Vom Stürzen und Wiederaufstehen - Anna Badora - E-Book

Vom Stürzen und Wiederaufstehen E-Book

Anna Badora

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Beschreibung

»Keine meiner verurteilten Gesprächspartnerinnen behauptet, sie sei unschuldig. Aber viele verstehen bis heute nicht, wie sie das Verbrechen begehen konnten. ›Das bin doch nicht ich‹ habe ich immer wieder gehört.« Gemäß der berühmten Chaos-Theorie kann ein einziges Ereignis den Lauf der Geschichte völlig verändern – im großen, aber eben auch im kleinen, persönlichen Bereich. Anna Badora hat Frauen interviewt, die genau davon erzählen können. Sie alle sitzen seit mehreren Jahren als verurteilte Straftäterinnen im Gefängnis. Doch ihre Geschichten sind nicht nur die ihrer Verbrechen. Es sind Geschichten von Frauen, die sich falsch entschieden haben – mit dramatischen Konsequenzen für sie selbst, die Opfer und ihre Familien. Die unterschiedlichsten Wege haben diese Frauen aus einem »ganz normalen«, bürgerlichen Leben in die Haftanstalt geführt. Mit dem Schließen der Zellentür drängten auch die existenziellen Fragen in den Vordergrund: Was habe ich falsch gemacht? Was hätte ich anders machen müssen? Wo hat es angefangen? Der Blick hinter die Gitter der Haftanstalt offenbart eine neue Sichtweise auf das Tabuthema Gefängnis und zeigt, welche Hürden verurteilte Straftäterinnen nach der Haft überwinden müssen, um wieder Teil der Gesellschaft sein zu dürfen. »Nachdem ich meine Strafe hier abgebüßt habe, will ich diese Anstalt mit gehobenem Haupt verlassen, mit einem Lächeln. Alles Schlechte bleibt hier. Ich möchte mich auf das, was kommt, noch freuen dürfen …« (Kati, Gefängnisinsassin)  Weitere Beiträge von: • Beate Peters, Direktorin des Gefängnisses Moers-Kapellen (NRW) • Ines Sturm, Chefpsychologin im Gefängnis Willich 2 (NRW) • Astrid Wagner, österreichische Star-Anwältin • Sabine Matejka, bis August 2023 Präsidentin der Vereinigung der österreichischen Richterinnen und Richter. . . . u.v.m.

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Über das Buch

„Keine meiner verurteilten Gesprächspartnerinnen behauptet, sie sei unschuldig. Aber viele verstehen bis heute nicht, wie sie das Verbrechen begehen konnten. ‚Das bin doch nicht ich‘ habe ich immer wieder gehört.“ Gemäß der berühmten Chaos-Theorie kann ein einziges Ereignis den Lauf der Geschichte völlig verändern – im Großen, aber eben auch im kleinen, persönlichen Bereich. Anna Badora hat Frauen interviewt, die genau davon erzählen können. Sie alle sitzen seit mehreren Jahren als verurteilte Straftäterinnen im Gefängnis. Doch ihre Geschichten sind nicht nur die ihrer Verbrechen. Es sind Geschichten von Frauen, die sich falsch entschieden haben – mit dramatischen Konsequenzen für sie selbst, die Opfer und ihre Familien.

Die unterschiedlichsten Wege haben diese Frauen aus einem „ganz normalen“ bürgerlichen Leben in die Haftanstalt geführt. Mit dem Schließen der Zellentür drängten auch die existenziellen Fragen in den Vordergrund: Was habe ich falsch gemacht? Was hätte ich anders machen müssen? Wo hat es angefangen?

Der Blick hinter die Gitter der Haftanstalt offenbart eine neue Sichtweise auf das Tabuthema Gefängnis und zeigt, welche Hürden verurteilte Straftäterinnen nach der Haft überwinden müssen, um wieder Teil der Gesellschaft sein zu dürfen.

Inhalt

Über das Buch

Vorwort

Der Mann auf der Motorhaube

Mord einer liebenden Mutter

Unterschlagung für das rote Kleid

Raubüberfall unter Druck

Sponsoren im Nacken

Kämpfen wie Bruce Lee

Lustkiller Säure

Versehentliche Erdrosselung

Betrogene Betrügerin

Hintergrundkommentare – Fachleute beleuchten das Umfeld

Danksagung

Über die Autorin

Anmerkung: Im Sinne der authentischen Darstellung der porträtierten Straftäterinnen, ihrer Sprechweise und ihres Denkens wurde in ihren Aussagen bewusst auf einheitliches Gendern der Sprache verzichtet und die Diktion bei Zitaten im Originalton großteils unverändert beibehalten. Das soll auch anzeigen, wie verinnerlicht die „männliche“ Betrachtungsweise ist – gerade wenn die Frauen über sich selbst sprechen und dabei oft das generische Maskulinum verwenden. So sollen sich LeserInnen ein möglichst realitätsnahes Bild dieser Frauen machen können.

Vorwort

Wenn es gut läuft für eine Gefangene, wird aus „Wie konnte das passieren?“ ein „Wie konnte ich das tun, und warum habe ich das getan?“. Sie hat dann die Verantwortung für ihre Straftat übernommen, den ersten Schritt in die erfolgreiche Resozialisierung getan. Denn jede Täterin wird wieder in die Freiheit zurückkehren, selbst die Mutter, die ihre behinderte Tochter umgebracht oder die Kaufsüchtige, die ihren Gläubiger erstochen hat, selbst die Autofahrerin, die mit ihrem Freund auf der Motorhaube über die Autobahn raste. Auch für sie muss das Leben nach der Haft weitergehen. „Natürlich gab es Frauen bei uns im Gefängnis“, sagt die frühere Insassin Zora, „die von Grund auf bösartig und psychisch so krank waren, dass ihnen kaum mehr zu helfen war. Es gab aber auch viele, die wirklich etwas ändern, besser machen wollten, die Hilfe brauchten. Die das bisschen Gespür in sich fürs Leben, fürs Überleben noch nicht ganz verloren haben.“

