Dreizehn Leben - Anna Badora - E-Book

Dreizehn Leben E-Book

Anna Badora

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Beschreibung

Von der Verfassungsrichterin zur Weltraumarchitektin, von der Ultratriathlon-Weltmeisterin zur Rapperin – Anna Badora hat ausführliche Interviews mit dreizehn besonderen Frauen aus Österreich geführt und erzählt nun deren Geschichten. Diese ganz und gar unterschiedlichen Frauen haben eines gemeinsam: Sie alle sind ihren Träumen und Berufungen gefolgt und dafür neue Wege abseits der ausgetretenen Pfade gegangen. Jede von ihnen hat sich mutig Risiken entgegengestellt, Rückschläge und Hindernisse überwunden und sich ihren ganz eigenen Platz in einer männlich dominierten Umgebung erkämpft. Ein Buch, das anhand inspirierender Beispiele zeigt, dass Hürden überwunden werden können, wenn man an sich selbst und seine Fähigkeiten glaubt.

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Inhalt

Von Verfassungsrichterin Brigitte Bierlein bis zu Weltraumarchitektin Barbara Imhof, von Ultratriathlon-Weltmeisterin Alexandra Meixner bis zu Rapperin Esra Özmen, Schauspielerin Adele Neuhauser und vielen mehr – Anna Badora hat ausführliche Interviews mit dreizehn außergewöhnlichen Frauen geführt und erzählt nun deren Geschichten.

Diese ganz und gar unterschiedlichen Frauen haben eines gemeinsam: Sie alle sind ihren Träumen und Berufungen gefolgt und dafür neue Wege gegangen. Jede von ihnen hat Hindernisse überwunden und sich mit Durchsetzungskraft und Stärke ihren Platz in einer männlich dominierten Umgebung erkämpft.

Was wir von ihnen lernen können, erzählt dieses Buch – dreizehn Geschichten voller Mut und Zuversicht.

Die Autorin

Anna Badora wurde in Polen geboren und absolvierte als erste weibliche Regie-Studentin das Max Reinhardt Seminar in Wien. Sie war zunächst Hospitantin bei Giorgio Strehler in Mailand sowie Assistentin von Peter Zadek und Jürgen Flimm und wurde später Generalintendantin des Düsseldorfer Schauspielhauses, dann Direktorin des Schauspielhauses Graz und schließlich des Wiener Volkstheaters. Für ihre Arbeit hat sie zahlreiche Auszeichnungen im In- und Ausland erhalten. Bis 2021 war sie Vizepräsidentin der Europäischen Theaterunion und ist jetzt „Honorary Member“ mit weiteren internationalen Projekten in Planung.

Wir möchten uns beim Atrium Verlag, beim Fischer Verlag und beim Piper Verlag für die Abdruckgenehmigung folgender Textauszüge bedanken: Erich Kästner „Fantasie von übermorgen“, in: Erich Kästner: Lärm im Spiegel.

Gedichte, © Atrium Verlag, Zürich 1929 und Thomas KästnerHilde Domin „Nicht müde werden“, in Hilde Domin: Sämtliche Gedichte, Hrsg: Nikola Herweg / Melanie Reinhold, © S. Fischer Verlag, Frankfurt 2015Albert Einstein „Der gesunde Menschenverstand […]“, in: Einstein sagt. Zitate, Einfälle, Gedanken Hrsg: Alice Calaprice, © Piper Verlag, München / Berlin 2007Albert Einstein „Das Wichtigste ist, […]“, in: Einstein sagt. Zitate, Einfälle, Gedanken Hrsg: Alice Calaprice, © Piper Verlag, München / Berlin 2007

Der Verlag hat sich bemüht, alle Inhaber von Textrechten ausfindig zu machen. Sollten berechtigte Ansprüche übersehen worden sein, werden die Rechteinhaber gebeten, sich mit dem Verlag in Verbindung zu setzen.

© Carl Ueberreuter Verlag, Wien 2022

ISBN 978-3-8000-7791-5

ISBN 978-3-8000-8223-0 (e-book)

E-Book-Ausgabe der 2022 im Carl Ueberreuter Verlag erschienenen Buchausgabe.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie das öffentliche Zugänglichmachen z. B. über das Internet.

Lektorat: Caroline Metzger

Coverbild: Adobe Stock

Fotos: (c) Thomas Finkenstädt

Covergestaltung & Grafik: Saskia Beck, s-stern.com

Konvertierung: bookwire.de

www.ueberreuter.at

ANNA BADORA

DREIZEHN LEBEN

FRAUENPORTRÄTS

INSPIRIEREND UND WEGWEISEND

INHALT

Geleitwort von Doris Schmidauer

1.BRIGITTE BIERLEIN

2.ALMA DEUTSCHER

3.BARBARA IMHOF

4.LOTTE INGRISCH

5.ALEXANDRA MEIXNER

6.ADELE NEUHAUSER

7.ESRA ÖZMEN

8.HELGA RABL-STADLER

9.SHALINI RANDERIA

10.MARIE RINGLER

11.KATJA SCHECHTNER

12.EDIT SCHLAFFER

13.BEATE WINKLER

Kurzbiografien

Nachwort

Danksagung

Zum Geleit

Neue weibliche Vorbilder brauchen neue Bücher! Als Quellen der Erkenntnis und Inspiration, als Blaupausen, als Mutmacher für Mädchen und Frauen, die wagen wollen, das Besondere, das in ihnen steckt, zu verwirklichen. Gegen viele Risiken, Widerstände, Rückschläge, Gefahren, aber mit der Chance, ihre Utopien umsetzen zu können, für die konkrete Verbesserung der Lebenswelten anderer.

