Innern. Verpackt in einem straff sitzenden Verband, der nur flache Atemzüge gestattete.
„Wir mussten doch den Brustkorb öffnen, tut mir leid, Herr … ähm … Herr Vinck“, hallte es wie aus einem fernen Jahrhundert. Doktor Soundso, Pauls oder ähnlich. Ein Satz lang hatte dem Mann im weißen Kittel das professionelle Einfühlungsver- mögen im Gesicht gestanden.
Postnarkotischer Schlaf nahm ihn wieder mit und ein Kurzfilm gaukelte ihm vor, dass er, Dr. med. Vinck, offener weißer Kittel, fliegende Schöße, weiße Clogs, Stethoskop im Anschlag, an das Bett des Patienten Vinck eilt und kompetent die Umleitungsstelle auskultiert.
Ha! Umleitung! Schnitt! Überblende zu neuem Bild.
Attention! Travaux Routiers! Déviation! Oui, oui, je me rapelle …
Département Côte-d’Or 1982, wegen meines Affentempos donnere ich in die Absperrung, überschlage mich und zerschelle an einer Straßenmaschine… Ruth, ma petite …
Dann wieder schaute der Träumer belustigt zu, wie Dr.med. Vinck das Stethoskop auf die Brust des Patienten Vinck drückte.
Oh là là, was höre ich da? Ein fideler, duftiger Bergquell ist das nicht, eher hört es sich nach einem übellaunigen, tranigen Fluss voll totem Tier und Schwermetall an, der sich in ein frisch ausgehobenes Bett hinüber bequemen soll.
„Da hilft nichts, da muss ein Bypass her, mindestens einer, Herr … äh … Herr … äh …“ Der Doktor guckte in die Akte. „Herr Vinck.“
Vincks Kopf war ein Diaprojektor. Nur, dass die Bilder in falscher Reihenfolge kamen. Sein Citroën Pallas. Auf der Hebebühne.
„À la bonheur“, kommt es schmeichelnd vom Meister unter dem Wagen. „Un carambouillage parfait!“
Comment?
Wie stehe ich eigentlich, ich, Vinck, auf der Schwacke-Liste zu Buche? Ihm war, als höbe sich – fast unsichtbar – die weiße Hand leicht zitternd von der Bettdecke, als winkte sie ab und würde erschöpft zurück auf den weißen Bettbezug sinken.
„Mit einem Bypass, oder zwei, sind Sie wieder im grünen Bereich, Herr… äh …“
„Vinck. Jean-Marie Vinck.“
TürDie weiße Tür, zu weit rechts, er konnte sie nur erahnen, machte ein Geräusch wie wenn sie gähnen wollte und öffnete sich tatsächlich. Schlafbilder und Wirklichkeit waren jetzt zweierlei.
Schwester Katinka oder Gudrun, er konnte sie nicht auseinanderhalten, kam auf seufzenden Korksohlen herein, Fieberthermometer und noch einiges anderes dabei, um sich wichtig zu machen.
Sie hielt ihm eine Sekunde lang das Thermometer vor den Mund, und als er ihn nicht öffnete, begann sie zu schieben. Es war Schwester Gudrun. Die andere, Schwester Katinka, ließ sich mehr Zeit.
„Ich komme gleich wieder und dann machen wir einen kleinen Spaziergang.“
Mit dem Ding zwischen den Zähnen konnte er nicht antworten, sonst hätte er ihr gesagt, dass er keinen Schritt mehr zu tun gedenke. Und ganz bestimmt nicht Arm in Arm mit ihr.
37,5 Grad.
„Ist das gut, ist das schlecht?“, fragte er, obwohl es ihn nicht interessierte.
Überdies hatte sie es überhört, weil sie übergangslos den weißen Spind aufschloss und Bademantel und Stützstrümpfe herausnahm.
Schwester Gudrun war eine von den Wortlosen. Schamlos schlug sie ohne Voranmeldung die Decke zurück, nicht wissend, wovon sie unter Umständen in Anbetracht des kurzen Anstaltshemdchens, das für einen schnellen Zugriff sorgte, hätte überrascht werden können.
Aber war es nicht auch ein wenig wie in Kindheits- tagen? Ganz passiv in Erwartung von Mamas Händen, die dem Kleinen Leibchen und Hose,
Strümpfe und Schuhe anzog? Glückseligkeit! Auch Mama war nicht immer gesprächig oder gar liebevoll, zärtlich gewesen. Beileibe nicht. Sie war oft hektisch, mit den Gedanken schien sie immer woanders, und unversehens schimpfte sie, aber in einer unverständlichen Sprache, Hebräisch, wie er später erfuhr. Aber warum? Mama war in Palästina zur Welt gekommen. Zweifelsfrei eine Schönheit im Vergleich zu Schwester Gudrun. Und sie roch viel besser und hatte eine Stimme wie eine mollige Decke. Schwester Gudrun hatte obendrein einen schrecklichen Überbiss. Von ihr ging in jeder Hinsicht Säuerliches aus. Den Überbiss, den hatte Schwester Katinka auch. Die verunglückte Zahnstellung von Schwester Gudrun bekam Vinck zum Glück selten zu Gesicht, da sie so gut wie nicht sprach. Lachen hatte sie auch noch niemand gesehen.
Schwester Katinka hingegen war ein fröhlicher Mensch und hatte keine Scheu, ihre gefährlichen Zähne zu zeigen. Katinka Zahnfrei, Gudrun Zahnverdeckt. So wollte er es sich merken. Zahnverdeckt griff ihm, ehe er sich dagegen wehren konnte, unter die Arme, sodass er mit über den Bettrand baumelnden Beinen zum Sitzen kam. Eine Hand an den Beinen, angelte sie sich mit der anderen den Plastikschemel, auf dem schon auf- gerollt die weißen Strümpfe lagen. Sie setzte sich auf den Schemel und, den linken Strumpf im Schoß, streifte sie den rechten über seine weißen, weichen, erstaunlich jung gebliebenen Zehen und rollte ab, das heißt hinauf, das kräftige Gewebe die Waden hinauf. Um alles glatt zu bekommen, hob sie sein rechtes Bein und legte den Fuß auf ihrer weichen, üppigen Brust ab.
„Ach, ja …“, entfuhr es ihm mit leiser Wehmut, als sie sich gegen seinen Fuß stemmte, um den Strumpf bis zum Knie hochziehen zu können. Für Schwester Gudrun bedeutete es nichts, aber er kam nicht umhin: eine weibliche Brust war für ihn auch in seinem jetzigen Zustand eine weibliche Brust, und sein Fuß aus Fleisch und Blut. Und jetzt, bitte, nochdas linke Bein! Um ein Haar wäre er mit der Wortlosen versöhnt gewesen. Sie fuhr das Gestell mit der Infusion heran, hing den Beutel mit der geringfügigen Menge seines rötlichgelben Urins auf den dafür vorgesehenen Haken und machte auf einmal: „Hopp!“
Gleichzeitig mit dem Kommando schickte sie sich an, ihn am Ellenbogen in die Höhe zu heben. Sie erfuhr nicht nur keine Mithilfe, eher ernst gemein- ten Widerstand von seiner Seite.
Vinck hatte beschlossen, dass er in diesem Leben - und, wie es aussah, schien seine Fortsetzung nicht mehr so ausgeschlossen wie noch vor zehn Tagen, woran ihm heute im Gegensatz zu damals nicht mehr lag -, zu nichts mehr seine Hand reichen werde, das seinen Fortgang nicht auch von allein nähme, oder es eben bleiben ließe.
