Vom Streifenhörnchen zum Nadelstreifen - Hans Peter Klein - E-Book

Vom Streifenhörnchen zum Nadelstreifen E-Book

Hans Peter Klein

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Beschreibung

Deutschlands Schüler werden immer schlauer. Jahr für Jahr steigt die Abiturientenquote und die Anzahl der Absolventen mit Bestnoten. Ein Ende dieser Entwicklung ist nicht absehbar. Wir scheinen uns in einer Phase der beschleunigten Evolution von Intelligenz zu befinden. Wie konnte es dazu kommen? Der Bildungsforscher Hans Peter Klein hat über Jahre die Anforderungen für das Abitur in verschiedenen Bundesländern unter die Lupe genommen. Ein Versuch, den er in diesem Rahmen durchführte, sorgte landesweit für Schlagzeilen: Den Schülern einer neunten Klasse legte er die Abituraufgaben im Fach Biologie vor, und die scheiterten nicht, sondern konnten sie erfolgreich lösen. Sie mussten lediglich die in einem Text enthaltenen Informationen richtig wiedergeben. Wenn nur noch »Kompetenzen«, keine auf selbständigem Denken basierenden Erkenntnisse eingefordert werden, können schulische Leistungen zwar scheinbar exponentiell steigen, aber um den Preis, dass die Schüler nur noch für ihr späteres Berufsleben zugerichtet werden. Hans Peter Klein beschreibt Szenarien, die sich zuweilen wie Satire lesen, jedoch bittere Realität sind – mit einschneidenden Konsequenzen.

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Hans Peter Klein

Vom Streifenhörnchen zum Nadelstreifen

Das deutsche Bildungswesen im Kompetenztaumel

Hans Peter Klein studierte Biologie, Chemie und Sportwissenschaft in Bonn. Als Gymnasiallehrer sammelte er jahrelang Erfahrungen im Schulbetrieb. 2001 wurde er auf den Lehrstuhl für Didaktik der Biowissenschaften an der Goethe-Universität in Frankfurt berufen. Er ist Präsident der Gesellschaft für Didaktik der Biowissenschaften, Mitbegründer der Gesellschaft für Bildung und Wissen und Mitglied der Bildungskommission der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte. Er publiziert regelmäßig Artikel und ist bundesweit ein gefragter Kommentator zum Thema Bildung.

Inhalt

Cover

Titel

Der Autor

Zitat

Vorwort

Die lustige Welt der Streifenhörnchen

Polarfüchse, Bienenwölfe, Kannenpflanzen und allerlei anderes Getier

Weiße Haie, Hamburger See-Elefanten, springende Tiger und Versteckspielen

Über Pulsmessungen, Mummenschanz, einen Hauch von Woodstock und sieben Brücken

Das Schaf Dolly, Ozon-Männchen, Designerklamotten und Geheimbünde

Zollstock, Maßband und der vierfache Toeloop

Über Kompetenzimperien, des Pudels Kern und das Rasch-&-Sicher-Modell

Sechs Kilogramm Reis und grüne U-Boote

Hochschulen im Kompetenztaumel

Über die Neue Lernkultur, das Institut der Glücklichen, bunte Adventskalender, Patriotismus und MOOCs und SPOCs

Über unangenehme Wahrheiten, den Heiligen Geist, Schnellkochtöpfe, Fächerdämmerungen und die Inquisition

Über Ballbesitz, den Sinn des Fußballspiels, eine Menschenrechtsverletzung, Dilettantismus und den Punk

Schall und Rauch in Manhattan und San Diego und ein gefährlicher Irrtum

»No Child Left Behind« auf deutsch – von Gauklern, Hütchenspielern und allerlei Zauberei

Über Australopithecinen, Döner-Deutsch, Broken English und Universalgenies

Conclusio – viele Köche verderben den Brei

Anmerkungen

August Gloi-Hänsle Was bringt uns der Kompetenzbegriff? – Ein kompetenzanalytischer Diskurs in sechs Paragraphen

Anmerkungen

Literatur

Übungsblatt für Studierende im Bachelor-Studiengang

Harald Martenstein Don’t say it in German. Say it in Broken English

Anmerkung

Impressum

Gegen eine Dummheit, die gerade in Mode ist, kommt keine Klugheit auf.

Theodor Fontane

Vorwort

Zu dem vorliegenden Buch wäre es sicherlich nicht gekommen, wenn mich nicht über Jahre hinweg Unterstützer meiner kritischen Begleitung der Entwicklung des deutschen Bildungswesens nach PISA und Bologna nach Vorträgen oder Kolumnen in den einschlägigen Presseorganen dazu angeregt hätten, die vielfältigen Bedenken doch einmal für die Allgemeinheit zu Papier zu bringen. Der Autor dieser Zeilen scheint nach nunmehr mehr als 40-jähriger Erfahrung im deutschen Bildungswesen einer der wenigen zu sein, die es sich immer noch erlauben, die W-Fragen aus der Sesamstraße »Wieso?«, »Weshalb?«, »Warum?« zu stellen, die seit der Jahrtausendwende seitens der Politik nicht mehr erwünscht sind. Einmal in Kraft gesetzt, gelten politische Entscheidungen heutzutage wie selbstverständlich als »alternativlos«. Dabei ist es diese Formulierung, die den Prinzipien einer Demokratie entgegensteht. Schnell wird als Ewig-Gestriger, Ignorant, gar Querulant bezeichnet oder hat mit beruflichen oder finanziellen Nachteilen zu rechnen, wer nicht auf der vorgegebenen Mainstreamwelle mitreitet.

Spätestens seit der Jahrtausendwende haben international agierende Großkonzerne in Kooperation mit internationalen politischen Verbünden und Stiftungen den selbstverständlichen demokratischen Gepflogenheiten ein abruptes Ende bereitet. Sie haben weltweit im Bildungssektor das Heft in die Hand genommen und betreiben einen zuweilen offenen, teilweise auch subtilen ökonomischen Bildungskolonialismus, dem sich anscheinend niemand mehr zu widersetzen vermag. Nationale Bildungssysteme werden ohne jegliche Diskussion von oben herab nach dem neoliberalen Credo der Beteiligten ausgehebelt und umgestaltet. Insbesondere das Bildungswesen im deutschsprachigen Raum – wegen seines Allgemeinbildungsgedanken basierend auf Wilhelm von Humboldt einst weltweit anerkannt und als Vorbild selbst in den Vereinigten Staaten kopiert – wurde wegen seiner gerade nicht nur auf Nützlichkeit zielenden Ausrichtung als antiquiert und im Rahmen der vermeintlichen Anforderungen in einer globalisierten Welt als für nicht mehr tragfähig befunden. Gleiches gilt für die duale Ausbildung im deutschsprachigen Raum. PISA und Bologna waren die Eisbrecher, die einen radikalen Paradigmenwechsel hin zur rein ökonomischen Ausrichtung des Rohstoffs Mensch als global agierendes Humankapital einleiteten.

Dem ursprünglich durchaus vorhandenen Widerspruchspotential der Akteure im Bildungswesen wurde einerseits durch entsprechende finanzielle Anreize aus Steuergeldern im Schul- und Hochschulbetrieb begegnet, denn gerade auch die unterfinanzierten Hochschulen sind bereit, für Geld so mancherlei Einschränkungen und Verrenkungen in Kauf zu nehmen. Oftmals lässt sich da kaum noch zwischen Realität und Realsatire unterscheiden. Neben den Bildungsökonomen, die glauben, alles in Zahlen und Kennziffern punktgenau darstellen zu können, treten aber noch diverse andere Köche auf: aus den verschiedenen reformpädagogischen Küchen. Im Zuge des unkontrollierten Reformeifers sehen sie ihre Chance gekommen, um endlich ihre pädagogischen Glaubensvorstellungen realisieren zu können.

