Vom Glück und Unglück der Familie - Willi Butollo - E-Book

Vom Glück und Unglück der Familie E-Book

Willi Butollo

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Beschreibung

Über die Wirkung von Familiengeheimnissen: Eltern und Kinder, die einander nie kennengelernt haben, leiden, ohne zu wissen warum. Willi Butollo veranschaulicht anhand von Beispielen die komplizierten Beziehungen, die in einer Familie z.B. aufgrund einer Trennung oder Adoption entstehen, und wie verschwiegene Verwandtschaftsverhältnisse trotzdem wirken – auf das in Unwissenheit aufwachsende Kind, aber auch auf den verheimlichten Elternteil. Es geht hierbei nicht um Wertung, sondern um die Darstellung der psychischen Belastung und der Folgen für die Persönlichkeitsentwicklung. Aber natürlich auch um die Aufarbeitung und Lösung komplexer Familienverhältnisse. Ein systemischer Blick auf Familien, ihre Tabus und die Entwicklung des Selbst

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Seitenzahl: 355

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www.herbig-verlag.de

© für die Originalausgabe und das eBook: 2015 F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Komplett überarbeitete Neuauflage der 1993 erschienenen Ausgabe »Die Suche nach dem verlorenen Sohn«, © Piper Verlag GmbH, München

Umschlaggestaltung: Wolfgang Heinzel

Umschlagmotiv: grafikcafé Jürgen Gawron

Satz: EDV-Fotzosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering

ISBN 978-3-7766-8221-2

Inhalt

Vorwort

Kindliches Sehnen in zwiefacher Welt

Ein Ruf – Walter 1

Vaterbild statt Vater

Altlasten durch unerledigte Bindungen

Zwei Gesichter einer Familie

Die Suche – Walter 2

Auch Stiefväter haben Gefühle

Bist du mein Vater, Papa?

Ein Wahrheits-Terrorist?

Der Endspurt – Walter 3

Nachwort

Klarheit im eigenen Leben finden

Vorwort

Kindliches Sehnen in zwiefacher Welt

Alle nannten sie Moica, nicht nur die Windischen, auch die Deutschen, und nur selten, wenn zum Beispiel Verwandte aus dem rein deutschen Norden das Landes zu Besuch kamen, wurde sie Mitzi »gerufen«. Sie lebte auf einem der leicht nach Süden abfallenden Hänge als ledige Tochter mit ihrer Mutter, ihrer Tante und dem alten Großvater. Sie hatten einen kleinen Bauernhof im damals noch klar slowenischen Landstrich, zwischen dem See und dem hinter einem Moränenhügel in weitem Schwung sich erstreckenden Tal. Die Anhöhe, auf der das Haus stand, erlaubte einen freien Blick über die zum Strom hin sanft abfallenden Hänge, direkt auf das am anderen Ende des Tales sich auftürmende schroffe Felsmassiv der südlichen Kalkalpen.

Das zum Leben Notwendige erhielten sie aus der Bearbeitung einiger weniger Äcker. Drei Kühe, Schweine, Hasen, Hühner, immer Katzen, nie ein Hund, und ein altes, bedächtig jede Bewegung setzendes, schier unendlich geduldiges Zugpferd bildeten den Viehbestand.

Das Gebiet, in dem seit über 1400 Jahren Slawen leben, war erst von West-, später von Südslawen im Zuge des Zerfalls des Römischen Reiches bevölkert worden. Über Jahrhunderte wohnte die slawische und die deutschsprachige Bevölkerung friedlich zusammen, galt als gemischtsprachig; alle, Deutsche wie Windische, sprachen einen durch seinen eigenartigen »Singsang« geprägten slowenischen Dialekt, das Windische, das auch der Volksgruppe den Namen gab.

Spätestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts beendeten nationalistische Strömungen das friedliche Zusammenleben der Völker in diesem Gebiet, in dem romanische, slawische und deutsche Kulturkreise einander berühren.

So war es mehr als verwunderlich, dass Moicas deutschstämmige Mutter, damals, als sie jung war, sich in einen Windischen verliebte. Wie das überhaupt möglich war, lässt sich nicht mehr so genau rekonstruieren, denn nach dem 1. Weltkrieg hatte sich tödliche Feindschaft in diesem Landstrich ausgebreitet, waren Verbindungen über die Grenzen der Volksgruppen hinweg längst ausgeschlossen. Und das, obwohl die Menschen dort rein genetisch ziemlich identisch sind, da sie sich über Jahrhunderte hinweg gemischt hatten.

Das Liebespaar hätte gerne geheiratet, doch der Vater der Mutter hat, so wurde berichtet, die Heirat verboten. Schließlich war er in das Land gekommen, um die deutschsprachige Präsenz zu stärken, und deshalb durfte so etwas nicht vorkommen. In der damaligen Zeit und auch in dem Dorf wäre es undenkbar gewesen, dass ein solches Verbot seitens der Liebenden gebrochen worden wäre.

Nationalistische Ziele und ethnische Loyalität wurden damals als Prinzipien verehrt, die das Überleben aller sichern sollten.

Als sichtbares Ergebnis der Liebesgeschichte kam jedoch ein Mädchen zur Welt, das ohne Vater aufwachsen musste. Diese Geschichte einer verbotenen Liebe ist eine von vielen damals und bis heute überall auf der Welt. Leiden wie die der beiden verhinderten Liebenden wurden tausendfach besungen, beschrieben, in Kunstwerken dargestellt. Erhält aber auch das Schicksal des Kindes und seine verhinderte Beziehung zum ausgeschlossenen Elternteil eine ähnliche Beachtung? Wer ahnt wirklich, was in dem Kind an Sehnsucht und Traurigkeit zu leben war?

Später, als erwachsene Frau, hat sie den in den Ferien auf dem Bauernhof lebenden Kindern in den Abendstunden, wenn sie die drei Kühe von der Weide zurückführte, von dieser Sehnsucht berichtet:

»So weit ich mich in meiner Kindheit zurückerinnern kann, war ich innerlich damit beschäftigt, dass ich keinen Vater hatte. Obwohl, es gab ja einen, aber der war nicht da, nicht bei uns, ein abwesender Vater, über den zu Hause nicht gesprochen werden durfte. Heute scheint mir, dass der Kummer, den dieser Umstand für mich brachte, ständig um mich war. Wenn wir dort drüben über die Kuppe kommen, kann ich euch zeigen, wo er gewohnt hat; man sieht es von dort.«

»Als Kind«, sagte sie, »bin ich immer wieder auf diese kleine Erhebung heraufgeklommen, um hinüberzusehen. Ich wollte es einfach nicht wahrhaben, dass ich ihn und er mich nicht besuchen darf: Dort ist mein Vater und wir können doch nicht zusammen sein! Der Großvater hat mir und meiner Mutter gedroht, er würde uns »hinausschmeißen«, wenn wir uns nicht an sein Verbot hielten, diesem Mann jemals zu begegnen.

