Vom Aussteigen und Ankommen - Jan Grossarth - E-Book

Vom Aussteigen und Ankommen E-Book

Jan Grossarth

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Beschreibung

Raus aus dem Hamsterrad!
Ein spannender Report über 13 Individualisten am Rande der Gesellschaft


Alternative Lebensformen gewinnen wieder an Aktualität. In den Siebzigerjahren war die Aussteigerbewegung eine romantische Jugendkultur in einem satten Land, heute sind die Gründe für die Suche nach einem einfacheren Leben andere: das Wachstum verliert an Geschwindigkeit, die Menschen müssen Kompromisse eingehen, wenn sie von ihrem Einkommen noch so gut leben wollen, wie sie es gewohnt sind. Sie müssen Mobilität versprechen, Überstunden machen, auf Familie und freie Zeit verzichten. Die Entfremdung nimmt zu. Jan Grossarth hat auf einer Rundreise mit dreizehn Stationen in Deutschland, der Schweiz und Norditalien Menschen besucht, die es gewagt haben, sich den Tretmühlen zu entziehen. Manche haben von heute auf morgen ihr altes Leben aufgegeben, andere sind schon früh einen radikal nichtbürgerlichen Weg gegangen. Alle leben einfacher, als es nötig wäre, und hoffen damit wiederzufinden, was ihnen verloren gegangen ist: Gemeinschaft, ein naturverbundenes Leben, Konsequenz, Glauben, Spiritualität, Freiheit.

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Seitenzahl: 380

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Jan Grossarth

Vom Aussteigen & Ankommen

Besuche bei Menschen, die ein einfaches Leben wagen

Für Eva

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.3. Auflage

Originalausgabe

© 2011 Riemann Verlag, München

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Lektorat: Ralf Lay

Satz: Barbara Rabus

ISBN 978-3-641-05485-4V003

www.riemann-verlag.de

Inhalt

Warum aussteigen?

1 Ostvorpommern: Auf der Suche nach Alternativen

Berlin verloren, Grünz gewonnen: Siedler in der Uckermark

Feigen aus dem Garten, Botschaften aus dem Jenseits

Die rot-grün gestreifte Selbstversorgertomate

2 Ein politisches Ökodorf in der Altmark

Ulkige Ute, grüner Gisi

Ein Bauer macht Ernst

Wir schwitzen gern für die Pferde

Die Pferde schwitzen gern für uns

Hirnwichsen? Mitfühlen!

3 Der Waldmensch aus dem Westerwald

Staub und Fett halten sich die Waage

Schafe sind Vegetarier, Städter sind Blutsauger

4 Das Kloster in der Kölner Altstadt

Jesus guckt

Der heilige Martin guckt

5 Im Hausboot auf dem Rhein

Ein ganz normaler Kölner

Im Bauch des Schnabeltiers

6 Eine esoterische Gemeinschaft im Piemont

Die glückliche Familie Dendera

Gräber im Berg, Leben auf Bäumen

Ascona: Aussteiger um 1900

7 Allgäu: Beim Stamm der Likatier

Der Hippie hinkt, der Lambrusco perlt

Auf den Spuren der Muttergöttin

8 Ein mittelalterliches Gehöft in Thüringen

Speck ist tot, Schinken lebt

Noch pflügt der Jeep, bald der Ochse

Meine Hände sind kalt, weil ich mich so klein fühle

9 Heidelbeeren aus der Oberpfalz

Bezahlen mit Blaubeeren

Das Modell Frank & Emmi

10 Mit dem Gaukler aus Telgte im Odenwald

Bier trinken, Kinder werden

Frankfurter Würstchen

11 Nürnbergs junge Jesuiten

Wir essen den Armen die Suppe weg

Vom freien Kapitalmarkt in den Gehorsam

Von der Sommerromanze in die Keuschheit

Ignatianische Exerzitien

12 Leben ohne Geld in München

Wir finden Puffreis im Müll

Träumen auf Nacktschnecken

13 Edelgastronom mit Schweizer Almhütte

Schlappin in den Wolken

Über die Berge zum Schinken

Warum ankommen?

Dank

Literatur im Reisegepäck

Auf dem Klo des Münchner Studentenwerks trank ich am Wasserhahn eine Minute wie ein Kalb am Euter seiner Mutterkuh, denn es war Nachmittag, und wir hatten heute überhaupt noch kein Wasser gefunden, nur etwas Essigsoße, zum Essen hatte es eine Kidneybohne gegeben, ein Melonenstück und die übliche Puffreisschokolade.

Wir gingen über die Leopoldstraße zum Lidl. Um fünf erreichten wir ihn, und wieder hatten wir Glück: Alle Container auf dem Parkplatz waren offen und voll. Doch leider hatte sich das Waschpulver einer aufgeplatzten Packung über Früchte und Camemberts gelegt wie Neuschnee über eine Almwiese. Die Brote hatten das Waschmittel aufgesogen. Vermeintliche Joghurts entpuppten sich bei genauerem Hinsehen als Becher mit abgelaufener Katzenmilch. Aber wir fanden auch genießbare Äpfel und einen Käse und gingen damit wieder zum Friedhof.

Dort setzten wir uns an den Rand eines Bassins aus Marmor und wuschen mit dem klaren Wasser, das für die Grabpflanzen gedacht war, das Obst. Mit Blick auf das Grab der Familie Westermeier aßen wir Äpfel und Käse mit dem Toastbrot von gestern. Einen Zehnerpack Eier versteckte Pavlik, der sich als Elfen bezeichnete, hinter einem Busch. Er wollte sie tags darauf wieder abholen und für die Studenten braten, die zu seinem Workshop kommen würden.

»Der Grund, warum ich kein Geld mehr benutze, ist einfach«, sagte er, »weil ich klar sehe, dass es keine Zukunft hat.« Manchmal kam er mir vor wie der heilige Franziskus.

Warum aussteigen?

Neulich stand in der Frankfurter Rundschau die Geschichte von einem Steward aus Amerika. Als ihm ein Koffer aus der Gepäckablage auf den Kopf fiel, hatte der Steward genug, und als das Flugzeug auf der Landebahn abgebremst hatte, machte er sich eine Dose Bier auf und ließ die Rutsche, die für Notlandungen über dem Meer vorgesehen ist, aus dem Ausgang des Fliegers rollen. Er nahm einen Schluck und rutschte. Er war ausgestiegen. Angekommen war er auf einer Landebahn.

Gründe dafür, auszusteigen, werden zahlreiche genannt, etwa Endzeiterwartungen in einer Welt, in der Rohstoffe knapp werden und deren immer komplexere städtische Strukturen mit einem Computervirus ins Chaos gestürzt werden können. Es gibt ideologische, lebenspraktische oder religiöse Motive. In der bürgerlichen Welt sind meist die praktischen ausschlaggebend: Wenn der Frust der Menschen, die eine gute Ausbildung und Wohlstand anvisieren oder erreicht haben, aber dafür mehr und mehr Freiheit aufgeben müssen, groß genug ist, denken sie plötzlich darüber nach, Ziegenhirt in den Pyrenäen zu werden oder einen Warsteiner-Treff in Dubai zu eröffnen. Es werde doch immer schlimmer: Die Konzerne verlangten von ihren Angestellten die totale Mobilität und Vierzehn-Stunden-Tage, schließlich hinterließen sie den Psychologen und Selbstfindungs-Seminarleitern die ausgequetschten Zitronenschalen, etwa die fünfundvierzigjährige Betriebswirtin, die schlimmstenfalls ohne Gummirutsche aus dem Fenster steigt.