Genau darum geht es in diesem Buch: um Frauen in Gefängnissen, die falsche Entscheidungen getroffen haben, manche mehrere, falsch abgebogen sind, den falschen Mann geheiratet und plötzlich ihr bisheriges Leben ohne Vorwarnung in Trümmern vorgefunden haben. Sie kommen oft aus der Mitte der Gesellschaft, aus Familien, die Kriminalität sonst nur aus dem Tatort oder Netflix-Serien kennen. Einige von ihnen lebten vor ihrer Tat in privilegierten Verhältnissen, in Eigenheimen, angesagten Stadtvierteln. Mit Ehemännern in gehobenen Positionen, die ihren Familien vieles boten – Geld, Reisen, Privatschulen, Oberklassewägen, gepflegte Vorgärten –, außer Zeit und Aufmerksamkeit. Manche dieser Frauen jagten dem eigenen Anspruch nach Selbstoptimierung hinterher, wollten perfekt im Beruf, als Mutter und Ehefrau sein. Warnsignale ihres Körpers ignorierten sie, schluckten Schmerz-, Schlaf- oder Aufputschmittel in rauen Mengen, um immer weiter funktionieren zu können. Andere wurden kaufsüchtig, weil sie mit ihren FreundInnen Schritt halten wollten. Oder versuchten, wenn sie aus fremden Kulturkreisen kamen, ihre kulturelle Prägung mit den westlichen Werten ihrer neuen Heimat in Einklang zu bringen. Wie unter einem Vergrößerungsglas sieht man in der Herleitung ihrer Straftaten dunkle Aspekte unserer Gesellschaft.

Über ihre Taten haben bereits die Gerichte geurteilt. Wenn sie abgebüßt wurden, darf ihr Umfeld – ihre Familie, ihre Nachbarschaft, ihre Vorgesetzten und KollegInnen sie nicht erneut verurteilen und durch Stigmatisierung weiter büßen lassen. Das versperrt den Weg zu einer erfolgreichen Rückkehr in die Gesellschaft.

„Damit das Leben nach der Haft gelingen kann“, schreibt Beate Peters, die Leitende Regierungsdirektorin aus Nordrhein-Westfalen, in ihrem Beitrag, „sind faire Chancen unerlässlich, wie auch eine Perspektive, die wegführt vom abstrakten Bild der ‚Verbrecherin‘, hin zu einer konkreten Person in ihrem sozialen Kontext. Und vielleicht ermutigt die Lektüre dieses Buches, Vorurteile nicht nur zu hinterfragen, sondern sogar aufzugeben.“

Insassinnen aus der JVA Willich II vor der Gefängnismauer

Der Mann auf der Motorhaube

Eni K., Justizvollzugsanstalt Willich II, Nordrhein-Westfalen

Das wutentbrannte Gesicht eines Mannes, seine Fäuste trommeln auf ihre Seitenscheibe, sie muss ihm entkommen. Sie gibt Gas, wechselt den Gang, aber sie bewegt sich keinen Meter vorwärts. Es wird nebelig im Auto. Sie sieht nichts, sie kann nicht atmen, der Rauch, woher kommt er? Jetzt rüttelt der Wagen heftig, dann kippt er um …

Sie schreckt aus dem Schlaf hoch. Aber der Albtraum geht weiter. Sie liegt auf der Pritsche in einer engen Gefängniszelle, wie in US-Fernsehserien. Eine Frau bläst ihr Zigarettenqualm ins Gesicht: „Hey du, wach auf! Wo hast du dein Geld versteckt? Oder hast du Wertsachen mit rein geschmuggelt? Du musst sie mir geben. Ich schwöre, sonst bringe ich dich um.“ Sie fuchtelt mit einer abgebrochenen Gabel vor Eni herum. Jetzt schluchzt sie, fleht: „Bitte, bitte, bitte! Meine Medikamente! Die muss ich bezahlen!“ Die beiden anderen Insassinnen schauen regungslos zu, rauchen, kommentieren alles in einer ihr unverständlichen Sprache. Eni hat zu Hause gelernt, den Menschen zu vertrauen. Nein zu sagen, wenn Menschen in Not sind, hat man ihr nicht beigebracht. Sie greift nach dem goldenen Kettchen an ihrem Fußknöchel, gibt es der Frau. Jetzt springen die beiden anderen interessiert auf …

Es war kein Traum. Sie ist wach.

Diese Geschichte ihrer ersten Nacht im Gefängnis erzählt Eni Jahre später, als ich sie zu unserem ersten Interview in der Justizvollzugsanstalt Willich II in Nordrhein-Westfalen besuche.

Am Anrather Bahnhof angekommen, er besteht aus zwei Gleisen und einer Tafel mit dem Ortsnamen mitten in Äckern und Feldern, frage ich nach dem Weg.

„Ach, Sie wollen in den Knast?“

Unter den neugierigen Blicken der Ortansässigen überquere ich den Parkplatz, am „Palast der Träume“ vorbei, einer pittoresken Eventlocation mit kitschiger Außenfassade, gehe fast endlos an einer grauen Gefängnisaußenmauer entlang. Irgendwo hängt daran ein Schild: Einbahnstraße. Das ist es wohl für einige Insassinnen auch, kommt mir in den Sinn. Ich schließe meine Tasche mit meinem Handy in einem Schließfach außerhalb der JVA ein, betrete den Besuchereingang, registriere mich beim Justizvollzugsbeamten, passiere zwei Schleusen mit hohen, durch Panzerglas gesicherten Türen, die so langsam nacheinander auf- und zugehen, dass gehetzte Menschen von „draußen“ notgedrungen einen Gang runterschalten müssen. Dann nimmt mich Frau S., die Gefängnispsychologin, die mir schon durch die Scheiben ermunternd zugewunken hat, in Empfang. Wir gehen durch die nicht enden wollenden Gefängnisgänge, überqueren einen Innenhof, wechseln die Stockwerke. Immer wieder zieht Frau S. einen Bund Schlüssel aus der Tasche, sperrt schwere Eisentüren auf und hinter uns wieder zu. Schließlich betreten wir ihr Büro, das für meine Interviews mit den Insassinnen vorgesehen ist.

Über Eni weiß ich gar nichts. Ich kenne nicht einmal ihren vollen Namen. Datenschutz wird in deutschen Justizstrafanstalten sehr ernst genommen. Frau S. hat mir von meiner Gesprächspartnerin noch gar nichts verraten. Weder ihre Herkunft noch das Vergehen, für das sie eingesperrt wurde. Für wie lange? Auch das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass sie „sehr gut“ in das von mir beschriebene Profil passt. „Du sollst dir kein Bildnis machen …“ – das zweite Gebot aus dem Alten Testament fällt mir ein. Hier gilt es. Entsprechend habe ich keine bestimmte Erwartung und werde überrascht, staune, als meine Gesprächspartnerin hereinkommt: eine wache, unaufdringliche Frau mit positiver Ausstrahlung und dem beherrschten Auftreten einer Managerin. Ihre Erscheinung passt nicht zu diesem Ort. Auch ihre Biografie nicht, wie ich später immer wieder feststellen werde. Sie hat traditionelle bürgerliche Werte bereits mit der Muttermilch verinnerlicht.