Meine Mutter hat mir nichts von der Beziehung zu meinem Vater erzählt, meine Tante aber war da ein bisschen barmherziger. So erzählte sie mir zum Beispiel, dass mein Vater viele Versuche unternommen hat, uns doch noch zu einer Familie werden zu lassen.

Mein Großvater hat aber aus Gründen, über die er zu niemandem gesprochen hat, alle diesbezüglichen Versuche ganz entschieden abgelehnt. Er drohte, meinen Vater umzubringen, wenn er nicht mit seinen Versuchen aufhören würde, die Ruhe des Hauses zu stören. Da, von dieser Stelle, wenn ihr in Richtung des auf der einen Seite schroff abfallenden Berges schaut, hinter dem Waldschopf da drüben, dort lag sein Haus. Niemand kann sich wohl vorstellen, wie sehr ich als kleines Mädchen gewünscht und in jedem Nachtgebet darum gebeten habe, endlich mit meinem Vater zusammen sein zu können. Leider hat mich meine Mutter dabei nicht unterstützt. Nur einmal, als wir ein Sommerfest besuchten, habe ich ihn von Weitem gesehen. Meine Mutter zeigte mir, wo er saß, doch wir waren beide viel zu aufgeregt, um hinzugehen und ihn zu begrüßen.

Später habe ich dann erfahren, dass er einige Jahre nach meiner Geburt eine andere Frau heiratete, Vater einen Sohnes wurde, bald nach dem Krieg ist er gestorben.

Und Gott, wenn es den denn gibt, hat der mich unterstützt? Er scheint sich um meine Bitten auch nicht gekümmert zu haben. Als Kind führte ich das darauf zurück, dass ich eben ein »falsches« Kind war, unehelich, quasi vaterlos, über dessen Entstehung man meinte besser nicht zu sprechen.«

Dieser Schmerz, gemischt mit dem Gefühl der Sehnsucht nach jener Ganzheit, die durch die Trennung vom Vater gestört war, hat ihre ganze Kindheit durchzogen, und manchmal spürte sie es auch als Erwachsene noch. Als Kind hatte sie sich sehr konkret mit dem Gedanken beschäftigt, allein zum Vater zu gehen. Einmal war sie sogar schon unterwegs gewesen. Auf halber Strecke wurde jedoch ihre Angst so stark, dass sie wieder umkehrte. Ich weiß nicht genau, was der Inhalt dieser Angst war. Sicherlich hatte ich Angst, als aufdringlicher »Fratz« wieder weggeschickt zu werden. Vielleicht war es aber auch nur die Angst vor der Intensität des so lange herbeigesehnten Kontaktes.

Ob sie Fantasien darüber hatte, fragte eines der Kinder, ob auch er an sie denken musste?

»Ich weiß es nicht, manchmal glaubte ich ziemlich sicher zu sein, dass auch er sich nach mir gesehnt hat. Ein Bekannter hat mir davon berichtet. So traurig das ist, macht mich diese Vorstellung doch irgendwie glücklich. Meine Sehnsucht, meine vage Liebe hatte eine Entsprechung, auch wenn diese Gefühle nie zur Erfüllung kamen, denn wir konnten sie einander ja nicht direkt zum Ausdruck bringen. Das gibt mir einen seltsamen Frieden.

Manchmal aber wurde mein kindlicher Frieden damals gestört. Denn ich fragte mich, warum kommt er nicht einfach her, warum sucht er nicht nach mir. Was ist an mir falsch, so dachte ich, dass er mich nicht für alle Welt erkennbar sein Kind sein lässt. An diesen Tagen siegte die Traurigkeit in mir wieder. Sie abzuschütteln fiel schwer, manchmal gelang es für kurze Zeit, wie in einem Aufruhr. Dann war ich wütend auf alle, den Großvater, den Vater, die Mutter und den Pfarrer, der ein gefürchteter slowenischer Patriot war und mich als Schulkind sonntags in der Kirche vor allen gedemütigt hat.«

Die Kinder liebten Moica, denn sie hatte ihnen ihre schmerzliche Geschichte anvertraut, ihnen zugemutet sie zu erfahren und zu »tragen«. Wie wohltuend unterschied sie sich damit von vielen Erwachsenen jener Zeit, die den Kindern gegenüber eine Haltung des Verleugnens, des Verniedlichens harter Fakten des Lebens einnahmen: Kinder, so meinte man, können nicht belastet werden, sollen nicht verstehen. Als wären Kinder Trottel!

Die Kinder, die bei ihr ihre Ferien verbrachten, lernten, dass das Gegenteil stimmt: Kinder spüren meist noch besser als Erwachsene eine gefühlsmäßige Wirklichkeit. Eine Wirklichkeit, die von den Erwachsenen durch ihre Sprache geleugnet, verdreht und schließlich scheinbar nicht-existent gemacht wird. Darin liegt, oft in der besten Absicht, letztlich eine subtile Form von Missbrauch von Kindern. Anstatt sie an die Wahrheiten ihrer Existenz heranzuführen, werden sie klein, unmündig und klischeehaft gehalten.

Die Schönheit, die im Benennen gefühlsmäßig auch schwieriger Ereignisse und Beziehungen durch eine angemessene Sprache liegt, wird verwirkt, zerstört durch eine vermeintlich kindgemäße Form des Lügens. Und ist es nicht schwerer zu ertragen, wenn Kinder aus Gewohnheit, aus Bequemlichkeit oder auch aus Angst, sie könnten die Wahrheit nicht verarbeiten, systematisch belogen werden? Natürlich gibt es dabei Grenzen, die Wahrheit darf nicht zum Instrument des Terrors werden, sie muss den Kräften des Kindes gemäß »verpackt« und zur rechten Zeit eröffnet werden. Gemeint ist hier die Verleugnung gegenüber dem Kind zum Schutze des Erwachsenen oder einfach aus Bequemlichkeit.

Man ist nun geneigt anzunehmen, solche Erfahrungen, wie sie das Kind zwischen den Volksgruppen gemacht hatte, würden Menschen verzehren, ihren Glauben an sich und die Welt ruinieren, sie irgendwie verkommen lassen. Mag sein, dass es vielen auch so geht; es gibt jedoch immer wieder Beispiele, dass gerade das Gegenteil eintritt.

Kaum war das hier beschriebene Mädchen der Kindheit entwachsen, wurde es zu einer kleinen, drahtigen, stets auch körperlich schwer arbeitenden Frau, die zugleich aber eine unglaubliche Schönheit entfaltete, mit deutlich slawischen Zügen. Sie war die eigentliche Kraft, die den Hof zusammenhielt. Das Sehnsüchtige ihres Wesens aber, es war auch später noch ständig präsent: Ist es die ungestillte Sehnsucht nach dem verlorenen Vater, die ihre Liebe aufrechterhielt? War es die Sehnsucht nach der Verbindung verfeindeter Völker, die in ihrer Seele, in ihrem Körper gleichsam aufeinanderprallten? Und deren Verschiedenheit von diesem drahtigen und doch zarten Wesen ge- und ertragen werden musste?