Die saublöde Gudi mit ihrem Kuhblick. Er lachte laut. Offensichtlich war sie Dinge gewohnt, wovon sich seine Spitalweisheit nichts träumen ließ. Sie reagierte keinen Deut. Das ließ ihn kurz überlegen, ob und wer von den Frauen in seinem Leben jemals Macht über ihn gehabt hatte.
Aber Vinck! Darauf kommt es jetzt nicht mehr an! Er stand da, zitternd wie, - ihm fiel ihr Name nicht ein, diese dünnen Hunde… Windspiele? Nun, wie diese Hungerkünstler auf vier Beinen im Regen. Die Zähne klapperten. Aber schon schubste und hielt zugleich Frau Gudrun den alten Tor.
Jean-Marie Vinck, in einem früheren Dasein Tenniscrack von Gottes Gnaden, glotzte fassungs- los in die würdelose Visage eines ihm fremden Greises, die der Spiegel über der Waschkonsole in der einsehbaren, hell erleuchteten Nasszelle des Einbettzimmers ihm höhnisch entgegenhielt. Die Maske eines Kabuki-Spielers konnte nicht erschreckender sein. Er wollte zurück ins Bett, sofort, doch Zahnverdeckt machte da nicht mit und kniff ihm in den Oberarm.
„Au!“
Seine Herrschaft, wenn es sie je gegeben hatte, ging soeben zu Ende.
Schwester… Wieder verließ ihn sein Erinnerungs- vermögen. Ja, mein Gott, musste er sich denn alle Namen merken?
Sein Gedächtnis war großzügig, wenn er es wollte. Es tat gut, sich immer mal wieder an den süßen Verstößen gegen Sitte und Moral zu ergötzen, selbst wenn die Zeit sie hatte vergilben lassen wie altes Zeitungspapier. Die fetten Überschriften waren noch zu lesen, alles andere durfte man sich ruhig ein bisschen zusammenlügen. Aber wie war es zu erklären, dass er sich auf einmal - war das Scham? ja, das war es wohl - sich dieser Sünden schämte?
Zum Beispiel Helen, seine Frau, war mit ihrer Tochter Rahel schwanger. Dieses, das zweite Mal, da er Vater wurde, sollte alles anders sein. Zur Stelle wollte er sein, wenn es los ginge.
Das erste Mal, zwei Jahrzehnte vor Rahel, war er Vater eines süßen Mädchens namens Ruth ge- worden, das in Paris das Licht der Welt erblickte.
Und er war nicht dabei gewesen. Sein Citroën verendete auf der Route Marseille-Paris in der Nähe von Beaune nach mehreren Rollovers über eine Straßenabsperrunghinweg. Als ihn Polizisten ledig- lich mit ein paar Schürfwunden aus der Blechruine herauszogen, es nicht glauben wollten, was der Mensch alles überstehen kann, war sein Kom- mentar: „Massel muss er haben.“
Jetzt also war die hochschwangere Helen Vidya, seine Eroberung mit jüdisch-deutsch-englisch- indischem Adelsprädikat, auf Station, und dieses Mal war er da, er hatte sie selbst ins Krankenhaus gebracht, sein Herz klopfte wild. Wie lange war es hin und her gegangen zwischen ihm und Helen, bis die Entscheidung endlich auf dem Tisch war: wir wollen ein Kind! Die handfesten Beweise, dass Vinck als Vater versagt habe, hatten Helen bis zu ihrer Deadline zögern lassen. Jetzt hatte sie ihm eine zweite Chance gegeben. Er war sich dessen bewusst. Wann, wenn nicht jetzt? Das galt für beide.
Vinck liebte den Neuanfang, den Wandel und gleich würde ein Stückchen Welt neu geboren und diese, wer weiß, verändern. Er nahm Helens feuchte Hand, presste sie idiotisch, was Helen gar nicht merkte; sie atmete hart gegen den Schmerz im Rücken, das Ziehen im Unterleib an. Der Abstand zwischen den Wehen verkürzte sich. Da klingelte sein Handy. Der strenge Finger einer Ärztin wies ihn an, das Ding auszumachen. Er war jedoch hinaus gelaufen in das Rosengärtchen vor der Klinik, wollte es so kurz wie möglich halten, es ging um eine wichtige Pressemitteilung, die er abzusegnen hatte. Soweit erinnerte er sich.
Als er zurückkam, stand da im Flur dieser Engel von einer Schwester mit den längsten Wimpern, die ihm bis zu diesem Augenblick untergekommen waren. Sie könne ihn in den Kreißsaal zurückbringen, meinte er, sie hauchen gehört zu haben, und dann schritt sie vor ihm dahin in ihrem schlichten weißen Kittel. Was, wenn er ihr auf der Stelle dieses eine Göttin beleidigende weiße Nichts herunterrisse und ihr, ja was? Nein, nicht das! Seit er die Hellaslinie - jenen zarten, den Leisten markierenden Bogen, den er einst mit Michelangelos David gemein zu haben glaubte - kulinarischem Leichtsinn geopfert hatte, mochte er sich Frauen bis zu einem gewissen Alter nicht mehr zumuten. Was ihn gereizt hätte: ihr mit den Farben Kirchners oder Mackes ein Kostüm auf die nackte Haut zu malen.
Hatte er sie nun auf dem Weg zum Kreißsaal - verstehst du, Vinck, zum Kreißsaal! - tatsächlich um ein Rendezvous gebeten, ihr wirklich sein Kärtchen mit dem Thyrsosstab in eine ihrer beiden Kittel- taschen fallen lassen? Thyrsos, der Stab, ohne den Dionysos nicht aus dem Haus ging? Zwischen dem Gott des Eros, des Rauschs und dem Schmerzens- mann Pentheus war es Vinck nie schwergefallen, sich zu entscheiden. Das Kärtchen war aus einer seiner Skizzen entwickelt worden. Auf dem Stab ruhten der elegante Namensschriftzug und die Anschrift der Firma. Kärtchen hin, Kärtchen her: Hey Vinck, sag schon, war da was mit der Kleinen
gewesen? Der Traum von einem letzten, vorletzten, Liebestraum war zu verlockend. Ob es ihn wirklich gegeben hat oder nicht, wen kümmerte das?
Ihn kümmerte es, stellte er verwundert fest. Eine OP am Herzen, und es kümmerte ihn. Scham hielt Einzug bei Vinck.
Helen im Kreißsaal! Er war hastig in die sterile grüne Verkleidung gestiegen. So würde Helen ihn nur an Augen und Stimme erkennen. Da lag sie, die verhüllten Beine gespreizt und aufgestellt. Ihr Gesicht war so aufreizend schön, schweißbedeckt, darin der schreiende, keuchende Mund.
Zehn Stunden später hielt sie, abgekämpft und dennoch das feine Lächeln einer Brahmanin auf den Lippen und Tränen in den Augen, ein kleines, braunrotes, verknautschtes Wesen im Arm und stellte es ihm als deine Tochter Rahel Safira vor. Er war zur Namensgebung nicht hinzugezogen worden, so wenig wie zwanzig Jahre zuvor, als sein Vorschlag Martha gar nicht erst in Betracht gekommen war. Doch als er dann das Baby in seinem Arm hielt, war Ruth der perfekte Name gewesen.