Sie erzählt von ihrer strengen Erziehung in einem kleinem nordrheinwestfälischen Ort. Vater Berufskraftfahrer, nur an Wochenenden zu Hause, Mutter Schneiderin, de facto alleinerziehend. Die beiden Töchter, Eni und ihre vier Jahre jüngere Schwester, lernen strikte Verhaltensregeln: wenig und nur an Sonntagen fernsehen, Mitverantwortung für die Haushaltsführung, keine kurzen Röcke, abends kein Ausgang.

„Damals als Kind fand ich das blöd“, sagt Eni, „wir durften nichts, und Geld war immer knapp. Modische Kleidung wie andere Kinder? Davon konnten wir nur träumen. Heute finde ich es gar nicht so schlecht. Wir waren kaum konsumorientiert, jeder nach langem Sparen endlich gekaufte Wunschartikel bekam dadurch einen ganz besonderen Wert. Wir lernten, anderen Menschen mit Vertrauen zu begegnen, hilfsbereit zu sein und daraus Freude zu schöpfen.“ Sie erzählt von ihrer Großmutter, die ihren Mann im Krieg verloren, allein zwei Kinder großgezogen und ein Haus gebaut hat. „Sie war immer gut gelaunt, hat immer viel gelacht, ihre positive Grundhaltung war für mich ein Vorbild“, schwärmt sie. Von ihr lernt sie, „immer, immer weiterzumachen und aus jeder Situation das Beste rauszuholen“.

Enis Mutter erweitert die Lebensphilosophie der Oma um eigene, sehr preußisch anmutende Grundsätze: „Man muss alles akzeptieren, was auch kommt, sich selber immer hinten anstellen, darf sich nie auflehnen, soll die eigene Meinung für sich behalten.“ Auseinandersetzungen, Diskussionen gibt es in Enis Elternhaus nicht, nicht einmal über alltägliche Themen, schon gar nicht über Wirtschaft oder Politik. Kritik wird als Störung der Familienharmonie angesehen, Veränderungen oder Innovationen als Bedrohung. „Die Mutter hat bestimmt, und wir hatten zu gehorchen“, sagt Eni. Jedem Versuch, aus dieser Ordnung auszubrechen, setzt ihre Mutter irgendein altes Sprichwort entgegen, das Lebenserfahrung ausdrückt und entsprechend nicht zu hinterfragen ist. Es gab viele davon.

Enis Fragen zu ihrer Ausbildung? – „Lehrjahre sind keine Herrenjahre. Da musste durch. Faust in der Tasche ballen und weiter.“

Ihr Wunsch nach modischerer Kleidung? – „Der Mensch ist wichtig, nicht die Hülle.“

Lust, sich auszuprobieren, eigene Vorstellungen durchzusetzen? – „Solange du deine Füße unter unseren Tisch streckst, tust du, was wir sagen.“

Doch Eni hat eigene Vorstellungen, träumt von einem eigenen Leben, von Freiheit. Also muss sie ihre Füße unter dem elterlichen Tisch hervorziehen und gehen. Nach dem Realschulabschluss absolviert sie eine Lehre als Friseurin und zieht in ein Städtchen um, wo sie niemanden kennt, 25 Kilometer von ihrem Elternhaus entfernt. Sie mietet ihre ersten eigenen vier Wände. An ihre damalige Euphorie erinnert sie sich noch heute: „Frei entscheiden zu dürfen, was ich mache, wie ich es mache, wie ich mich anziehe, wie lange ich wegbleiben kann, das war unglaublich befreiend. Und der Friseurberuf war so kreativ!“ Sie jobbt am Wochenende zusätzlich als Kellnerin. „Da habe ich natürlich sehr schnell unglaublich viele Bekanntschaften gemacht, Freunde gewonnen. Das war toll, das war eine schöne Zeit. Richtig, richtig schön!“, schwärmt sie. Sie denkt an einen eigenen kleinen Frisiersalon. Später plant sie, nach einer Fortbildung zur Visagistin als Maskenbildnerin beim Theater unterzukommen. Sie verdient ganz gut, bessert ihren Lohn zusätzlich durch „ein bisschen Haare schneiden da und dort“ auf.

Eines Tages entdeckt sie Rötungen, Schwellungen, Bläschen und Schuppenbildung an den Händen, eine akute Ekzemreaktion, die sie lange ignoriert. Diese entwickelt sich zu einer chronischen Allergie, die sie zwingt, ihren Beruf aufzugeben. Ihre positive Lebenshaltung verhindert, dass sie mit ihrem Schicksal hadert. Sie beginnt sofort in Düsseldorf an einer Handels- und Wirtschaftsschule eine Umschulung zur Bürokauffrau, wird nach ihrem Abschluss von einer örtlichen Immobilienfirma angestellt. Und wieder macht ihr der neue Job, der Umgang mit der Kundschaft große Freude: „Ich arbeite für mein Leben gern, Arbeit ist für mich eine Erfüllung und keine Pflicht. Ich bin ein Arbeitstier durch und durch. Auch Überstunden machen mir nichts aus“, erzählt sie.