Vor allem aber: War dieses ständige Zehren das Feuer, das denen, die es überstehen, ein besonders geläutertes Wesen beschert? Denn sie, die Slawisches, Romanisches und Deutsches in sich zu vereinen gezwungen war, hat das in einer einmalig feinen Weise gelöst. Sehr praktisch war sie, dabei feinfühlig, kraftvoll und sehr klar in ihren zwischenmenschlichen Wahrnehmungen. Sicherlich war sie auch später von der harten Arbeit geschunden, aber die Schönheit ihres Wesens leuchtete überall durch. Betrat sie den Raum, begann die Härte zu schmelzen. Die Trostlosigkeit schier unüberwindlicher Lebensprobleme löste sich in ihrer Gegenwart, und selbst das hartnäckige Heimweh der zwangsweise in die Ferien verschickten Kinder verschwand im Kontakt mit ihr.

Aus der Fülle von erstaunlichen Eigenschaften stach jedoch eine hervor, die alle anderen ganz wesentlich überragte, ihre Fähigkeit zum Kontakt. Ein Großteil ihrer Familie, wie die meisten anderen Familien jener Zeit auch, war damit beschäftigt, Tabus zu stapeln und sie möglichst nicht mehr zu berühren. Sie hingegen war in einer Weise in der Lage, auch sensitivste Bereiche kon-takt-voll zu berühren, ohne zu überrumpeln, gemeinsam zu bereden und zu betrachten, nach allen Seiten hin auszuloten und die dazugehörenden Gefühle Wirklichkeit werden zu lassen. Sie war eben da.

Ihre Fähigkeit, in die Gegenwart buchstäblich einzutauchen und andere einzuladen, es mit ihr zu wagen, in dieses Gegenüber-Warten-Können, das vermittelte Momente von Berührung, von Geborgenheit auch angesichts katastrophal erscheinender Probleme. Momente, die Balsam für die geschundene, vor allem aber die sich selbst schindende Seele sind.

In solchen Augenblicken des Kontaktes gibt es kein Oben und Unten, kein Gefälle zwischen Kind und Erwachsenem. In diesen Augenblicken berührt ein Wesen sein Gegenüber, Existenz berührt Existenz. Die Beziehung ist eben, gegenwärtig, keiner hat einen Vorsprung, alle sitzen in einem Boot.

Mag dieser Zustand ursprünglich auch konkreten Personen gelten, der Mutter, dem Vater, den Geschwistern, der Heimat, später den Kindern, so liegt in ihm doch stets das Potenzial, in diesem Erinnern des stärkenden Kontaktes sich selbst zu erden. Damit ist die Fähigkeit gemeint, bei sich zu sein, sich anzunehmen. Die Bewegung, ausgehend von der Sehnsucht nach seelischer Ganzheit hin zu einer das fragile Selbst annehmenden Person, ist heilsam. Auch wenn sie zeit unseres Lebens – wenn überhaupt – dann wahrscheinlich nur für Augenblicke befriedigt werden kann: Gegenwart ist zwar nicht immer nur schön, aber kommt dem nahe, was man als lebendig bezeichnen mag.

Die Fähigkeit, angesichts schier unvereinbarer Gegensätze die Spannung zu ertragen, die sich aus der Sehnsucht nach dem Ganzen speist, ohne daran zu zerschellen, wird vielleicht zum wichtigsten Vehikel der seelischen Entwicklung. Mag sein, dass das Leid der getrennten Liebenden Menschen von der Korrumpierung durch den Alltag reinigen kann. Mag sein, dass die dem Leid entspringende Sehnsucht auch zum Vehikel für eine Annäherung an das wird, was wir Menschen als Wirklichkeit erfahren.

Das ehemalige Mädchen zwischen den verfeindeten Völkern hat sehr spät geheiratet, selbst eine Tochter geboren und wurde dann später vielfache und glückliche Großmutter. Die Fähigkeit zur Gegenwärtigkeit aber hat sie sich bis ins hohe Alter bewahrt, verbunden mit einer Schlichtheit und zugleich Heiterkeit des Wesens.

Wahrscheinlich hatten aber auch nicht so viele Kinder so eine Last zu tragen wie sie, jene unstillbare und dennoch nicht verdrängte oder verleugnete Sehnsucht. Ihre Spaltung war nicht nur die zwischen Vater und Kind bzw. Vater- und Mutterfamilie, es war auch die zwischen dereinst friedlich vereinten Volksgruppen, die im Jahrhundert des explodierenden Nationalismus zu Todfeinden wurden. Und wer kann schon von sich sagen, dass er die dort aufeinanderstoßenden drei gewaltigen Kulturkreise, den slawischen, den romanischen und den germanischen, ohne Weiteres in seiner Brust vereinen, ja integrieren kann?

Ob grundsätzlich jede verhinderte Liebesbeziehung zu so einer Feuertaufe werden kann, sei hier offengelassen. Trennung zwischen leiblichen Eltern und ihren Kindern ist möglicherweise nur ein Spezialfall eines allgemeineren Prinzips.

In einer Zeit, in der die Trennung von Kindern und zumindest einem Teil ihrer Eltern zur Regel zu werden scheint, verdient diese Frage besondere Berücksichtigung. Die lange Zeit bedauerliche Rolle der Väter in Scheidungsverfahren oder bei Vaterschaft ohne vorherige Eheschließung ist heutzutage deutlich besser geworden. Ohne die erheblichen Schwierigkeiten und Leiden der Mütter schmälern oder nicht würdigen zu wollen, scheint es jedoch noch immer so zu sein, dass die Pflege und der öffentliche Respekt der Vater-Kind-Beziehung zwar von Rechts wegen verbessert worden ist, in der Praxis aber nach wie vor allzu leicht unter die Räder kommt. Nun klagen beide Seiten, Väter wie Mütter, über unzumutbar erscheinende Anmaßungen des jeweils anderen Elternteils.

Dennoch, eine Trennung trifft immer alle Involvierten. Es ist schließlich kein Zufall, dass die Suizidrate frisch geschiedener Eltern unglaublich hoch liegt, über den Werten der meisten anderen Vergleichsgruppen. Vielleicht kann die Schilderung der Schicksale in diesem Buch dazu beitragen, eine erhöhte Sensibilisierung für den bislang verdrängend behandelten Bereich behinderter Eltern-Kind-Beziehungen zu bewirken. Und vielleicht können die Beispiele, die teilweise aus Begegnungen im Rahmen psychotherapeutischer Arbeit und teilweise aus anderen Lebensbereichen kommen, Anregungen dafür liefern, wie scheinbar hoffnungslos zerrüttete und im Hass verstrickte Menschen, die dereinst Liebende waren, schließlich neue Formen des Dialogs finden können.

