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Als Mittel zur Orientierung -werden mit dem Werkzeug der "Drei Blickwinkel"-nacheinander die individuelle, soziale und die Sachperspektive eingenommen. So kann unter anderem erklärt werden, wie unsere Wahrnehmungen und Antriebe funktionieren. Gegenüber der Tierwelt haben wir im Bereich des sozialen Lebens, der Moral und der Aggression einige Besonderheiten zu bieten, eben auch unsere Affinität für Geschichten und Gauklertricks. Vom sozialen Blickwinkel kommend, werden einige Grundprinzipien des sozialen Lebens beschrieben, die das Verstehen unserer heutigen Situation erleichtern. Dabei wird insbesondere auf Macht, Gegenseitigkeit und Normen eingegangen. Der letzte Blickwinkel ist der der Sache bzw. des Themas oder des Zieles, bei dem auf den Umgang mit Chancen und Risiken als einer Kernfunktion moderner Gesellschaften eingegangen wird. Es geht außerdem um Verantwortung, Rechte und Pflichten. Anschließend werden beispielhaft einige Vorschläge zur Lebensgestaltung vorgestellt, die mir persönlich Hoffnung machen.
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Seitenzahl: 283
Veröffentlichungsjahr: 2023
Vom Umgang mit Gauklertricks, Absolutheitsansprüchen und ‚kalter‘ Gewalt
Gegenseitigkeit als Orientierungshilfe in unübersichtlichen Zeiten
Michael Freiberg
© 2023 Michael Freiberg
ISBN Softcover: 978-3-347-91152-9
ISBN E-Book: 978-3-347-91153-6
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany
Covergestaltung: Annika Damico, Foto Seite 7: GGS Müngersdorf, Foto Seite 143: Brigitte Freiberg.
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
Achtung: In dieser Arbeit werden Tatbestände und Worte erwähnt, die einem nahe gehen könnten, die einige Menschen als traumatisierend bezeichnen könnten. Das Weiterlesen dieser Arbeit geschieht auf eigene Gefahr! Es wird in dieser Arbeit das generische Maskulinum verwendet, alle Geschlechter sollen so inkludiert sein. In den Zitaten wurden ältere Versionen der Rechtschreibung wie auch Rechtschreibfehler nicht korrigiert. Einzig die doppelten Anführungszeichen („“) habe ich für meine Zitate vorbehalten und Anführungszeichen im Zitat durch einfache Anführungszeichen (,‘) ersetzt
Für Brigitte,
die in all den Jahren die Geduld nicht verloren hat
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Widmung
Vorwort
1. Einleitung: Die Werkzeuge der Orientierung – Drei Blickwinkel
2. Der Blickwinkel des Individuums
2.1 Die Macht unserer Wahrnehmung und die Wirksamkeit des Trickster-Archetyps
2.2 Was macht uns aus, was treibt uns an?
3. Zum sozialen Blickwinkel
3.1 Anpassung des Werkzeugs – Wechselwirkungen
3.2 Macht und Ohnmacht
3.3 Gegenseitigkeit
3.4 Normen
3.5 Der Midas-Touch der Moral – die Philosophie des Stattdessen als Heilmittel
3.6 Über kollektive Stimmungen und ihre politische Nutzung
3.7 Konfliktfelder: Ursachensuche des heutigen Zeitgeschehens
4. Zum Blickwinkel der Sachperspektive
4.1 Zwischenschritt: Vertiefung des Werkzeugs ‚Sachperspektive‘
4.2 Vom Umgang mit Chancen, Risiken und Gefahren
4.3 Verantwortung und Engagement als Grundlagen des geteilten Lebens
4.4 Reicht Einsicht hoffen oder brauchen wir Regeln und Recht?
4.5 Die Fähigkeiten der moralischen Intuitionen nutzen
5. Silberstreifen am Horizont
5.1 Das Streben nach Glück und Liebe
5.2 Lösungen finden – Wie soll das gehen?
6. Wie passt das alles zusammen, soll es das überhaupt?
Abspann: Warum Archetypen und griechische Sagen?
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6. Wie passt das alles zusammen, soll es das überhaupt?