Je mehr Firmen-Kontaktabende und Karrieremessen man zum Beispiel während eines Wirtschaftsstudiums besucht, desto eher könnte man geneigt sein, den Einstieg in diese Welt zu vermeiden. Die Sprache der Stellenanzeigen, die Lebensläufe ohne Ecken und Kanten einfordern, scheinen lebensfern, wie auch die Rhetorik der Manager, die von »Highperformern« sprechen, für die in ihrem Unternehmen immer ein Platz frei sei, und die unter den besorgten Blicken der unteren neunzig Prozent im Hörsaal ihren eigenen Glanz sehr genießen. Da kann man schon einmal auf die Idee kommen, dass es vielleicht besser sei, sich von diesen Leuten gar nicht erst abhängig zu machen, sondern etwas Einfaches zu arbeiten, einen Imbiss aufzumachen oder einen Waffelstand, Hauptsache, ich darf ich selbst bleiben. Diese Karrieremessen sind eine Ausprägung unserer Gesellschaft, die Neuorientierung selten toleriert, die in den meisten Bereichen immer noch Linearität fordert im Lebenslauf und in den Einstellungen. Da ist ein Ausstieg oft eine tragische Abnabelung, ein Bruch mit der bürgerlichen Welt, wenn keine Alternative mehr gesehen wird.

Neben den Aussteigern, die vor der Entfremdung flüchten, gibt es aber auch die radikal Konsequenten. Sie müssen nicht erst in den Tretmühlen stecken, sondern machen per se das, was sie selbst richtig finden. Narzissten, Fanatiker, die sowieso nur als Einsiedler leben könnten, womöglich. Oder Charaktere, die einen so starken Eindruck hinterlassen, dass eine Begegnung mit ihnen nachwirkt und Konsequenzen für das eigene Leben verlangt. Für die Frankfurter Allgemeine Zeitung hatte ich im Jahr vor dieser Reise, im Sommer, solch einen Menschen besucht, einen Selbstversorger. Wir lebten einige Tage zusammen, ernteten Heu und pflückten Kirschen. Erst bekam ich von unseren Gesprächen Migräne. Alle seine Gedanken kreisten um die Idee, dass nur die Landarbeit mit Muskelkraft nachhaltig sei und wir alle bald dahin zurückmüssten. Seine Welt war eine ganz andere. Die Begegnung ging mir nicht mehr aus dem Kopf.

Jetzt bin ich von einer Reise zu vielen Menschen zurück, deren Lebensformen und Motive für ein einfaches Leben sehr unterschiedlich waren. Unangepasst zu leben ist fast immer mit materiellem Verzicht verbunden, das einte alle: das einfache Leben. Auch wenn für jeden Einzelnen »einfach« etwas anderes bedeutet.

Die Kopfschmerzen kamen wieder, aber auch die Bereicherungen. Foucault schreibt in seinem Werk Wahnsinn und Gesellschaft, wenn der Vernünftige nicht mehr mit dem Wahnsinnigen kommuniziere, sei er mit Sicherheit selbst ein Wahnsinniger. »Man wird sich seinen eigenen gesunden Menschenverstand nicht dadurch beweisen können, dass man seinen Nachbarn einsperrt« – so zitiert er Dostojewski. Von April bis Juni habe ich den Wahnsinn des Büroalltags verlassen und einfach mit Leuten gelebt, die immer einfach leben. Die Reise in den Alltag der Kleinbauern, Mönche und vom »Peak Oil« oder »New Age« inspirierten Siedler, die für mich ein Selbstversuch war, vielleicht eine Reise in die Zukunft, in jedem Fall auch ein Abstecher in die lebendig gebliebene Ideengeschichte, beginnt mit einer Suche nach einfachem Leben in Mecklenburg-Vorpommern.

Kapitel 1

Ostvorpommern: Auf der Suche nach Alternativen

Die graue Ostsee und der graue Himmel waren am Horizont fast eins geworden. Die Felder lagen weit und leer. Lastwagen fuhren auf einer Straße, die die Boddenwiesen durchschnitt. Als sich Himmel und Erde am Horizont hinter einem Schleier aus Regen immer näher kamen, legte sich das Bild einer dicken Frau über das Naturschauspiel. Sie trug eine blaue Uniform. Die Kontrolleurin spiegelte sich im Zugfenster und fragte nach meiner Fahrkarte.

Leise rollte die Bäderbahn über Usedom, sie hatte ein Herz für die Prärie und hielt an jedem menschenverlassenen Bahnsteig. Die Kontrolleurin nickte und wollte weitergehen, da fragte ich sie, ob sie wisse, wo auf der Insel es alternative Hofgemeinschaften gebe. Das wusste sie nicht, aber vielleicht jemand in Stubbenfelde, das sei ländlich und weniger touristisch als die anderen Orte. Ich ließ die Ostsee und den Himmel aus dem Blick, denn ich war nicht hier auf der Insel, um die Freiheit des Himmels zu suchen, sondern die Freiheit der Menschen.

Regen und Wind begrüßten mich in Stubbenfelde, vom Bahnsteig ging ich über ein Feldsträßchen von Haus zu Haus. Friedliche Tauben kreisten über den Wohnhäusern. Regentröpfchen trugen Meeresdüfte von Salz und Algen durch die Luft. Wenn mir mal ein Mensch entgegenkam, fragte ich nach Aussteigern.

»Wat suchen Sie?«, wunderte sich eine Gemüsearbeiterin, die in dem Vorgarten mit dem Taubenstall stand.

»Nee, Kommune, so wat gibt hier nicht«, sagte ein alter Mann, der hölzern von seinem Hollandrad abstieg.

»Nö, ham wir nich«, sagte die Postbotin.

Ich hatte schweres Gepäck und stieg in die nächste Bäderbahn, die wieder zurückfuhr und hinein ins arme Land. Usedomer Inselbäder zogen vorbei. Jetzt war ein Stau auf der Landstraße. Viele Autos hatten fremde Kennzeichen, Polen kamen zum Urlaub und Dortmunder und Münchner. Diese Insel florierte und dachte nicht ans knapper werdende Erdöl. Alternatives Leben auf Usedom zu suchen, das war keine gute Idee. Aber im Hinterland würde die vergangene Welt der Kleinbauern, Künstler und Klöster dann ja vielleicht beginnen, eine Reise zu Menschen, die schon immer wenig gehabt, schon immer Kultur hervorgebracht hatten, die heute die Letzten ihrer Art waren – oder doch wieder Avantgarde.

Die Reise ins einfache Leben fing in Ostvorpommern an, also dort, wo auch das Spiel »Mensch ärgere Dich nicht« beginnt: ganz in der Ecke. In dieser Ecke war das Leben nicht leicht. Es gab Landflucht und Arbeitslosigkeit, aber das konnte ein guter Nährboden für neues Leben sein, das freiwillig einfach war. Ostvorpommerns verlassene Höfe und das weite Land mussten Menschen anziehen, die wieder von der freien Feldarbeit träumten, so wie Ernst Wiechert in den frühen dreißiger Jahren, die hierhergezogen waren, um ihren flachen Fernseher und ihre goldene Verbeamtungsurkunde und ihre Zahnzusatzversicherung über Bord zu werfen, damit Freiräume entstehen, die wieder vom Leben ausgefüllt werden können. Denn in Ostvorpommern gab es mittlerweile Bauernhöfe für fünfundzwanzigtausend Euro, halb zerfallen oder ganz in Ordnung, und dazu so viel Land, wie es ein Mensch benötigt, um sich selbst zu versorgen. In Frankfurt kostete eine Autogarage so viel. In Zwangsversteigerungen sollen Vorpommer’sche Höfe schon für fünftausend Euro verkauft worden sein. Es wäre möglich, sein Reihenhaus im Westen für zweihunderttausend Euro abzugeben, hier einen schönen alten Hof zu kaufen und von Gartenarbeit und vom Aldi bis zum Tod zu leben. »Sorgenfrei«, »ausgesorgt« – zwei Lebensziele, die doch eigentlich weit oben standen in der bürgerlichen Lebensagenda.