Nun wäre dieses Buch immer noch überflüssig, wenn denn die versprochenen Verbesserungen im deutschen Bildungswesen im Laufe der letzten 15 Jahre tatsächlich nachweisbare Bildungserfolgen gezeitigt hätten. Statt dessen kann heute eigentlich niemand mehr ernsthaft bestreiten, dass die von der Politik bejubelte wundersame Vermehrung aller möglichen Bildungsabschlüsse mit immer besseren Noten keinesfalls durch gestiegene Bildungsstandards oder die eingeführte Kompetenzorientierung eingetreten ist, sondern sich vielmehr einer teils drastischen Absenkung der Anforderungen verdankt. Der vorliegende Band legt dazu viele Beispiele vor. Bildungspolitiker und ihre Berater bestreiten dies nach wie vor vehement, auch wenn ihnen die Gefolgschaft nicht nur in der Presse mittlerweile in weiten Teilen abhanden gekommen ist.

Dass das Schulwesen mit dem Hochschulwesen unmittelbar zusammenhängt, müssen die Hochschulen derzeit leidvoll erfahren, die sich noch bis zur Jahrtausendwende gar nicht um Schule gekümmert hatten und jetzt feststellen müssen, dass die von ihnen bisher verlangten Grundlagen der Studierfähigkeit bei immer mehr Studierenden in immer größerem Ausmaß anscheinend abhanden gekommen sind. Die von den Hochschulen neuerdings vehement eingeforderte Kompetenzorientierung mit zumindest teilweisem Verzicht auf grundlegende und vertiefende Wissensbestände lässt nichts Gutes erwarten und könnte insbesondere die Universitäten im internationalen Wettbewerb schwer beschädigen. Auch hier droht Qualität durch Quantität ersetzt zu werden, Hauptsache, die vorgegebenen Kennziffern stimmen.

Das vorliegende Buch »Vom Streifenhörnchen zum Nadelstreifen – das deutsche Bildungswesen im Kompetenztaumel« ist der erste von insgesamt drei geplanten Bänden, der sich mit den Ursachen dieser Entwicklung befasst, die an Hand zahlreicher Beispiele erläutert wird. Der zweite und der dritte Band werden sich in erster Linie den Neuerungen und Absurditäten an den Hochschulen seit Bologna widmen.

Dieses Buch ist vor allem jenen gewidmet, die nicht auf jeder neuen Reformwelle mitschwimmen, die sich ihren Eigensinn bewahrt haben und sich weigern, den zweifelhaften bildungspolitischen Vorgaben zu folgen. Ihnen gebührt der besondere Dank des Verfassers. Ohne zahlreiche Insider-Informationen aus den Schulaufsichten, den Abteilungen für Qualitätsmanagement und den Ministerien selbst wäre dieses Buch nicht zustande gekommen. Von den mir in Hunderten von E-Mails und persönlichen Briefen mitgeteilten Absurditäten sind zumindest einige in diesen Band eingearbeitet. Es stimmt mehr als traurig, dass Stellungnahmen von Lehrern, Schulleitern, Fachdezernenten und Hochschulprofessoren zu ihnen abwegig erscheinenden Vorkommnissen nur anonym erscheinen können. Die vielen durch ausführliche Recherchen im Buch dargelegten Fakten sollen dem interessierten Leser zu einem eigenen Urteil verhelfen, das durchaus von dem des Autors abweichen darf, ja soll.

Insbesondere möchte ich mich bei den vielen Fachkollegen aus der Mathematik und der »Stoffdidaktik« der Mathematik bedanken, die nunmehr seit einigen Jahren ohne jegliche »Drittmittel« aus innerer Überzeugung die Analysen des fachlichen Schwierigkeitsgrades von Zentralabituraufgaben und neuerdings auch von Lehrplänen unterschiedlicher Bundesländer durchführen.

Bedanken möchte ich mich in diesem Zusammenhang bei dem Kultus- und Wissenschaftsminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern, Mathias Brodkorb, der jeder Anfrage unsererseits nach Überlassung von Zentralabiturarbeiten, Lehrerhandreichungen oder gültigen Lehrplänen zeitnah und unbürokratisch nachgekommen ist. Mein Dank gilt auch Harald Martenstein für die Überlassung seines Artikels »Don’t say it in German. Say it in Broken English« aus seinen pointierten Kolumnen in der Wochenzeitschrift »Die Zeit«. Dank auch meinem Frankfurter Kollegen und Pädagogischen Psychologen Hans-Peter Langfeldt für die Überlassung des Artikels von August Gloi-Hänsle »Was bringt uns der Kompetenzbegriff« zum Abdruck in diesem Band. Dem Autor dieser Zeilen ist kein anderer Artikel zum Thema Kompetenzorientierung bekannt, der das Absurde dieses Begriffes und seiner ubiquitären Anwendung derart pointiert und für jeden nachvollziehbar festhält. Bei Christian Rickens bedanke ich mich, der mir freundlicherweise den Titel zu diesem Buch aus seiner entsprechend lautenden Kolumne im »Manager Magazin« zur Nutzung überlassen hat.

Bei Konrad Liessmann, Andreas Gruschka, Julian Nida-Rümelin, Matthias Burchardt, Jochen Krautz, Ralf Lankau und meinen Kollegen vor allem aus dem Umfeld der Gesellschaft für Bildung und Wissen möchte ich mich an dieser Stelle für die anregenden Gespräche und Hinweise bedanken, von denen zahlreiche in diesem Buch Beachtung gefunden haben.

Last, but not least danke ich meinem langjährigen Weggefährten Gerd Kohler, ohne den die Streifenhörnchen niemals zu einem derartigen Bekanntheitsgrad aufgestiegen wären.

Im August 2016

Hans Peter Klein

Die lustige Welt der Streifenhörnchen

Streifenhörnchen sind vor allem in Nordamerika weit verbreitet. Sie kommen dort in bis zu 25 verschiedenen Arten vor. In den Nationalparks im Osten der USA begegnet man meist dem Streifenbackenhörnchen, während seine nächsten Verwandten vornehmlich den Westen der USA besiedeln. Gemeinsam ist allen eine charakteristische Streifung, von der sie auch ihren Namen haben. Fünf schwarze Streifen verlaufen in Längsrichtung auf grau- bis rotbraunem Untergrund und werden durch weiße oder graue Streifen unterbrochen. Sie gehören zur Familie der Hörnchen und zur Ordnung der Nagetiere und ernähren sich von Früchten, Samen und Nüssen. Die tagaktiven Tiere werden je nach Art bis zu 25 Zentimeter groß, der buschige Schwanz inbegriffen. Obwohl sie gut klettern können, findet man sie meistens am Boden. Sie leben in unterirdischen Bauen und halten in den nördlichen Gebieten der USA Winterruhe, die sie in milderen Gegenden auch unterbrechen können. Streifenhörnchen sind Einzelgänger und kommen nur zur Paarung zusammen. Die kleinen putzigen und flinken Tiere erfreuen sich beim Menschen großer Beliebtheit. In vielen der großen Nationalparks der USA fressen sie Nüsse oder andere Nahrungsmittel aus der Hand der Besucher. Im Amerikanischen heißen sie chipmunks.

In der Filmwelt wurden die beiden von Walt Disney geschaffenen Comic-Streifenhörnchen in dem oscarnominierten Kurzfilm »Chip an’ Dale« bereits Ende der vierziger Jahre weltweit berühmt, als sie sich dort mit keinem Geringeren als Donald Duck anlegten. Ahörnchen (Chip) war der klügere und clevere von beiden, während Behörnchen (Dale) für Aufgedrehtheit und Tollpatschigkeit stand. Später wurden ihnen eigene Serien gewidmet. In Deutschland wurden sie Anfang der neunziger Jahre als Chip und Chap einem breiten Publikum in der US-amerikanischen Trickfilm-Reihe »Chip und Chap – die Ritter des Rechts« bekannt.