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Vorwort
„Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht.“
Annalena Baerbock, 24.2.2022
Die Volksschule Müngersdorf in Köln wurde von Schülern aus allen Schichten besucht: Von Schülern aus der Neu-Müngersdorfer Oberschicht, aus der breiten Mittelschicht um den Ortskern herum und aus einer ausgedehnten Sozialbausiedlung. Die Schule ist ein mächtiger Bau mit einschüchternd hohen Räumen. Unser Lehrer lebte direkt neben uns zur Miete, fuhr aber einen Mercedes 170S. Ein solch beeindruckendes Auto fuhr noch nicht einmal der Meistertrainer Hennes Weisweiler, der auf der anderen Straßenseite wohnte. Unser Lehrer war sehr streng, lehnte aber Gewaltanwendung als Erziehungsmethode ab. Erst auf dem Gymnasium machte ich die Erfahrung mit gewalttätigen Lehrern. Gewalt erlebten wir Grundschüler ansonsten auf dem Schulhof: Ein Schulhofschläger aus der Sozialbausiedlung schüchterte uns alle ein und griff sich regelmäßig einige Opfer heraus. Eine Demonstration seiner Macht gegen die Mächtigen gab er im Klassenzimmer ab: Nach einem Fehlverhalten sollte er eine Strafarbeit von einer Seite am Folgetag abliefern, was er nicht tat. So verdoppelte unser Lehrer die Strafe und wiederholte das Prinzip ein ums andere Mal. Bei der Forderung nach 64 Seiten Strafarbeit gab unser Lehrer auf und legte den Mantel des Schweigens über den Vorgang.
Hogwarts für Muggel: Die Volksschule Müngersdorf
Sascha Lobo hat Donald Trump einmal als Schulhofschläger bezeichnet und weckte so diese Kindheitserinnerung. Nach der Schulzeit habe ich so gut wie nie mehr Gewalt erlebt und mein größtes Privileg ist es wohl, ein ganzes Leben in Friedenszeiten gelebt zu haben. Ich habe auch den Kriegsdienst verweigert. Ich glaubte fest daran, dass Gewalt keinen Platz mehr hat in einer Welt, in der vor wenigen Jahrzehnten noch zwei Weltkriege und der Abwurf von Atomwaffen durch die USA über Hiroshima und Nagasaki stattgefunden haben. Die russische Invasion in die Ukraine stellte so für mich wie für viele Mitmenschen eine Zeitenwende dar, da es nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa keinen Überfall mehr auf ein anderes Land gegeben hat. Uns allen wurde am 24. Februar 2022 verdeutlicht, dass es keine gemeinsame Sicherheitsordnung mehr gibt. Die kalte und rohe Gewalt mit der zusätzlichen Drohung des Einsatzes von Atomwaffen als weiterer Eskalationsstufe hat ihren Platz in der Geschichte wieder eingenommen. Die deutsche Regierung hat mit einer mutigen Kehrtwende reagiert und liefert sogar Waffen in die Ukraine. Es verbleibt eine große Vorsicht gegenüber dem vermeintlich unberechenbaren Gegner; der entscheidende Schritt war jedoch die Erkenntnis, die Welt so gesehen zu haben, wie man sie sehen wollte. Man hat sich von der Illusion verabschiedet, dass die Zeit der kriegerischen Gewalt in Europa beendet und die sanfte Macht des Dialogs die Lösung aller Konflikte sei. In einer anderen Welt aufzuwachen bedeutete in diesem Fall eben keine neue Wirklichkeit, sondern eine illusionäre Sicht der Wirklichkeit gehabt zu haben – wie schon die Trojaner, die sich mit einem hölzernen Pferd ihre Vernichtung hinter die eigenen Festungsmauern gezogen haben. Schon der Brexit und die Wahl von Donald Trump im Jahre 2016 haben mir den Eindruck gegeben, dass unser Bild von der Welt lückenhaft ist. Wie kann man mit den Lügen und Tricks dieser politisch-gesellschaftlichen Kampagnen durchkommen? Wie kann das funktionieren?