Schwester Gudruns mit Kernseife gescheuerte Hand hielt eisern seinen Oberarm umklammert.
Dieses Aas will, dass ich an der Fratze im Spiegel krepiere, erriet er ihr Vorhaben. Das kann sie haben. Blitze auf der Netzhaut, dann ein schwarzer Schleier, sie kündigten die befreiende Ohnmacht an. Ohnmachtsanfälle gehörten zu seinem Repertoire. Als Gymnasiast hatte er angefangen zu üben, schnell Fertigkeit erworben und sich auf diese Weise zweimal vor der Blamage gerettet, an einer relativ leicht zu lösenden Geometrieaufgabe zu scheitern. Vinck freute sich, Gudrun, der Trillerpfeife auf zwei Beinen, einen Schrecken einzujagen. Er baute darauf, dass sie ihn nicht würde halten können. Womöglich käme sie unter ihm zu Fall!
Ohnmacht! Hure! Verräterin! Auch darauf war nicht länger Verlass! Die erste Runde ging an Gudi: er war nicht kollabiert.
Die Zeit hat gegen mich einen Abnutzungskrieg geführt. Ich hisse die weiße Fahne, ziehe mich hinter die Linien zurück. Und schweige.
„Nu aber, Herr Vinck!“, hörte er seinen Korporal. Draußen auf dem Gang war es belebt. Ein Mann, schicker, erfolgsverwöhnter Typ in modisch zer- knittertem Trenchcoat, hatte es eilig, ruderte mit den Armen, in einer Hand das zusammengeknüllte Papier, in der anderen einen Strauß roter Rosen. Vinck nahm sich den Raum, der ihm als Kranker gebührte, und kam mit seinem verschiedenerlei behängten Ständer dem zerknautschten Burberry gefährlich nah. Wenn alles sich gut fügte, könnten die Rosen, dieses hausbackene Liebesversprechen, sich mit seinem Urinbeutel verhaken. Ein Dorn reißt ganz zufällig den Sack auf, und diesem Beau würde die Schweinerei für immer in Erinnerung bleiben. Charmant, charmant, lieber Vinck! Was konnte dieser gutaussehende, vor Optimismus sekündlich sich verjüngende Mann dafür, dass er, Vinck, statt Rosen nur seinen vergorenen Sud am Haken zu bieten hatte?
Er konnte es drehen und wenden, wie er wollte: da war nichts Freundliches in ihm. Als ein Mädel, wie einem Vermeer entsprungen, von vielleicht vierzehn Jahren, ihren Großvater im Rollstuhl mit unnachahmlicher Grazie vor sich herschob, als promenierten sie am Strand von Scheveningen, und ihr süßes Palaver über sein kahles Haupt verströmte, fühlte er nichts als Niederlage und Bitternis. Bitternis und Niederlage.
Oder: in seinem Rücken wurde gutgelaunt geratscht, eine Frau lachte. In derselben Minute prophezeite er, ohne sich nach ihr umzudrehen, Augenfarbe, Lippenschwung, Gang. Und wartete ungeduldig, wann sie endlich an ihm vorbeizöge. Sie kam, sie war da, und er lag falsch. Nichts traf zu. Nicht ein Detail. Sie drehte sich nach ihm um, lachte ihm ins Gesicht, als riefe sie dem alten Kacker zu, wie sehr sie seine Frauenkenntnis amüsiere.
Vinck, siehst du sie? Sie hat smaragdgrüne Augen wie, wie … na, wie hieß sie noch? Einen Mund wie Erdbeeren mit Sahne, und sie geht in den weißen Clogs wie Wind, der in Fahnen boxt: jung, stark und voller Zukunft!
„Ich will zurück in mein Zimmer, sofort!“
Zu seinem Erstaunen war Schwester Gudrun einverstanden. Wahrscheinlich ging ihr sein unablässiger Widerstand auf die Nerven, denn so- lange sie ihn an seinem freien Arm führte, machte das bisschen, was von seinem Bizeps übrig- geblieben war, ihren versuchten Bevormundungen doch schnell ein Ende. Wo sich Gelegenheit bot, verzögerte oder trieb er an.
Er lachte in sich hinein: Sie träumt von meiner Entlassung. Aber daraus wird nichts, meine Liebe. Im Zimmer angelangt, wollte er schnurstracks in sein Bett, sie aber wollte ihm noch eine Kurve aufnötigen. Das unglückselige Paar passierte das fast art-Bild, dieses verwichste Einerlei aus Blau und Gelb und Grün. Vinck sah Rot.
Sein Arm befreite sich aus ihren Metzgerfingern und angelte nach dem Rahmen, als Gudrun sich mit ihrer massigen Brust zwischen ihn und diesen Rembrandt warf: nur über meine Leiche!
„Weg da!“ schrie er, „Weg da, du… du…!“
Warum sag’ ich es nicht? Sie sieht doch aus wie ein rosa Schweinchen! rief es in seinem Innern. Stattdessen machte seine linke Hand weiter und zog an der Knopfleiste ihres Kittels. Schon hüpfte ein Knopf auf den Boden und rollte fröhlich unter das Krankenbett. Gudrun schrie wie eine Wahnsinnige, bis sie von Vinck eine schallende Ohrfeige verabreicht bekam, die sie sogleich zur Besinnung brachte und in Lots Frau verwandelte. Er konnte sie mühelos beiseiteschieben und rakte nun, immer noch einarmig - die rechte Hand umklammerte ja das Infusionsgerüst - den gerahmten Schund von der Wand.
Es endete schrecklich. Zwei schnaufende Men- schen rangen um geringen Vorteil am Boden, um sie herum eine abgerissene Infusion, zersplittertes Holz und Glas, bis sie vom Assistenzarzt getrennt wurden. In seinem ganzen, mehr als sechzig Jahre zählenden Leben war er noch nie gegen einen Menschen gewalttätig geworden, den Papagallo damals in Riccione ausgenommen, und damals stand er wahrlich besser im Saft als heute. Was war auf einmal los mit ihm?
„Es tut mir sehr leid. Ich werde Schwester Gudrun um Verzeihung bitten. Ich verspreche es!“
„So inakzeptabel in dieser Klinik derartige Vorfälle sind, Herr Vinck, so bescheinigen sie uns andererseits, und das begrüßen wir natürlich, eine schnellere Rekonvaleszenz, als zu vermuten war. In zwei, drei Tagen können Sie nach Hause.“
Ist das der Professor, der mich operiert hat? Hatte der denn ein Hitlerbärtchen? Jetzt schon nach Hause? Da habt ihr euch verrechnet.
Prof.Dr. Hitler, oder wer auch immer, zog beim Verlassen des Zimmers einen ganzen Schwanz ihm ergebener Kreaturen hinter sich her, bis zum Schluss nur der Bürzel übrigblieb, und das war Schwester Katinka, die sich doch tatsächlich in der Tür umdrehte, ihr großartiges Gebiss freilegend ihm ihr strahlendes Lächeln schenkte und – bildete er sich das jetzt ein? – mit dem rechten Auge zuzwinkerte.
Auf dem Gang flauten die Geräusche ab. Da mal ein klebriges Räderrollen auf Linoleum. Dort ein Rufen „Steffi!“ Wenig später, „Ralf!“ Etwas fiel hin. Dann Ruhe, Silentium! Atemzüge, die schmerzten. Auf Höhe des Bauchnabels war ihm, als wäre er durchgehauen. Den oberen Rumpf schienen Bienen zu ihrem Stock bestimmt zu haben. Sie flogen jetzt ein und aus. Geschlecht, Beine wie tot.