Wahrscheinlich aufgrund ihrer Popularität sind sie 2009 sogar in den wissenschaftlichen Olymp einer kompetenzorientierten Zentralabiturarbeit im Leistungskurs Biologie in Nordrhein-Westfalen aufgestiegen. Dies berücksichtigt eine der grundlegenden Forderungen der neuen Bildungskonzepte, nach denen der Unterricht – und in der Folge natürlich auch die Prüfungen – einen Alltagsbezug zum Leben der Schüler1 haben soll und die Inhalte unter Berücksichtigung ihrer Nützlichkeit ausgewählt werden. Man verspricht sich davon höhere Lernerfolge und deren Anwendung im praktischen Leben. Nun haben die meisten Bundesländer erst im Laufe des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrtausends nach und nach Zentralabiturarbeiten eingeführt, die gegenüber den bisherigen dezentralen Verfahren gleich mehrere Vorteile garantieren sollten. Die bis dahin von den Lehrern für ihre Schüler selbst erstellten Aufgaben sollten der Vergangenheit angehören, eine mögliche intensive Vorbereitung der Schüler auf die den Lehrern bekannten Themen sollte unmöglich gemacht werden und eine bessere Vergleichbarkeit der Ergebnisse aller Abitur vergebenden Schulen garantiert sein. Gleichzeitig ging man davon aus, dass kompetenzorientierte Aufgabenformate ein gleichbleibend hohes Qualitätsniveau und eine gerechtere Zuordnung von Studierenden zu gewünschten Studiengängen an den Hochschulen gewährleisten. All dies sollte letztlich auch zu einer besseren Vergleichbarkeit der Zentralabiture der Bundesländer führen. Diese Ankündigungen stießen in der Öffentlichkeit auf breite Zustimmung, während so mancher Lehrer zu Anfang teilweise erhebliche Bedenken hatte, ob denn seine Schüler in der Lage seien, derartig anspruchsvoll angekündigte Zentralabituraufgaben zu lösen.

Bei der Neukonzeption der Zentralabituraufgaben hat es in nahezu allen Bundesländern erhebliche Abweichungen von den bisherigen Aufgabentypen gegeben. Dazu reicht bereits der Blick eines Laien auf die neuen Formate. Lange Textpassagen mit vielen Grafiken und Diagrammen lassen die Aufgaben auf den ersten Blick als sehr anspruchsvoll erscheinen und unterscheiden sich von den Abiturarbeiten vor der Einführung des Zentralabiturs mit ihren relativ knapp bemessenen Materialien und Aufgabenstellungen deutlich. Entsprechend müssen die Schüler gerade zu Beginn der Bearbeitung einen nicht unerheblichen Zeitaufwand dafür ansetzen, die vielfältigen und teilweise ausführlichen Texte in den Informationsmaterialien erst einmal zu sichten. Dafür wird ihnen eine entsprechend lange Vorbereitungszeit zugebilligt, bevor die eigentliche Bearbeitung beginnen kann. Auch die Aufgabenstellungen zu den Materialien sind im Gegensatz zu den relativ kurzen und konkreten Fragen der früheren Arbeiten in der Regel sehr allgemein gehalten.

Zu Anfang traten sowohl bei Lehrern als auch bei Schülern Verständnisschwierigkeiten auf, worin denn nun die eigentliche Leistung bestehe, um derartige Aufgaben erfolgreich lösen zu können. Die den Lehrern zur Korrektur der Arbeiten überlassenen Erwartungshorizonte in Form von Lehrerhandreichungen, nach denen die Klausuren zu korrigieren sind, zerstreuten dann aber die anfänglichen Zweifel sehr schnell. Nach den ersten Durchgängen des Zentralabiturs, beispielsweise in Nordrhein-Westfalen ab 2007, hörte man viele Lehrer klagen, die Arbeiten seien fachlich teilweise »unterirdisch«, die Schüler müssten in erster Linie Lesekompetenz nachweisen, denn viele Antworten seien bereits im Text enthalten. Die früher vom Schüler in die Abiturprüfung einzubringenden und nachzuweisenden fachlichen Grundlagen seien weitgehend aus den neuen Aufgabenformaten verschwunden. Die Lösung vieler solcher Aufgaben sei schon Neuntklässlern möglich, die verstehend lesen könnten.

So kam man auf die Idee, die Nagelprobe durchzuführen und eine neunte Klasse eine derartige Zentralabiturarbeit schreiben zu lassen. Obwohl seitens des Kultusministeriums für derartige Untersuchungen keine Genehmigung zu erhalten ist – es sei denn, man spricht die Vorgehensweise und besonders die Handhabung möglicher Ergebnisse vorher ab –, fanden sich dennoch Lehrer bereit, ein solches Experiment an einem Gymnasium in Nordrhein-Westfalen unter Berücksichtigung der formalen Vorschriften durchzuführen. Auf den ersten Blick vermessen, fiel die Auswahl im Fach Biologie von 2009. Das Thema und die fachlichen Grundlagen waren den Schülern nicht bekannt. Dennoch gaben alle Schüler umfangreich beschriebene Klausurbögen ab, so dass davon auszugehen war, dass die Schüler die Aufgabenstellung verstanden und auch ernst genommen hatten. Das Ergebnis übertraf sogar die Erwartungen aller an dem Versuch Beteiligten. Von 27 Schülern kamen nur vier über die Note »Mangelhaft« nicht hinaus, 14 Schüler erreichten die Notenstufe »Ausreichend«, fünf Schüler landeten im Dreierbereich, drei Schüler schafften gar ein »Gut«, und ein Schüler erhielt die Note »Sehr gut«.2

Wie war das möglich? Um nun besser nachvollziehen und bewerten zu können, was im Zentralabitur in vielen Fächern in immer mehr Bundesländern zu leisten ist, versuchen wir im folgenden eine Lösung für die erste von vier Teilaufgaben für diese den Schülern vorgelegte Zentralabiturarbeit gemeinsam zu erarbeiten. Sie stammt aus dem Teilgebiet der Populationsökologie, einer Disziplin, die das Verhalten von Populationen in der freien Natur und ihre wechselseitigen Beziehungen untersucht. Populationsökologie scheint zudem eines der Lieblingsthemenbereiche im Zentralabitur zu sein, kommt es doch bis heute als durchgehendes Thema alljährlich vor und wird von den Schülern mit Abstand am meisten gewählt. Konkret geht es in der Aufgabe um die uns nun bekannten Streifenhörnchen. Das Thema der Aufgabe lautet: Wie wirken sich Mastjahre und Parasiten auf Nagetierpopulationen aus? Dazu erhält der Schüler unter der Überschrift Streifenhörnchen-Populationen und Zecken für die Teilaufgabe 1 folgendes Informationsmaterial und die nachfolgende Grafik:

In den Laubwäldern Nordamerikas leben Streifenhörnchen (Tamias striatus). Sie ernähren sich vor allem von Samen, insbesondere von Eicheln. Wenn die Eichen sehr viele Eicheln haben, spricht man von »Mastjahren«. In solchen Mastjahren ist die Überlebensrate von kleinen Nagetieren im Winter allgemein höher. Streifenhörnchen sind die bevorzugten Wirte von parasitischen, blutsaugenden Zecken (Ixodes scapularis). Die Zecken saugen in ihrem Leben dreimal Blut: erst als Larve, dann nach der Häutung als Nymphe und nach einer weiteren Häutung schließlich als erwachsenes Tier, das ein größeres Säugetier als Wirt sucht. Die Entwicklung dauert mehr als ein Jahr. Anschließend erfolgen Paarung und Eiablage.

Im amerikanischen Bundesstaat New York wurden in einem Langzeitprojekt über acht Jahre in einem Laubwald die Eichelmenge, die Zahl der Streifenhörnchen und die Zahl der Zeckennymphen untersucht. Abbildung 1 zeigt das Ergebnis.