Denn Dialog ist möglich, auch wenn die Sichtweisen dessen, was geschehen ist und geschehen soll, verschiedenbleiben. Dialog setzt nicht Gleichheit und Gleichschritt, sondern grundsätzliche Akzeptanz der anderen Person und damit der zu den jeweils eigenen in Widerspruch stehenden Bedürfnisse des Dialogpartners voraus – eine Art von Respekt für die Menschenwürde. Denn auch der Hass enttäuschter, einst einander Liebender ist grundsätzlich dialogfähig. Der Mut, diesen Dialog zu versuchen, ist die wesentliche Voraussetzung dafür, dass der Dialog zwischen Kindern und denjenigen Eltern, die aus der Restfamilie ausgeschlossen sind, aufrechterhalten bleiben bzw. erst geschaffen werden kann.

Der Herstellung bzw. Wiederherstellung der Dialogfähigkeit in scheinbar aussichtslosen Fällen ist dieses Buch gewidmet. Angesichts der enormen Veränderungen, denen wir uns zu der Zeit, da diese Zeilen geschrieben werden, in Europa und der Welt gegenübersehen, mag das Thema, an dem der Wiederaufbau der Dialogfähigkeit veranschaulicht wird, klein und bürgerlich erscheinen. Was sind die Probleme geschiedener, getrennter und unehelicher Eltern und Kinder verglichen mit den Wogen der Grausamkeit, die Menschen einander im Gefolge des Einstürzens funktionslos gewordener Herrschaftsstrukturen und dem Errichten neuer geopolitischer Blöcke zufügen ?

Aber war nicht die Voraussetzung für die Verkrustung solcher Herrschaftsstrukturen eben jene bequeme Haltung, mithilfe der Angst zu regieren und sich regieren zu lassen? Ist nicht die Unfähigkeit, den anderen als Kontaktpartner zu würdigen, ihn stattdessen zu benutzen, zu missbrauchen, zu foltern, eine späte Folge von Kontaktstörungen, früh in der Kindheit angelegt durch den auf Spaltung setzenden Umgang mit Konflikten? Schafft nicht der Missbrauch der Kinder für Ziele und Motive der Eltern, zur Rechtfertigung ihres Hasses, die frühe Weichenstellung für die Entwicklung eines besonders in der westlichen Kultur fatalen Konfliktentferners: des Kontaktabbruchs?

So betrachtet ist die Behandlung der verleugneten und unterbundenen Elternschaft auch ein politisches Thema, wenn es auch auf den ersten Blick nicht so ohne Weiteres als solches erkennbar sein mag. Hat nicht die Behinderung und Entstellung von Menschenwürde und Menschenrecht in den elementarsten zwischenmenschlichen Beziehungen langfristig ihre Auswirkungen auch auf die Realisierung von Menschenwürde und Menschenrechten in den sichtbaren großen politischen Entscheidungen?

Natürlich sind von den folgenden Berichten keine Rezepte zu erwarten; vielmehr geben sie Einblicke in Handlungen und Entscheidungen von Menschen, die den Dialog fördern bzw. behindern. Wohl aber kann der Einblick in die kritischen Phasen von Lebensläufen den Blick auf die eigenen Lebensgestalten schärfen, die Perspektiven erweitern und so zu neuen Lösungsansätzen anregen.

In der Absicht, die Dialogfähigkeit auch bei Leserinnen und Lesern anzusprechen, sind die folgenden Geschichten über weite Strecken dialogisch-erzählend angelegt. Die Begebenheiten sind hin und wieder in Form eines Gespräches wiedergegeben. Die Dialoge selbst sind jedoch nur nachempfunden, da die Gespräche in der Form so vermutlich nicht stattgefunden haben. Die gezeichneten Schicksale jedoch wurden tatsächlich gelebt.

Dieser literarische Kunstgriff erscheint gerechtfertigt, da gesprochene Sprache in der Regel nicht lesbar ist. Vor allem aber soll diese Form aufzeigen, dass Konflikte, die sich aus tabuisierter oder geleugneter Elternschaft ergeben, Beziehungswirklichkeit sind, auch wenn keiner darüber spricht. Wird diese Beziehungswirklichkeit totgeschwiegen, kostet das unmerklich Kraft, die dem Leben anderswo und ständig fehlt.

Je mehr Bereiche des vergangenen Lebens mit Kraftaufwand verbannt werden müssen, umso weniger Kraft bleibt dem Leben im Jetzt. Im Extremfall besteht das gegenwärtige Leben überhaupt nur mehr aus dem Unterdrücken vergangener, unerledigter, jedoch in das Gegenwärtige mit Macht drängender Wirklichkeit.

Lassen Sie sich in die subjektive Welt von Menschen führen, die mit den Tabus ihrer Familie, ihrer Gesellschaft ringen, um ihre eigene Existenz zu verstehen. Die versuchen, ihre Identität zu klären, indem sie die Wahrheit ihrer Herkunft und damit ihrer Zugehörigkeit entziffern. Es geht dabei letztlich um die Wiederherstellung unterbrochener oder nie aufgenommener Dialoge. Meist machen die Kinder den ersten Schritt, manchmal aber, wie einige Beispiele zeigen, sind es auch die Eltern, die sich auf die Suche nach einem verlorenen Kind machen.

Die in manchen Passagen gewählte dialogische Form soll die Leserin, den Leser ermuntern, auch in ihrem/seinem Leben die Fäden abgerissener Kontakte wieder aufzunehmen und zumindest in ihrem Denken die direkte Rede wieder zu riskieren. Wenn wir dort, wo es um Beziehung geht, lernen, weniger in der dritten Person, sondern eher wieder direkt zu denken – in Gedanken anzusprechen –,also jemanden »anzudenken«,verändert sich auch unsere Beziehungswahrnehmung – und damit die Beziehungswirklichkeit in Richtung größerer Wahrhaftigkeit. Lassen Sie sich auch durch die literarische Form dazu anregen, dialogischer zu denken und zu leben.

Denn – in Anlehnung an Martin Buber – alles wirkliche Leben ist Begegnung.

Ein Ruf – Walter 1

Sie trafen sich jedes Jahr an Allerheiligen auf dem Friedhof im heimatlichen Dorf. Einmal im Jahr kamen die verbliebenen Mitglieder der Familie zusammen, auch die über’s Jahr mittlerweile in alle Welt verstreuten Freunde und Bekannten aus früheren Zeiten. Allerheiligen war zu einem Treffen geworden, wie es früher vielleicht Weihnachten oder Ostern waren. Sie besprachen bei der Gelegenheit die Vorkommnisse des vergangenen Jahres, richteten die Gräber, zündeten Kerzen an und hörten dem Pfarrer zu.

Das Wetter in diesem Jahr ist schrecklich, nasses Schneegestöber, Windböen, morastiger Boden. Walter, mäßig beschäftigt damit, den Wortfetzen des Predigers zu folgen, kämpft noch mit den Folgen der Begrüßungsfeier vom Vorabend, nicht zu heftig war sie, aber wie meist von recht aufgeräumter Stimmung. Es gibt immer etwas zu erzählen, wenn die alten Gefährten und Schulfreunde wieder beim Wirt eintrudeln, und wenn alles sagbare Neue ausgetauscht wurde, werden die alten Streiche aufgewärmt, zu vorgerückter Stunde immer auch zum Heldenhaften neigend ausgeschmückt.