In den beiden Nächten nach der Operation hatte die Narkose noch barmherzig nachgewirkt und für bleiernen Schlaf gesorgt. Diese Droge war inzwischen ausgeschieden. Was nun? Kein Vorhang vor den Fenstern, in denen noch immer einfältiges Licht wie bestellt und nicht abgeholt herumstand und den hoffnungslosen Luxus knapp erhellte, den ergonomischen Stuhl in der Ecke, den blinden Flat- Screen, die Aluschiene, an der vordem das ver- nichtete Kaufhausbild hing.
Vincks Lebenslust, der bislang keine noch so unfreundliche Heimsuchung etwas anhaben konnte, war irgendwie unauffindbar. Nacht, deck mich zu.
Zum Glück hatte er die kleinen weißen Pillen, die das Einschlafen erleichtern sollten und bislang nicht nötig gewesen waren, als eiserne Reserve in seinem Reisewecker, einer Preziose aus Zeiten erster Reisen zu den Modemetropolen, verschwinden lassen. Das aufklappbare Gehäuse war lederbezogen, was aber kaum noch zu erkennen war, und zwischen Deckel und Innenfutter befand sich der Minitresor für die Pillen, von denen Vinck hastig gleich fünf auf ein- mal heraus pulte. Er dachte kurz, vielleicht zu kurz nach, und stopfte sie - die Finger zitterten - eine nach der anderen in den Mund, nahm mehrere Schlucke lauwarmen Kamillentees und warf den Kopf nach hinten und sagte jedes Mal „Au“. Nur beim fünften Mal nicht, da ging eine Salve von mindestens fünf Ampere durch die Halswirbelsäule. Es blieb nur noch blankes Erstaunen, dass etwas so weh tun konnte. Jetzt bin ich gelähmt und kann obendrein nicht schlafen, dachte er, und eine Träne war der Anfang, dann folgte ein Schluchzer und schließlich wurde er überrascht von einem Angriff aus der Tiefe, dem Magma des Jean-Marie Vinck. Er heulte, und es wollte kein Ende nehmen.
Der Lichtpegel im Zimmer sank ab wie eine dicke Flüssigkeit in einem Glas Wasser, und auf einmal war es stockfinster. Draußen gab es wohl keinen Mond mehr, keine Straßenlaterne. Die Dunkelheit verschloss seine Ohren. Er hörte nur noch von in- nen, von außen nichts mehr. Das war wohl das ferne Summen der Stadt Peking. Die Welt rückte auf einen Punkt zusammen. In ihm. So viele Menschen, die gerade leise starben oder schreiend und schwitzend sich vermehrten. Auf seiner Etage - siebeneinhalb Meter und zwei Mauern weiter - fragte sich Herr Baumann, verheiratet, zwei kleine Kinder, was sein wird, wenn Herr Baumann nicht mehr sein wird. Und was gewesen war während der ihm zugestandenen fünfunddreißig Jahre.
Gestern hatte man sie beide in ihren Betten vor der Radiologie in der Warteschleife nebeneinander abgestellt. Es passierte Vinck - vielleicht, weil man, wenn man krank ist, sich endlich einmal gehen las- sen darf -, dass er einen Furz ließ, gewaltig und laut, die leichte Zudecke schien sich davon zu heben, und für ein paar Sekunden stand dieser Furz knatternd im Vorraum vor den sich automatisch öffnenden Türen. Nach einem Moment der Stille musste Baumann lachen. So viel demonstrative Lebendigkeit. „Ich hatte auch einmal einen Darm“, sagte er dann schwärmerisch. Kurz gelüstete es Vinck, es auf einen Wettgesang ankommen zu lassen, mit wem der Tod am meisten flirte, zog aber nur müde die Augenbrauen hoch, wusste er doch um des anderen Überlegenheit, beneidete ihn geradezu um dessen unzweideutige Zukunft. Er schaute zu ihm hinüber.
Baumann hatte ein so kleines Köpfchen, dafür umso größere, tiefliegende Augen. Was hätte Vinck darum gegeben, jetzt zu erfahren, was die jetzt sahen. Werner!, wollte er ihm zurufen. Keine Ahnung, wie sein Vorname war, aber da war so ein Gefühl, Bau- mann müsse Werner heißen, und er dürfe Werner sagen, weil er ja, auch das war so ein Gefühl, sein Vater sein könnte.
Hör, Werner, lass uns tauschen, ich geb dir meine Kreditkarten und ich krieg von dir die Metastasen. Mein Junge! Kennst du Belutschistan oder Valparaíso? Lausche Violettas Liebesleid im La Fenice. Vergieße Tränen um die unerreichbaren Schönen der Nacht! Und bedenke, deine Kinder wollen dir noch deine Enkel zeigen. Und und und… Da wurde das Bett mitsamt Werner Baumann durch sich summend öffnende Türen geschoben. Die Türen schlossen sich wieder. Und Baumann kam nicht zurück. Die Türen öffneten sich erneut, und Vinck glitt hindurch. Unvorstellbare Schmerzen, als er röntgengerecht drapiert wurde. Ist das Sadismus?
Schmerzen sind die Säulen, auf denen die Schöpfung ruht.
Die Gesichter zogen sich zurück, und Jean-Marie Vinck fiel in tiefen Schlaf. Träumte er? Vielleicht. Ja, es träumte ihm von einem Staubsauger, von dem Riesenteil, das sie im Schneideratelier in Paris hatten. Und von einem Jungen von vielleicht zehn Jahren. Der Staubsauger tut, was ein Staubsauger so tut. Er saugt und hat es offensichtlich auf den Kleinen abgesehen, folgt ihm, wohin der auch läuft. Achtung, pass auf! Zu spät! Jetzt hat er ihn. Mit lautem Getöse saugt er sich an Hose und Pullover fest.
Vincks Hände krallten sich in die Matratze. Der Traum war schon weiter. Mami, stell doch den Staubsauger ab, fleht schreiend das Kind (das dem kleinen Jungen, der Vinck mal war, zum Verwech- seln ähnlichsieht), aber sein Schreien ist so leise, es kann ihn niemand hören.
Der Sauger saugt und saugt, grapscht jetzt schon nach des Jungen Haaren. Dem schwinden zusehends die Kräfte, nicht nur das, er selber scheint zu schrumpfen. Schließlich ist er spielzeug-klein und rennt um sein Leben. Vergebens. Lustvoll schmatzend verschluckt ihn das Ungetüm. Der Junge kann sich nirgends festhalten, und es zieht ihn tiefer und tiefer hinab, bis er das Bewusstsein verliert.
Lag er eben noch wie tot, erhebt er sich und ist ein junger Student mit einem Studentenkapperl aus einer alten Zeit und der Träumer erkennt: das bin ich, zweifellos, aber wieso Jusstudent? Verrückt! Die Straße, auf der er jetzt gegen wildes Schneetreiben ankämpft, kommt ihm bekannt vor. Heißa, das ist doch die Breitenseer Straße im Wiener 14ter Bezirk! Die Flocken dringen in seine Augen, Kälte und Wind drücken gegen seine Brust, dass ihm der Atem stockt. Nun ist es auch noch dunkel geworden. Er sieht die Hand vor Augen nicht.