Die in Österreich lebenden besonderen Frauen, die Anna Badora in diesem wunderbaren Buch zu Wort kommen lässt, haben keine Vorbilder, keine geprüften Strukturen, auf die sie in ihrem Arbeitsalltag zurückgreifen könnten. Keine weibliche Person hat vor ihnen schon das berufliche Terrain betreten, auf dem sie sich bewegen; sie sind die Ersten. Dadurch verfügen sie über eine gewisse „Unschuld“ in ihren Fragestellungen und Vorgehensweisen. Das führt oft zu überraschenden Erkenntnissen, neuen Wegen und erschließt ungewöhnliche Blickwinkel, die positive Ergebnisse zeitigen. Da sie außerhalb vieler Routinen und etablierter Standards agieren, müssen sie sie lernen. Oder hinterfragen. Oder eigene dagegen etablieren. Oder alles gleichzeitig.

Frauen gehen oft eine lange Strecke, um ihre Ideen und Pläne zu verwirklichen. Dabei werden ihnen in vielen Fällen strukturelle „Steine“ in den Weg gelegt: die gläserne Decke, der Gender-Pay-Gap, unzureichende Kinderbetreuungsplätze – um nur einige Beispiele für Hürden zu nennen, die Frauenkarrieren blockieren und behindern. Hier ist vor allem die Politik gefordert, gegenzusteuern. Trotz allem finden Frauen ihre eigenen Wege zum Erfolg. Und auf einige davon nimmt uns dieses Buch mit. Es ist wirklich eine große Bereicherung und ein Privileg, die Protagonistinnen zu begleiten.

Ich wünsche den Leserinnen und Lesern dieses beeindruckenden, gehaltvollen Textes vielfältige Erkenntnisse, Inspiration – und eine gute „Reise“.

Doris SchmidauerBeraterin und Motivatorin

BRIGITTE BIERLEIN

Und Thronen, daß gescheh’, was rechtens ist,

Und jedem auf der Welt das Seine werde;

Denn da, wo die Gerechtigkeit regiert,

Da freut sich jeder sicher seines Erbs,

Und über jedem Hause, jedem Thron,

Schwebt der Vertrag wie eine Cherubswache.

Friedrich von Schiller – Demetrius

Ein heißer Sommertag 2021. Über den Dächern von Wien, auf einer luftigen Terrasse im Museumsquartier, halten sich bei kühlen Getränken viele junge Leute auf. An einem Tisch, der über der Hofburg zu schweben scheint, sprechen zwei junge Frauen ihre Nachbarin an; sie finden deren Kleid mit der goldenen Brosche ausgesprochen elegant. Sie kommen ins Gespräch, scherzen, lachen, machen gemeinsame Selfies. Plötzlich schaut eine der Frauen noch mal auf ihr Foto: „Sie sehen aus wie … Sie sind doch …“ Sie erkennt die ehemalige Bundeskanzlerin und wird verlegen. Die Altkanzlerin sieht aber keinen Grund, das nette Gespräch abzubrechen. Sie lässt sich erzählen, dass die beiden jungen Frauen Jusstudentinnen sind, die eine mit marokkanischen, die andere mit philippinischen Wurzeln, erfährt über ihre Probleme als Frauen mit Migrationshintergrund in Österreich, gibt ihnen Tipps für ihr Studium.

Solche Begegnungen machen Brigitte Bierlein Freude. Sie findet es erfrischend, junge Leute um sich zu haben. Vor allem junge Frauen, die oft noch nach weiblichen Vorbildern suchen, um ihre eigenen Möglichkeiten und Grenzen einzuschätzen. Sie spricht gerne mit ihnen, teilt ihre Erfahrungen und Erkenntnisse, gibt Ratschläge. Mädchen und Frauen auf ihren Wegen zu unterstützen und zu ermutigen, versteht die ehemalige Kanzlerin als eine ihrer Aufgaben. Sie denkt daran, wie dankbar sie selbst für solche Hilfen in ihrer Jugend gewesen wäre. Aber die Zeiten waren damals andere, die geschlechtliche Rollenaufteilung viel strenger festgelegt. Ihre ersten Schritte und ihr späteres konsequentes Fortschreiten auf der juristischen Karriereleiter wirken daher rückwirkend fast wie anmaßende, kühne Expeditionen ins Unbekannte, mit nicht voraussagbarem Ergebnis für die Pionierin. Auch wenn sie selbst ihren Aufstieg längst nicht so linear und schon gar nicht vorausgeplant sieht. Sie strebt anfangs in keiner Weise nach einer großen Karriere und hat auch nicht den Wunsch, jemand Bedeutender, Berühmter oder gar Mächtiger zu werden. Sie will nur unabhängig und frei sein, will ihr Leben selbst bestimmen können. Auf dem Weg dahin will sie vor allem eigene Erwartungen erfüllen, nach Möglichkeit sogar hervorragend sein. Sie will nicht nur die Erste, sie muss auch die Beste sein. „Es gibt viel mehr talentierte Menschen, als Posten zu vergeben sind“, weiß sie und betont die große Rolle der Fortune, des Glücks, als die richtige Person zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Und die Notwendigkeit, die Chancen, die das Leben immer wieder bietet, zu ergreifen, beherzt zuzupacken, auch wenn es unbequem oder im Moment unpassend erscheint. Als würde sie dem griechischen Gott Kairos vertrauen, den man der Legende nach nur im Vorbeigehen an seiner Stirnlocke festhalten kann. Wenn er sich umdreht, ist die Chance vertan: Sein kahler Hinterkopf lässt sich nicht mehr fassen. Das Versäumnis kann man nie wieder wettmachen, so die Sage.