Bei einer Wohnungsbesichtigung lernt sie ihren späteren Ehemann kennen. Er kommt aus einer vermögenden Familie, arbeitet in einer der Autofirmen seiner Eltern. Die beiden ziehen zusammen, heiraten, bekommen zwei Kinder. Eni lernt plötzlich „ein ganz anderes Leben“ kennen: „Locker und lustig, ohne diese Strenge wie bei mir zu Hause, und es war alles in Hülle und Fülle da.“ Sie erzählt darüber so begeistert, dass man in ihr dabei plötzlich die junge Frau von damals sieht: „Mein Leben war auf der Sonnenseite: Ein liebender Mann, gesunde Kinder, wir waren der Inbegriff einer glücklichen Familie. Ich bekam in der Firma meines Mannes einen tollen Job, der sich gut mit meinen Mutterpflichten vereinbaren ließ. Wir hatten über dem Autohaus eine riesige 300-Quadratmeter-Wohnung. Ich hatte wunder-, wunderbare Schwiegereltern, wirklich toll, und mein Leben war super. Mein Leben war wirklich super!“

Auch ihr Freundeskreis ist groß, die meisten sind wie sie junge Eltern. An Wochenenden trifft man sich, unternimmt viel gemeinsam. Das genießt sie: „Wir waren nie lange zu Hause, immer unterwegs, in Freizeitparks, auf Spielplätzen.“ Nur ihr Mann ist leider zu selten dabei: „Zu seiner Firma gehörte auch ein Abschleppdienst, er musste ständig erreichbar sein. Wenn er nicht gerade unterwegs war, saß er in seinem Büro fest. Handys gab es damals noch nicht; er war auf ein Telefon mit Kabel an der Wand angewiesen“, erklärt sie, fast ungläubig, dass es so eine handylose Zeit tatsächlich einmal gab. „Bis zur letzten Minute, bis zur Abfahrt, war nie klar, ob er mit uns auf einen Ausflug mitkommen würde“.

Diese Situation belastet sie immer mehr. „Bis auf große Familienfeiern wie Weinachten war ich im Prinzip immer mit den Kindern allein, war für alles allein verantwortlich, musste mich um alles Familiäre allein kümmern. Da habe ich gemerkt: So toll ist unser Familienleben ja doch nicht. Und irgendwann haben wir dann gemeinsam beschlossen, nach elf Jahren Ehe, dass es so keinen Zweck mehr hat. Dann haben wir uns räumlich getrennt, aber sind supergute Freunde geblieben. Wir haben uns wirklich gut verstanden, auch mit den Eltern. Feste wie Weihnachten, Silvester, Ostern oder so haben wir immer zusammen gefeiert, wie früher. Eigentlich war der einzige Unterschied, dass ich mit den Kindern jetzt in einer anderen Wohnung lebte. Ja, und ich war noch immer in seiner Firma angestellt, schmiss mich da immer noch voll rein. So lief es die ganzen nächsten Jahre, und die waren super, alles war supergut. Neun Jahre lebte ich praktisch allein. Meine Kinder wuchsen heran und zogen irgendwann aus. Dann lernte ich einen netten Mann kennen.“

Er ist gebürtiger Pole, Kfz-Mechaniker, arbeitet in einem Lager. Bald schon zieht er zu Eni in ihre Eigentumswohnung. Sie kann mit Geld gut umgehen, lebt sparsam, gibt wenig für Kleidung und Freizeit aus. Da sie in der Firma ihres Ex-Mannes auch noch recht ordentlich verdient, ist ihre Wohnung inzwischen abbezahlt.

Ihr neuer Freund Pawel gibt ihr im Überfluss all das, wonach sie sich in ihrer ersten Ehe so verzehrt hat: gemeinsame Zeit. „Ich kannte das gar nicht, ich fand das supertoll“, sagt Eni. „Ich dachte, Mensch, du hast so ein Glück, du hast wirklich jemanden gefunden, der jede Minute mit dir zusammen verbringen möchte. Ich war so glücklich, glücklich, glücklich. Und wir haben dann auch alles Mögliche zusammen gemacht. Urlaube, die ich vorher gar nicht kannte, weil ich immer nur gearbeitet habe.“ Gereist ist sie auch schon mit ihren Eltern selten. Ihr Vater, beruflich ständig auf Achse, war froh, wenn er endlich „in seinem eigenen Bett schlafen konnte“. Seine beiden Töchter verbrachten ihre Schulferien entsprechend immer zu Hause. Jetzt fährt sie mit Pawel nach Polen, nach Österreich, Kroatien, Thailand. Mit einem in Eigenarbeit umgebauten Wohnmobil besucht sie mit ihm an den Wochenenden Auto- und Motorradrennen, macht Ausflüge nach Holland. Sie entscheiden spontan, wo sie Halt machen möchten. „Die Kinder waren ja nicht mehr im Haus. Ich musste auf sie keine Rücksicht mehr nehmen, ich war frei.“ Ihr Ex-Mann hat keine neue Partnerin, Eni ist „die Liebe seines Lebens“, er bleibt mit ihr befreundet, beschäftigt sie nach wie vor in seiner Autofirma, lernt ihren neuen Partner kennen. „Alles war wunderbar“, erzählt sie, „Pawel war voll in die Familie integriert. Die Kinder mochten ihn auch. Es war alles super.“

Nur ein Problem gibt es. Sie hält inne, bevor sie weitererzählt: „Der Alkohol.“ Ihr Traumpartner Pawel trinkt. Nüchtern ist er charmant, liebevoll, fürsorglich. Seine Spontaneität, sein Abenteuergeist vermitteln ihr ein bis dato unbekanntes Lebensgefühl, das sie schweben lässt. Betrunken verwandelt er sich dagegen in einen extrem eifersüchtigen, zu Gewaltausbrüchen neigenden Choleriker. Wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Und Eni ist so verliebt in Dr. Jekyll, dass sie akzeptiert, auch mit Mr. Hyde umgehen zu müssen. Sie beruhigt ihre skeptischen FreundInnen, die seine „Verwandlungen“ miterleben, verharmlost sie, erklärt sie als seltene, „komische Ausrutscher“. Wie auch Pawel selbst, der seine Saufexzesse als „Kavaliersdelikte“ sieht. Er brüstet sich vor seinen Freunden, dass er auch noch volltrunken ein Auto steuern kann. Sie lachen darüber, und Eni stimmt ein. Sie will ihre Gemeinsamkeit nicht verlieren, die sie, trotz aller Irritationen, beglückend schön findet. Dann aber tut sich überraschenderweise noch ein Problem mit ihrer Arbeitsstelle auf: Die Zahlung ihres Monatsgehaltes bleibt plötzlich aus. Im darauffolgenden Monat kommt wieder nichts. „Ich sprach meinen Ex-Mann mehrmals darauf an, aber er hat immer nur so um die Ecke geredet: ‚Nächste Woche, jetzt ist gerade schlecht, hab Geduld.‘ Irgendwann fehlten mir dann drei volle Gehälter. Dann musste ich natürlich einen Anwalt nehmen. Und dann hat er gesagt: ‚Du bist von der Arbeit freigestellt, du brauchst nicht mehr zu kommen.‘ Kurz darauf kam die schriftliche Kündigung. Ja, und das war’s.“

Anfangs macht sie sich keine großen Sorgen; sie ist überzeugt, dass sie rasch und problemlos einen anderen Job findet. Auch ihr Freundeskreis hat daran gar keinen Zweifel. Sie gilt als Powerfrau, als hervorragende Fachkraft. Aber die Arbeitssuche gestaltet sich schwierig. Auf ihre Bewerbungen hagelt es Absagen, eine für sie völlig ungewohnte, demütigende Situation. Ob es an ihren hohen Gehaltsforderungen liegt? Sie weiß es nicht. Aber sie will sich auch nicht unter Wert verkaufen. Sie fällt in ein tiefes Loch, kann nicht mehr durchschlafen, fühlt sich gesundheitlich angegriffen. Ihr Arzt überweist sie daraufhin nach Köln in eine psychosomatische Reha.