Während Walter also den etwas spät noch zu »ihren« Gräbern eilenden Bekannten zunickt, wird er von seinem neben ihm stehenden Cousin Samir leicht angestoßen. Ob er denn in letzter Zeit etwas von seinem Ältesten erfahren habe, wollte der wissen.

Was soll der Blödsinn, denkt Walter? Zwar weiß er nicht so genau, wo sich seine Kinder gerade herumtreiben, aber deshalb braucht sich doch der Cousin nicht auf Spurensuche zu begeben. Übertreibt der »studierte« Pedant wieder einmal seine Ordnung stiftende Fürsorglichkeit?

Der Pedant heißt eigentlich Samir Ferdinand, Samir nach seinem syrischen Vater und Ferdinand nach seinem hiesigen Großvater, der auch Walters Großvater ist. Aber alle im Dorf nennen ihn Sami. Er ist der Sohn von Walters Tante, der jüngeren Schwester von Walters Mutter. Die Tante lebt schon lange in der Stadt, hat ursprünglich Kindergärtnerin gelernt, arbeitet dort aber als Bibliothekarin.

Samir ist in der Stadt geboren, lebt aber seit geraumer Zeit auf dem verwaisten Hof der Großeltern, auf dem Berg, an dessen Fuße sich das Dorf erstreckt. Das Anwesen ist ein kleines Gehöft, von dem allein man heute nicht mehr leben könnte. Das gilt übrigens für die meisten Bauern in den Bergen.

Also nimmt auch Samir alle Arten von Arbeiten an, die in der Gegend gebraucht werden, arbeitet als ungelernter Mauer, Schreiner, Dachdecker, hilft in der Landwirtschaft benachbarter Höfe. Er schreibt aber auch für die Älteren Briefe mit seinem Laptop, hilft ihnen bei den bürokratischen Angelegenheiten und erklärt ihnen die Steuern. Er hilft, wo immer er gebraucht wird. »Schwarz« allerdings, wie es sich hier gehört, selbst wenn er für andere die Steuererklärungen erstellt.

Es wäre kein Wunder, dass ihn die Menschen deswegen in ihr Herz geschlossen haben. Der eigentliche Grund seiner Beliebtheit aber ist sein freundliches, warmherziges Wesen und seine hilfsbereite, zugewandte Art. Er sieht aus wie ein Araber, ist es zur Hälfte wohl auch, wird von der durchaus zu einer gewissen Fremdenfeindlichkeit neigenden Dorfbevölkerung aber als »Unsriger« verortet, einfach zu den Einheimischen gezählt. So lebt Samir Ferdinand irgendwie zwischen den Welten, als schon etwas überständiger Junggeselle, sich eine Existenz schmiedend, die heimisch ist und zugleich auch wieder nicht.

»Nein, nein«, insistiert Samir, »ich meine dein erstes Kind, das, mit dem seine Mutter Gerda damals spurlos verschwand, noch als sie mit ihm schwanger war. Sonderbare Aktion von ihr, als sie plötzlich alle Brücken hinter sich abbrach.«

Plötzlich verspürt Walter tief drinnen einen scharfen, hellen, lang anhaltenden Schmerz. Da ist er wieder, über Jahre begraben, fast vergessen, sorgfältig betäubt. Und jetzt, ungebremst, frisch wie am ersten Tag, unkontrollierbar und schneidend, wie damals.

Während er um Fassung ringt, schiebt er dem Cousin ein etwas zu heftiges »Nichts Neues« hinüber, fragt dann aber schnell nach, eher nur, um in der Routine des Redeflusses zu bleiben und sich darin wieder zu fangen, wie er denn um alles in der Welt darauf kommt, ihn auf diese Geschichte anzusprechen. Samir teilt ihm mit, dass er wiederum auf recht eigenartige Weise erfahren habe, dass Gerda, die damalige Freundin, mit dem mittlerweile wohl schon erwachsenen Kind als Teil einer größeren Familie im Ausland leben würde. Wo genau, das habe er leider nicht herausfinden können. Denn auch jetzt noch, fast zwei Jahrzehnte nach den damaligen Ereignissen, halte sie sämtliche Informationen sowohl über das Kind als auch über den Aufenthalt und die Lebensumstände der Familie wie hermetisch verschlossen.

Ja, die Ereignisse von damals hatte Walter lange Zeit sehr weit weggeschoben. Nicht wirklich vergessen war dieses Kind, die Trauer um seine ungelebte Beziehung mit ihm – und wohl auch mit seiner Mutter – war latent lange wirksam geblieben, auf eine Lösung wartend, aber bewusst zum Stillhalten gezwungen. Und jetzt, plötzlich, diese wuchtige Erregung, die ihn wie eine innere Sturzflut mitzureißen droht!

Die restlichen Stunden an diesem feuchtkalten Novembertag laufen für Walter sonderbar unwirklich ab. Phasenweise erlebt er sich, als würde er neben sich stehen, mühsam der Konvention im Gespräch gehorchend. Aber gleichzeitig ist er damit beschäftigt, die Flut an aufwühlenden, schmerzhaften Erinnerungen einzudämmen, zu sortieren, sich wieder zu sammeln.

Tags darauf macht sich Walter auf den Weg, um Samir auf dem Hof zu besuchen. Er will mit ihm reden, denn Samir hatte damals selbst eine sehr schwierige Zeit durchgemacht, als seine Eltern sich getrennt hatten. Auch hatte er die Ereignisse um Gerda hautnah mitbekommen, denn Walter hatte ihn über die Vorgänge eingeweiht, über die er mit anderen nicht sprechen wollte. Samir weiß, wie es um Walter damals bestellt war, und er wird, so hofft Walter, auch verstehen, wie es ihm an diesem Tag geht. Die aufgewühlte Stimmung vom Vortag hat sich etwas gelegt, als er den Hof erreichte.

Samir ist noch bei den Tieren, also wartet Walter in der Stube, während im Radio gerade Paul Simon Graceland singt. Walter hört tapfer zu und denkt an damals zurück. Gerda hatte systematisch jeden Kontakt zu gemeinsamen Bekannten abgebrochen, vordergründig wohl, um zu verhindern, dass Walter Kontakt mit dem Kind aufnehmen und dadurch den Aufbau ihres neuen Lebens stören, zumindest aber komplizierter machen könnte. Vielleicht wollte sie aber auch selbst nicht an die Umstände der Entstehung ihres Kindes erinnert werden.

Dabei waren diese Umstände gar nicht so ungewöhnlich gewesen, ereignen sich Jahr für Jahr zigtausendfach in ähnlicher Weise, schaffen dadurch eine Lebenswirklichkeit, die weitgehend tabuisiert ist: Natürlich, viele Kinder wachsen ohne Väter auf. Wie viele aber wachsen mit »falschen« Vätern auf, ohne es zu wissen?