Ein Regionalexpress fuhr von Züssow aus weiter ins Hinterland. Anders als die ruhige Bäderbahn quietschte er und klang nach Schwermetall und Hydraulik. Der Zug durchquerte Rapsfelder, die bis zum Sichthorizont reichten, dann Birkenwälder, dann wieder Rapsfelder. In den Orten standen, zwanzig Jahre danach, immer noch sozialistische Betonruinen, sie waren von guter Qualität.

Weil ihr Name melancholisch klang und sie weit genug vom Tourismus der Küste entfernt war, blieb ich eine Nacht in der Stadt Torgelow. Ein heruntergekommener Bahnhof war ihr Eingang. »Alle Wessis sind Scheiße!!!«, stand auf seiner Backsteinwand.

Die Bahnhofsgaststätte hatte geschlossen, das erste Wirtschaftsunternehmen in der Bahnhofstraße war ein Bestattungsinstitut. Der Sänger DJ Ötzi war auf Plakaten angekündigt, er sollte im Sommer in der Stadthalle auftreten. Dann würden sich zwei treffen, die ihren Zenit überschritten hatten, und sie würden gemeinsam tanzen, Torgelow aus Ostvorpommern und Ötzi aus Tirol. Ansonsten war hier alles deutsch: Eines der teureren Gerichte bei Mama Mia hieß »Pizza Prachtvoll«, und in Torgelow schnitten noch deutsche Männer Dönerfleisch vom Spieß. Das Raucherstübchen bot Tomatensuppe mit Brot für einen Euro an. Warum sollte in Torgelow jemand seine Tomaten da noch selbst anbauen?

Ich sprach auf die Mailbox meines Handys, ich sei für ein Vierteljahr verreist und nicht erreichbar. Nicht erreichbar! Dem kleinen Piepmatz diesen Satz ins Ohr zu sprechen, den »Aus«-Knopf zu drücken und es ernst zu meinen, das brachte ein Glücksgefühl.

Ganz andere Signale sendete mein Zahn. Er schmerzte bis in die Schläfen, denn kurz vor Reisebeginn hatte ich eine Wurzelbehandlung gehabt, um dann für die kommenden drei Monate die Krankenversicherung zu kündigen. So viel Integrationsbereitschaft musste sein auf einer Reise ins einfache Leben, die ja auch ein Selbstversuch war.

Auch in Torgelow war der erste Eindruck enttäuschend: nirgends eine Kommune, keine Selbstversorger, kein Bundesrichter, der zur Bio-Zucchini konvertiert war. Ich suchte im Rathaus Rat. Letzte Tür links, da saß Herr Blume, der Pressesprecher der Stadt Torgelow. »Es entzieht sich meiner Kenntnis, ob es solche Leute noch gibt«, sagte Herr Blume.

Ich betrat eine Bäckerei und fragte nach alternativem Leben. Ein Gast meinte, »so Leute« gebe es fünf Kilometer stadtauswärts. Ich folgte der Spur. Entlang der Straße zum Friedhof standen auf Rasenparzellen, die aussahen wie in Fertighausprospekten, weiße quadratische Häuser, konfektioniert wie Oberhemden aus dem Otto-Katalog. Die Sparkasse wollte sie loswerden, dann doch für fünfundsiebzigtausend Euro.

Hinter dem Friedhof führte ein Weg links in den Wald. Aus dem Wald führte ein Steg wieder heraus. Er trug meine Füße trocken über feuchtes Grünland, auf dem Ziegen weideten. Weiter vorn tat sich ein Wall auf, der mit gen Himmel gerichteten Stammspitzen gegen Angreifer geschützt war. Das konnte so einen Abenteurer wie mich nicht zurückhalten. Ich durchschritt den Wall durch eine Pforte. Dahinter eröffnete sich ein Blick auf Lehmhütten, Rieddächer, Strohballen und Feuerstellen. Oh, was gab es für sonderbare Aussteiger in diesem Landstrich! Auf dem Boden hatten sie eine Steinspirale ausgelegt. War wohl ein ritueller Ort. Doch Eispapier lag auf dem fein gemulchten Grund. Es war ein Museumsdorf. Ein Ukranenland für Grundschüler.

Das Dorf war verlassen, doch in einer Schmiede standen noch zwei Ukranen in grünen Gewändern. Sie tranken Bier aus Plastikflaschen und sagten, ich sei zu spät, um das Museumsdorf zu besichtigen. Und zu spät, um den Aussteiger zu besichtigen. Bis vor drei Jahren habe hier ein Mann aus Bremen gelebt, ein früherer Mitarbeiter von BMW. Er sei Mitte vierzig gewesen, habe allein seine slawische Hütte erbaut und darin einen Winter und einen Sommer lang gelebt wie die Menschen vor tausendvierhundert Jahren. Der Mann war weg, die Hütte war noch da und in den Besitz des Museums übergegangen. Sie hatte eine Holzliegefläche zum Schlafen, im Herzen eine Feuerstelle, die überhangen war mit Wildschweinfell, damit keine Funken das Strohdach entzünden konnten. In einer Ecke stand ein Holzkasten-Klo, darunter ein Eimer. Nach seinem Jahr im Ukranenland, habe man gehört, zog der Sonderling nach Sri Lanka, lernte eine Frau kennen und bezog mit ihr eine Villa, erzählte einer der Männer in den grünen Gewändern. Vielleicht war ihm das Leben als Germane unterm Wildschweinfell doch nicht »sorgenfrei« genug. Aus der Enge der Büros heraus betrachtet, schillerten die Ideen vom Landleben oft wunderbar, doch aus der Unsicherheit des Menschen, der in der Welt ohne Versicherungen und Bezüge lebte, schienen die Büros dann wieder wie Schutzkokons. Der Germane lag jetzt wohl an einem Südseestrand.

Berlin verloren, Grünz gewonnen: Siedler in der Uckermark

Ein Zug brachte mich nach Prenzlau, von dort fuhr der Bus nach Grünz, das deshalb mein nächstes Ziel war, weil es dort einen abgelegenen Gasthof gab, das Deutsche Haus nahe der polnischen Grenze.

Bloß dienstags und freitags fuhr dieser Bus, und es war ein Glück, dass Dienstag war. Der Bus war kein Bus, sondern ein Taxi und fuhr durch ein ozeanisch weites Rapsfeld. Die Energiewende zeigte sich blühend, sie erinnerte daran, dass das Erdöl nicht ewig sein würde. Zwar sagten das die Zivilisationsskeptiker schon seit Jahrzehnten, aber dass sie doch irgendwann mal recht haben sollten und der Wohlstand vom Öl abhing, war ja sonnenklar. Windräder warfen ihre Schatten auf die gelben Felder, der Raps nahm kein Ende, und das Taxi überquerte die Gaspipeline Nord Stream, die aus Russland kam, hier noch eine Baustelle war und bald die europäische Energieversorgung sicherstellen sollte.

Das Taxi fuhr unter einer Brücke der Autobahn A 11 hindurch, die Berlin mit Stettin verbindet und von der es heißt, sie sei in den achtziger Jahren noch so wenig befahren gewesen, dass Bauern Strohballen auf der rechten Fahrspur gelagert und Kinder dazwischen Federball gespielt hätten.