Alsbald bleibt er vor einem Hauseingang stehen. Darüber ein heller Lichtkasten, schwarze Buchstaben sind darauf gepinselt. Er blinzelt gegen das nicht enden wollende Schneetreiben an und liest …, aber die Schrift verschwimmt immer wieder. Es dauert Stunden - der junge Mann ist eigentlich schon erfroren -, bis er endlich die Buchstaben in der richtigen Reihenfolge zusammensetzen kann … WENN … DIE … IRRTÜMER … ??? … SIND … Das muss das Kino sein, in dem er schon manchen Schilling für herzzerreißende Liebesdramen gelassen hat. Ein magischer Ort. Er hat das Gefühl, sein Leben hängt davon ab, zu erfahren, was mit diesen Irrtümern los ist. Ein Wort fehlte oder er hatte es wegen der in seine Augen schießenden Schneekristalle, spitz wie Glassplitter, nicht lesen können.
Sein bester Freund Peter steht plötzlich neben ihm. Eigentlich hat er gar keinen Freund und einen Peter schon gar nicht. Du holst dir ja den Tod hier drau- ßen, er legt einen Arm um seine Schulter und schiebt ihn durch die schmale Tür. Im Vorraum brennt ein Feuer im Kamin. Der Student reibt sich die roten Hände. Peter winkt schon mit den Billets. Aber sie können noch nicht in den Vorführsaal. Die Vorstellung davor ist noch im Gange. Nach Betreten des kleinen verstaubten Foyers sind die beiden Freunde schon zu gut situierten Herren gereift. Sie ordern heiße Grogs und Peter steckt sich eine Pfeife an. Mir nichts dir nichts bricht Peter einen Streit vom Zaun. Eine Frauengeschichte. Sie raufen mitein- ander. Derweil strömen Besucher aus dem Saal nach draußen. Die Balgerei nimmt kein Ende. Als sie beide keuchend und ermattet zu Boden gehen, sehen sie einander ins Gesicht, sehen, dass die Zeit noch eine Schicht Alter draufgelegt hat. Hastig wollen sie auf die Beine kommen, weil ihnen der Film wieder einfällt. Wegen der Arthrose in den Knien kostet das Mühe und dauert. Endlich oben, steht da ein livrierter Herr und fordert die Billets. Die beiden befreundeten älteren Herren wühlen in ihren Taschen. Kein Billet. Sie suchen den Boden ab. Nichts. Dann kaufen wir halt neue! Der Kassierer zuckt mit den Schultern: die Vorstellung ist ausverkauft. Gemeinsam könnten sie den Kon- trolleur überwältigen, aber sie trauen sich nicht. Mizzi, eine Gewerbliche, weht herein und Peter an den Hals: Ist einer der Herren so galant? Und deutet in Richtung Bar. Champagner, s’il vous plaît. Kein Geld, und erst recht keine Manneskraft mehr. Bin das etwa ich? Der Mann mit der Glatze, der mich aus dem Spiegel mit zusammengekniffenen Augen anguckt? Ja, das bist du, Hans! Hans? Wieso Hans? Wieder öffnet sich die Saaltür und hundert Kinobesucher passieren an ‚Hans‘ und Peter vorbei. Graue, dumpfe Visagen, die nicht verraten, ob ihnen der Streifen gefallen hat oder nicht. Wart’, jetzt bietet sich eine letzte Gelegenheit, sagt Hans zu Hans. Aber das Gehen fällt ihm schwer, wo ist der Stock hin, den er eben noch hatte? Er wankt zum Saaleingang, hört jedoch hinter sich die Stimme des Livrierten: Schluss für heute, mein Herr! Der Alte ergattert einen Blick ins Kinoinnere. Doch die Augen wollen nicht mehr so recht.
Er kriecht auf allen vieren bis vor die Leinwand und erwischt grad noch den Abspann:
WENN DIE IRRTÜMER VERBRAUCHT SIND mit Attila Hörbiger, Paula Wessely, Josef Meinrad, Annie Rosar u.v.a..
Hans spürt, wie Peter sich an ihn klammert. Zwei befreundete Hampelmänner stolpern hinaus auf die Breitenseer Straße. Die Augen von Hans sind so trüb geworden. Er verfehlt die Stufe am Ausgang und stürzt unglücklich.
Vinck schrie: „Au!“ und noch einmal: „Au!“
Nach und nach wich der Traum von ihm. Er tastete den Arm nach einer Wunde ab, da war keine, versuchte, sich zurecht zu finden, was ihm nur schwer gelang. Kein Wunder bei dem Quantum Schlaftabletten. Seine Augen waren wie mit Tesa- Film verklebt. Was war das gewesen? Er war einer, der viel träumte. Meistens war es ein Potpourri aus kleinen Geschichten vom Tag. Manchmal aber flog ihm direkt der perfekte Zuschnitt eines Kleids oder Mantels zu, und er brauchte ihn am nächsten Morgen nur in sein Skizzenbuch übertragen. Auch jetzt drängte es ihn, möglichst alle Details dieses Traums zusammenzuhalten. Wo war sein Handy? Er tastete nach der am Bett hängenden Fernbedienung und drückte auch gleich den richtigen Sensor fürs Licht. Aus der Schublade des Bett-schränkchens hangelte er nach dem Telefon, das über eine Aufnahme-App verfügte. Er räusperte sich und sprach in das Mikrophon, was ihm noch in Erinnerung war. Eine unglaubliche Story. Was sie ihm zu erzählen hatte, das zu ergründen, war er im Augenblick nicht in der Lage. Sie war wie der Schlüssel, der nur zu einem Kästchen passte. Aber welches war es? Er hatte keine Ahnung. Für den Augenblick schärfte die Expedition ins Unbewusste seinen Blick für das Gegenwärtige. Der aseptische Raum, die Schwestern, Pfleger, die selbst auferlegte Quarantäne (er hatte jeden Besuch abgewehrt, sogar den seiner Frau Helen, die täglich die Station anrief und - das hatte sie klargestellt - sich nicht an sein Besuchsverbot halten würde, sollte es zu einer unerwarteten Krise kommen), alles setzte ihm zu. Es wurde Zeit. Dabei blieb ihm nicht verborgen, dass seine Stimmungen stündlich wechselten. Jetzt gerade machte sich Sehnsucht nach Helen und Rahel über ihn her. Es fehlte nicht viel, und er hätte Helens Telefonnummer gewählt.
Todesfantasien hatten etwas Befreiendes. Er war nicht mehr der Vinck der vielen Facetten, sondern nur noch der eine, der verwesende Vinck, der um Erlösung flehte. Sein Körper roch merkwürdig. Im Mund sammelte sich Fauliges an. Und die Schmer- zen! (Patient, schon der Name sagte etwas über eine Gabe, die erforderlich ist, um hier zu überstehen, und über die Vinck so gar nicht verfügte). Sein Körper war bis vor knapp zwei Wochen unversehrt. Jetzt war er übel zugerichtet. Aber was ihn am mei- sten niederschmetterte: kaum fing er an zu denken, dachte er in eine andere Richtung, er dachte zurück, nicht mehr vorwärts, die Richtung, die für sein Le- ben bestimmend war. Die Stunde des Resümees war gekommen. Ein Peer Gynt, pulte er Schale für Schale von seiner Zwiebelexistenz, um zum Vinck- Kern vorzudringen. Es nahm kein Ende, immer wieder waren es dieselben Schalen. Ihm wurde fin- ster vor Augen, er würde nie zum Kern vordringen. Mit den fünf Halcion war er schon auf die ersten Stufen hinab zum endgültigen Schlaf gelangt. Jetzt sich ganz aus dem Spiel nehmen! Es waren aber nur noch zwei Pillen in seinem Reisewecker, das wird nicht langen. Idiot, leichtfertiger!