Viele Jahre habe ich soziologische, psychologische und anthropologische Analysen der klügsten Köpfe studiert. Recht schnell wurde mir klar, dass ich diese vermeintlichen Pannen in der Geschichte menschlicher Entwicklung mit rein rationaler Herangehensweise nicht verstehen würde. Überdies leiden viele Analysen unter der von ihnen gemachten Voraussetzung, dass Menschen vernünftig handeln würden, wenn sie hinreichend gebildet und informiert wären. Diese Voraussetzung ähnelt dem religiösen Glauben: Wenn nur die Erleuchtung über uns käme, würden alle im Glauben vereint sein. Es ist sehr bedeutsam, was in unserem Kopf stattfindet – und der ist empfänglich für beeindruckende Geschichten und verwegene Gauklertricks. Wenn wir dann dazu verleitet werden, diese Geschichten durch einen Absolutheitsanspruch zur alleinigen Wahrheit zu erklären, betreten wir das Universum von Donald Trump, in dessen Vorstellung eine für ihn verlorene Wahl nicht existiert oder nicht existieren darf.
Wieder und wieder habe ich versucht, meinen eigenen Trugschlüssen auf die Spur zu kommen und zu einer nüchternen Wahrnehmung der vorzufindenden Interessenlagen, Emotionen und der Funktionsweise unseres individuellen und gesellschaftlichen Lebens zu kommen. Ich entschuldige mich schon jetzt für die verbleibenden Trugschlüsse und freue mich auf ‚Hab ich dich erwischt‘-Rückmeldungen. Es gilt also, in die Welt der Intuitionen, Gefühle und kollektiven Stimmungen zu blicken, ohne sich davon überwältigen zu lassen. Die Versuche, Trugschlüsse zu vermeiden, haben mich jedoch auch dazu verleitet, keinen Standpunkt einnehmen zu wollen. Denn vernünftige Schlussfolgerungen benötigen keinen eigenen Standpunkt und führen in die Alternativlosigkeit, die auch Angela Merkel in Anspruch nahm. Einen Standpunkt gilt es also einzunehmen und auch transparent zu machen.
Es ist jedoch besser, erst das Funktionieren unseres Lebens verstehen zu wollen, bevor ich zu einem Standpunkt komme. Dafür habe ich einen Werkzeugkasten mit drei Blickwinkeln zusammengestellt, den ich im 1. Kapitel vorstelle. Nach der Vorstellung der Analyse-Werkzeuge möchte ich zuerst auf den individuellen Blickwinkel eingehen und zeigen, wie unsere Wahrnehmungen und Antriebe funktionieren. Gegenüber der Tierwelt haben wir im Bereich des sozialen Lebens, der Moral und der Aggression einige Besonderheiten zu bieten, eben auch unsere Affinität für Geschichten und Gauklertricks. Im folgenden Kapitel wird uns der soziale Blickwinkel beschäftigen. Ich beschreibe einige Grundprinzipien des sozialen Lebens, die mir das Verstehen unserer heutigen Situation erleichtert und damit Orientierung gegeben haben und auf Macht, Gegenseitigkeit und Normen eingehen. Im Kapitel über den Blickwinkel der Sache wird auch auf den Umgang mit Chancen und Risiken als einer Kernfunktion moderner Gesellschaften eingegangen. Es geht außerdem um Verantwortung, Rechte und Pflichten. Im 5. Kapitel möchte ich beispielhaft einige Vorschläge zur Lebensgestaltung vorstellen, die mir persönlich Hoffnung machen. Den Abschluss bildet eine kurze Zusammenfassung meiner zentralen Thesen.