Frau S. kommt herein, und ich merke, dass ich unsere vereinbarte Interviewzeit weit überschritten habe und dringend zum Zug muss. Ich greife nach meinem Mantel, Notizblock, Aufnahmegerät, verabschiede mich kurz von Eni, die für den Weg zurück in ihre Zelle abgeholt wird. Beim Hinausgehen dreht sie sich plötzlich noch einmal um und fragt: „Sie wollen doch sicher wissen, was ich angestellt habe? Suchen Sie im Internet nach ‚Mann auf der Motorhaube‘, da werden Sie staunen, was dort alles über mich und meine Straftat zu finden ist.“

Tatsächlich! Ich lese: „Frau rast mit Mann auf Motorhaube über Autobahn“, „Frau aus dem Kreis Viersen mit Mann auf Motorhaube“, „Fahrt mit Mann auf der Motorhaube“ – diese und noch viel reißerische Schlagzeilen geisterten Ende Dezember 2019 durch beinahe die gesamte deutsche Medienlandschaft. Ich versuche, mir daraus ein Bild über Enis Delikt zu machen.

Im Umfeld ihrer Gerichtsverhandlungen titelten die Medien „Angeklagte kann sich an wilde Autofahrt nicht mehr erinnern“ und „Sieben Jahre Haft für Fahrt mit Partner auf der Motorhaube“. So erfahre ich auch, dass sie „einem Gutachter zufolge (…) zum Tatzeitpunkt zwar mit einem Blutalkoholwert von 2,3 Promille stark alkoholisiert, aber dennoch weder in ihrer Steuerungs- noch ihrer Schuldfähigkeit eingeschränkt“ war. Das scheint ungewöhnlich. Bei unserem nächsten Gespräch schildert Eni den „Unfall“ aus ihrer Perspektive.

Es ist der 27. Dezember 2019. An diesem Tag wollen Pawel und sie eigentlich eine Party veranstalten und ihre frisch renovierte Wohnung feiern, die sie mit eigenen Händen umgestaltet, modernisiert und verschönert haben. Die Party aber muss ausfallen. Die Wohnung ist doch nicht fertig geworden. Stattdessen fahren sie nach Köln, um Enis noch fehlende Dokumente persönlich in die Reha-Klinik zu bringen. „Dann sind wir noch auf dem Klinikgelände rumgelaufen, haben die Bowlingbahn angeguckt, das Schwimmbad. Alles wunderbar. ‚Wenn du mich am Wochenende besuchst oder mit den Kindern kommst‘, sagte ich zu Pawel, ‚dann wissen wir, wo wir hingehen können. Wunderbar. Alles klar.‘“

Beim Verlassen des Klinikgeländes werden sie von einigen Männern gegrüßt; ob es Reha-Patienten oder Besucher sind, weiß sie nicht. Sie winken ihnen freundlich zurück und gehen zum Auto. Eni will eigentlich direkt nach Hause, Pawel würde aber gerne noch etwas unternehmen. „Er bat mich, ins Handy zu gucken, ob es noch irgendwo einen Weihnachtsmarkt gibt“, erzählt sie, „er hörte von Düsseldorf.“ Sie ist skeptisch: „Ende Dezember?“ Aber laut Handy hat Pawel recht. Also fahren sie nach Düsseldorf.

Auf dem Markt trinken sie Glühwein. Unzählige Becher. Sie braucht sich ja nicht zurückzuhalten, Pawel würde wie immer das Steuer übernehmen. „Je mehr ich trinke, desto besser fahre ich“, zitiert sie seinen Lieblingsspruch. „Irgendwann sind wir auf der Autobahn, fahren nach Hause. Ich seufze: ‚Mensch, in zweieinhalb Wochen beginnt schon meine Reha. Ganz allein, ohne dich muss ich da hin.‘ Da kriegt er plötzlich einen Eifersuchtsanfall und rastet aus, rastet richtig aus, rastet sowas von aus …“ Was Eni weiter beschreibt, wirkt wie ein Ausschnitt aus einem surrealen Film, mit überzeichneten, grellen Szenen, dazwischen Standbilder und Leerläufe: Neben ihr auf dem Fahrersitz scheint plötzlich Mr. Hyde zu sitzen. Sie sieht sein wutverzerrtes Gesicht, seine hasserfüllten Augen. Er schreit irgendwas von „diesen Typen von der Reha“, auf die sie „sicher scharf“ sei. Brüllend fährt er von der Autobahn ab auf einen Parkplatz, stellt den Motor aus, fordert sie auf, den Wagen zu verlassen. „Ich zeige dir, was man in Polen mit Weibern wie dir macht“, schreit er, steigt selbst aus, läuft zur Beifahrerseite, will sie aus dem Wagen zerren. Schnell drückt sie von innen die Zentralverriegelung herunter. Er beginnt, mit den Fäusten auf den Wagen zu hämmern, auf die Scheiben, auf das Dach. „Er hat mich wie bescheuert angeschrien, ich solle sofort rauskommen. Das kannst du nicht, dachte ich, er schlägt dich kaputt.“