Vielleicht hat sie von Kairos an ihrem humanistischen Gymnasium gehört, das sie, 1949 in Wien geboren, am Rochusmarkt im 3. Wiener Gemeindebezirk besucht. Ihre Eltern, Vater Beamter, Mutter Hausfrau, haben diese Schule für ihr einziges Kind ausgesucht, weil sie nah an ihrem Wohnort liegt. Brigitte wird eher streng erzogen, der kurze Schulweg ist gut für die elterliche Kontrolle über ihre Freizeit. Sie bringt hervorragende Zeugnisse nach Hause, auch in Latein und Griechisch, nur in Betragen bekommt sie oft, zum Entsetzen ihrer Mutter, einen Zweier.

Mit 15 darf sie eine Tanzschule besuchen. Sie ist eine begeisterte Tänzerin, auch während des Studiums, in späteren Funktionen wird sie oft Bälle in Wien eröffnen. Ihre Leidenschaft gilt aber der Kunst. Die Mutter nimmt sie zu Vernissagen, in Galerien und Kunstausstellungen mit. Besonders stark beeindruckt sie eine Van-Gogh-Ausstellung im Schloss Belvedere, die sie als Neunjährige besucht. Sie steht lange vor den Bildern voller fantastischer Landschaften, skurriler Menschen, Sternennächte, farbenprächtiger Blumen.

Die Mutter kann hervorragend zeichnen. Sie ist ausgebildete Grafikerin, hat eine Kunstgewerbeschule absolviert. Aber wie es damals üblich war, gab sie nach ihrer Hochzeit jegliche beruflichen Ambitionen auf. Für die kleine Brigitte ist es ganz normal, dass Mama zu Hause ist. In ihrer Schulklasse werden Kinder von berufstätigen Müttern bedauert. Man staunt, wie diese „Armen“ das aushalten, ohne eine Mutter, die kocht und auch sonst alles macht. Relativ früh weiß sie aber schon, dass sie es anders versuchen will.

Nach der Matura will sie studieren. Was, das überlassen die Eltern komplett ihr. Zuerst denkt sie an Architektur, sie hat schon im Gymnasium als Freifach darstellende Geometrie belegt. Dann merkt sie, dass es ihr dafür an dreidimensionaler Vorstellungskraft und wohl auch an Fantasie fehlt. Sie geht mit ihren Zeichnungen zu einem Informationsgespräch an der Hochschule für angewandte Kunst, spricht mit anderen BewerberInnen, schaut sich deren Mappen an. Und stellt fest, dass diese viel besser sind als ihre eigene, dass sie nicht mithalten kann. Noch einen Versuch unternimmt sie an der Filmakademie, wo sie ein Drehbuch vorbereiten soll. Danach ist für sie klar: Sie ist eben keine Künstlerin. Sie inskribiert Jus. Es ist eine Entscheidung „aus pragmatischen Gründen, nicht aus einer Leidenschaft heraus, eine Entscheidung der Vernunft“. Zumindest am Anfang. Für Kirchenrecht und das Römische Recht kann sie sich in ihrem ersten Jahr nicht besonders erwärmen. Dann kommen aber die, wie sie es nennt, „lebenden Fächer“ dazu: Straf-, Zivil- und öffentliches Recht. Die findet sie ausgesprochen spannend. Ihre Prüfungen besteht sie bravourös. Zur Uni geht sie zwar nicht regelmäßig, die mitunter überfüllten Vorlesungssäle behindern ihre Konzentration, aber in privat organisierten Rechtskursen lernt sie intensiv und schnell. Sie will ihr Studium in Mindestzeit schaffen, will so schnell wie möglich auf eigenen Beinen stehen und ihre finanzielle Abhängigkeit vom Elternhaus beenden.

Daher taucht sie nie wirklich ins sogenannte Studentenleben ein. Die wilden 1968er bekommt sie vor allem durch die damals höchst provokanten aktionistischen Kunstperformances mit, die an der Uni und im öffentlichen Raum stattfinden. Besonders in Erinnerung geblieben ist ihr die radikale Aktion Kunst und Revolution, von Boulevardmedien als „Uni-Ferkelei“ bezeichnet, bei der die Künstler Günter Brus, Otto Mühl, Peter Weibel, Oswald Wiener und Malte Olschewski vor teils schockierten ZuschauerInnen im Hörsaal unter anderem nackt ihre Notdurft verrichteten. Oder die Performance der bekannten feministischen Medienkünstlerin Valie Export, die vor ihrem Oberkörper einen offenen Kasten trug und Passanten aufforderte, ihre Brüste anzufassen. Brigitte Bierlein findet, solche Aktionen bringen „frischen Wind“, auch wenn sie eindeutig nicht zu ihrer Welt gehören. Sie interessiert sich aber bis heute für Kunst und versucht, auf dem Laufenden zu bleiben. Ihr knappes Taschengeld gibt sie für Lithografien der Fantastischen Realisten aus, wie Wolfgang Hutter, Ernst Fuchs und Anton Lehmden. Sie hängt die Werke in ihrer Studentenwohnung auf.