Wie könnte er einen derartig dicken Schlussstrich rechtfertigen? Helen das zumuten?
Helen. Sie und Vinck drehten - Fliehkräften zum Trotz - zum Erstaunen ihrer selbst wie Uhrzeiger um ein- und dieselbe Achse.
Was würde sie tun ohne ihn? Weiterleben. Und Rahel, seine Tochter, diese toughe junge Frau? Sie ging ihren Weg und brauchte ihn nicht mehr. Eher brauchte er sie.
Er hatte Helen inständig gebeten, sie möge das erste Mal kommen, wenn sie ihn von hier abhole. Sie sollte ihn nicht so sehen, nicht als Flickwerk. Ihm kam es vor, als wäre der Mann Vinck in Stücke gehauen, früher ein respektabler Baum, jetzt Brenn- holz für den Kamin. Vinck? Gab’s den noch? Hand auf die Bypässe, es hatte ihn schon vorher nicht mehr gegeben, den Zephyr, den Frauenanbläser, Macher, schwitzenden Alleskönner.
Er würde sich die erste Zeit vor Helen verstecken. Sich nicht vor ihr ausziehen. Jeden Zufall von vornherein ausschließen, der sie den zersägten und wieder verschweißten Körper entdecken ließe. Seine Langsamkeit kaschieren, indem er sich den Anschein von Nachdenklichkeit gebe. Sich der Müdigkeit nur in unbeobachteten Augenblicken hingeben. Die Augen niederschlagen vor Helens Schönheit.
Klack! Wie ein Papierschnitzel flog gelblichweißes Licht in das dunkle Zimmer. Die Tür hatte sich ein wenig geöffnet. In dem Licht stand eine schwarze Gestalt.
„Ja?“
Ach, der nette Junge, der auch schon in der Nacht zuvor nach ihm geschaut hatte. Ja, komm herein und küss mir den Nachtmahr von den Augen…
„Bitte“, sagte Vinck, „ich habe unglaublichen Hunger. Das ist doch ein gutes Zeichen, oder nicht? Bitte, geht das? Dass Sie mir ein Brötchen bringen, oder ein Knäckebrot, meinetwegen mit Käse oder Wurst? Und einen Kaffee vielleicht? Geht das?“ Aykut, so hatte er sich gestern Nacht vorgestellt, machte das Licht im Zimmer an. Alles wird gut, bestimmt.
Pfleger Aykut schien in seinen Akzent verliebt, ihn gar als Gütezeichen zu verkaufen. Obendrein war er mit einer schwerfälligen Zunge geschlagen und allein deswegen nicht einfach zu verstehen, war aber auch nicht böse, wenn man nachfragte und er seine Sätze wiederholen musste. Sein übertriebener Sigmatismus zusammen mit seinem mädchenhaften Gesicht und einer recht ungenierten Art wäre die perfekte Ausstattung für einen TV- Comedian gewesen.
Vinck hatte die Gewissheit, der Junge würde ihm jetzt jeden Wunsch erfüllen. Die Wiederkehr des konkreten Lebens in Gestalt von Aykut und die Aussicht auf ein orgastisches Gelage verdunkelten die Schmerzen, machten sie ein wenig unkenntlich, eine Quelle nicht zu verachtenden Vergnügens. Statt Kaffee hätte er Champagner bestellen sollen, sagte er sich. Aykut brachte auch keinen Kaffee, sondern zwei Bierflaschen, grinste und hielt mahnend einen Finger vor seine Lippen. Gluckste vor Freude, und der inzwischen hell erregte Patient ließ sich nicht anmerken, dass ihm nach Bier nun gar nicht war. „Toll“, sagte er. Auf einem Teller lagen zwei Knäckebrote und zwei in Stanniolpapier verpackte Schmelzkäsedreiecke.
"Soll ich?“ fragte Aykut, und weil er das zweite Bier sich zugedacht hatte, und sie beide gleich mit den Flaschen anstoßen würden, duzte er Vinck und fragte: „Soll ich dir die Knäcke fertig machen?“ „Wenn du so gut sein willst.“
Aykut zückte anschließend ein Feuerzeug und he- belte mit ihm die Kronenkorken von den Flaschen. „Prost!“
„Prost!“, sagte Vinck dankbar. Die Käseknäcke schmeckten herrlich. Diese unscheinbaren Freuden retteten ihn vorm Fenstersturz. Aykut saß auf dem Bettrand, und Vinck guckte verstohlen auf Aykuts Swatch: drei Uhr und noch was, glaubte er auszu- machen.
„Wie heißt du mit Vornamen“, fragte er Vinck. „Jean-Marie.“
„Wie? Jan Märy? Mädchenname?“
Vinck ließ ihn dabei. Es würde wohl kaum zu einer kontinuierlichen Beziehung kommen. Aykut wolle ja zurück nach Anatolien, man würde ihn dort dringend brauchen, sagte er, das wäre wichtiger, als hier das dicke Geld verdienen.
Apropos Geld. Er lächelte verschmitzt und sah da- bei auf einmal aus wie Harald Schmidt.
„Mein Bruder braucht dringend einen Anwalt. Ihm droht Ausweisung. Er kann sich zu Hause, in der Türkei, nicht blicken lassen. Er braucht dringend einen Anwalt. Er braucht Geld.“
„Ich hab keins“, sagte Vinck. „Aber einen Anwalt könnte ich besorgen.“
Ich weiß, es ist ein großer Fehler, aber auch egal. Er nannte ihm den Code vom Safe, ließ sich seine Brieftasche geben und fummelte eine Visitenkarte heraus.
„Ruf mich übernächste Woche an, Aykut. Dann sehen wir weiter.“
Vinck merkte Aykut an, dass ihm zweitausend Euro zu zwei Prozent lieber gewesen wären oder gleich ein großzügiges Nachtgeschenk von Freund zu Freund.
Was war los mit seinem Bruder? Das wollte er nicht wirklich wissen. Er wollte jetzt - satt und fast schmerzfrei - diesen Zustand allein genießen. Ob Aykut so feinfühlig war?
Er müsse weiter seine Runde machen, aber viel- leicht komme er noch einmal vorbei, ansonsten: er machte die Geste fürs Telefonieren.
Je einen Finger in einem Flaschenhals, in der anderen Hand den leeren Teller öffnete er die Tür mit dem Ellenbogen und war draußen.
Er hat vergessen, das Licht zu löschen, der Idiot. Ich weiß, ich kann das auch mit der Fernbedienung erledigen.
Das war offensichtlich die falsche Taste, denn der Flat-Screen-Fernseher drüben, hoch oben an der Wand, der von ihm geflissentlich ignorierte, war angesprungen, und von jetzt auf gleich war Vinck mitten in einem Hollywoodstreifen mit zwei hoch- attraktiven Menschen. Es schien, als wüssten sie, was sie voneinander zu halten hatten.
„Wenn ich dir sage, dass ich dich liebe, würde das etwas ändern?“, fragte die wunderschöne Frau, als zöge sie einen Revolver. Und der lederduftende Mann, von den Sonnen aller fünf Kontinente gegerbt, antwortete: „Wenn du es sagst? Oder wenn ich es glaube?“, und machte Kinderaugen.