„So habe ich gewartet, lange gewartet“, erzählt sie. „Es war ja dunkel und kalt draußen. Er hat sich auf die Motorhaube gesetzt, geraucht. ‚Was machst du jetzt? Was machst du jetzt bloß?‘, habe ich gemurmelt, wie ein Gebet. Ich habe wieder gewartet. Ich kann heute nicht mehr einschätzen, wie lange. Wir hatten doch beide getrunken. Schließlich sprang er von der Motorhaube runter, lief wieder um das Auto rum, schlug wieder auf das Dach, auf die Scheiben. Mich packte plötzlich solche Angst, ich dachte, wenn er den Wagen aufkriegt, wenn die Scheiben brechen, komme ich nicht mehr lebend raus. Ich sah den Schlüssel stecken – meine einzige Chance. Bin dann rübergekrabbelt auf den Fahrersitz, hab das Auto gestartet. Hab ihn noch schreiend an der Seite gesehen, und hab nur noch Gas gegeben. Durch den vielen Glühwein an dem Abend musste ich mich sehr konzentrieren; ich bin noch nie, nie alkoholisiert Auto gefahren. Zur Firma meines Ex-Mannes, wo ich arbeitete, gehörte doch ein Abschleppdienst. Für uns als ‚Partner‘ der Polizei wäre Alkohol hinterm Steuer undenkbar; ich hätte niemals meine Arbeitsstelle aufs Spiel gesetzt. Niemals. Aber in dem Moment bin ich losgefahren.“

Laut Eni passierte dann das Folgende: Sie fährt los, sieht noch durch die Scheibe ihren tobenden Partner, drückt aufs Gas … und dann weiß sie nichts mehr. Blackout, Filmriss. Irgendwann klingelt ihr Handy und holt sie in die Wirklichkeit zurück. Sie sieht sich auf der Autobahn in ihrem Auto am Steuer, wo genau, weiß sie nicht. Der Anrufer ist Gerd, ihr Ansprechpartner bei der Polizei. „Hallo Eni, bist du zu Hause?“ – „Nein, ich bin unterwegs“, wiederholt sie den damaligen Dialog. „Im Auto unterwegs?“ – „Ja.“ – „Wie lange brauchst du noch bis nach Hause? Kannst du dann gleich zur Wache kommen?“ – „Ja, natürlich, klar.“ Sie versucht, sich auf den Weg zu konzentrieren: „Gucken, gucken, wo musst du hinfahren, wo musst du hin?“ Sie erkennt einige Schilder, weiß jetzt ungefähr, wo sie ist. Eine Strecke, die sie selten fährt, nicht allzu weit von ihrem Wohnort entfernt. „Ich bin den Schildern gefolgt bis nach Hause“, erzählt sie, „hab das Auto abgestellt, den Hund aus dem Kombi-Kofferraum geholt und ging mit dem Hund direkt zur Wache, bin gar nicht erst in meine Wohnung gegangen. Für mich war nur klar: Ich habe meinen Freund auf dem Parkplatz zurückgelassen. Auf der Wache fragt mich Gerd: ‚Eni, der Pawel hat einen Unfall gehabt, weißt du was davon?‘“

Ihr erster Gedanke ist, dass ihr Lebensgefährte sich, sturzbetrunken wie er war, mit jemandem auf dem Parkplatz gestritten und geprügelt hat. Der Unfall passierte aber anscheinend auf der Autobahn, wie man ihr jetzt mitteilt. Pawel, erfährt sie, wird gerade in der Klinik operiert. „Hast du Alkohol getrunken?“, fragt Gerd. Sie bejaht, er macht bei ihr einen Alkoholtest. „Ich muss dich jetzt festnehmen“, sagt er. – „Wie, festnehmen?“ Eni schildert ihre damalige Fassungslosigkeit. Zwei Polizisten von der Wache wollen sie verhören, fragen, ob sie dazu einen Anwalt möchte. Sie versteht nicht, was sie mit einem Anwalt soll, es handelt sich doch bloß um eine Lappalie. Sie wird nach ihrem Sohn gefragt: „Hat er kurze Haare? Breite Schultern? Ist er Anfang 20? Geben Sie doch zu, Ihr Sohn ist Ihren Wagen gefahren?“ – „Was? Ist er nicht! Das ist völlig absurd.“ Sie denkt, alles klärt sich gleich auf und sie darf endlich nach Hause.

Das darf sie aber nicht; ihre Wohnung wird sie nie wieder betreten. Die erste Nacht verbringt sie in Polizeigewahrsam, versucht, herauszukriegen, was man ihr eigentlich vorwirft. Am folgenden Morgen, ausgenüchtert, wird sie dem Haftrichter vorgeführt. Spätestens da merkt sie, dass es ernst ist, bittet um einen Anwalt, bekommt einen Pflichtverteidiger. Sie weiß inzwischen, was man ihr vorwirft, hält es aber für ein Missverständnis, hofft auf rasche Aufklärung, telefoniert mit ihrem Ex-Mann. Er verspricht ihr, sich darum zu kümmern. Die Sache mit ihrem Sohn als Fahrer klärt sich zwar tatsächlich schnell auf; die Zeugen im Auto hinter ihr, die für den Verletzten auch Hilfe holten, hatten fälschlicherweise behauptet, in ihrem Wagen junge Männer gesehen zu haben. Nach den Zeitungsberichten korrigieren sie ihre Aussagen. Aber Eni selbst bleibt in Untersuchungshaft.

Zellengang in der JVA Dinslaken

So erzählt es Eni. Und dann gibt es noch die andere Version, die im Gerichtsurteil nachzulesen ist, die offizielle Deutung der verhängnisvollen Ereignisse vom Abend des 27. Dezember 2019. Das Urteil schließt die Möglichkeit eines Filmrisses der Angeklagten völlig aus, mit Pawel als Nebenkläger werden die Vorgänge so beschrieben: „Die Angeklagte hatte Angst, kletterte auf den Fahrersitz und fuhr los. Der Nebenkläger versuchte, dies zu verhindern, indem er wiederum auf die Motorhaube sprang und sich dort festhielt. Die Angeklagte verließ mit dem Nebenkläger auf der Motorhaube den Parkplatz, wobei der Nebenkläger auf dem Bauch mit dem Kopf in Richtung Windschutzscheibe lag und sich im Bereich der Scheibenwischer festhielt. Die Angeklagte fuhr zuerst in Richtung Autobahnkreuz Mönchengladbach. Wobei sie mehrmals stark, bis zu einer Geschwindigkeit von jedenfalls über 130 km/h, beschleunigte und dann abbremste und kontrollierte Schlangenlinien fuhr, um den Nebenkläger von der Motorhaube zu befördern. Sie hielt es dabei für möglich und nahm es billigend in Kauf, dass dieser dadurch sterben könnte. Nach etwa 3 Kilometern geriet die Angeklagte gegen 22:27 Uhr nach erneutem Abbremsen ins Rutschen, wobei sich ihr Fahrzeug mit der Front gegen einen Poller drehte, der auf dem rechts neben der Autobahn befindlichen Grünstreifen angebracht war. Der Nebenkläger fiel dabei von der Motorhaube auf die Fahrbahn. Die Angeklagte, deren Pkw quer zur rechten Fahrspur und zum Standstreifen zum Stehen gekommen war, setzte dann zurück und fuhr weiter, ohne sich um den Nebenkläger zu kümmern. (…) Hieraus erschließt sich, dass der Angeklagten, die ihr Ziel, den Geschädigten von der Motorhaube zu befördern, erreicht hatte, das Schicksal des Nebenklägers gleichgültig war.“