1971, nach nur vier Jahren, ist sie mit dem Jusstudium fertig und absolviert anschließend an verschiedenen Gerichten in Wien und Niederösterreich das Gerichtsjahr. Während dieser Zeit wächst ihr Interesse an Strafrecht, denn „man ist hier mit dem Leben konfrontiert, kein Fall ist wie der andere“, sagt sie. Sie entscheidet sich, Richterin zu werden, Strafrichterin. Dafür braucht sie eine Richteramtsprüfung, die sie aber frühestens nach drei bis vier Jahren Fachausbildung ablegen kann. Und um diese Fachausbildung als sogenannte Richteramtsanwärterin überhaupt beginnen zu können, muss sie eine Übernahmeprüfung bestehen. Die schafft sie auf Anhieb. 1975 legt sie auch ihre Richteramtsprüfung ab und ist mit 25 Jahren Richterin. Jetzt macht sie ihre ersten Schritte an Wiener Bezirksgerichten. Sie beschäftigt sich mit Ladendiebstählen, leichten Körperverletzungen, Verfälschungen von Lebensmitteln. Sie ist froh, dass sie am Anfang ihrer Karriere nicht über schwerwiegendere Fälle entscheiden muss. Denn dass es mit der Wahrheitsfindung gar nicht immer so einfach ist, erlebt sie schon bei einer ihrer ersten Verhandlungen am Bezirksgericht. Da steht vor ihr eine ältere, aufgeregte Dame als Beschuldigte. Ihr wird vorgeworfen, in einem Geschäft eine Zahnpastatube gestohlen zu haben. Die Frau krümmt sich vor Scham, versichert ihre Unschuld. Zerstreut, wie sie sei, habe sie ihre Tasche mit dem Einkaufskorb verwechselt, sagt sie, aber an der Kasse habe sie es ohnehin bemerkt. Die junge Richterin ist sich nicht ganz sicher. Sie spürt, wie gedemütigt und aufgebracht die alte Dame ist. Sie spricht sie frei. Beim Hinausgehen bedankt sich die Betroffene überschwänglich und versichert, dass sie es „ganz gewiss nicht wieder tun“ werde. Im Ergebnis ein Fehlurteil, aber ein Freispruch im Zweifel.

Nach zwei Jahren an Bezirksgerichten erhält Brigitte Bierlein das Angebot, als Staatsanwältin ans Wiener „Graue Haus“ zu wechseln, das Landesgericht für Strafsachen. Es ist damals eine Auszeichnung, eine Anerkennung ihrer bisherigen Arbeit. Der Job ist anspruchsvoll. Als Staatsanwältin muss sie einen breiten juristischen Überblick mitbringen und in der Lage sein, schnell und effizient unzählige Akten aufzuarbeiten. Ihre Aufgabe ist es, zu entscheiden, ob und wie ein Fall weiterverfolgt oder eingestellt werden soll. Etwa zwei Drittel aller Anzeigen werden gewöhnlich mittels Einstellung beendet, kommen also nicht vor Gericht. Sie wird bei dieser Aufgabe mit der gesamten Bandbreite an Straftaten konfrontiert, bis hin zu Kindesmissbrauch und Mord. Sie muss lernen, diese oft sehr belastenden Ereignisse nicht zu nah an sich heranzulassen.

Beim Schwurgericht landen besonders schwere Straftaten. Über die Schuldfrage entscheiden acht Geschworene. Bei Gleichstand wird zugunsten des Angeklagten entschieden. Die Geschworenen sind juristische Laien, unbefangene BürgerInnen. Die RichterInnen müssen ihnen die Zusammenhänge und die Relevanz ihrer Entscheidungen für die Schuldfrage erklären.

Die junge Staatsanwältin staunt, welche Selbstdarstellungstechniken die Angeklagten mitunter anwenden, welche beeindruckenden Bilder der eigenen Persönlichkeit sie den Geschworenen vorspielen, um deren Gunst oder Mitleid zu gewinnen. Ein diesbezüglicher Fall ist ihr besonders gut im Gedächtnis geblieben: Ein des Mordes angeklagter, gut aussehender und adrett gekleideter junger Mann hinterlässt mit seinem Auftreten einen positiven Eindruck bei den Geschworenen. Besonders bei einer von ihnen, einer Hausfrau. Sie sagt den Tränen nah: „Mein Gott, so ein junger Bub, er könnte ja mein Sohn sein.“ Bierlein ist aber als Staatsanwältin von seiner Schuld überzeugt; die Beweise sind eindeutig. Also hebt sie die Tatwaffe hoch, ein Messer, mit noch deutlich sichtbaren getrockneten Blutspuren. Dieser Anblick überzeugt im Zusammenhang mit der übrigen Beweislage die Geschworenen mehr als alle verbalen Argumente. Der Angeklagte wird schuldig gesprochen.

Einige Jahre später, Brigitte Bierlein will gerade in den Skiurlaub starten, kommt ein Anruf. Der Leiter der Oberstaatsanwaltschaft Wien fragt, ob sie ab sofort die Vertretung einer erkrankten Kollegin bei ihm übernehmen könne. Sie ahnt, dass sie diese „schicksalhafte Chance“, wie sie es nennt, nie wieder erhält. Sie entscheidet sich, Kairos an seiner goldenen Locke zu packen, und sagt zu. Und sie ist heute überzeugt: Ohne diesen Anruf wäre ihr späteres Leben ganz anders verlaufen.