Walter spürt, wie eine Hand sanft seinen Rücken berührt und eine Weile dort verharrt. Er war so in Gedanken versunken, dass er nicht bemerkt hatte, dass Samir von hinten an ihn herangetreten war. Seine Geste lässt Walters Traurigkeit noch einmal hochschwappen, bis sie sich dann etwas verläuft.

Eigenartig, dass gerade sein Cousin diese Verbindung quasi wieder zum Leben erweckte. War doch er damals derjenige gewesen, der ihn am stärksten dazu drängte, sich Gerdas Wunsch nach Gründung einer Familie zu widersetzen. Bis Walter schließlich Gerda einen Vorschlag machte, der ihren Rückzug einleitete.

Als sie sich in die Stube setzen, beginnt Samir zu sprechen. Er will erklären, warum er sich damals so weit aus dem Fenster gelehnt und Walter vor der Heirat gewarnt hatte. Er holt weit aus und beginnt, über seine eigene Krise zu sprechen, die er zum Ende seiner Kindheit hin als Jugendlicher erlebt hatte. Sie hat seine spätere Einstellung zu festen Bindungen stark geprägt und letztlich auch sein aus heutiger Sicht vielleicht etwas zu heftiges Einschreiten gegen Gerdas Heiratspläne beeinflusst.

Samir erzählt, wie es für ihn damals war, in der kleinen Stadtwohnung, mit jenem Gewühl der Kulturen, die extremer nicht sein konnten. Erzählend taucht er ein in seine Welt als Jugendlicher zwischen den Kulturen, in jene sonderbare Stimmung vor dem Knall.

Liebevoll, spaltend, einsam – Samir 1

Die Katze, seine Mutter hatte sie einst aus Südspanien mitgebracht, grau schwarz getigert, stets etwas unruhig in Gesellschaft. Jetzt setzt sie sich auf, macht einen perfekten Buckel und reibt ihren Kopf an seinem Handgelenk. Doch kaum will er sie streicheln, beißt sie in seine Hand, nicht fest, aber deutlich abwehrend. Was will sie, fragt sich Samir? Nähe oder Abgrenzung? Wahrscheinlich beides, aber eben nicht gleichzeitig.

Wie mag wohl die Innenwelt so einer Katze beschaffen sein, grübelt Samir weiter. Sie hat ja keine Sprache, aber hat sie Gefühle? Wie erlebt sie wohl ihn? Wenn sie keinen Begriff, keinen Namen für »Mensch«, für ihn, Samir, hat, wie erlebt sie ihn? Kann er sich ihre Welt vorstellen, so wie die Katze sie erlebt? Vermutlich hat sie ein klares Bild von ihm, aber weiß sie, wer er ist, auch ohne dass sie für ihn einen Namen hat? Wer ist er, Samir, für sie in ihrer Welt?

Na ja, so viel erlebt sie auch wieder nicht, denn die meiste Zeit schläft sie auf dem Kissen. So ist sie, Isabella, die Katze, in seiner Welt, in der sie einen Namen hat, von dem sie selbst nichts weiß. Wenn sie allerdings nicht schläft, bewegt sie sich irgendwie vorhersehbar, also konsistent in ihrer Welt. Und auch in seiner.

In Samirs Erleben gibt es eben nur seine Welt, doch muss die Katze natürlich auch ihre Welt haben, in der er wiederum einen Platz haben muss und in der sie mit ihm interagieren kann – oder ihn katzengemäß schlicht ignorieren. Für sie ist er vermutlich kein sonderlich interessanter Kater.

Samir wundert sich, wie diese so extrem unterschiedlichen subjektiven Welten so zusammenpassen können. Im Grunde für alle Wesen. Als Baby lebte er in der Welt, wie sie sich ihm als Baby zeigte, wie sie mit ihm interagierte, samt aller Wesen, die es darin gab – Mama, Papa, Oma und Opa, Freunde der Eltern. Später, als Schulkind, »stimmte« die Welt auch, war weiter geworden, enthielt mehr menschliche und sonstige Wesen. Und obwohl sie deutlich anders war als damals, als er Baby war, gingen die Veränderungen unmerklich vonstatten. Und erst recht heute, da er als Jugendlicher kurz vor dem Abitur steht, ist alles anders als in der Zeit der Grundschule oder gar als Baby. Die erlebten Welten der Menschen und Tiere scheinen nahtlos ineinanderzugreifen und für jeden in sich stimmig zu sein.

Stimmige Welten? Lebt er selbst wie sie in einer stimmigen oder in mehreren Welten, simultan oder abwechselnd? Wie geht es ihm wirklich in seinen Welten? Passen die denn überhaupt zusammen? Wie sehen ihn seine Freunde in der Schule, wie seine Eltern? Und wie erlebt er sich selbst zwischen den Vorstellungen, die die verschiedenen Menschen um ihn herum von ihm haben? Wenn er zu Hause ist, einziges Kind, mit dem syrischen Vater und der aus heimischem bäuerlichen Milieu stammenden Mutter, fühlt er sich durchaus geliebt und geborgen. Seine Eltern sind nicht begütert, Mutter arbeitet als Bibliothekarin, Vater im Supermarkt. Als sie ihn heiratete, hat sie sich seiner Religion angeschlossen, etwas halbherzig, aber doch. Samirs Vater hat ihr versprochen, dass es für alle so besser wäre, denn, so argumentierte er, seine Religion wäre unverfälscht. Und eine dem Menschen angemessene, natürliche Religion, die nicht anstrengend wäre. Klingt sonderbar, bei dem, was man so in den Nachrichten hört, denkt Samir, aber seine Mutter hat es akzeptiert.

Mutter schweigt in der Regel, wenn dieses Thema hochkommt. Vielleicht macht sie dazu eine Bemerkung, dass der Herrgott schon wissen werde, wen er möge und wen nicht, egal was der Mensch so glaubte. Sie scheint die Feinheiten der Glaubens, die dem Mann so wichtig sind, nicht ganz ernst zu nehmen. Manchmal fügt sie dann hinzu, dass Gott, hätte er denn einen Kopf wie ein Mensch, diesen wohl permanent schütteln würde angesichts des lächerlichen Ehrgeizes der Religiösen, unbedingt die besseren, braveren, richtigeren Gläubigen sein zu wollen. Es stört sie, dass sich religiöse Gruppen gebärden, als wären sie Gottes Fanclubs, die sich für »ihren« Gott wie für eine Mannschaft im Fußball engagieren – und manchmal auch wie Hooligans aufeinander losgehen. Vermutlich leidet sie doch darunter, dass sie dem Glauben ihrer Kindheit den Rücken gekehrt hat, um ihrem Mann in eine Welt zu folgen, die ihr nach all den Jahren im Wesen letztlich doch fremd geblieben ist.