Abbildung 1: Zeitlicher Verlauf der Eichelmenge (Eicheln auf einem Quadratmeter), der Populationsdichte der Streifenhörnchen (Anzahl Individuen pro 2,25-Hektar-Fläche) und Zeckennymphen (Anzahl Individuen pro 100 Quadratmeter) im Bundesstaat New York, USA

Die vom Schüler zu bearbeitende Aufgabe 1 lautet nun: Beschreiben Sie zusammenfassend die Veränderungen der Eichelmenge, Streifenhörnchen-Population und Zeckennymphendichte, und erklären Sie die möglichen Ursachen der Schwankungen (Material A).3

Für die erfolgreiche Lösung dieser Aufgabe ist es besonders wichtig, dass der Leser auf keinen Fall versuchen sollte, sich an irgendwelche biologischen Fakten aus seiner Schulzeit zu erinnern, die vielleicht noch rudimentär vorhanden sind. Das wäre kontraproduktiv und würde eine erfolgversprechende Lösung massiv behindern. Wir konzentrieren uns ausschließlich auf den Text, die Aufgabenstellung und die Grafik. Entsprechend der Aufgabenstellung wird vom Schüler zuerst einmal die Beschreibung der Veränderung der Eichelmenge, der Streifenhörnchenpopulation und der Zeckennymphendichte erwartet. Schauen wir uns dazu die Kurven an, können wir, ohne viel nachzudenken, diese ganz einfach wie folgt beschreiben: Alle drei Kurven schwanken in dem angegebenen Zeitraum von 1993 bis 2002 mehr oder weniger stark, wobei die Kurve der Eicheln 1994, 1998 und 2001, die Kurve der Streifenhörnchen 1995 und 1999 und die Kurve der Zeckennymphen die höchsten Werte 1996 und 2000 erreicht. Selbstverständlich kann man das auch anders formulieren, beispielsweise dass die Kurven der Eicheln, der Streifenhörnchen und der Zeckennymphen hinauf und wieder hinunter gehen und in den entsprechenden Jahren Höhepunkte oder Tiefpunkte aufweisen. Dies reicht erst einmal vollständig aus, da der verwendete Operator Beschreiben noch keine Erklärung oder Analyse der Kurvenverläufe verlangt. Operatoren wie beschreiben, analysieren diskutieren, bewerten, erklären u. a. werden in der Einheitlichen Prüfungsanforderung in der Abiturprüfung (EPA) den drei Anforderungsbereichen I–III je nach ihrer Wertigkeit zugeordnet. Schauen wir uns den Erwartungshorizont an, nach dem die Lehrer die Arbeiten zu korrigieren haben, so finden wir dort folgende Angaben: Der Prüfling beschreibt zusammenfassend die Kurvenverläufe in Abb. 1, dass z. B. die Eichelmenge stark schwankt und in den Jahren 1994, 1998 und 2001 Maxima zu erkennen sind, die Zahl der Streifenhörnchen ebenfalls stark schwankt und die Maxima in den Jahren 1995 und 1999 liegen, die Zahl der Zeckennymphen gleichfalls stark schwankt und die Maxima in den Jahren 1996 und 2000 liegen.4 Hier haben wir also ohne viel Aufwand einen Volltreffer gelandet und verbuchen die ersten sechs Punkte dieser Teilaufgabe auf der Habenseite. Verwundert sind wir schon ein wenig, da der Operator Beschreiben entsprechend der EPA definiert, dass der Schüler Strukturen, Sachverhalte oder Zusammenhänge strukturiert und fachsprachlich richtig mit eigenen Worten wiedergeben kann.5 Welche Strukturen, Sachverhalte oder sogar Zusammenhänge hier wiederzugeben sind, bleibt wohl allein den Verantwortlichen für diese Aufgabe vorbehalten.

Nun werten wir diese Teilfrage als schülerfreundlichen Einstieg in die Zentralabiturarbeit. Schließlich sind die Schüler am Tag des Zentralabiturs auch mit einer gewissen Nervosität behaftet, und ein einfacher Einstieg in ein Thema erleichtert sicherlich die Bearbeitung der nachfolgenden Aufgabenteile mit deutlich höher ausgewiesenem Schwierigkeitsgrad. Im zweiten Teil der Aufgabe verspricht schon die Benutzung des Operators Erklären einen deutlich höheren Anforderungsbereich. Der Schüler soll einen Sachverhalt auf Regeln und Gesetzmäßigkeiten zurückführen, sowie ihn nachvollziehbar und verständlich machen, so die Definition des Operators in der EPA.6 Wie gehen wir nun vor? Wir müssen herausfinden, wer hier die Beute und wer der Räuber ist, oder einfacher gesagt, wer wen frisst. Dazu schauen wir uns die Kurven einmal genauer an. Abgebildet sind Streifenhörnchen, Eicheln und Zeckennymphen. Die müssen irgendwie etwas miteinander zu tun haben, das wissen auch Neuntklässler. Jetzt können wir nach dem Ausschlussprinzip der Sendung »Wer wird Millionär« erst einmal feststellen, wer wen ganz sicher nicht frisst. Dass die Eicheln die Streifenhörnchen oder die Zeckennymphen fressen, ist eher unwahrscheinlich, das schließen wir aus. Dass die Zeckennymphen die Eicheln fressen oder an ihnen Blut saugen, ist auch mehr als fraglich, und auch die Streifenhörnchen dürften sich wohl kaum von Zeckennymphen ernähren oder an ihnen schmarotzen. Wir legen uns also fest: Streifenhörnchen fressen Eicheln, und Zeckennymphen parasitieren an den Streifenhörnchen. Die dargestellten Kurven müssen diese Abhängigkeit aufzeigen, und tatsächlich kann man leicht herausfinden, dass 1993 die Zahl der Eicheln stark zunimmt – es war wohl ein besonders gutes Jahr für die Produktion von Eicheln – und zeitversetzt um ein Jahr auch die Zahl der Streifenhörnchen, die jetzt mehr zu fressen hatten und sich dadurch auch besser fortpflanzen konnten. Dass wiederum zeitversetzt um ein Jahr die Zahl der Zeckennymphen ansteigt, liegt auf der Hand, stehen ihnen doch nun erheblich mehr Streifenhörnchen für einen Befall zur Verfügung. Da die vielen Streifenhörnchen die Eicheln bis 1996 weitgehend gefressen hatten, geht deren Zahl in der Grafik zurück und wiederum zeitversetzt auch die Zahl der Streifenhörnchen, die ja jetzt nicht mehr genügend Nahrung fanden. Entsprechendes gilt für die Abnahme der Zeckennymphen als direkte Folge des Rückgangs der Streifenhörnchen. Ab 1996 gibt es dann wieder mehr Eicheln, und zeitversetzt beginnt das ganze Spiel von vorne. Die Kurven der Eicheln, Streifenhörnchen und Zeckennymphen schwanken also regelmäßig. Die nicht immer ganz gleichen Kurvenverläufe könnte man noch darauf zurückführen, dass Streifenhörnchen sich nicht ausschließlich von Eicheln ernähren, Zeckennymphen nicht ausschließlich Streifenhörnchen befallen und es gute oder weniger gute Eicheljahre gibt.

Schauen wir uns nun den Erwartungshorizont für den zweiten Teil der Prüfungsaufgabe an, so lautet dieser: Der Prüfling erklärt mögliche Ursachen der Schwankungen, dass z. B. die Streifenhörnchen u. a. Eicheln fressen, in Mastjahren mit besonders vielen Eicheln die Überlebensrate von Streifenhörnchen im Winter höher ist, und deshalb die Zahl der Streifenhörnchen zeitversetzt mit der Zahl der Eicheln (Nahrungsangebot) schwankt.7

Genau das haben wir ja aus der Abbildung interpretiert. Dennoch fällt uns plötzlich auf, dass wir diese Erwartungen ja irgendwo schon einmal gelesen haben, und bei einem Blick auf den vorgegebenen Text zur Aufgabe fällt es uns wie ein Schleier von den Augen. Unsere Vorgehensweise der Kurveninterpretation nach dem Ausschlussprinzip hätten wir uns also komplett sparen können, es steht nahezu alles für die Beantwortung der Frage Notwendige bereits im Text des Informationsmaterials.