In der Oberstaatsanwaltschaft hat sie zunächst ausschließlich männliche Kollegen. Sie will beweisen, dass sie als Frau imstande ist, „die Leistungen der Herren mindestens zu halten, wenn nicht sogar zu übertreffen“. Ihr ist bewusst, dass sie die Fallen vermeiden muss, die sich Frauen häufig selbst stellen: mit übersteigertem Mehrleistungsanspruch und Zweifeln. Sie bringt sich voll in die Arbeit ein, mit viel Energie und Enthusiasmus. Ihr immer größerer Überblick und wachsende Kompetenzen helfen ihr dabei.

Nach Ende ihrer Vertretung in der Oberstaatsanwaltschaft unternimmt sie einen einjährigen Abstecher in die Strafrechtssektion des Bundesministeriums für Justiz. Sie findet diese Arbeit zwar spannend, aber für ihre Interessen zu weit von der Praxis entfernt. Sie kehrt danach zur Oberstaatsanwaltschaft zurück, als Oberstaatsanwältin, und bleibt dort vier Jahre.

1990 wird ihr empfohlen, sich bei der Generalprokuratur beim Obersten Gerichtshof zu bewerben, der höchsten Staatsanwaltschaft der Republik. Sie besteht aus 14 Generalanwälten, bis dahin ausschließlich Männer. Auch unter den anderen, wesentlich älteren Bewerbern ist sie die einzige Frau und wird von ihnen nicht gerade ermutigend behandelt. Doch sie wird die erste Frau im Amt der Generalanwältin. Sie ist 40 Jahre alt, und unter ihren Kollegen, die sich überwiegend dem Pensionsalter nähern, ist sie bei Weitem die Jüngste. Daher erhält sie auch traditionsgemäß das kleinste Zimmer.

Die Generalprokuratur ist keine Anklagebehörde und insofern nicht an Weisungen des Justizministeriums gebunden. Sie ist Rechtshüterin und für „die Wahrung des Gesetzes“ verantwortlich. Ihre AnwältInnen überwachen die Richtigkeit und Einheitlichkeit der Rechtsprechung und betreiben die Weiterentwicklung des Strafrechts. Vieles ist für Bierlein hier neu: Aufgabenbereiche, Arbeitsabläufe. Sie beschäftigt sich unter anderem mit Straffällen, bei deren Verhandlung ein Rechtsfehler begangen oder ein Gesetz verletzt oder nicht rechtskonform angewendet wurde.

Die frisch ernannte Generalanwältin hat großes Interesse, sich mit ihren Kollegen fachlich auszutauschen. Die aber „sitzen isoliert in ihren Kammerln“. Es gibt keine institutionalisierten Meetings oder lockere Treffen. Sie schlägt eine gemeinsame Kaffeerunde vor, fragt in der Kanzlei, ob das organisierbar wäre. Die Antwort ist Nein, kein Personal, alle extrem überlastet. Kurz entschlossen kocht sie selbst zwei Kannen Kaffee; ein Kollege stellt sein größeres Zimmer zur Verfügung, und das Eis ist schnell gebrochen, der fachliche und menschliche Austausch gelingt. Der Kaffeetreff wird zu einer beliebten Einrichtung und bis heute praktiziert. „Heute gibt es in der Generalprokuratur auch viele jüngere Staatsanwälte und mehr Staatsanwältinnen. Es hat sich auch dort ein Generationenwechsel vollzogen. Diese Art der Offenheit habe ich damals häufiger zu initiieren versucht“, freut sie sich.

Im Oktober 2002 erhält Brigitte Bierlein wieder einen überraschenden Wink von Kairos, dem Gott des günstigen Augenblicks. Es ist ihr zwölftes Jahr in der Generalprokuratur. Sie hat sich dort einen hervorragenden Ruf erarbeitet und denkt nicht an einen weiteren Karriereschritt. Sie kommt von einem Kreta-Urlaub zurück und holt gerade am Flughafen ihren Koffer vom Band, als ihr Handy klingelt. Ein Kollege legt ihr ans Herz, sich als Vizepräsidentin des Verfassungsgerichtes zu bewerben. Es wird dort eine Frau mit Erfahrung gesucht.

Es ist Sonntag, die Bewerbungsfrist läuft am Montag aus, erfährt sie. Sie weiß nichts von einer Ausschreibung, hört gerade noch, dass diese in der Wiener Zeitung am Soundsovielten erschienen sei. Also fährt sie in die Generalprokuratur, sie hat einen Schlüssel, weil sie oft auch sonntags im Büro ist. Sie weiß nicht, wo die Zeitungen liegen, sucht die Räume ab und findet irgendwann tatsächlich die richtige Ausgabe der Wiener Zeitung mit dem Ausschreibungstext. Auf ihrer Schreibmaschine tippt sie hastig die Bewerbung auf ein DIN-A4-Blatt und bringt es Montagfrüh zur zuständigen Stelle ins Kanzleramt. Und dann passiert lange nichts. Sie denkt, die Sache habe sich erledigt. Bis sie im Ö1-Mittagsjournal ihren Namen hört; Kanzler Schüssel verkündet, Brigitte Bierlein werde von der Regierung als neue Vizepräsidentin des Verfassungsgerichtshofs vorgeschlagen. So erfährt sie von ihrer nachfolgenden Ernennung durch den Bundespräsidenten.

Es ist für sie eine Auszeichnung allerhöchsten Grades. Der Verfassungsgerichtshof ist ein Grundpfeiler des demokratischen Rechtsstaates, er überwacht die Einhaltung der Verfassung und der Grundrechte, prüft Gesetze auf ihre Verfassungskonformität und ist in grundrechtlichen Streitfällen im Verwaltungsbereich das höchste Gremium der Rechtsprechung. Er überprüft damit Politik und Parlament.