Ein Leben zu führen bedeutet auch, in die Zukunft zu schauen, Vorkehrungen zu treffen und Entscheidungen zu fällen. Wenn wir genauer auf das Leben in unserer Welt geschaut hätten, hätten wir das Kommende ahnen und vielleicht etwas ändern können. Wir müssen etwas übersehen haben, unsere Wahrnehmung ist getrübt. In der Zeit als Geschäftsführer des ‚Netzwerks Ethik heute‘ zum Beispiel bekam ich immer deutlicher den Eindruck, dass wir uns nur noch mit Ethik-Häppchen versorgen und nicht genügend an einem Gesamtbild arbeiten. So könnten wir nämlich unsere Lage und das Kommende besser verstehen und unseren Alltag bewältigen. Nach einer ‚Entschlackungskur‘ meines theorielastigen ersten Entwurfs beschränke ich mich in diesem Band auf die zentralen Themen mit den notwendigsten Quellen. Ich hoffe auf diesem Weg, die Leselust zu wecken und zu erhalten. Die ausgesonderten Themen stelle ich in einem zweiten Band mit drei vertiefenden ‚Tauchgängen‘ vor, damit die Informationen nicht verloren gehen.
Meine Kinder befinden sich in der ‚rush hour‘ ihres Lebens. Die Familie, der Beruf und der Aufbau einer Häuslichkeit nimmt sie ganz in Beschlag. Die ‚rush hour‘ des Lebens liegt hinter mir. Ich habe jetzt die Muße, mir unser heutiges Leben genauer anzuschauen. Und ich habe das Privileg, auf eine Zeit der raschen Veränderungen zurückzublicken und damit den Zustand vor den Veränderungen mit den neuen Zuständen vergleichen zu können. Hoffentlich ist diese Arbeit meinen Kindern und der nachfolgenden Generation eine Hilfe.
1. Einleitung: Die Werkzeuge der Orientierung – Drei Blickwinkel
Das erste Werkzeug, mit dem ich diese Arbeit begann, war die Unterscheidung von Sollen und Sein. Vorhaben, Ziele und Visionen sind wichtig für unser Leben. Sie dürfen uns nur nicht dazu bringen, die Wirklichkeit mit dem Blickwinkel zu betrachten, wie sie sein sollte. Vom Sollen aufs Sein zu schließen bedeutet, einem moralistischen Trugschluss aufzusitzen.1 („Dass nicht sein kann, was nicht sein darf.“) Leider können wir uns nur schwer von diesem Trugschluss lösen, immer wieder habe ich diese Arbeit daraufhin geprüft und mich beim Idealisieren erwischt. Selbst die Frage nach „der“ Wirklichkeit setzt voraus, dass eine Wirklichkeit aus einem Guss existiert. Um nicht in ein Netz der vielfältigsten (und noch dazu gefühlten) Wirklichkeiten zu geraten, empfehle ich, drei Blickwinkel einzunehmen: Die eigene Sicht, die der Gruppe(n)/ Gesellschaft und die der Sache. Im II. Band mit den Tauchgängen habe ich beschrieben, wie ich zu diesem Modell gekommen bin und bitte jeden, der an dieser Werkzeugwahl zweifeln möchte, dort erst einmal nachzulesen.
Wer bei mir im Hauptbuch bleiben möchte, sollte noch wissen, dass mit jedem der drei Blickwinkel die Gefahr der Parteilichkeit verbunden ist. Selbst wenn wir in uns selbst keinerlei Voreingenommenheit wahrnehmen können, sind uns sicherlich schon viele Menschen begegnet, die wir als voreingenommen wahrgenommen haben. Auch das Thema (die Sache) kann Sachzwänge mit sich bringen, die aus diesem Blickwinkel alternativlos erscheinen mögen. Und der Soziologie als der Wissenschaft der Gruppen und Gesellschaft wirft der Soziologe Armin Nassehi2 vor, sich zu sehr zum Interessenvertreter der Sozialdimension und der Gemeinschaft zu machen. Damit besteht das Risiko, die Gesellschaft so zu betrachten, wie sie sein sollte, und nicht, wie sie ist (moralistischer Trugschluss). Nassehi plädiert dafür zu schauen, wie etwas wirklich funktioniert.