Der dritte Teil der Erwartungen bezieht sich auf das Verhältnis von Streifenhörnchen und Zeckennymphen. Nehmen wir an, dass wir im Leistungskurs Biologie nicht gerade zur Spitzengruppe der besten Schüler gehört haben und uns der Begriff Zeckennymphen unbekannt ist. Zecken kennen wir, aber was sind Zeckennymphen? Wir müssen ins Informationsmaterial schauen und werden schnell fündig. Dort ist der Unterschied zwischen Zecken und Zeckennymphen genauestens erklärt. Im Erwartungshorizont – wir ahnen es schon – finden wir dann auch die nicht wirklich überraschende Beschreibung: Der Prüfling erklärt mögliche Ursachen der Schwankungen, dass z. B. Streifenhörnchen die Wirte von Zeckennymphen sind, deshalb die Zahl der Zeckennymphen zeitversetzt mit der Zahl der Streifenhörnchen schwankt.8 Halten wir folgendes fest: Ohne jegliches Fachwissen lässt sich die erste Teilaufgabe mit der Vergabe von 20 Punkten vollständig durch Ab- oder Umschreiben des Informationsmaterials lösen. Die Kurvendiskussion hätte man sich weitgehend sparen können, es reicht aus, die vorgegebenen Texte auf die Fragen hin zu sichten. Insofern weisen Lehrer ihre Schüler ausdrücklich darauf hin, das Informationsmaterial ausführlich zu lesen, da viele Antworten dort bereits vorgegeben sind. Schulleiter empfehlen vor Beginn der schriftlichen Zentralabiturarbeiten ihren Schülern ausdrücklich: »Wenn ihr Schwierigkeiten bei der Beantwortung der Fragen haben solltet, schreibt notfalls das gesamte Informationsmaterial ab oder um. Für ein ›Ausreichend‹ oder ein ›Befriedigend‹ wird das allemal reichen.« Auch die anderen drei Teilaufgaben weisen einen zumindest ähnlichen Aufbau auf, wobei in einer Teilfrage aber immerhin erwartet wird, dass die Prüflinge die erste und zweite Lotka-Volterra-Regel kennen, die nicht im Informationsmaterial vorgegeben ist. Diese Regel bestätigt eigentlich nichts anderes, als dass die Individuenzahlen von Räuber und Beute bei ansonsten konstanten Bedingungen periodisch und zeitversetzt schwanken und die durchschnittliche Anzahl von Räuber und Beute über einen längeren Zeitraum konstant bleibt. Auch das haben einige Neuntklässler genauso oder ähnlich wiedergegeben, ohne allerdings die ihnen unbekannte Regel zu erwähnen.

Kurz nach Erscheinen des Artikels in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« (FAZ) über dieses Experiment unter dem Titel »Nivellierung der Ansprüche«9 erschien im »Manager Magazin« eine Glosse unter dem Titel dieses Buches: »Vom Streifenhörnchen zum Nadelstreifen«. Nachdem der Autor die Untersuchung in der neunten Klasse und deren Ergebnis kurz vorgestellt hatte, kam er zu folgender Bewertung:

Wir beim »Manager Magazin« hingegen sehen uns dem aufklärerischen Ideal des unaufhaltsamen Menschheitsfortschritts verpflichtet und meinen deshalb: Wenn 14-jährige Buben und Mädchen inzwischen Abituraufgaben für 18-Jährige bestehen können, dann ist das eine gute Sache. Offenbar wurde endlich die langjährige Forderung von Wirtschaftsverbänden erfüllt, nach der sich die Gymnasialbildung stärker an den Erfordernissen der Unternehmen ausrichten müsse (…) Bildungsforscher Klein mag wüten, doch die Abiturienten werden es den Kultusbeamten schon noch danken, dass sie so gut auf Schlüsselqualifikationen im Konzernmanagement vorbereitet wurden. Zum Beispiel wenn sie später als Vorstandsassistent eine Vorlage zu schreiben haben, die sich jeglicher eigener Gedanken enthält, dafür aber exakt die Meinung des Chefs wiedergibt. Oder wenn die jungen Menschenkinder bei einer Strategieberatung anheuern und ohne jede Fachkenntnis in ein Sanierungsprojekt geworfen werden. Dann gilt es bekanntlich binnen weniger Tage eine makellose PowerPoint-Präsentation zu entwerfen, in der man all jene Sparvorschläge zusammenfasst, die man zwischenzeitlich zwischen Kantine, Kopierer und Kaffeeküche aufschnappen konnte. Und wie sollten sich Abiturienten ohne entsprechendes schulisches Training in jenem konzerntypischen Verbrüderungsritual zurechtfinden, das sich Jour fixe nennt, und in dem es bekanntlich darum geht, die Aussagen des Vorredners mit minimalen Variationen zu wiederholen. So lange, bis endlich alles gesagt ist, und zwar von allen. Professor Klein, verlassen Sie Ihren Elfenbeinturm, stellen Sie sich der Realität!10

Polarfüchse, Bienenwölfe, Kannenpflanzen und allerlei anderes Getier

Nach Bekanntwerden der Untersuchung wurde nicht nur von dem betroffenen Landesministerium behauptet, diese Aufgabe sei eine Ausnahme und solche Aufgaben kämen zudem in anderen Bundesländern nicht vor. Wie eine gerade fertiggestellte Analyse aller Zentralabituraufgaben im Themenbereich »Ökologie« aus Nordrhein-Westfalen von 2007 bis 2015 eindeutig nachweist, ist die Streifenhörnchenaufgabe keinesfalls eine Ausnahme. Dies erkennt man schon unschwer an den Titeln, wie beispielsweise »Rabenvogelstreit und seine populationsdynamischen Hintergründe« (2007), »Lebensgemeinschaft von Ameisen und Ameisenpflanzen« (2008), »Wie wirken sich Mastjahre und Parasiten auf Nagetierpopulationen aus?« (2009), »Wärmehaushalt des Zaunkönigs« (2010), »Die europäische Forelle in Neuseeland« (2011) oder »Ökologie des Bienenwolfs« (2011). Ab 2012 tauchen überraschenderweise für Grundkurs und Leistungskurs die gleichen Themen auf: »Die Gefährdung des Polarfuchses« (2012), »Ökologie der Kannenpflanze« (2013), »Schädlinge in Kakaoplantagen« (2014), »Interspezifische Beziehungen am Yellowstonesee« (2015). Der Unterschied besteht für den Leistungskurs nur darin, dass die Schüler hier bei deutlich verlängerter Arbeitszeit eine Teilaufgabe mehr zu bearbeiten haben.