Brigitte Bierlein verfügt zu diesem Zeitpunkt über fundiertes Wissen im Strafrecht, ins Verfassungsrecht muss sie sich aber noch mehr einarbeiten. Zwar kommen alle 14 RichterInnen, inklusive des grundsätzlich stimmrechtslosen Präsidenten sowie der sechs sogenannten ErsatzrichterInnen, aus unterschiedlichen juristischen Berufen, darunter UniversitätsprofessorInnen, erfahrene BeamtInnen des Bundes und der Länder, RechtsanwältInnen aus verschiedenen gesellschaftspolitischen Umfeldern. Ihr Kompetenzgebiet, das Strafrecht, ist bisher aber kaum vertreten.

Am runden Tagungstisch wird die neue Vizepräsidentin besonders „beäugt“. Vieles ist ihr hier fremd, auch die Fachsprache des Verfassungsrechts. Dort verwendete Begriffe wie Gleichheits- oder Eigentumsformeln sind ihr juristisch nicht auf Anhieb vertraut. Sie will aber ihre Detailfragen zum Verfassungsrecht nicht am Tisch präsentieren, indem sie nachfragt. Sie will die eingespielten Arbeitsabläufe nicht bremsen. Da VerfassungsrichterInnen zu einem erheblichen Teil nicht hauptberuflich beschäftigt sind, sondern parallel weiter ihren eigentlichen Beruf ausüben, wird in sogenannten Sessionen gearbeitet, viermal im Jahr, dann aber je drei Wochen am Stück und dementsprechend intensiv. Zwischen den Sessionen werden die Entscheidungsentwürfe vorbereitet.

Hunderte von Fällen müssen in diesen Zeitblöcken aufgearbeitet werden. Jede und jeder der RichterInnen hält vor den KollegInnen ein Referat mit der eigenen Einschätzung zu der vom Präsidenten zugeteilten „Materie“. Danach wird ausführlich diskutiert, schließlich abgestimmt. Für einen Beschluss ist die einfache Stimmenmehrheit ausreichend, der oder die Vorsitzende stimmt nur bei Stimmengleichheit ab. Einfachere Fälle können von sechs Mitgliedern entschieden werden. Es wird eine große Anzahl an Themen bearbeitet. Fast die Hälfte bezieht sich auf Asylangelegenheiten, doch hier werden Fälle aus allen Rechtsgebieten behandelt, auch Wahlanfechtungen kommen vor den Verfassungsgerichtshof, darunter etwa die Anfechtung der Bundespräsidenten-Stichwahl 2016. Komplexe Streitfragen und gesellschaftspolitische Abwägungen, wie etwa die Covid-Verordnungen oder die Frage der Sterbehilfe, behandelt der VfGH ebenfalls.

Brigitte Bierlein wird vom Präsidenten eine Materie zugeteilt, die ein in Pension gegangener Kollege hinterlässt: Abfallwirtschaft. Sie hat darin wenig Erfahrung, übernimmt diesen Bereich aber durchaus mit Interesse und nicht nur, weil es „irgendjemand tun muss“. Da ist wieder ihr bedingungsloses Pflichtgefühl. Abfallwirtschaft klingt zunächst wenig spannend, aber es geht um massive wirtschaftliche Interessen, um Finanzierungsfragen und ihre Zuordnung zum privaten oder öffentlichen Bereich. Es geht um Altlasten alter Deponien und die Genehmigung neuer. Es geht auch um Umweltfragen.

Sie arbeitet sich in diesen Bereich schnell und gründlich ein und wird auch hier zu einer Expertin. „Womit man sich näher befasst, das wird auch interessant“, ist ihre Devise. Schon bald bringt sie sich in Diskussionen vermehrt ein, ihre Meinung wird zunehmend geschätzt.

Aus den Jahren ihrer Vizepräsidentschaft hebt sie besonders die Intervention des österreichischen Verfassungsgerichtshofs beim Europäischen Gerichtshof in Luxemburg hervor, die eine breit angelegte Vorratsdatenspeicherung und damit die Überwachung der Bevölkerung kritisch hinterfragte. Der Europäische Gerichtshof hob die entsprechende Richtlinie auf, die Vorratsdatenspeicherung war damit in dieser Form Geschichte.

Als wegweisende Entscheidung des VfGH sieht sie auch die Aufhebung des Ehe- und Adoptionsverbots für gleichgeschlechtliche Paare. Sie ist stolz auf das nun mehr als 100 Jahre alte Modell der österreichischen Verfassungsgerichtsbarkeit, das „epochal“ ist und Vorbildfunktion in der Welt hat. Es ist nicht nur das älteste Verfassungsgericht mit der Kompetenz, Gesetze aufzuheben. Es ist auch das beste System, daran hat sie keinen Zweifel. In keinem anderen Land der Welt hat die Unabhängigkeit der VerfassungsrichterInnen derart gute Rahmenbedingungen. Allein das Prinzip, dass es keine dissenting opinion gibt, das Abstimmungsverhältnis also nicht nach außen dringt, ist für die Unabhängigkeit besonders wichtig. Die internen Auseinandersetzungen und Voten werden nicht veröffentlicht. Sie vertreten danach alle gemeinsam das mehrheitlich Beschlossene. So wird der potenzielle Einfluss von Interessengruppen auf einzelne RichterInnen minimiert.