Im Deutschen Haus antwortete die Wirtin auf die Aussteigerfrage: »Meinen Sie so Leudde, die aus Berlin hierherkommen und nich mehr arbeiten? Jo, kann soin, dat es die hier gibt, aber ich weiß nich, wo.« Sie ging in die Küche, wo die Köchin Schweinebraten mit Gewürzen spickte, lieh mir für die Suche ihr Fahrrad, und ich fuhr die Dorfstraße hinab. Das Dorf Grünz bestand nur aus dieser einen Allee und aus einer abzweigenden Straße. Auf einem Plan stand, dass einmal im Monat der Büchereibus kam und zwanzig Minuten blieb. Hätte es das Internet noch nicht gegeben, wäre es für einen Menschen in Grünz kaum möglich gewesen, nicht zum Hinterwäldler zu werden. Nun relativierte sich die Distanz von Stadt und Land.

Die Dorfstraße führte bergab zu einem See. An einer Hofeinfahrt stand eine Frau, die eine beigefarbene Weste aus dicker Wolle trug, eine blaue Arbeitshose, einfache Arbeitskleidung einer Landwitwe von 1950. Sie trug eine Brille, ihr Haar war lang und grau. Sie wirkte wie eine Frau, die die Härten des Lebens kennengelernt und sich ihren Frieden trotzdem bewahrt hatte. Sie sah so aus, als sei sie zugezogen, aber arbeitete trotzdem.

»Was suchen Sie?«, fragte sie über die Gartenpforte.

»Wahrscheinlich Sie.«

»Mich?«

Über gemähten Rasen, in dem wilde Kräuterinseln standen und auf dem ein Ständer mit Wäsche zum Trocknen hing, gingen Sabine und ich ins Haus, dessen Backstein an manchen Stellen so hell war, als sei er mit Kreidewasser überstrichen worden. In der Stube knisterte der Kamin. Das Inventar war teilweise antik, teils dreißiger Jahre, fünfziger, siebziger. Das meiste kam von Flohmärkten. Unter den Fensterbänken standen Setzkästen mit Gemüsekeimlingen. Im Badezimmer stand eine Emaillewanne auf Zierbeinchen wie aus einem Film der Vorkriegszeit. Draußen befand sich der alte Schweinestall, der jetzt die Galerie der Landarbeiterin war. Von ihrer Malerei lebte sie aber nicht, sondern vom Garten und von drei Tagen, an denen sie im Bioladen in Prenzlau arbeitete.

Zum Tee gab es Kuchenreste. Wir froren, obwohl der Ofen sein Bestes gab, und wärmten unsere Hände an den Teetassen. Sabine war in Berlin aufgewachsen. Sie lebte hier mit ihrem Mann Thomas, der gleich von einer Lehmhaus-Baustelle wiederkäme, wo er arbeitete. Dieser schöne Hof hatte Sabine und ihren Mann fast nichts gekostet, aber sie mussten mutig sein und viel Arbeit auf sich nehmen. Als sie hierherkamen, hatten sie auch fast nichts. Sie waren typische Wendeverlierer, 1989 begann für sie der materielle Abstieg. Als die Berliner Mauer fiel, lebte Sabine mit ihrem damaligen Mann und ihren zwei Kindern noch in einer großen Mietwohnung in Prenzlauer Berg, doch die Mieten schossen hoch wie Aktienkurse, und schnell kostete die Wohnung mehr als fünfhundert Mark statt hundert. Sabine war zweiunddreißig, Ostberlin in Aufbruchsstimmung, aber sie kam schnell zu der Auffassung, dass sie im falschen Boot saß: zu alt und zu gebunden, um mit aufzubrechen. Als Bibliothekarin bekam sie keinen Job. Der wachsende Wohlstand Ostberlins drohte Sabine und Thomas aus der Stadtmitte herauszuspülen wie Wellen Muschelreste an einen Strand. Das freie Deutschland schien für Sabine und Thomas einen Plan zu haben, der mit ihren Vorstellungen nicht zusammenpasste: Plattenbau, Marzahn oder Neukölln. Sabine fiel eine Zeitschrift in die Hände, in der Aussteiger porträtiert waren, unter anderem stand darin die Geschichte eines Berliner Professors, der seinen Besitz verkauft hatte und nach Südfrankreich aufs Land gezogen war. Sabine und Thomas hatten leider kaum etwas zum Verkaufen.

Aussteigen, das war eine Idee aus dem bürgerlichen Westen. In der DDR war das Leben ohnehin für die meisten Menschen einfach, der Arbeiter-und-Bauern-Staat war stellvertretend für alle aus den Zwängen des imperialistischen Weltkapitalismus ausgestiegen, und für den Einzelnen war darüber hinaus kein Ausstieg mehr vorgesehen. Jetzt war Berlin frei, doch Sabine und Thomas fühlten sich nicht frei.

»Ich wollte mich lösen von den Dingen, die alle taten. Von der rasanten Anpassung«, sagte Sabine. Die DDR wollte sie wirklich nicht zurück, aber die neue Welt hatte sie sich auch anders vorgestellt. Hier liefen alle dem Geld hinterher. Es schien ihr, als sei es kaum noch möglich, sich selbst zu erhalten. Sabine fragte sich, wo sie sich als alte Frau sehen wolle in vierzig Jahren, und der naive Wunsch, dann in einem Garten vor einem Landhaus zu sitzen und Kinder und Enkel mit Kuchen zu bewirten, war am stärksten. Ein Makler zeigte Sabine und Thomas Höfe in der Uckermark, sie kauften das Haus in Grünz für fünfundfünfzigtausend Mark: mit einem Kredit, Baukindergeld, Arbeitslosenhilfe und Dorferneuerungs-Fördergeld. 1997 zogen sie ein. Mittlerweile war ihr gemeinsames Kind geboren, Sabines drittes, bald kam das vierte.

Ein Sprung aus Berlin ins einfache Leben, so wie bei Ernst Wiecherts Romanfigur Thomas von Orla, als der Erste Weltkrieg noch der »große Krieg« war. Ihn führte die Suche nach unschuldigem Landleben nach Ostpreußen, wo er Fischer wurde in einer Welt der Hechte, Haubentaucher und der güldenen Sonne. Er wollte seine Jahre nicht mehr zubringen wie ein Geschwätz:

Güte und Weisheit und nichts haben wollen. Frieden schließen, aber den Frieden, hinter dem kein Krieg mehr steht (…), und er bedachte, dass bei reiferer Erkenntnis dem Menschen wohl nicht mehr gegeben sei, als in dem kleinen Umkreis seines Lebens das Rechte zu tun und zwei oder drei Menschen bei der Hand zu nehmen und sie zusehen zu lassen, wie man es tue.

In Grünz bewohnten Thomas und Sabine Müller anfangs nur einen Raum, alle anderen waren feucht, kalt und dreckig. Draußen stellten sie ein Plumpsklo auf. Sie entkernten das Gebäude. Der alte Kachelofen funktionierte noch, es gab keinen Wasseranschluss. Sie sanierten jahrelang. Da im Umkreis viele Zugezogene lebten, fanden die beiden schnell Anschluss, Sabine lernte im Nachbardorf eine norddeutsche Künstlerin kennen, die ihr die Malerei beibrachte, für ihre Kinder konnten sich die beiden mehr leisten als in Berlin, denn die Zugezogenen hatten einen Tauschring gegründet, den es heute noch gibt. Sabines und Thomas’ gemeinsames Monatseinkommen lag etwas höher als tausend Euro. Sie wollten bald noch mehr Gemüse selbst anbauen und auch Kartoffeln, dann hätten sie noch mehr für sich und mehr zum Tauschen.