Am Beispiel des Polarfuchses macht schon die erste Teilaufgabe klar, wie der Hase läuft. Der Schüler erhält im Arbeitsmaterial die Informationen, dass Rotfuchs und Polarfuchs auf der Nordhalbkugel vorkommen, der Polarfuchs sich dabei auf die Polargebiete beschränkt, dass er dort in der Tundra lebt, einer baumlosen Landschaft mit Böden, die neun Monate im Jahr an der Oberfläche gefroren sind, sowie auf Eisfeldern, in tiefen Höhlen oder Schneelöchern. Weiterhin erfährt er, dass die Temperaturen ganzjährig unter null Grad oder knapp darüber liegen und dass der Polarfuchs Temperaturen von minus 40 bis minus 50 Grad toleriert. Über den Rotfuchs erhält der Schüler die Hinweise, dass dieser auf der gesamten Nordhalbkugel bis zum südlichen Rand der Polargebiete vorkommt und sein Fell im ganzen Jahr oberseits rostbraun ist, dass der Anteil der kälteisolierenden Wollhaare beim Rotfuchs ca. 20 Prozent, beim Polarfuchs dagegen rund 70 Prozent beträgt, und dessen Fell im Sommer braun und im Winter weiß gefärbt ist.1

Schreibt der Schüler diese Informationen wortwörtlich ab oder formuliert sie um, befindet er sich auf der sicheren Seite und erreicht entsprechend dem Erwartungshorizont die volle Punktzahl in diesem Aufgabenteil:

Die weiße Fellfarbe tarnt den Polarfuchs im arktischen Winter (…) Der Rotfuchs kommt überwiegend in nicht arktischen Gebieten vor, im Winter liegt nicht immer Schnee. Daher tarnt ihn die rostbraune Färbung in seinem Lebensraum (…) Das dichte Fell des Polarfuchses mit 70 % Wollhaaren isoliert gegen die Kälte. Beim Rotfuchs ist der Anteil der Wollhaare mit 20 % geringer als Angepasstheit an die eher milden Winter. Der Polarfuchs toleriert wesentlich tiefere Temperaturen als der Rotfuchs.2

Wenig zielführend wäre auch hier, wenn der Schüler versuchen würde, weitere ihm bekannte Sachverhalte in seinen Text einzubauen; das hält auf, am Ende fehlt Zeit für die Beantwortung aller Teilfragen, und mehr Punkte als die vorgegebenen kann er ohnehin nicht erreichen. Es ist mehr als offensichtlich, dass man für die Bearbeitung derartiger Aufgaben nicht am Biologieunterricht hätte teilnehmen müssen.

Im Leistungskurs 2011 geht es um den Bienenwolf. Der Schüler schreibt am besten auch hier gleich aus dem Informationsmaterial ab: dass der Bienenwolf Bienen jagt – wer hätte das gedacht – und die gelähmten Bienen die Nahrung für seine Larven sind, die drei Tage nach der Eiablage schlüpfen und zunächst das Fettgewebe und dann die Organe der gelähmten Biene fressen, und dass sich die Bienenwolfweibchen von Pflanzennektar ernähren.3 Eine solche Leistungskursabituraufgabe sollte jeder Neuntklässler mit Lesekompetenz problemlos lösen können, unter der Voraussetzung, dass man ihn vorher ausdrücklich darauf hinweist, dass auch hier alle Antworten im Text oder den Grafiken bereits vorhanden sind.

Auch die Aufgabe zu den Kannenpflanzen (2013), die zu den fleischfressenden Pflanzen gehören, ist sehr aufschlussreich. Im Material erfährt der Schüler, dass fleischfressende Kannenpflanzen im Normalfall nicht auf bestimmte Beutetiere spezialisiert sind und daher ein breites Spektrum an Gliederfüßlern nutzen, dass der Kannenrand und der Deckel auffällig gefärbt sind und am Kannenrand befindliche Drüsen Nektar absondern, dass die innere Kannenwand bei vielen Arten mit sehr glatten Wachskristallen ausgekleidet ist und sich in der Flüssigkeit in dem unteren Teil der Kannen auch zahlreiche Enzyme befinden. In der Aufgabenstellung soll der Schüler zuerst einmal die bei Kannenpflanzen zur Sicherstellung der Stickstoffversorgung auftretenden Besonderheiten benennen.4 Entsprechend dem Erwartungshorizont ist auch hier ein zusammengefasstes Ab- oder Umschreiben des Informationsmaterials ausreichend für den Erhalt der vollen Punktzahl: Kannenpflanzen bestehen aus zu Kannen umgebildeten Blättern mit einem auffällig gefärbten Deckel und Kannenrand, darüber hinaus sitzen Nektardrüsen am Kannenrand und sehr glatte Wachskristalle an der inneren Kannenwand sowie Enzyme in der Kanne.5 Die weitere Teilfrage bezieht sich durch die Nutzung des Operators Diskutieren auf den höchsten Anforderungsbereich III. Der Schüler soll die Funktion der in der Kannenflüssigkeit nachgewiesenen Enzyme diskutieren. Diese Aufgabe könnte kein Neuntklässler erfolgreich bewältigen, und sie ist daher sehr anspruchsvoll gestellt. Der Schüler soll ein tiefes Verständnis grundlegender biologisch-chemischer Zusammenhänge verschiedener Enzymaktivitäten nachweisen. Das ist zweifelsfrei Leistungskursniveau. Man mag es aber schon fast erahnen, dass der Schüler hier zum Erreichen der höchsten Kompetenzstufe wieder einmal nur aus dem Arbeitsmaterial abschreiben muss. Die Kannenflüssigkeit enthält … auch zahlreiche Enzyme: Peptidasen, die Peptidbindungen aufbrechen, Ribonukleasen, die Nukleinsäuren zerlegen, sowie Chitinasen, die das chitinhaltige Außenskelett von Insekten und anderen Gliederfüßern auflösen.6

Die nur selten vorkommenden Gewässerökologieaufgaben entsprechen dem gleichen Schema. Unter dem Titel der Leistungskursaufgabe von 2010 »Johannisbach und Obersee – Gewässergüte und Sanierungskonzept« soll der Schüler u. a. sein grundlegendes Verständnis über die Bestimmung der Gewässergüte und die dafür zugrunde liegende Berechnung von Gewässergüteklassen unter Beweis stellen: Ermitteln Sie anhand von Material C über den Saprobienindex die Gewässergüte des Johannisbaches am Messpunkt A.7

Das klingt ebenfalls anspruchsvoll. Ähnliche Aufgaben gab es auch schon in den achtziger und neunziger Jahren, die sich durch ein um bis zu 90 Prozent reduziertes Informationsmaterial von den heutigen Aufgabenformaten unterschieden. An Fachwissen musste der Schüler einbringen, dass an einer bestimmten Messstelle je nach der Güte eines Gewässers unterschiedliche Tierarten zu finden sind. Einige bevorzugen eher sauberes Wasser, während andere mehr oder weniger verschmutztes Wasser vorziehen. Weiterhin war die Kenntnis einer relativ einfachen Formel zur Berechnung der Gewässergüteklasse vonnöten. Um diese anwenden zu können, bekam der Schüler zwei Zahlenkolonnen vorgegeben: den für jede Tierart feststehenden Gewässergütewert s und den Häufigkeitswert h. Entsprechend der vereinfachten Formel nach Bauer mussten dann die einzelnen Tierfunde aufgelistet und die s- und h-Werte miteinander multipliziert und durch die Anzahl dividiert werden. Die nachfolgende Abbildung verdeutlicht den Vorgang. Diese Bestimmung der Gewässergüteklasse kann problemlos in der Mittelstufe vorgenommen werden. Im Leistungskurs wurde zusätzlich immer auch der g-Wert für das Indikationsgewicht der jeweiligen Art mit in die Formel einbezogen. Hier musste der Saprobienindex nach Zelinka und Mervan genauer bestimmt werden. Alle diese Schritte waren vom Schüler selbständig zu erbringen. Da es sich um einfache Additionen und Multiplikationen handelt, wären auch hier sicherlich Neuntklässler in der Lage, diese Rechnungen erfolgreich durchzuführen. Schaut man sich nun das dem Schüler im Zentralabitur für die Bearbeitung der Aufgabe zur Verfügung gestellte Informationsmaterial an, fragt man sich, ob man nicht einer optischen Täuschung erlegen ist (s. Abb. 2).

Hier ist nichts aus Listen zu entnehmen, hier wird nichts in eine vorgegebene Formel eingetragen, nichts angewendet, nichts berechnet, nicht einmal einfachste Additionen und Multiplikationen auf Grundschulniveau sind durchzuführen. Entgegen der Aufgabenstellung ist hier also auch nichts zu ermitteln, hier ist bereits alles ermittelt! Der Schüler bekommt also den kompletten Erwartungshorizont direkt im Informationsmaterial vorgegeben.