Trotz ihres enormen Engagements im Beruf, den sie stets als Berufung empfindet, hat die Vizepräsidentin des VfGH auch ein Privatleben. Schon 1975 lernt sie am damaligen Strafbezirksgericht Wien einen Richter kennen. Sie leben über viele Jahrzehnte in einer Partnerschaft, unternehmen viel gemeinsam, besuchen Kunstausstellungen, Opern, Theater, Festspiele, machen Skiurlaube und segeln in der Ägäis. Und sie haben einen großen gemeinsamen Freundeskreis. Sie braucht aber auch ihren Freiraum, ihre Freiheit, ihre Unabhängigkeit. So bleiben sie unverheiratet, leben in zwei getrennten Wohnungen.

Im Beruf versucht sie vor allem mit ihrer Objektivität und Überparteilichkeit zu überzeugen. Ihre fachliche Kompetenz und ihr besonnener Pragmatismus werden allerorts hoch geschätzt, auch bei ihren KollegInnen. Wie pragmatisch sie sein kann, zeigt ein Vorfall aus dem Jahr 2004: Die Richterin wird spätabends in Wien auf der Straße überfallen. Der Täter versucht, ihr die Tasche zu entreißen. Doch sie lässt nicht los, er schleift sie über den Boden, bis er schließlich aufgibt und flieht. Sie muss danach zwar im Krankenhaus ambulant behandelt werden, aber sie hat ihre Handtasche gerettet. „Ich wollte mir die Rennerei für eine neue Kreditkarte ersparen“, ist ihre einzige Erklärung für diesen riskanten Widerstand.

2018 erlebt Brigitte Bierlein die, wie sie sagt, „Krönung ihrer Karriere“, die sie sich vorher nie hätte träumen lassen. Sie wird zur Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs ernannt. Aber der unberechenbare Kairos hat für sie noch eine weitaus größere Chance parat.

Es ist Ende Mai 2019. Der Bundesregierung wird aufgrund der Ibiza-Affäre das Misstrauen im Parlament ausgesprochen und sie wird von Bundepräsident Alexander van der Bellen entlassen. Da erfährt Brigitte Bierlein von ihrer Sekretärin, dass die Kanzlei des Bundespräsidenten ihre Handynummer erfragt hat. Bevor sie sich wundern kann, erhält sie schon einen Anruf und wird zu einem Vieraugengespräch in die Hofburg eingeladen.

Es ist der Tag, an dem für Niki Lauda, die verstorbene Formel-1-Legende, ein feierliches Requiem im Stephansdom stattfindet. Es ist nebelig und verregnet. Auf dem Weg in die Hofburg überlegt sie, ob sie vielleicht für die Übergangsregierung als Justizministerin vorgesehen ist. Der Bundespräsident konfrontiert sie aber sofort mit der Frage, ob sie dieser Regierung als Kanzlerin vorstehen möchte. Sie ist völlig perplex, fühlt sich nicht kompetent genug und will aus einem ersten Impuls heraus ablehnen. Typisch Frau, meint sinngemäß der Bundespräsident, sie möge es sich zumindest überlegen. Und das tut sie. Als Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs prüft sie zuerst die Möglichkeit ihrer raschen Nachfolge. Der von ihr sehr geschätzte Vizepräsident erklärt sich umgehend bereit, die Vertretung zu übernehmen und sie uneingeschränkt zu unterstützen. Dann trifft sie die, wie sie sagt, „mutigste Entscheidung“ ihres beruflichen Lebens. Dem „entscheidenden Impuls“ folgend, „unserem Land in dieser schwierigen Situation dienen zu wollen“, wagt sie den „Sprung ins kalte Wasser“ und sagt dem Bundespräsidenten zu.

Greta Thunberg ist gerade in Wien; es wird eine Klimademonstration vorbereitet. Die künftige Kanzlerin arbeitet währenddessen in der Hofburg durch. Gemeinsam mit dem Bundespräsidenten stellt sie die Übergangsregierung zusammen. Eine möglichst schmale, ohne StaatssekretärInnen, budgetschonend: nur zwölf MinisterInnen. Ihr ist wichtig, dass die Hälfte davon Frauen sind. Da sie keine Parteitaktikerin ist, sie ist zeitlebens parteilos, soll ihre Regierung klug austariert alle demokratischen politischen Kräfte des Landes integrieren. Sie führt ausführliche Gespräche mit möglichen KandidatInnen. Sie will das Risiko eines möglichen späteren Vetos des Parlaments gegenüber den MinisterInnen minimieren.

Damit setzt sie gleich zu Beginn Zeichen für ihren Führungsstil als Kanzlerin: Es geht um Dialog und Ausgleich. Die Übergangsregierung pflegt Austausch mit EntscheidungsträgerInnen aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, mit NGOs, mit der Kulturszene, Bildungseinrichtungen und Interessenvertretungen. Dieser Führungsstil wirkt sich vor allem positiv auf die interne Arbeit der Ministerien aus: Er verursacht, wie ein Insider sagt, „großes Aufatmen in der Beamtenschaft“, die sich fachlich respektiert und geschätzt fühlt. Die Kanzlerin habe mit ihrem Vertrauen in die MitarbeiterInnen dem Apparat neues Selbstbewusstsein gegeben, heißt es. Und sie hat damit auch, fast unterhalb der öffentlichen Wahrnehmungsgrenze, starke Impulse im frauenpolitischen Bereich gesetzt.