»Wir haben hier eine gute Überlebenschance«, sagte Thomas.

Die beiden waren nicht sorgenfrei, weder finanziell noch sonst wie, aber sie wirkten so, als hätten sie viel vom Leben.

Der Tauschring in der Uckermark war eine interessante Konstruktion für eine Welt, in der es wenig Geld gab. Ein Bekannter hatte neulich die Spülmaschine von Sabine und Thomas repariert. Ein Sohn der beiden bekam Gitarrenunterricht, dafür arbeiteten sie immer wieder auf den Höfen der anderen mit. Ohne den Tauschring könnten die Zugezogenen hier nicht so gut leben: Einer züchtete Gemüse und gab den anderen Gemüsesetzlinge, der andere half bei der Ernte, dafür kochten die Gartenbesitzer Essen für die Erntehelfer mit. Etwa fünfzig Zugereiste und einige Einheimische nahmen daran teil. Einige boten Honig und Brot an, andere Fleisch und Ziegenkäse, wieder andere Pullover aus Filz, selbstgehäkelte Socken, Saatgut, Apfelsaft, holzgeschnitzte Löffel und Messer, Obstwein, Keramik, Polnischunterricht, Reiturlaub, Lebensberatung, Massage, Einkaufsdienste, Shiatsu-Kurse, Bauarbeiten. So war ein vielseitiges Leben möglich für die, deren Fähigkeiten der Markt nicht mehr wertschätzte. Im Tauschring bestimmten nicht Angebot und Nachfrage den Preis, denn es gab keinen anonymen Markt, sondern eine Ökonomie, in der man sich in die Augen schaute, wenn man einen Tausch machte. Auch sonst war vieles anders: Der Wert der Dinge wurde nach der dafür eingesetzten Arbeitszeit bemessen. Zwölf Uckertaler hatten einen Gegenwert von einer Stunde Arbeitszeit. Ein Glas Tomatensoße kostete vier Uckertaler. Es war eine komplizierte Rechnung, die dem Preis zugrunde lag, schließlich stecken Samennachzucht, Aufzucht, Umpflanzarbeit, Kompostgewinnung, Ernte und Einkochzeit in der Tomatensoße, aber am Ende hatten die Tomatenbauern berechnet, dass sie für ein Glas eine Viertelstunde gearbeitet hatten. Preisunterschiede waren zugelassen und gewollt, von der Planwirtschaft hatten die meisten Siedler auch genug. Das Modell Uckertausch schien nicht nur für die Uckermark interessant.

Eigentlich hatte Thomas, der jetzt von der Arbeit zurückgekommen war, nicht aufs Land hinausgewollt. Er war ein Berliner. Thomas hatte einen roten Vollbart und rote Haare, die genauso schulterlang waren wie die seiner Frau und genau an derselben Stelle etwas links von der Kopfmitte gescheitelt. Er trug eine graue Arbeitshose und einen Fleecepullover, blieb still und wirkte, obwohl er freundlich war, als lege er keinen großen Wert auf meinen Besuch. Nicht, weil er misstrauisch war oder verschlossen, sondern weil er zu tun hatte. Er stand am Gasherd und briet etwas aus Karotten, neben dem Herd lag die aktuelle Zeit. Gleich würde die jüngste Tochter vom Gymnasium aus Löcknitz zurückkommen, der Schulbus fuhr eineinhalb Stunden.

Mit den Kindern war der Ausstieg nicht einfach gewesen: Die beiden älteren Töchter, die im Grundschulalter waren, weinten bitterlich, sie wollten zurück nach Berlin und verstanden nicht, was der Exodus sollte. Im Winter, wenn es um vier Uhr dunkel wurde und in der Uckermark oft minus zwanzig Grad kalt war, lasen die Eltern viel und gingen meist um sieben oder acht Uhr abends schlafen, und die Mädchen schrieben Briefe an ihre Freundinnen in Prenzlauer Berg. Draußen war das Land dunkel, und drinnen beheizten sie nur einen Raum. »Man kann davon auch mal die Schnauze voll haben«, sagte Thomas. »Dieses Ganz-klein-Werden vor dieser Gewalt da draußen ist wunderbar«, sagte Sabine, »aber unsere Kinder mussten vieles mitmachen dafür, dass ihre schrulligen Eltern ihre Träume verwirklichen.« Sie hatte noch heute manchmal ein schlechtes Gewissen.

Wer aus seinem alten Leben absprang, musste sich meist mit dem Vorwurf des Egoismus auseinandersetzen, für die eigene Freiheit verloren Beziehungen an Intensität oder andere Menschen an Freiheit. Auch Ernst Wiecherts Romanfigur ließ seinen Sohn in der Stadt zurück, und die nationalsozialistische Presse fand Wiecherts Buch Das einfache Leben daher »egoistisch«: eine Absage an die Volksgemeinschaft. Dafür versöhnten die schwülstigen Heimatbeschreibungen die völkische Zensur, sodass das Werk letztlich nicht verboten wurde.

Sabine schrieb mir noch eine Telefonnummer von einem befreundeten Paar auf: »Echte Aussteiger.« Sie lebten ganz in der Nähe und waren einverstanden, dass ich sie am folgenden Tag besuchte.

Abendessen im Deutschen Haus. Schweinebraten. Ein Geschäftsreisender aus Schleswig-Holstein saß neben mir, er aß Schweinesülze und erzählte von seiner Kindheit hier in Ostpommern, nur ein paar Kilometer weiter in einem Ort, der heute in Polen liegt. Am 30. Januar 1945, in einer sternklaren Eisnacht, flüchtete seine Mutter mit ihm und seinen drei Geschwistern, darunter war auch ein Säugling, auf dem Pferdewagen in Richtung Westen. Die Maschinengewehre der Russen waren schon zu hören, die Familie schlief die erste Nacht der Flucht im Wald, am nächsten Tag marschierten sie weiter, der Wagen brach im Haff ins Eis, die Russen holten sie ein, ein Soldat nahm die Mutter an die Hand und zog sie davon, sie nahm ihren fünfjährigen Sohn an die Hand und schleifte ihn zum eigenen Schutz mit, trotzdem schleppte der Rotarmist sie beide in die nächste Scheune und vergewaltigte die Frau, dem Kind gab er zur Beruhigung ein Stück trockenes Brot, und als die Front vorbeigezogen war, zogen Mutter und Kinder wieder auf den ostpommerschen Hof zurück, den sie bald in Polen zurücklassen mussten, doch sie durften weiterleben.

In dieser Gegend hatte es einen faden Beigeschmack, als Wohlstandskind vom einfachen Leben zu träumen. Ostelbien hatte ein paar tausend Jahre hartes Landleben hinter sich, Feudalismus, Naziterror, Vertreibung, Sozialismus, Landflucht. Eine Verklärung des verzichtvollen Lebens schien hier geschichtsvergessen, zynisch.

Feigen aus dem Garten, Botschaften aus dem Jenseits

Der Bus fuhr am nächsten Morgen nicht. Zwei auf dem Fahrplan kleingedruckte Ziffern, 2 und 5, bezeichneten die Wochentage Dienstag und Freitag; heute war die 4, der Donnerstag, und die 4 stand nicht auf dem Plan. So war es wohl in der Uckermark.

Ich wanderte mit meinem Rucksack und Ziehkoffer über die Landstraße bis in den nächsten Ort, Schmölln; es waren einige Kilometer. Nachts hatte es geregnet. Die Straßenränder waren feucht, die Mitte des Asphalts wieder trocken. Es roch wie im Tropenhaus. Selten fuhr ein Auto vorbei. Die Straße war dafür ein Nacktschnecken-Highway. Braune und schwarze Schnecken krochen regellos in alle Richtungen, große und kleine. Unter meinem Fuß knackte es. Ich war trotz aller Vorsicht auf eine gelbe Schnecke getreten. Sie hatte ein Haus gehabt, aber es brachte ihr keinen Vorteil.