Ihr Mann nahm Samir als kleines Kind häufig mit in die kleine Moscheegemeinde, wo er von Männern und Frauen meist syrischer Herkunft warmherzig und großzügig behandelt worden war. Kellermoscheen wie diese gibt es viele in der Stadt, mehr Heimwehkämmerchen als Gebetszentren werden sie von nationalen Grüppchen betrieben, mit so gut wie keiner Verbindung zwischen ihnen und anderen Gemeinden. Samir störte das nicht, wusste darüber auch als Kind gar nicht Bescheid. Er spürte, dass er gerne gesehen und für die Anwesenden irgendwie wichtig war. Die meisten leben seit 30 Jahren hier, hatten damals Asyl erhalten, sich als Migranten der ersten Generation hier angepasst, wenn auch nicht wirklich integriert, das vielleicht auch gar nicht angestrebt.

Samir erinnert sich heute gerne an die Besuche, als er, noch Vorschulkind, über die betonierte Wendeltreppe in die eher sparsam beleuchtete, mit billigen Teppichen ausgelegte Kellermoschee im Hinterhof eines Supermarktes stieg. Die inneren Bilder von damals lösen bei ihm eine wohlige Stimmung aus, lassen auch heute noch Gefühle von Geborgenheit und Nähe zu den orientalischen Männern entstehen, die fern einer zerstörten Heimat hier, im Rückgebäude, dessen Zugang von entsorgten Obstkisten, abgestellten Mofas, Mülltonnen und ausrangierten Stellagen gesäumt wird, enger zusammenrücken. Ein Gefühl, vergleichbar mit den sonnendurchfluteten Ferientagen auf dem Bauernhof seiner Großeltern in den Bergen, wo er von den Großeltern verwöhnt wurde, mit der landwirtschaftlichen Tierhaltung vertraut wurde und sonntags die sonderbar anmutenden Verhaltensweisen der Menschen in der Kirche beäugte. Wo es köstlich gebrutzelten Schweinsbraten oder Wollwürste zu Mittag gab und sie ihn kurz Sami nannten, auch da ganz daheim und dazugehörend.

Heute, mit fast 18 Jahren, ist die Lage für ihn in der Stadt viel komplizierter geworden, und seit der Großvater tot ist und die Großmutter den Hof nicht mehr alleine bewirtschaften kann, fährt er auch kaum mehr dort hin. Der nun auch deutlich älter gewordene Vater erwartet selbstverständlich, jede Lockerung unnachgiebig ablehnend, dass Samir seinen, des Vaters Weg, seine Lebensweise und natürlich seine Religion nahtlos übernimmt. Samir kann mit Vater über fast alles sprechen, sogar diskutieren. Er wird gehört, verstanden und akzeptiert. Außer wenn es um die zu den mitteleuropäischen Lebensformen doch recht verschiedenen religiösen Praktiken geht. Da bleibt sein Vater bestimmt und in keinem Fall kompromissbereit. Samir gibt dann nach, insistiert nicht, schließlich haben alle bisherigen Versuche aufzubegehren keinen Erfolg gebracht. Das Gespräch verliert sich dann einfach in ratlosem Schweigen.

Danach ist für eine Weile eher gespannte Ruhe in der Wohnung, man wendet sich den diversen Verrichtungen zu, wie Essen zubereiten, Flaschen wegräumen, Katzenstreu austauschen, Computer spielen. Vater bereitet sich für sein Gebet vor, verzichtet aber mittlerweile darauf, Samir einzuladen, das Gebet gemeinsam zu verrichten. Er wäscht sich davor stets rituell, langsam.

Während sein Vater betet, hämmert Samir in die Tasten des Computers. Er fühlt sich nicht wirklich gut, wenn er danebensitzt, während sein Vater sich, nachdem er die Suren gemurmelt hat, verbeugt und dann die doppelten Niederwerfungen ausführt. Wieder und wieder. Gewiss, Samir ist routiniert geworden in seiner Anpassung zu Hause, manövriert sich erfolgreich durch die Fallen und Abgründe, die im Kultur- und Generationenclash überall lauern, der beim Beten allein gelassene Vater aber lässt ihn, ohne dass der etwas dazu tut, sich elend fühlen. Als würde er seinen Vater verraten, ihm in den Rücken fallen, diesem freundlichen, warmherzigen, von wer weiß welchen Lasten gebeugten Mann.

Ihm, das aber hat er mittlerweile realisiert, kommt er trotz Warmherzigkeit und Freundlichkeit im Konfliktfall nicht wirklich bei. Da bleibt der Vater hart wie Stein, wie Eisenhände in Samthandschuhen.

Es fehlen Samir nicht die Argumente, aber er weiß, Vater bleibt unbeeindruckt, beruft sich freundlich auf die alten Regeln und die Notwendigkeit, »richtig« zu leben. Selten stehen sie sich bei solchen Gesprächen direkt gegenüber, meist reden sie, im Sitzen, seitlich aneinander vorbei. Wendet sich Samir dabei zu seinem Vater hin, kann er die lange Narbe sehen, die sich vom linken Auge quer über die Wange bis an die hintere Partie des Kieferknochens zieht. Nie spricht er darüber, auch wenn Samir nachfragt, was da passiert ist. Er schüttelt den Kopf, macht eine wegwerfende Handbewegung dazu, schickt vielleicht eine kurze abwiegelnde Bemerkung hinterher: »Krieg eben …« oder »Nichts Wichtiges«.

In der Sache aber hat Samir resigniert, wie es seine Mutter längst getan hat. Vater lässt ihn gewähren, wenn Samir sich über sein Leben zwischen den Kulturen beklagt, wenn er den religiösen Ballast abwerfen will, um ein normaler deutscher Jugendlicher zu sein. Der Vater dagegen will, dass Samir ihm in den kulturellen Raum des Orients folgt. Das aber will er mit einer Beharrlichkeit, die unverrückbar ist. Gleichzeitig will er, dass er hier, mitten in Europa, ein erfolgreiches Leben aufbaut.

In Momenten wie diesen fühlt sich Samir nicht gesehen, nicht respektiert, als Mensch nicht ernst genommen. Dann will er nur weg, einfach abhauen, raus aus dem engen, freundlichen Zwang. Er hat es satt, als Jugendlicher immer wieder zwischen den Kulturen, im Grunde zwischen allen Stühlen zu landen. Nur, wo sollte er hin? Er ist ein Fremder im Orient, ein Fremder in Europa und nun auch zunehmend ein Entfremdeter zu Hause.

In Momenten wie diesen beugt er sich gerne über die Katze, streichelt sie, lauscht ihrem Schnurren, freut sich daran, wie sie auf seinem Bauch einen bequemen Platz sucht und sich dann auf ihm niederlässt. Sie lebt einfach da, ist Katze und sonst nichts – und keiner verlangt von ihr, etwas anderes zu sein. Er sehnt sich danach, selbst auch einfach ein junger Mensch sein zu dürfen, der seine Welt erkundet, die da draußen ohnehin schwierig genug zu bewältigen ist. Er mag nicht mehr die Erwartungen seiner Eltern erfüllen müssen.