Für den weiteren Vergleich mit einer anderen Messstelle muss der Schüler nur wissen, dass die Zahl 2,58 größer oder kleiner ist als eine andere ihm vorgegebene einfache Zahl von 1 bis 4. Einzelne Landesregierungen trauen ihren Schülern im Biologieunterricht anscheinend nicht einmal mehr mathematische Grundschulkenntnisse des Einmaleins zu. Das könnte möglicherweise die gewünschte Abiturquote gefährden. Da geht man lieber auf Nummer sicher.

Wenn in Nordrhein-Westfalen ein Lehrer in den neunziger Jahren bis zum Zeitpunkt der Einführung des Zentralabiturs 2007 eine der vorgestellten Aufgaben als Abiturvorschlag bei der Bezirksregierung eingereicht hätte, wäre der zuständige Dezernent aufgrund tiefer Besorgnis um den Gemütszustand des Kollegen sofort beim zuständigen Schulleiter vorstellig geworden und hätte um die unmittelbare Konsultation des Kollegen beim Amtsarzt gebeten.

Viele Schüler können diesen Spuk kaum glauben und äußerten sich schon 2011 in den »Uni-Protokollen« nach geschriebener Leistungskursklausur für Physik wie folgt: »jaa das ganze beschreiben war total nervig ich glaub ich habe mehr text als in meiner englisch klausur geschrieben (…) mathematischen anspruch hatte es so irgentwie gar nicht (…) finde ich auch sehr schade«, und: »LTH2 war ja echt mal nen Witz ^^ Hätte überhaupt nichts lernen brauchen, war auch ne halbe Stunde vorm Ende fertig. Richtig geil.«8

Für die Leistungskursaufgabe zum Bienenwolf in Biologie gab es die folgenden Kommentare: »… Fand das aber irgendwie zu leicht. Das meiste stand in den Infotexten«, oder: »… und ganz ehrlich (…) ich kam mir echt doof vor, das meiste stand im text. (…) hatte echt das gefühl, dass ich einfach nur von den materialien abschreibe (…) ganz ganz seltsam.«9

Auch die Sprachen sind davon betroffen: »Der Sachtext war eigentlich sehr einfach fand ich und Vorwissen zu Shakespeare brauchte man wie erwartet absolut gar nicht. Ich hasse ja eigentlich Shakespeare, aber egal der Text war ok. Ich habe das gleiche Thema mit einem ähnlichen Sachtext schon in der Vorabi Klausur gehabt daher war das im Prinzip nur ne Wiederholung.«10

Weiße Haie, Hamburger See-Elefanten, springende Tiger und Versteckspielen

Nun war Nordrhein-Westfalen nicht gerade erfreut über das Ergebnis dieses Experiments mit Schülern der neunten Klasse, da ja hier mehr als deutlich wurde, dass Fachwissen als Basis zur Lösung der Aufgaben und der nachzuweisenden Kenntnisse so gut wie kaum vonnöten war. Nordrhein-Westfalen muss sich aber nicht grämen, die zuständigen Behörden in dem einen oder anderen Bundesland schaffen das schier Unmögliche, nämlich derartige Aufgabenstellungen in ihrer fachlichen Anspruchslosigkeit noch zu toppen.

Es ist oft mehr als erstaunlich, wie Studien und ihre Ergebnisse heutzutage als der endgültige Beweis für die Beantwortung von allen möglichen Fragestellungen gelten und als Wort Gottes aufgenommen werden. Eine erste Überprüfung der KESS-12-Studie, die die Kompetenzen und Einstellungen der Hamburger Schülerinnen und Schüler behördenintern überprüft, ergab dann auch wenig überraschend, dass dort gar keine Zentralabituraufgaben oder auch mündliche Teile der Abiturprüfung getestet wurden, wie man eigentlich nach der frohen Botschaft aus Hamburg hätte erwarten können. Es wurden Aufgaben aus den TIMS-Studien (Trends in International Mathematics and Science Study) der neunziger Jahre für die Naturwissenschaften – teilweise auf Mittelstufenniveau – und aus dem TOEFL-Test (Test of English as a Foreign Language) eingesetzt, die mit den gültigen Lehrplänen und der Allgemeinen Abiturprüfungsordnung gar nichts zu tun haben und auch methodisch keineswegs überzeugen.4 Die von einer Gruppe von Fachmathematikern, Fachdidaktikern und Fachlehrern durchgeführten Analysen zum fachlichen Niveau der Hamburger Zentralabituraufgaben der entsprechenden Jahre in Mathematik und Biologie ergaben folglich ein ganz anderes Bild.56

Auch in Hamburg steht im Fach Biologie der Themenbereich Ökologie hoch im Kurs. In Schülerkreisen genießt insbesondere die Ökologie mittlerweile den Ruf eines »Laberfachs«. Ähnlich wie in mittlerweile vielen Bundesländern nimmt auch hier die Populationsökologie einen breiten Raum ein. So mussten sich 2005 die Schüler mit dem Thema »Seehundbestand« beschäftigen. Im Vergleich mit einer ähnlichen Aufgabe von 2010 – 2011 bis 2013 gab es in Hamburg im Fach Biologie kein Zentralabitur – enthielt diese aber deutlich weniger Informationsmaterial, und der Schüler musste zumindest in Teilaufgaben eigenes Fachwissen einbringen, ohne das die Aufgaben nicht vollständig hätten gelöst werden können. Die Aufgabe von 2010 – mittlerweile bekannt als »Die Hamburger See-Elefanten« – ist komplett in »Zeit Online« mit Erwartungshorizont eingestellt,7 und es lohnt sich, diese Aufgabe einmal näher zu betrachten. Sie ist nach dem bekannten Muster der Streifenhörnchen-Aufgabe konzipiert und enthält ausführliche Informationen und Grafiken. In der ersten Teilaufgabe erhält der Schüler im Material neben einem ausführlichen Informationstext erst einmal eine einfache Grafik zu deren Populationsentwicklung (s. Abb.).89

Abbildung 2: Entwicklung der See-Elefanten-Population auf der südlichen Farallon-Insel im Zeitraum von 1999 bis 2001

Die erste Teilaufgabe lautet nun, die Populationsentwicklung an Hand dieses Materials zu beschreiben und zu begründen. Der Beschreibung ist Genüge getan, wenn der Schüler aus dem Kurvenverlauf erkennt, dass die Population der See-Elefanten in den Jahren von 1998 bis 2001 jeweils zwischen 800 und 1200 Tieren schwankt und dass im ersten Quartal jeweils der Anstieg und im letzten der Abstieg erfolgt. Das sollte jeder Siebtklässler mühelos erkennen können. Im zweiten Teil der Frage ist nach der Begründung gefragt. Zur Begründung können wir aus dem ausführlichen Informationsmaterial folgende Textstellen wörtlich entnehmen und erfüllen den Erwartungshorizont vollständig: Die Jungtiere werden nach 11 Monaten Tragzeit etwa im Januar geboren, ungefähr drei Wochen nach der Geburt paaren sich die Weibchen erneut mit den Männchen. Während dieser Zeit leben die Jungtiere in ständiger Gefahr, von den aggressiven Bullen erdrückt zu werden. Sie bleiben knapp drei Monate an Land, müssen dann das Schwimmen und den Beutefang erlernen. Dabei laufen sie Gefahr, selber gefressen zu werden.10 Diese Angaben schreiben wir entweder wortwörtlich ab oder formulieren sie um. Sie enthalten die komplette Lösung entsprechend den Vorgaben im Erwartungshorizont. Damit haben wir bereits 30 Prozent der Abituraufgabe vollständig gelöst. Überraschenderweise wird diese Analyse von der Behörde bestätigt. Im Erwartungshorizont heißt es wörtlich: Der Operator »beschreiben« weist auf die Anforderungsbereiche I–II hin. Da die geforderte Lösung direkt aus dem Material herauszulesen ist, entspricht dies dem Anforderungsbereich I. Der Operator »begründen« weist auf die Anforderungsbereiche II–III hin. Da die geforderten Argumente dem Material direkt zu entnehmen sind, entspricht dies dem Anforderungsbereich II.11 Es bleibt festzuhalten, dass wir entsprechend dem verwendeten Operator Beschreiben weder Strukturen, Sachverhalte noch Zusammenhänge unter Verwendung der Fachsprache in eigenen Worten wiedergegeben haben. Erst recht nicht haben wir den Sachverhalt auf Gesetzmäßigkeiten und kausale Zusammenhänge zurückgeführt, wie dies durch die Verwendung des Operators zwingend gefordert ist.