Ich ging entlang der sogenannten Märkischen Eiszeitstraße und kam mir vor wie Wolfgang Büscher auf seiner Wanderung nach Moskau. Die sibirisch weiten Feuchtwiesen und die tropische Luft warfen die Frage auf, warum das Mammut, das auf einem Hinweisschild der Märkischen Eiszeitstraße abgebildet war, hier überhaupt ausgestorben war. Vielleicht hatten die Russen damit zu tun. Es war so schwül wie bei Homo Fabers Weg durch den Dschungel.

Auch in Schmölln fuhr der Bus nicht. Ich versuchte, ein Auto zu stoppen. Nach eineinhalb Stunden hielt ein silberner Passat und nahm mich mit in den Ort B. Dort holte mich Heike ab, deren echter Vorname ein anderer war. Eine Frau in den Vierzigern mit Lederhose, Strickpulli und Crocs, sie fuhr einen Jeep. Lang und verfilzt waren ihre Haarzöpfe, nur die Haare, die oben auf ihrem Kopf wuchsen, waren recht kurz geschoren. Vielleicht war sie eine echte Punkerin.

Wir fuhren einige Kilometer, die letzten hundert Meter ruckelte der Jeep über einen Feldweg mit Schlaglöchern voller Wasser.

Ihren Selbstversorgerhof nannten Heike und ihr Lebensgefährte Reiner Mey, der eigentlich auch anders hieß, »Paradies«. Der Garten Eden begann mit einem roten Klinkerhof, dahinter im Grünen standen verstreut mehrere Minihäuser, so klein wie die Trulli in Apulien. Eines war das Badehaus; es war aus Glas, und Pflanzentriebe sprossen darin. Die Badenden hatten aus der Wanne heraus einen freien Blick in den Garten, und die Pflanzen des Gartens hatten einen freien Blick auf die Badenden. Dann gab es ein Klohaus. Es war aus Holz und Ikea-blau gestrichen. Eine weitere Laube, es war Reiners Wohnhaus, ähnelte einem mit Teerpfannen gedeckten Iglu. Heikes Domizil war größer, es sah aus wie ein normales Gartenhäuschen. Ein dunkelgrünes Getreidefeld umgab das Paradies, so wie das Meer eine Insel. Hier auf der Insel lebten Molche, Kröten, Blindschleichen und tausend Schmetterlinge, während der Ozean nur eine Getreide-Monokultur und etwas Unkraut tolerierte. Auf dem Hof roch es nach Gräsern und Blüten, besonders stach die Brennnessel heraus. Wir setzten uns in den Wintergarten des Haupthauses, das als Stall, Lagerraum und als gemeinsames Wohnzimmer genutzt wurde. Es gab Rhabarberkuchen aus selbst angebautem Rhabarber, eigenen Eiern, eigener Ziegenmilch und fremdem Mehl, und ein nicht sehr streng erzogener Bernhardinerhund schleckte hechelnd an meiner Hand.

Nach dem Kaffeetrinken arbeitete Reiner, der fast zwanzig Jahre älter war als Heike, im Stall. Er hatte lange graue Locken wie einst Rudi Völler, aber ein hübscheres Gesicht. Sein Oberlippenbart war noch etwas blond. Reiner sprach mit rheinpfälzischem Akzent, sein Haar wallte, wenn er ging, wie das eines Propheten.

Er erinnerte mich äußerlich auch an August Engelhardt, von dem es eine Schwarzweißpostkarte gab, die ihn vor Palmen auf der Südseeinsel Kabakon zeigte. Auf dieser Insel im Bismarckarchipel lebte der Nürnberger Industriellensohn Engelhardt einige Jahre bis zum Ersten Weltkrieg als Verkünder einer vegetarischen Kokosnussreligion. Von der Insel aus verlegte er eine deutschsprachige Vegetarierzeitschrift, in der er seine Lehre multiplizierte: die reine Kokosnussdiät. Die Kokosnuss veredle den Menschen, glaubte Engelhardt, weil die Kokosnuss die Frucht sei, die am nächsten zur göttlichen Sonne wachse. Mit diesem Wahnsinn fand Engelhardt im Wahnsinn der vorletzten Jahrhundertwende tatsächlich einige Jünger, von denen die meisten auf Kabakon ihrem Wahnsinn schnell erlagen; auch der Apostel selbst musste sich nach Schwächeanfällen mehrmals in einem Hospital auf der Nachbarinsel gegen seinen Willen mit »nichtkokovorer« Kost wieder aufpäppeln lassen.

Reiner entrollte einen Ballen Stroh und trug das Stroh, Häufchen für Häufchen, mit den Händen in den Stall hinein. Er hielt nicht viel von Heugabeln, er meinte, sie würden diese Arbeit nicht erleichtern. Er erzählte mir von seinem großen Prozess: Er hatte gegen die Grundsteuer geklagt. Er war vor Gericht gezogen, weil diese Steuer ihn so empört hatte, obwohl er sie als Mieter selbst gar nicht zahlen musste. Es ging ihm um die Sache: Denn Gott, so seine Argumentation, sei Eigentümer allen Grundes, und von daher müsste wohl vielleicht Gott – den es laut der Präambel des Grundgesetzes, die ihn ausdrücklich nennt, ja gebe –, müsste also Gott die Grundsteuer an das Amt Uecker-Randow zahlen, niemals aber er, Reiner. Die Verfassungsklage wurde abgewiesen. Das erhöhte Reiners Groll auf das deutsche Rechtssystem. Immerhin spendeten ihm Sympathisanten einige Euro Prozesskostenhilfe. Ein Unbekannter, der von dem Fall gelesen hatte, überwies sogar fünfhundert Euro. Reiner erzählte das mit großem Ernst. Was ihn wohl antrieb?

Nachdem wir das Stroh in den Stall gebracht hatten, gingen wir mit den Hunden im Wald spazieren. Es war schöner Urwald, mal nicht so ein dünner Holzindustriewald. Die Hunde witterten des Öfteren Wild und wollten es jagen, aber sie konnten nicht, denn Reiner führte sie an langen Leinen.

»In jedem Menschen ist ein Gottesfunken, ein Gewissen«, sagte er, »und wenn man im Sinne dieser Stimme handelt, weiß man immer die richtigen Lösungen.« Etwa so: Einmal hatte er Zahnweh, der Zahn eiterte. Die innere Stimme sagte ihm: Trink Tee aus bestimmten Gartenkräutern. Er trank diesen Tee und hatte am nächsten Tag keine Schmerzen mehr.

Wir gingen weiter in den Wald hinein. Es war so ein Ernst-Bloch-Märchenwald: Aber wir gehen im Wald und fühlen, wir sind oder könnten sein, was der Wald träumt.

Plötzlich standen wir inmitten eines grün bewachsenen Kraters, der einen Durchmesser von etwa sechzig Metern hatte. Das sei ein alter slawischer Wall, sagte Reiner. Der stamme noch von den Ukranen. Das war mal etwas Echtes, nicht nur ein Museumsdorf.

Im Winter hatte Benno, der Bernhardinerhund, in diesem Waldstück ein Reh gejagt. Er fasste es und biss es tot. Das Reh wurde eingefroren und später an die Hunde verfüttert. Es gehöre zur artgerechten Tierhaltung, dass Jagdhunde auch jagen dürften, sagte Reiner.