Eine äußerst bittere Behauptung für Eni, die sich mit Pawel emotional stark verbunden fühlt. Ihre Schilderung seines Ausrasters auf dem Parkplatz wird zwar von einem Zeugen bestätigt, der einen blauen Mercedes Kombi sah, „um den ein Mann wütend und aufgebracht gestikulierend und brüllend herumgelaufen sei, mehrfach gegen das Beifahrerfenster geschlagen, sich dann auf die Motorhaube gelegt und dort geraucht habe“. Der Zeuge sah aber keine weiteren Personen, fuhr auch gleich wieder weiter, und letztendlich spielt diese Szene für die Gesamtbewertung der Situation kaum eine Rolle. Ausschlaggebend ist Enis Behauptung, einen Blackout gehabt zu haben, und diese wird vom Gericht nicht anerkannt. Ihre Ahnungslosigkeit auf der Polizeiwache wird als gespielt, als eine strategisch eingesetzte „bloße Schutzbehauptung“ angesehen. Laut Gerichtsurteil habe sie zwar auf der Wache „teilweise gelallt“, sei „zur Blutprobenentnahme zur Behandlungsliege gewankt“ und habe „auf der Liege keinen sicheren Sitz“ gefunden. Den Anweisungen „hat sie allerdings folgen können“. Und „man hat weder eine Rötung der Augen oder eine Alkoholfahne noch Ausfallerscheinungen feststellen können. So ist die Angeklagte etwa problemlos die Stufen zur Wache hochgelaufen“.

Die „Schlangenlinien“, die sie über die ganze Breite der Autobahn fuhr, werden vom Sachverständigen als „gewollt“ und „daher nicht als Ausfallerscheinung“ gewertet. „Die fahrerische Leistung, durch welche die Angeklagte ihr Ziel, den Geschädigten von der Motorhaube zu befördern, letztendlich erreicht hat, zeigt, dass sie intellektuell noch so weit auf der Höhe war, auch die grundsätzliche Lebensgefährlichkeit ihres Tuns zu erkennen“, lautet die Einschätzung des Gerichtes. „So hat sie, den Geschädigten auf der Motorhaube transportierend, nicht nur Richtungs- und Tempowechsel einschließlich kontrolliertem Schlangenlinienfahren ausführen können. Sie war darüber hinaus auch intellektuell in der Lage, nachdem sie nach der Tat scheinbar orientierungslos herumkurvte und einen erheblichen Umweg fuhr, weiterhin ihre Heimatadresse anzusteuern.“

Enis Albtraum geht auch bei ihrer Gerichtsverhandlung weiter. Pawels Schwester und drei seiner Freunde treten als ZeugInnen auf. Eni war immer gut mit ihnen, sie lobten früher ihre positive Kraft, ihren Humor. Jetzt, vor Gericht aber sprechen sie, so scheint es Eni, von einer völlig anderen Frau, einer dummen, auf sich bezogenen Säuferin. Sie habe bei Zusammenkünften, die allerdings in den letzten Monaten vor der Tat nicht häufig gewesen seien, „stets Alkohol bei sich geführt“ oder sei „zumindest angetrunken gewesen“, geben sie zu Protokoll. Sie habe auch den Nebenkläger „zu übermäßigem Alkoholkonsum animiert“. Pawel selbst beschreiben sie als „nicht aufbrausend oder aggressiv“. Ihrer Einschätzung nach neigte er lediglich zu „Eifersuchtsreaktionen bis hin zu Tätlichkeiten“, und darauf habe die Angeklagte anscheinend zu wenig Rücksicht genommen, meinen sie.

Eni ist fassungslos. Vom Gericht angeordnete weitere Untersuchungen von Haar- und Blutproben schließen zwar ihre Alkoholabhängigkeit aus, aber stimmungsmäßig schaden ihr diese Aussagen enorm. Sie erfährt nebenbei von der kriminellen Vergangenheit ihres Freundes: Er ist mehrfach vorbestraft und wurde erst kurz vor ihrem Kennenlernen aus dem Gefängnis entlassen.

Und dann erleidet sie einen wahren Schock, als sie im Rahmen der Verhandlung die Diagnose der ärztlichen Gutachterin hört: Durch seine Schädelfrakturen wird ihr Lebensgefährte für immer ein Pflegefall bleiben. Sie bricht in Tränen aus, erklärt sich vor Gericht bereit, für ihren Freund zu sorgen, entschuldigt sich bei dessen Schwester, wird aber nur von ihr beschimpft. „Alles, was mir immer vollkommen fremd war, was überhaupt nicht zu mir, zu meinen Leben passte, passierte mir jetzt, wie in einem falschen Film. Richtig tragisch“, so Eni.

Das Urteil trifft sie hart. Eni wird schuldig gesprochen wegen „des versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr, vorsätzlicher Trunkenheit im Verkehr und unerlaubtem Entfernen vom Unfallort“. Sie wird zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Darüber hinaus soll sie der Schwester des Geschädigten eine größere Summe Schmerzensgeld zahlen. Ihre Familie, die damals von ihrem Unfall zuerst aus Zeitungen erfuhr, unterstützt sie. Ihr Sohn kümmert sich um den Verkauf ihrer Eigentumswohnung, regelt alle notwendigen Formalitäten.