Ein Beweis für ihr Kommunikations- und Verhandlungstalent ist die Bestellung des neuen EU-Kommissars, die in ihre Amtszeit fällt. Das EU-Mandat des österreichischen Politikers Johannes Hahn läuft aus, an eine rasche Nachbesetzung glaubt niemand. Die Kanzlerin führt eine Reihe von Sondierungsgesprächen, um eine entsprechende mehrheitsfähige Person zu identifizieren. Sie sondiert in Brüssel und spricht mit der designierten Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Dann schlägt sie dem Hauptausschuss des österreichischen Nationalrats den amtierenden Kommissar Johannes Hahn für eine weitere Funktionsperiode vor – und dieser wird einstimmig bestätigt. Es ist das erste Mal, dass eine solche Entscheidung einstimmig getroffen wird.

Die oberste Priorität für Brigitte Bierlein als Kanzlerin ist, „das Land nach den Turbulenzen wieder in ruhiges Fahrwasser zu bringen und das Vertrauen der Menschen in die Politik und den demokratischen Rechtsstaat zu stärken“. Sie will mit ihrem Kabinett aus fachlich herausragenden ExpertInnen das Land bestmöglich verwalten, ohne der nächsten gewählten Bundesregierung in ihren politischen Entscheidungen vorzugreifen. Trotzdem liefert sie, nach Meinung vieler ihrer Ex-MitarbeiterInnen und neutraler BeobachterInnen von außerhalb, wertvolle Impulse und Erkenntnisse für eine mögliche, auch künftige, Modifizierung der Regierungsstrukturen.

Ihren 70. Geburtstag erlebt sie im Kanzleramt. Sie bekommt von ihren MitarbeiterInnen ein ganz besonderes Geschenk: Ferdinand von Schirach, der bekannte deutsche Schriftsteller und anerkannte Jurist, den sie besonders schätzt, besucht sie im Kanzleramt in Wien. Die Kanzlerin verbringt mit ihm einige spannende Stunden. Am 7. Januar 2020 endet ihre Übergangsregierung nach 218 Tagen, kurz bevor die Coronapandemie über die Welt hereinbricht.

Was liegt Brigitte Bierlein besonders am Herzen, wenn sie an die Zukunft denkt? Als glühende Europäerin sieht sie die weitere Unterstützung der Ziele der EU, „dieser einzigartigen Förderin des Friedens, der europäischen Werte und der Freiheit, Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit ohne Binnengrenzen“, als dringend notwendig an. Wichtig ist ihr weiterhin die Förderung von Frauen und der Gleichberechtigung, wie etwa durch die Schaffung der entsprechenden Strukturen für Kinderbetreuung.

Politisch heikel, aber für die ehemalige Kanzlerin wichtig, ist die weitere Beschäftigung mit dem Entwurf des österreichischen Konvents von 2003/2005 für eine Staatsreform, einer Weiterentwicklung der Verfassung. Einige Punkte davon sind zwar umgesetzt worden, aber die Diskussion über viele wichtige Themen, wie die des 100 Jahre alten Föderalismuskonstruktes, wurde vernachlässigt. „Gerade die Beschäftigung mit diesem Thema wäre aber für Österreich notwendig“, findet sie.

Im März 2021 stirbt ihr Lebensgefährte. Nach 45 gemeinsamen Jahren fühlt sie sich wie „nach einer Amputation“.

Und jetzt? Sie engagiert sich in Kommissionen, an Universitäten, in karitativen Einrichtungen und im Kulturbereich. Als es die Coronapandemie wieder einigermaßen zulässt, besucht sie Vernissagen, Museen, Opern- und Theateraufführungen, trifft Freunde. Die Altkanzlerin mag zwar Abstecher „in die Natur“, ist aber ein bekennender Stadtmensch, liebt die Wiener Architektur und Spaziergänge durch die Stadt. Und wer weiß, ob die goldene Locke von Kairos nicht noch einmal vor ihr aufblitzt.

ALMA DEUTSCHER

Du holde Kunst, in wieviel grauen Stunden,

Wo mich des Lebens wilder Kreis umstrickt,

Hast du mein Herz zu warmer Lieb entzunden,

Hast mich in eine beßre Welt entrückt!

Oft hat ein Seufzer, deiner Harf’ entflossen,

Ein süßer, heiliger Akkord von dir

Den Himmel beßrer Zeiten mir erschlossen,

Du holde Kunst, ich danke dir dafür!

Franz Schubert – An die Musik

In einem großen Unternehmen wird eine Stelle ausgeschrieben: Es wird der Traumfeger – Sweeper of Dreams – gesucht. Der bisherige Sweeper flog raus, weil er während der Dienstzeit zusammengebrochen war. Er hatte sich, komplett überfordert, dem Alkohol hingegeben. Sein Job: die ständigen Albträume der Menschen wegzufegen.

Für die Neubesetzung der Stelle sind drei in feinen Zwirn gewandete Manager mittleren Alters zuständig. Sie sind völlig schockiert, als sich statt der erwarteten zahlreichen männlichen Bewerber nur eine Person zum Vorstellungsgespräch einfindet: ein Kind, dazu noch weiblich, ein 16-jähriges Mädchen. Der Gipfel der Ignoranz, geradezu lächerlich für diese verantwortungsvolle Position. Sie verspotten das quirlige Mädchen im rosa Kleidchen, das zudem noch sämtliche gängigen Managerstandards missachtet, und schmeißen sie kurzerhand raus. Das heißt, sie wollen sie rausschmeißen, schaffen es aber nicht. Denn das selbstbewusste Mädchen bewegt sie zum Zuhören, verwickelt sie ins Gespräch. Am Ende setzt sie sich durch und wird als Sweeper of Dreams angestellt.