Er war in letzter Zeit viel mit Gott beschäftigt. Er übersetzte alte Texte, die er für Offenbarungen hielt, in ein zeitgemäßes Deutsch und stellte sie dann ins Internet. Er hatte vom Atheismus zur christlichen Theosophie gefunden, zu Büchern wie Dreißig Jahre unter den Toten von Emanuel Swedenborg. Der hatte behauptet, im Jenseits gewesen zu sein, und berichtete in dem Buch darüber. Reiners Transskription zufolge widerrief Luther seine Rechtfertigungslehre im Jenseits, jene Rechtfertigungslehre, die auf die große Frage, wie der in Schuld verstrickte Mensch sein Seelenheil wiederfinden konnte, mit der Formel »sola fide« geantwortet hatte, durch den Glauben an Christus und Gott allein. Das gute Tun des Menschen sei nicht ursächlich für die Vergebung, sondern die Gnade Gottes. Der Mensch könne Gottes Vergebung nicht durch gute Werke verdienen, sondern die Vergebung gehe all unserem Tun voraus. Katholiken glauben hingegen, die Sünde könne von Gott trennen. Und sie haben wohl Recht, wie Emanuel Swedenborg bereits gegen 1700 und Reiner Mey seit einiger Zeit wussten.

Reiner sagte, als wir weiter durch den Wald spazierten, die Hunde immer kecker an ihren Leinen zerrten und sein Haar im Abendwind wehte wie die Flagge in der Hand einer Freiheitskämpferin, auch ein anderer Prophet sei im Jenseits zum Christentum konvertiert, gegen 1500. Und mir kam es recht merkwürdig vor, dass jener Prophet nach seinem Tod erst so viele Jahrhunderte darüber nachgedacht hatte.

Als uns die Hunde aus dem Wald wieder zurück in Richtung Paradies zogen, sagte Reiner, die katholische Kirche sei mit dem Teufel in einem engen Bunde, sie sei der eigentliche Antichrist, denn sie predige Armut und Demut und lebe selbst in Prunk und Hochmut. Er war also kein Lutheraner, auch kein Katholik, sondern wohl ein autonomer Christ. Es schien schwer möglich zu sein, in wenigen Stunden die Reiner’sche Theologie zu verstehen. Vielleicht war sie auch nicht zu verstehen, weil sie verrückt war. Aber so schnell zu sagen, irgendwas sei verrückt, war wiederum eine sehr bürgerliche und bequeme Lösung, auf diesen Reflex wollte ich auf meiner Reise verzichten. Dass die selbsternannten Vernünftigen denen nicht mehr ernsthaft zuhören, die sie als verrückt bezeichnen, kann beiden nicht weiterhelfen und der Wahrheit nicht dienen. Michel Foucault hat das sehr gut beschrieben: wie die Brücke, die von der Vernunft zum Wahnsinn führte und zurück, in den vergangenen Jahrhunderten Stein für Stein eingestürzt ist. Heute lachen die Vernünftigen etwas zu laut über die Randständigen. Für Foucault ist das ein Zeichen dafür, dass die Vernünftigen selbst bereits Wahnsinnige sind. Wahnsinn und Vernunft könnten einander in Frage stellen und nur so einander retten, sie hingen untrennbar miteinander zusammen. Wer die Unvernunft des Menschen negiere, mache letztlich nie von der eigenen Vernunft Gebrauch. Foucault sah das Delirium als Dienerin der Vernunft. Die Ironie wäre dann nur ein Mittel, um sich selbst als Beobachter zu positionieren und sich aus der Gefahrenzone zu bringen.

Neben der Propheterie war Reiner, der früher ein strenggläubiger Atheist gewesen war, gelegentlich mit Gerichtsprozessen beschäftigt. »Ich habe nicht Jura studiert, aber ich kriege aufgezeigt, was ich lesen soll«, sagte er. Er hörte auf seine innere Stimme, folgte den Anweisungen und vertrat sich mit dem so angeeigneten Wissen selbst vor Gericht. Früher hatte er auch Buchkataloge durchgeblättert und ein Pendel über die Seiten gehalten. Er befragte das Pendel, welches Buch er bestellen sollte, um die Zusammenhänge zwischen Gott und der Welt zu verstehen, und das Pendel schlug an den entsprechenden Katalogstellen aus.

Das war vor ein paar Jahren gewesen. Inzwischen lehnte er spiritistische Praktiken wie das Gläserrücken oder auch den Gebrauch des Pendels ab. Gott wohne in jedem Wesen, und wenn man etwas wissen wolle, solle man sich direkt an ihn wenden und nicht an irgendwelche Geistwesen, »deren Motive und Beweggründe« dafür, ein Pendel ausschlagen zu lassen, man nicht kenne.

Reiner war aber weiterhin versessen darauf, sich mit Autoritäten anzulegen. Eine erste in seinem Leben war seine Mutter, die unter Tränen zusammengebrochen war, als er erklärt hatte, den Kriegsdienst verweigern zu wollen. Sie war Bäckerin und fürchtete, ihr Geschäft schließen zu müssen, wenn sich die Sache im Ort herumspreche. Reiners Haar war schon damals so lang gewesen wie heute. »Geh doch rüber«, sagten die Bürgerlichen in der Bundesrepublik seinerzeit gern zu Langhaarigen wie ihm. Nun war er drüben.

Nach dem Abitur studierte Reiner Mey Grafikdesign und fertigte später gern grafische Arbeiten für die alternative Szene an, etwa gegen die militärischen Tiefflüge. Einmal habe er auch Werbung für einen Pharmakonzern gemacht, doch er habe Gewissensbisse bekommen und das nie wieder getan.

Hier im Paradies war Reiner der V-Mann zu Gott. Heike hingegen arbeitete mehr im Garten. Für das Überleben auf dem Selbstversorgerhof war das auch die wichtigere Aufgabe. Heike hatte dieses Leben aus einem hedonistischen Motiv gewählt; das harte Landleben tat ihr gut. Reiner war eher politisch und soziologisch sendungsbewusst, und von hier konnte er störungsfrei von oben empfangen und nach draußen senden.

Bereits seit vierzehn Jahren lebten die beiden in dieser Abgeschiedenheit. Sie mussten kaum mehr etwas aus dem Supermarkt kaufen und brauchten fast kein Geld. Nur fünfzig Euro zahlten sie monatlich als Miete für den Hof, die nahmen sie von Reiners Ersparnissen. Dem Vermieter war es recht, dass das Gebäude überhaupt bewohnt war, und die Mieter hatten auch schon viel renoviert. Sie hatten keinen Pachtvertrag, sie und der Vermieter vertrauten einander. Siebzig Euro betrug die monatliche Stromrechnung, die Tiefkühltruhe war eine teure Mitbewohnerin, auf die wollten die beiden aber nicht verzichten. Rund zwanzig Euro im Monat kamen fürs Holz hinzu, mit dem sie fünf Räume nach Bedarf beheizten: Bad, Gewächshaus, Gemeinschaftsraum, die beiden Wohnhäuschen. Das Auto war am geldhungrigsten, fünfhundert Euro im Jahr plus Spritkosten. Etwa jeden zweiten Tag fuhren sie irgendwohin, zum Einkaufen, Tauschen, zum Volleyballtraining mit anderen Aussteigern in einer alten DDR-Sporthalle.

Vom Arbeitslosengeld hätten sie besser leben können, aber das wollten sie nicht. Reiners Geld reichte noch aus, er hatte vor dem Einzug ins Paradies sein Haus verkauft. Das Geld, sagte er, liege unverzinst auf dem Sparkonto. Denn mit Zinsen wolle er nichts zu tun haben. Darüber nachgedacht, was werde, wenn sein Erspartes aufgebraucht sei, habe er nicht. Denn er habe Gottvertrauen: »Es wird immer wieder einen Weg geben, wie wir zu Geld kommen.« Er war so entspannt wie seine Jogginghose.