Bei unserem Gespräch hat Eni bereits drei Jahre Freiheitsstrafe hinter sich gebracht, die Untersuchungshaft mitgerechnet. „Ich ging in Berufung. Die U-Haft dauerte dadurch 20 Monate, sie war für mich eine wahre Hölle“, sagt sie. „Ich kam in eine Mehrbettzelle, war damit auch einverstanden, obwohl ich mich dort ständig bedroht fühlte. Aber damals hätte man mich sonst was fragen können, ich hätte zu allem Ja gesagt. Später in meiner Einzelzelle hatte ich zwar meine Ruhe, war aber sozial völlig isoliert. Außer der Freistunde war ich 23 Stunden am Tag in meiner Zelle eingesperrt, ohne mit jemandem sprechen zu können“, erzählt sie. „Um 6:00 Uhr ging die Tür auf. ‚Morgen!‘, schrie jemand, dann ging die Tür wieder zu. Dreimal in der Woche ging sie nach einer Stunde wieder auf: ‚Duschen!‘ Alle rasten in den Duschraum. Waschen, nach sieben Minuten wurde das Wasser abgestellt, wieder zurück in die Zelle, Frühstück rein, Tür zu. Mehrere Stunden passierte nichts weiter. Dann hallte über die Gänge: ‚Mahlzeit!‘ Die Strafgefangenen hielten ihre Teller bereit, Tür auf, sie bekamen etwas draufgeschöpft, Tür zu. Abendessen: Tür auf, Tür zu. Um 18:00 Uhr Umschluss, 20:00 Uhr Licht aus, Nachteinschluss. Keiner sprach einen vollständigen Satz mit mir. Man kann sich gar nicht vorstellen, wie grausam das ist. Ich kam damit nicht zurecht, bin extrem dünn geworden. Nach dem Prozess ging es dann ab in die geschlossene Strafanstalt nach Willich. Ich habe gedacht: Oh mein Gott, du bist hier in einem 4-Sterne-Ressort. Ich schwärmte in meinen Briefen nach Hause: ‚Hier sind Menschen, die in ganzen Sätzen mit mir reden, hier fühle ich mich wohl.‘“

Sechs Monate nach ihrem Wechsel wird sie in die A3 verlegt, die großzügigste Abteilung in der geschlossenen Strafanstalt. Jede Gefangene bekommt einen Schlüssel zu ihrer Zelle, kann tagsüber die Tür selbst öffnen, duschen, wann es ihr gefällt, telefonieren, in der Küche etwas kochen. „Nach der Arbeit können wir die Zeit mit den anderen Abteilungsmädels im Aufenthaltsraum verbringen und zum Sport gehen. Es werden auch diverse Freizeitgruppen angeboten. Mit drei Frauen verstehe ich mich hier besonders gut“, erzählt sie. „Aber keine Rechte ohne Pflichten“, lacht sie. Insassinnen sind verpflichtet, die Abteilung selbst sauber zu halten; drei Mal wöchentlich wird geputzt. Und sie sollen gut miteinander auskommen, Konflikte in Gesprächen regeln. „Das funktioniert hier wirklich gut“, meint Eni, „alle geben sich Mühe, sind hilfsbereit. Sie wissen, sie werden noch viel Zeit miteinander verbringen müssen.“ Für sie ist es eine Vorstufe zum offenen Strafvollzug, in den sie bald verlegt zu werden hofft. Bei guter Führung kann sie das nach etwa drei Viertel ihrer verbüßten Gefängnisstrafe beantragen, also nach viereinhalb Jahren. Sie könnte dann draußen arbeiten, ihre Familie besuchen. Darauf freut sie sich ganz besonders.

Verhaltensregeln in der Sozial-Pädagogischen Abteilung (SOTA) in der JVA Willich II

Während ihrer Haft erkrankt ihr Ex-Mann schwer und stirbt kurz darauf. Ihr gemeinsamer Sohn übernimmt mit 24 Jahren die Firma. „Zum Glück hatte er bereits seinen Kfz-Meisterbrief in der Tasche und wurde von seinen Großeltern väterlicherseits auch gut gecoacht“, erzählt sie. Auch ihre Tochter schließt eine Ausbildung ab und erfährt dabei volle Unterstützung ihres Vorgesetzten und ihres Freundes, trotz des „Makels“ einer Mutter im Gefängnis. „Innerhalb kürzester Zeit haben sich meine Kinder von sorglosen Jugendlichen zu verantwortungsvollen Erwachsenen entwickelt. Ich bin so unendlich stolz auf sie.“ Sie strahlt, wenn sie über ihre Kinder spricht. „Was blieb ihnen aber auch anderes übrig“, ergänzt sie, „Vater tot, Mutter im Knast.“ Sie nimmt sich vor, viel Zeit mit ihrer Familie zu verbringen, mit den Kindern, aber auch mit ihrem eigenen alten Vater, der sie in der Haft wunderbar unterstützt, dem es aber in letzter Zeit „nicht so gut“ geht. „Ich würde ihm so gerne etwas davon zurückgeben, was ich von ihm selbst bekam“, beteuert sie.

Trotzdem will sie mit ihrem Antrag für die Verlegung in die „Offene“ noch etwas warten. Sie macht gerade eine Lehre zur Modeschneiderin und möchte diese unbedingt vorher abschließen. In ein paar Monaten hat sie ihre Gesellenprüfung. „Das ist meine große Chance auf einen Neuanfang. Ich bin so dankbar, dass ich sie hier in der Haft bekomme. Ich kann mich kreativ austoben und, wenn alles gutgeht, damit auch zukünftig meinen Lebensunterhalt verdienen. Ich werde mit einem Haufen Schulden anfangen. Meine Eigentumswohnung ging für das Schmerzensgeld an Pawel und seine Schwester drauf. Dazu kommen die immens hohen Forderungen der Krankenkasse für seine Reha- und Pflegekosten. Und die Gerichtskosten. Eine unüberschaubare Gesamtsumme. Aber mit meinem neuen Beruf und den vielen lieben Menschen, die weiterhin zu mir halten, mich unterstützen, meiner Familie, meinen Freundinnen und Freunden, werde ich es sicher schaffen“, meint sie. „Ich habe gelernt, nach dem Minimumprinzip zu leben.“

Im Mai 2023 besteht Eni ihre Gesellenprüfung erfolgreich. Sie wird von der Industrie- und Handelskammer abgenommen; in ihrem Zeugnis steht kein Wort von einer Gefängnisschneiderei als Ausbildungsbetrieb. Trotzdem gehört dieses Kapitel zu ihrem Leben, sagt sie. „Soll ich den Leuten vorschwindeln, dass ich sieben Jahre lang auf einer Weltreise war? Nein!“ Sie will zu ihrer Tat stehen. Ihr neues Leben soll nicht mit einer Lüge beginnen. Und was ist mit Vorurteilen, denen sie als ehemalige Strafgefangene ausgesetzt ist? Hat sie keine Angst vor Stigmatisierung?