Es bildet sich nicht nur ein Dreieck von Ich, Gruppe, Thema. Es zeigt sich, dass es eine wechselseitige Beziehung zwischen den Eckpunkten gibt: Die Gesellschaft, meine Familie, meine Freunde beeinflussen mich, aber auch ich nehme Einfluss auf sie. Wir können zusammenarbeiten, gegeneinander kämpfen oder jede mögliche Kombination zwischen den beiden Extremen betreiben. Auch die Sache, die ich bewältigen möchte, beeinflusst mich durch Handbücher, Google-Wissen oder Regelwerke. Mein Thema muss jedoch nicht das Thema meines Gegenübers sein, oder vielleicht glauben wir nur, dass wir über dasselbe Thema reden. In Wahrheit reden wir aneinander vorbei. Nun möchte ich den Leser nicht länger auf die Folter spannen, der erste Entwurf eines Bildes sagt mehr als viele Worte:
Abbildung 1: Eigene Folie
Diese erste Fassung des Werkzeug-Modells bildet die Elemente für die individuelle Perspektive ab. Für die Einnahme der weiteren Perspektiven werden im Laufe dieser Arbeit an geeigneter Stelle noch Ergänzungen des Bildes nötig sein.
Um nun das Modell in den Arbeitsmodus versetzen zu können, werde ich mich eingehender mit den drei Blickwinkeln (Nassehi nennt sie Dimensionen3) beschäftigen. Wie funktionieren unsere individuelle Wahrnehmung und unser Handeln und was können wir über die gesellschaftliche Seite sagen? Welche Themen beschäftigen uns derzeit, wie behandeln wir diese und uns gegenseitig dabei? Wie im Vorwort gesagt, möchte ich die Rolle von Rationalität im Zusammenspiel oder Gegenspiel zu unseren Emotionen und moralischen Einstellungen erkunden und damit das Funktionieren von Individuum und Gesellschaft besser verstehen lernen. Wir klären so drei Fragegruppen: Was will ich, was kann ich? Was sagen die Anderen, was wünschen sie, was fordern sie, was sind ihre Absichten? Was bietet mir die Sache, was erfordert sie?
2. Der Blickwinkel des Individuums
2.1 Die Macht unserer Wahrnehmung und die Wirksamkeit des Trickster-Archetyps
„There’s one way to find out if a man is honest
- ask him. If he says ‘Yes’ you know he is a crook.“
Groucho Marx
Wie viele andere habe ich mich nach der US-Wahl 2016 gefragt, wie ein Mensch gewählt werden kann, der sich so unanständig verhält und schamlos lügt. Damals habe ich viele Analysen in der Hoffnung gelesen, gute Erklärungen zu finden. Vorgefertigte Schablonen wie links gegen rechts oder arm gegen reich machten das Bild nicht wirklich klarer.4 Selbst diejenigen, die sich von solchen Schablonen frei gemacht hatten, kamen nicht richtig voran mit ihren Thesen.
Spätestens seit der Brexit- und der US-Wahl müssen wir lernen, dass Stimmungen den Verlauf der Geschichte ändern können und Fakten nicht die maßgebliche Rolle spielen, die wir ihnen zuschreiben. In Diktaturen mit vollständiger Kontrolle von Militär, staatlichen Organen und Medien sollte uns das Phänomen nicht überraschen, wie etwa das Beispiel Nordkorea zeigt. Viel interessanter ist es, wie es in Demokratien gelingt, autokratische Herrschaft zu etablieren. Daher blickte ich zurück zu den Autoren aus der Zeit der Weimarer Republik und der Naziherrschaft. Die Analysen dieser Autoren waren keine intellektuellen Spielereien, es war ihnen ernst, es war existentiell. Insbesondere die Arbeiten von Stefan Zweig beeindruckten mich sehr.