Reiner glaubte an eine Verkündung Gottes, die um 1900 an einen Herrn Franz Schumi erfolgt sein sollte. Demnach werde das Geld ganz von der Erde verschwinden und die nahe Zukunft der Weltwirtschaft in Tauschökonomien liegen.

Das Wirtschaften als Selbstversorger war jedenfalls eine Kunst, und hörte man Heike zu, wie sie von ihren Kreisläufen erzählte, bekam Nachhaltigkeit, das schwammigste Wort der deutschen Sprache, plötzlich harte Konturen. Heike führte durch ihren Garten, und sie erzählte: »Wir trennen die Pisse und die Kacke, und Männer pissen sowieso dahin, wo sie wollen.« Den Urin aus den Klos verdünnten sie und gaben ihn dem Kompost bei, und der Kot kam im Eimer zu den Hühnern, ja, zu den Hühnern, die ihn fraßen, ja, die ihn fraßen.

Das Spülwasser aus der Küche leiteten Heike und Reiner in einen Klärteich. Dort bauten Wasserpflanzen die Seifenstoffe ab, und der Wasserstand des Teichs, in dem Kröten und krötenfressende Nattern lebten – natürlich gab es Schlangen im Paradies –, blieb wegen der Verdunstung in etwa konstant. Die Abwasserklärung müsse in unserer Gesellschaft zukünftig anders gehen, sagte Heike: »Dass man zweihundert Milliliter Pisse mit zwei Litern Wasser mischt und etwas Kacke mit fünf Litern, um sie dann zu trennen, das kann so nicht weitergehen.« Sie erklärte, in den Kläranlagen der anderen Welt müsse sehr viel Energie aufgewendet werden, um das Feste wieder vom Flüssigen zu trennen. Weil sie die Energie nicht aufwenden wollten, richteten Reiner und Heike in ihrem kleinen Wasserkreislauf Komposttoiletten ein, parallel dazu ein Pissoir. Den Urin daraus schütteten sie mit Wasser verdünnt als Dünger auf die Felder, um den Kreislauf zu schließen.

Neben Hühnern gab es Ziegen. Die lieferten bis zur Weihnachtszeit Milch, sie versorgten Heike und Reiner ein Dreivierteljahr, nur von Januar bis April, wenn das nächste Zicklein gekommen war, gab es eben keine Milch für die Menschen. Manchmal schlachteten die beiden auch ein Tier. Und zwar nur dann, wenn es zu viele Tiere gab, die sich nicht mehr gemeinsam halten ließen, wenn ein Ziegenbock zu viel da war oder wenn sich zwei Hähne ständig stritten. Veganer, fand Reiner, sähen sehr ungesund aus.

Das Trink- und Nutzwasser kam aus einem eigenen Brunnen. Reiner hatte die Qualität des Wassers mit seinem Pendel geprüft, das Ergebnis war positiv. Sein Pendel hatte ihm zuvor auch die Wasserader für den Brunnen gezeigt. Da der Hof keinen Fließwasseranschluss an das öffentliche Netz hatte, blieb den beiden aber sowieso nur der Brunnen. Arbeit gab es das ganze Jahr lang, auch im Winter. Bis in den Dezember war viel zu tun, die Ernte dauerte bis in den November, es folgte die Verarbeitung des Saatguts, wochenlang. Die Arbeitssaison begann Mitte Februar wieder mit der Anzucht der Auberginen und des Winterporrees.

Heike hatte auch schon eigene Seifen hergestellt, aus Kastanien, die Saponin enthielten, einen Seifenstoff. Damit wusch sie ebenso die Wäsche. Sie konnte fast alles produzieren, was die beiden zum Leben benötigen, dazu fehlte ihr allein die Zeit. Aber die Information, dass man alles Lebensnotwendige aus der Natur herstellen konnte – ohne Chemiekonzerne und Atomkraftwerke –, wirkte recht beruhigend. Heike konzentrierte sich auf die Lebensmittelproduktion. Die Kartoffelvorräte reichten das ganze Jahr, bis in den Januar gab es frische Paprika, und die Tiefkühltruhe hielt das übrige Gemüse im Winter frisch. Salatkaufen finde sie inzwischen komisch, da drehe sich ihr »das Herz« um, sagte Heike. Von einigen Gemüse- und Obstsorten ernteten die beiden viel mehr, als sie essen konnten: Erd-, Johannisbeeren, Gurken, Tomaten. Leute aus dem Ort konnten davon bekommen und spendeten dafür etwas, wenn sie wollten. »Festpreise sind ungerecht, weil der eine tausend Euro in der Stunde verdient und der andere von Hartz IV lebt«, sagte Heike. Deswegen Spenden, und deswegen waren sie auch im Uckertauschring sehr aktiv. Sie boten etwa Gemüsepflanzen oder Marmelade an.

Zum Abendessen gab es Brezeln, selbstgemachten Ziegenkäse mit und ohne Knoblauch, und Reiner trank eine Halbliterflasche Oettinger Export. Er erzählte, er sei seit fünfzehn Jahren nicht mehr beim Arzt gewesen. Er war, wie Heike, nicht kranken- und rentenversichert. Das entsprach auch nicht ihrem Bild davon, was in Zukunft wichtig sei. Reiner sah die nahe Zukunft der Weltwirtschaft in Tauschökonomien, im Zeitalter nach dem Erdöl. In dieser Welt gab es wenige Autos, und die fuhren ohne Benzin, es gab auch keine Sozialhilfe mehr, keine Entwicklungshilfe, keine Arbeitslosen, keine Staaten, sondern Gemeinschaften, so wie im Utopia der französischen Pamphletisten, die mit der Flugschrift »Der kommende Aufstand« derzeit viele Anhänger für solch ein Reich der Kommunen fanden, eine Zukunft »in strukturlosem Beisammensein und lokalem Basteln« (Jürgen Kaube).

»Interessanterweise gibt es nirgendwo einen Hinweis darauf, dass Gott Staaten wollte«, fuhr Reiner fort. Jede Gemeinde müsste den eigenen Müll selbst entsorgen, überhaupt übernahm jeder Mensch und jede Gemeinschaft die Verantwortung für sein und ihr Handeln. »In der Bibel kann man nachlesen, dass die Kinder Gottes in kleinen Gemeinden lebten und keinen Herrscher über sich hatten. Lediglich ein Richter, ein Mensch, der auf die Stimme Gottes hörte und so die göttlichen Gebote achtete und in der Gemeinschaft durchsetzte, war für das Recht verantwortlich.« Nach der angeblichen Verkündung Gottes an Franz Schumi, an die Reiner glaubte, werde es künftig keine Staaten mehr geben, sondern kleine Gemeinschaften, in der alle notwendigen Lebensmittel angebaut und hergestellt werden.

Diese Utopie traf wunde Punkte des Kapitalismus, den mancher als System der organisierten Verantwortungslosigkeit ansieht, weil darin Macht und Verantwortung zu oft in keinem Zusammenhang mehr stehen. Im Tauschring erhielten die Leute größere Wertschätzung für ihre Arbeit als durch reinen Geldlohn.

Es war bemerkenswert, wie gastfreundlich und offen die beiden waren. Man muss sich den unangekündigten Besuch eines Fremden in einem deutschen Reihensiedlungshaus vorstellen: »Guten Tag, ich möchte ein Buch über das Leben deutscher Reihenhausbewohner schreiben und ab morgen ein paar Tage bei euch zu Gast sein.«