Vinck schaltete aus.
Morgen kommt Helen und holt mich hier heraus. Wer ist Helen, Helen Vidya, fragte es in seinem Kopf.
Die einzige, um derer willen du morgens die Bett- decke zur Seite geschoben, dir die Zähne geputzt, das immer selbe Croissant in den Mund gesteckt, die neuesten Entwürfe ins Atelier gebracht, siegesgewiss die Models auf den Laufsteg geschickt, die 01743889101, Helens Geheimnummer, zum vierten Mal an diesem oder jenem Tag gewählt, schnell mal Rahel von der Schule abgeholt, dich in Schale geschmissen, Barenboim applaudiert, Helen zu guter Letzt die Schlafsocken über ihre braunlasierten Inderfüße (den rechten mit dem Muttermal über dem Knöchel, das „verrutschte Kastenzeichen“) gezogen hast.
Gut inszeniert, mein Lieber! Ist es das, was es ist? Ich meine, ist das wirklich wirklich? Ich spüre eine
heftige Abneigung aufkommen gegen die Salzburger Nockerln, die ich mir da auftische. Verspüre Abneigung gegen mich und meine Vermessenheit, diese Frau in einen Roman von mir zu verwursten. Ich höre auf damit, morgen höre ich auf damit!
Irgendjemand zog an der Bettdecke. „Hallo, Tschuldigung, Jan Märy!“
Wäre jetzt nicht dieser Aykut-Lispler in seinem Ohr, hätte er um Hilfe geschrien: „Ein Orang-Utan will sich zu mir ins Bett legen!“ Nebbich, der kleine Aykut…
„Was wollen… Was willst du? Was ist los?“
„Pst, bleib ganz cool,“ lispelte Aykut mit zu dicker Zunge.
„Mein Bruder, du wolltest wissen, was mit meinem Bruder ist.“
Aber Vinck hatte nicht für einen Cent Interesse, noch irgendetwas über diesen Bruder zu erfahren. Soll er selbst Brocken für Brocken aus seiner Sup-pe fingern. Vinck wollte jetzt schlafen, schlafen, schlafen.
„Süleyman wird gesucht, ihm soll in der Türkei der Prozess gemacht werden. He, Dr.Vinck, Sie …“ „Ich bin kein Doktor, Mensch! Aykut, ich muss schlafen!“
„Entschuldigen Sie, aber wir brauchen dringend Hilfe.“
Oh, er wechselt zum Sie! Jetzt wird’s ernst.
„Ich hab dir doch gesagt, nächste Woche, wenn ich mich wieder einigermaßen fühle, rufe ich meinen Anwalt an.“
Aykut bekam diesen verlogenen Herzschmelzblick von Vincks Hund Matti. Mit gekrümmtem Rücken, um Vinck die Schläge anzulasten, die er gerade hatte einstecken müssen, wandte er sich der Zimmertür zu. Ein kurzer Moment des gelben Lichts - die Nachtbeleuchtung auf dem Flur -, und Vinck war wieder allein. Kein Schlaf, dafür ein bösartiger Schmerz, wie er ihn jetzt gar nicht mehr erwartet hatte.
Es wollte nicht Morgen werden. Das nenn‘ ich einePrüfung. Er schwoll zu einem Luftschiff an. Was beherrschte ihn mehr? Der plötzlich zurückge- kehrte Schmerz oder die Überlegung, ob sich seine Erduldung noch lohne.
In welchem Stockwerk liege ich? Müssen erst Gestapo und Stasi die Tür eintreten, dass ich das Fensterkreuz aufdrehe, mich aufs Fensterbrett schwinge und in die Tiefe segele?
Er dankte auf Knien jedem kleinen Geräusch, das zu ihm in die Zelle drang, bedeutete es doch Rettung vor sich selbst. Schon wünschte er sich Aykut zurück. Sollte der ihn doch überschütten mit den Verfolgungsjagden der türkischen Geheim-polizei auf Bruder Süleyman.
Schon war er da. Zusammen mit dem ersten Mor- genschimmer.
„Geht's gut?“, slangte er migrantisch, „Noch ein Wunsch?“ Sein Berufslächeln verflog, als er Vinck genauer betrachtete.
„Mensch, siehst Scheiße aus!“, lispelte er ganz Bruder.
„Aprospos Bruder“, fiel Vinck leider wieder ein, „was ist los mit deinem Bruder? Wozu braucht er einen Anwalt?“
„Du, das ist kompliziert, verstehst du. Ich hab gleich Übergabe. Ich ruf dich an, versprochen. Erst mal kommste gut nach Hause. Musst dich schonen, ist klar. Ich ruf dich an.“
Der erste Kaffee in diesem Etablissement, zum Abschied. Gestern hatte er ein Häkchen hinter Kaffee gemacht. Dazu zwei Brötchen, die schon mit Butter bestrichen waren, zwei Scheiben Salami, ein Plastikschälchen mit Philadelphia, zwei andere mit gelber und roter Marmelade. So erbärmlich die graubraune Flüssigkeit schmeckte, so sehr roch sie nach Aufbruch.
III, 1
Helen
Berlin 2. April 2018
Sie fand, es war immer schon so. Es gab ein Buch von ihr zu dem Thema. Ja, natürlich war es immer schon so.
„Wann um des Himmels willen kümmerst du dich endlich einen Dreck darum, was die Leut’ von uns denken? Sie haben tausend Gründe, warum sie uns aus der Welt haben wollen. Sie sind nicht stichhal- tig, die Gründe, und dennoch: sie nisten wie… wie unkündbare Mieter im Hirnkasterl der Leut’. Seit mehr als zweitausend Jahren. Geh mal hin und versuch, die vor die Tür zu setzen! Aussichtslos! Sie brauchen das. Sie haben Angst, sonst unterzu- gehen“, meinte Vinck, wenn Helen ihre Kampfmontur anzog. Beide wussten, sie würde verlieren. Es half nichts, wenn Vinck sie dringend bat, ein an- deres Hobby als diesen altbackenen Antisemitismus zu wählen. Selbst die hinterhältige Attacke neulich hatte nichts gegen ihre Obsession vermocht.
Alles war mit der Redaktion abgesprochen gewe- sen. Drei Hochkaräter hatte sie für den Polittalk haben wollen, und die hatte sie bekommen. Am Dienstag waren sie pünktlich um neun Uhr in der Lounge versammelt gewesen, eine wissenschaft- liche Mitarbeiterin vom Fritz-Bauer-Institut, ein von Helen geliebt-gehasster Chefredakteur, der immer in ihren Diskussionsrunden dabei war, aggressiv und charmant, dann eine von ihr verehrte Autorin, ehemals Journalistin, die zum Thema ver-öffentlicht hatte und in der Sendung mit Sicherheit pointiert argumentieren würde, und der vierte - last but extremely last - ein Abgeordneter dieser mit den Muskeln spielenden neofaschistischen Partei. Der musste dabei sein, nicht für die Redaktion - ausdrücklich -, aber für sie. Denn wie wäre der camouflierende Antisemitismus dieser Partei anders zu überführen?
Was hatte auf der Agenda ihrer eigenen Rundfunk- sendung Die Morgenrunde gestanden?