Immerhin, mit seiner Mutter hat er inzwischen ein unausgesprochenes Einverständnis darin, alles Religiöse nicht mehr gar so wichtig zu nehmen. Vater kommt da nicht mehr dazwischen, er mutierte zu einer Art Faktotum, das man zwar respektiert, auch möglichst nicht reizt und schon gar nicht kränkt. Aber den Vater seiner Kindheit liebt er immer noch, was wohl der Grund sein dürfte, dass ihn jetzt die sich vertiefende Spaltung so sehr quält. Nie hat sein Vater Gewalt eingesetzt, doch sein stilles Absacken in eine verletzte, deprimierte Einsamkeit ist für beide, Samir und seine Mutter, so bedrohlich, dass sie dem ausweichen, so oft es eben geht.

Sie lassen ihn allein, da er ihnen nur begegnen will, wenn sie seine Bedingungen dafür akzeptieren. Ein orientalisches Problem? Sind die Menschen aus dem Orient unbeugsamer, sturer im Kontakt? Wohl kaum, nur bei denen fällt es uns stärker auf, denkt Samir. Es ist eher die Angst, sich, seine Sicherheit, sein eigenes Bild von der Welt infrage stellen zu müssen, wenn man sich aufeinander wirklich einlässt.

Wie aber löst Samir sein Problem zu Hause? Einfach mitmachen, das klappt für ihn nicht mehr. Würde er sich beim Gebet zum Vater stellen, er müsste lügen und würde sich ebenso elend fühlen, wie wenn er gar nicht mit ihm betet. Das hat er ja oft genug versucht, hat sich eher aus Pflichtgefühl oder aus Loyalität zum so leicht zu kränkenden Vater dazugestellt und alles mitgemacht, Waschungen, Verbeugungen, Niederwerfungen, begleitet von arabisch gesprochenen Suren. Das Ergebnis beim anschließenden Händeschütteln, mit dem man sich einander zum gelungenen Gebet beglückwünscht, ist desolat. Es ist ihm dann, als würde er nicht den Vater, sondern sich selbst verraten.

Samirs Stimmung ändert sich, sobald er die Wohnung verlässt. Dann betritt er eine für ihn völlig andere Welt, ist zuerst einmal erleichtert, fühlt sich freier, tänzelt förmlich die Straße entlang, genießt das Leichte da draußen. Es ist nicht die Schmuddelecke der Stadt, eher »gehobenes« Ausländerviertel, mit allem, was dazugehört. Sein Freund aus der Grundschule, Cem, »Volltürke«, wie er sich selbstironisch nennt, arbeitet in dem Imbisslokal vorne an der Ecke, das einem türkischen Unternehmer gehört. Samir hockt sich gerne auf eine Limo zu ihm rein, am frühen Nachmittag. Ihre Gespräche, falls man das, was da zwischen ihnen läuft, als solche bezeichnen kann, bestehen auch heute noch eher aus einer Abfolge von Floskeln, hektisch aneinandergereihte, dennoch energievolle Begrüßungsformeln, Infos über Videos, Handytalk.

Seit Cem eine deutsche Freundin hat, ist er abends beschäftigt und Samir besucht ihn nur mehr tagsüber im Geschäft. Eher eine Art Ritual als ein freundschaftlicher Austausch. Was Samir bewegt, versteht Cem nicht und im Allgemeinen interessiert es ihn auch nicht wirklich. »Wie gehe ich damit um«, murmelt Samir eher vor sich hin als zu Cem gerichtet, während er Cem beim Füllen eines Döners zusieht, »dass ich meinen Vater nicht kränken will, es ihn aber ganz gewaltig kränkt, wenn ich ihm sage, was ich wirklich denke?«

Cem ist da pragmatisch: »Kipp ihn, den Alten! Verlorene Generation, nichts zu retten, hoffnungslos veraltet, lass ihn eben.«

»Du hast leicht reden, Cem. Er ist so gut und liebevoll zu mir. Er hat diese tiefe melancholische Schwere, die sein Leben, sein immer noch holpriges Deutsch, seine Bewegungen färbt. Ich bin der ganze Sinn seines Lebens. Er will, dass wir eines Tages gemeinsam im Paradies hocken. Wenn ich aussteige, bricht er zusammen, davor habe ich Angst. Neulich sagte er mir, ich soll, wenn ich erwachsen bin und genug Geld verdiene, für ihn die Hadsch machen. Die Große Pilgerfahrt. Als Asylant darf er dort nicht hin, kann sich das finanziell auch gar nicht leisten. Als Moslem aber müsste er es wenigstens einmal im Leben tun, gehört schließlich zu den fünf Pflichten des Islam.«

»Hadschi Samir!«, höhnt Cem und gibt ihm zum Abschied drei Stück Bakhlava für seine Mutter mit, die, das weiß Cem, seine Bakhlavas besonders schätzt. »Und vergiss deinen alten ungläubigen Schulfreund Cem ja nicht, wenn du dann eines Tages im Paradies in der ersten Reihe hockst, unter all den Dauerbetern!«, ruft er ihm noch hinterher, als der feixende Samir sich schon auf sein Fahrrad schwingt.

Auf dem Weg zurück sinniert Samir, wie er aus der Situation rauskommen könnte. Einfach über Nacht verschwinden und sich, gewissermaßen »standesgemäß«, als Verkäufer in mobilen Kebab-Buden durchbringen? Das Abi schmeißen? Nie wieder in die Familie zurückkehren? So entlastend sich die Vorstellung im ersten Augenblick anfühlt, so elend wird sein Zustand, als er wieder das Haus betritt.

Das ändert sich schlagartig, als er die Wohnungstür öffnet. Besuch ist da, ein noch nie zuvor gesehener, sehr orientalisch wirkender Mann, Ende 40 vielleicht. Mit ihm ist eine junge, schlicht, aber europäisch gekleidete Frau, keine 30 Jahre alt. Sie kommen über den Libanon, Zypern, Griechenland, Italien hierher. Mit Unterstützung von Fluchthelfern.

Samir stutzt, denn Vater und Mutter sitzen irgendwie angespannt und schweigend da, so als würde ein Unheil in der Luft liegen. Schließlich stellt sich der Besucher zu Samir gewandt in einem etwas holprigen Englisch vor: Er ist Ahmad, der Schwager des Vaters, »beau-frere« sagt er, französisches Fragment, der Bruder der in Syrien lebenden Frau von Samirs Vater.

Frau von seinem Vater?

Das ist der Gau. Von der Existenz einer weiteren Frau seines Vaters hatten weder Samir noch seine Mutter je etwas erfahren.

Und die junge Frau daneben ist Amira, Vaters nie erwähnte Tochter, Samirs Halbschwester.

Samir verspürt einen riesigen Kloß im Hals, seine Erregung kann er kaum kontrollieren, sein Herz pocht, als wollte es zerspringen. Hilfesuchend blickt er zu seiner Mutter, will ihren Blick erhaschen. Doch die schaut, mit bleichem Gesicht, zum Fenster hin, als gäbe es dort draußen etwas höchst Interessantes zu sehen. Sie bleibt abgewendet, wie von allen abgeschnitten. So als wäre das hier nicht mehr ihr Territorium, als wäre sie die Fremde hier.