In der nächsten Teilaufgabe soll der Schüler die Schlüsselkompetenz der Grafikinterpretation anwendungsorientiert nachweisen. Konkret sollen die Aussagen der beiden Abbildungen 3 und 4 interpretiert werden.1213

Ähnlich wie bei den Streifenhörnchen geht es erst einmal darum zu erkennen, wer hier der Räuber und wer die Beute ist und wer in welchem Gebiet wen jagt. Schon die Abbildungsbeschriftungen weisen eigentlich genau aus, wer hier hinter wem her ist. Sollten wir das übersehen haben, können wir auch hier wiederum nach dem Ausschlussprinzip vorgehen. See-Elefanten dürften kaum Haie oder Schwertwale angreifen oder fressen, das ist Alltagswissen, das schließen wir mithin aus. Dass Haie Schwertwale fressen oder umgekehrt, ist ebenso eher unwahrscheinlich. Also bleibt nur noch die Möglichkeit übrig, dass die Haie und Schwertwale wohl die Jäger und die See-Elefanten die Beute sind. Diese sensationelle Erkenntnis traut die Hamburger Behörde ihren eigenen Abiturienten aber anscheinend nicht mehr zu. Es könnte ja sein, dass es noch Schüler gibt, die aufgrund einer Leseschwäche den Text oder die Abbildungsbeschriftung nicht richtig verstanden haben oder nicht wissen, wie ein Schwertwal, ein weißer Hai oder ein See-Elefant aussehen. Für die letztgenannten werden dann drei Fotos dem Informationsmaterial auf dem Niveau von Kinder- oder Jugendbüchern hinzugestellt, indem vor allem der Hai mit geöffnetem Maul auch dem letzten Zweifler klar entgegenzuschmettern scheint: »Hallo, ich bin der weiße Hai und auf keinen Fall die Beute!«

Abbildung 3: Angriffshäufigkeit der Schwertwale und Weißen Haie auf See-Elefanten innerhalb der drei Regionen (Beobachtungen in den Jahren 1999 bis 2001)

Abbildung 4: Beutewahl der Schwertwale und Weißen Haie im gesamten Bereich vor der südlichen Farallon-Insel (Beobachtungen in den Jahren 1999 bis 2001)

Aufgeweckte Schüler haben die beiden Grafiken schnell beschrieben. Ein einfaches Ablesen der Säulendiagramme – der weiße Hai jagt bis zu 80 Prozent vornehmlich in der Tiefenwasserregion, während der Schwertwal die Flachwasserregion bevorzugt – erfüllt den Erwartungshorizont vollständig. Für die Beschreibung der Abbildung 4 ist auch nicht gerade eine Meisterleistung erforderlich. Da Haie laut Abbildung 3 in tieferen Regionen jagen, fangen sie die dort befindlichen erwachsenen Tiere der See-Elefanten, da die Jungtiere sich ja noch in der Flachwasserregion aufhalten. Da die Schwertwale in erster Linie in der Flachwasserregion jagen, fressen sie halt die dort befindlichen Jungtiere und Jährlinge, die noch nicht ins offene Meer können. Auch das sollten aufgeweckte Siebtklässler erkennen können. Selbst wer dies nicht hinbekommt, ist noch lange nicht verloren. Schließlich gibt es ja noch das ausführliche Textmaterial, und da werden wir schnell fündig. Fressfeinde der See-Elefanten: Die bevorzugte Beute beider Räuber waren in diesem Gebiet See-Elefanten. Die meisten Angriffe der Schwertwale und Weißen Haie auf See-Elefanten fanden innerhalb der drei Regionen statt, allerdings mit unterschiedlicher Jagdstrategie, und: Erwachsene See-Elefanten sind nachtaktiv, sie schwimmen in der Abenddämmerung in Richtung offenes Meer und kehren in der Morgendämmerung an Land zurück. Jungtiere und Jährlinge (1 – 3 Jahre alte Tiere) nutzen die Strandregion und die Flachwasserregion den ganzen Tag.1415 Dies sind nun die nächsten 20 Prozent der vollständigen Lösung, und die Behörde bestätigt unsere Analyse: Der Operator »darstellen« weist auf die Anforderungsbereiche I–II hin. Da die Lösung direkt aus dem Material abgelesen werden kann, entspricht die geforderte Leistung dem Anforderungsbereich I.16

Die Aufgaben c und d entsprechen diesem Schema. In Aufgabe c soll der Schüler die beobachtete Koexistenz von Schwertwal und Hai erklären. Dies ergibt sich aus der Aufgabe b), die wir ja gerade ausführlich analysiert und in der wir die Lösung zu c schon ansatzweise enthalten haben: Weißer Hai und Schwertwal kommen sich bei ihren Beutezügen nicht in die Quere, weil sie in unterschiedlichen Regionen ihrer Beute nachstellen. Dies steht genauso im Informationsmaterial. Spätestens in Teilaufgabe d hätte man entsprechend dem Operator Erklären erwarten müssen, dass der Schüler zu einem Sachverhalt ein selbstständiges Urteil unter Verwendung von Fachwissen und Fachmethoden formulieren und begründen17 soll und ihm auch die Chance eröffnet wird, die ganze Breite seines in der Sekundarstufe II erworbenen Fachwissens zu diesem Themenbereich nachweisen zu können, um daraus auf weitere populationsdynamische Entwicklungen in der Zukunft zu schließen. Im Gegenteil, es reicht jedoch aus, wenn der Schüler im Rahmen der Beurteilung einer Aussage zur langfristigen Prognose der Populationsentwicklung an Hand der vorgegebenen Grafiken wiederholend feststellt, dass es regelmäßige Populationsschwankungen im Beobachtungszeitraum gibt, die Zahl der Tiere sich um 1000 einpendelt und dass solche Populationen in der Regel stabil sind und in Zukunft wohl auch bleiben.

Auch hier wird unsere Interpretation durch die Angaben der Behörde zu den vom Schüler einzubringenden Leistungen voll bestätigt: Der Operator »erklären« weist auf die Anforderungsbereiche II–III hin. Da die Erklärung eng an den vorgegebenen Informationen erfolgt, entspricht die geforderte Leistung dem Anforderungsbereich II.18 Für die letzten beiden Aufgabenteile erhalten wir die nächsten 50 Prozent der zu vergebenden Punkte.

Im Gegensatz zur Streifenhörnchen-Aufgabe, in der zumindest in einer Teilfrage grundlegendes Fachwissen einzubringen war, kann diese Aufgabe komplett durch »Lesekompetenz« gelöst werden. Dafür muss auch hier niemand am Biologieunterricht teilgenommen haben. Diese Zentralabituraufgabe ist reiner Mittelstufenstoff und war zu Zeiten der Lehrpläne mit Fachinhalten auch dort angesiedelt.

Berlin verwendet ähnliche Aufgaben mit ausführlichen Informationsmaterialien, die nach dem bekannten Schema abzuarbeiten sind. In der Aufgabe des Leistungskurses von 2013 »Invasion der Dornenkronensterne« geht es um die These, dass die massenhaft eingewanderten Dornenkronen-Seesterne für das Absterben weiter Teile des Großen Barriere-Riffs verantwortlich sind. Die erste Frage dazu lautet dann: Beschreiben Sie interspezifische Beziehungen im Großen Barriere-Riff.19