Ihr gingen lauwarme Berichte in der Presse voraus: ein altes Naziweib stapfte schon seit geraumer Zeit in den Fußspuren David Irvings, des überall abge- wiesenen, aber nie erlahmenden Holocaustleugners. Die Dame mit Hitlerbildchen auf dem Nachttisch war vor zwei Jahren hochbetagt in den Knast gewandert. Für die Neue Rechte ein Skandal. Helens Anliegen war es, bloßzulegen, was das eigentliche Ziel der Leugnung sei. So unwahrscheinlich es klingen mochte: Eine Neuauflage des Holocausts. Die pseudowissenschaftlichen Behauptungen, die mediale Aufmerksamkeit und das juristische Nachspiel bewirkten eine Emotionalisierung. Beabsichtigt war - so Helens These - die Verhöhnung der Ermordeten und die tiefe Verletzung der Überlebenden, deren Kinder und Kindeskinder. Alle sollten noch einmal ins psycho- logische Gas. In einem Rechtsstaat war die Leug- nung der Shoa strafbar. Aber wie lange noch, fragte sich Helen. Was früher wahr war, ist heut' gern mal alternativ wahr. Was früher nur zu denken tabu war, geht heute anything goes über die Lippe.
Sie hatte die Sendung betitelt: Davon geht die Welt nicht unter. Aber vielleicht doch. Der leichtfertige Umgang mit der Wahrheit.
Helen sah, eigentlich täglich, das Böse auf sich zurollen und konnte nichts dagegen tun. Und so kam es denn auch.
Kaum lief die Sendung, heftete der Herr aus der braunen Rumpelkammer Helen den gelben Stern an die Brust. Wie sei es denn um die freie Meinungs- äußerung in diesem, wie es so schön hieße, freien Land bestellt? Offensichtlich schlecht. Wer bedrohe denn die Demokratie? Doch diejenigen, die eine alte Frau, die mutig auf Redefreiheit besteht, ins Gefängnis steckten.
Und überdies wäre sie, Frau Frankfurter (ihr Mädchenname!) als Halbjüdin doch wohl ein wenig befangen, oder nicht? Hatte er wirklich Halbjüdin gesagt?
Das letzte „r“ von Frankfurter schnarrte er betont albern unter seinem Schnurrbart hervor, um, wie bei einfältigen Leuten üblich, Bedeutung, wo keine ist, zu schinden.
Die Erde schien von ihrer Bahn abgekommen und die Zeit für immer still zu stehen. Schwarzer Rauch verdunkelte Helens Kopf. Ihre Augen erfassten nicht mehr die vor ihr liegenden Notizen. Die gesamte Planung stieb zu einem Haufen Nichts zusammen. Die drei Gesprächsteilnehmer, die sich mit Recht auf Helen verlassen konnten wie umgekehrt auch, hatten versucht, Fassung zu bewahren. Doch Helens zur Maske erstarrtes Gesicht machte deutlich, dass sie sie vergessen konnten. Auch von ihnen hatte niemand einen rettenden Einfall. Der Schnurrbärtige genoss sichtlich seinen Sieg über die Jüdin. Bis zu den sehnlichst erwarteten Nachrichten, die immer im Anschluss an die Morgenrunde folgten, verging eine gefühlte Stunde, auch für den Hörer natürlich, der erstaunt zum Radio schaute und mit einer Erklärung der Anstalt rechnete, die aber nicht kam.
Helen konnte bis heute nicht sagen, wie diese Sen- dung zu welchem Ende gekommen war.
Eine Woche war es her, und da ihr so etwas noch nie passiert war, hatte sie keinerlei Vorstellung, wie sich ein solcher Blackout - sie nannte es vernichtend: berufliche Inkompetenz - auf ihre Zukunft auswirken könnte. Morgens nach schlecht verbra- chter Nacht war der erste Gedanke gewesen: Was, wenn sie mich rausschmeißen? Was dann? Die Kündigung hatte sie, und das nicht nur einmal, schon von sich aus erwogen, jetzt, da Rahel bald nicht mehr umsorgt werden müsste. Als freie Journalistin wäre sie unabhängiger. Resilienter vielleicht? Resilienz und Authentizität waren vom Gegen- wartsmenschen gefordert. Das waren die Schutz- schilde, mit denen man heute durchs Leben kam. Ein Skript zu diesem Thema lag fertig bei ihr in der Schublade. Fertig für eine der nächsten Morgen- runden, wenn es die dann noch geben sollte. Der Fakt und das Wissen darum, dass sie eine erfolg- reiche Journalistin war, schützte sie nicht vor ihrer Angst.
Die Angst war das eine, das andere die Wut, diesen Kerl nicht geohrfeigt zu haben. Beate Klarsfeld war sie nicht.
Helen war nicht ganz bei der Sache. Sie kreiste auf ihrem Drehstuhl im Tonstudio des Rundfunk- senders und hielt dabei einen Pappbecher mit kalt gewordenem Kaffee umklammert. Vor ihr der Computer, Teil einer Aufnahmeapparatur und so lang wie die Theke in einer mittelgroßen Bar. Barkeeper war hier der Toningenieur. Die Theke hatte mit den tausend Schiebern, Knöpfen, Schaltern etwas von einem Cockpit. Helens Blick glitt im Drehen über den Screen ihres Computers. Da war noch die Grafik der Sendung zu sehen, die jetzt geschnitten werden musste. Der letzte Sprecher war vor einer halben Stunde gegangen. Es war ihr nicht möglich, aufzustehen. Eine Lähmung kroch an ihr hoch wie ein Gecko mit eiskalten Füßchen, erst langsam, hielt ein und hastete anschließend ihre Beine entlang über Bauch und Brust bis zum Hals. Dieses Karussell in ihrem Kopf! Zwecklos, sich dagegen zu wehren. Wahrscheinlich hatte ihr Analytiker mit der Einschätzung recht, sie habe eine nicht von der Hand zu weisende Neigung zur Paranoia. Für die aktuelle Sendung, eine Routineangelegenheit, hatte sie den Autopiloten eingeschaltet, um sich ganz der Angstlust hinzu- geben, dass ihre Tage beim Sender gezählt sein könnten. Nicht das erste Mal, dass sie ihr gängiges Szenario aufrief. Wenn alle Stricke reißen, springe ich vom Dach.
Rechts am Schneidetisch räusperte sich Willy Graff, Tontechniker und Sonnyboy vom Dienst.
Helen donnerte den leeren Becher in den Papier- korb neben ihr und streckte jäh ihre Arme nach allen Seiten aus, um sich aus diesem klebrigen Teig von Wut, Angst und Selbstmitleid zu befreien, und fragte: „Was?“
„Ich hab noch nichts gesagt, Schätzchen. Wenn du… Also, ich würd’ jetzt gern… Wenn wir noch was Warmes im Casino erwischen wollen, dann sag mir noch schnell, welche Takes …“ er tippte auf drei CDs vor sich, „du ausgesucht hast, und ob sie da bleiben, wo sie im Skript stehen, oder wo sie hin sollen.“ Helen kramte einen Zettel aus den Seiten ihres Manuskripts hervor und reichte ihn Willy. „Diese da. Und sie bleiben natürlich da, wo die Autorin und ich es gesagt haben.“
Gern hätte sie ihm sein „Schätzchen“ ins Maul gestopft und dieses zugetackert, aber sie brauchte ihn gerade mal.
„Willy,“ sagte Helen, „du hast ja unsere letzte Morgenrunde gemacht. Fühlt sich das nur für mich so an oder war es tatsächlich der Supergau?“