Der Psychologe Carl Gustav Jung hat den Versuch gewagt, über die Sprache von Bildern, Mythen und Symbolen Zugang zu Bereichen zu finden, die unser Intellekt nicht erreicht. Seine These des kollektiven Unbewussten war mutig, weil sie kaum beweisbar sein wird. Seine These der Archetypen dagegen kann darauf verweisen, dass es in vielen, wenn nicht allen Kulturen wirksame Muster gibt, die sich ähneln.5 Wir alle können mit Mütterlichkeit etwas anfangen, Heldensagen waren und bleiben populär und selbst wenn sich heute viele Menschen von den Kirchen abwenden, ist der Wunsch nach und der Glaube an etwas Heiliges eher auf dem Vormarsch. Der rationale Geist der Aufklärung scheint uns nicht zu genügen (mal davon abgesehen, mit welchen Gewaltexzessen er sich durchgesetzt hat). Wir haben Instinkte, Intuitionen und Gefühle, es fällt dem rationalen Verstand einfach schwer, damit umzugehen. Archetypen mit ihren Narrativen eröffnen uns zum Beispiel durch den Trickster-Mythos einen Zugang zu den Phänomenen Trump und Johnson. Der Trickster kommt immer listig und improvisierend daher, ist oft lustig, manchmal auch chaotisch und brutal. Hermes, der Gott der Betrüger, und natürlich Odysseus kommen einem in den Sinn, der sich an einen Mast binden ließ, um nicht den tödlichen Verführungen seiner langen Heimreise zu verfallen. Derselbe Odysseus, dem die Idee mit dem trojanischen Pferd zugeschrieben wird. Das Spektrum der Trickster-Figuren geht von Robin Hood, der den Reichen nahm, um es den Armen zu geben, über Zauberern bis zu Mephisto und Luzifer, die versuchen, Menschen auszutricksen und zu vernichten.
Auch heute ist der Trickster populär, denken wir an den kürzlich verstorbenen Diego Maradona mit seiner Hand Gottes und natürlich all die Elfmeter-Schwalben, die die Fans des Tricksters begeistern und die Gegner empören. So unfair kann man doch nicht sein! Im Folgenden konzentriere ich mich auf die unerfreulichen Seiten des Tricksters, zuvor möchte ich hervorheben, wie sympathisch so ein Schelm sein kann, dem man nichts verübeln mag. Von früh auf hören wir, dass wir lernen und üben müssen, um ein Ziel zu erreichen. Wie verlockend ist es da, mit Tricks eine Abkürzung zu nehmen. Wir wollen gerne die Belohnung, aber nicht den Preis dafür bezahlen. Deswegen steht uns der Trickster so nahe. Eine Welt ohne Trickster wäre langweilig und nicht lustig. Mit Lotto und dem Casinospiel gibt es populäre Varianten der Hoffnung, mit kleinem Einsatz großen Gewinn zu machen. Solange es nicht zur Spielsucht führt, ist es ein vermeintlich harmloses Trickster-Vergnügen. Es gibt auch eine andere Seite, die gerne nicht wahrgenommen wird: Eine beliebte Karnevalsverkleidung ist der Pirat (ein Symbol auch beim Fußballverein St. Pauli), der im wirklichen Leben auch heute noch mordet und raubt. Oder auch das betrügerische Hütchenspiel, dessen moderne Variante ich im I. Tauchgang beschreibe. Ernten ohne zu säen ist das Motto der Trittbrettfahrer (‚free rider‘), einer Variante des Trickster-Phänomens.
Donald Trump passt bestens in das Bild des Tricksters. Er demonstriert Größe, Stärke, unbändigen Willen und Energiegeladenheit. Er wirkt authentisch, weil er an seine Großartigkeit glaubt. Wir sehen jedoch auch einen Kaiser, der nackt ist: Täglich entblößte sich Trump auf Twitter, keiner seiner noch so absurden Gedanken blieb uns vorenthalten. So sehen seine Fans die faszinierende Großartigkeit und alle anderen die schamlose Blöße und Lügen. Wir sehen, wie eng Selbsttäuschung und die Täuschung anderer verbunden sein können.
Denn das Problem ist weniger Donald Trump als unsere menschliche Wahrnehmung, die uns nur sehen lässt, was wir sehen wollen. Der Rest liegt wie hinter einer Nebelwand. Dies betrifft insbesondere das Bild, welches wir uns über uns selbst machen und wie wir auf andere wirken möchten. Der Nobelpreisträger Daniel Kahneman hat in seinem Buch ‚Schnelles Denken, langsames Denken‘ viele menschliche Wahrnehmungsverzerrungen eingehend beschrieben, auf die ich noch zu sprechen kommen werde. David Eagleman hat zu diesen Verzerrungen eine drastische Metapher im Sinn: „Ihr Bewusstsein ist wie ein blinder Passagier auf einem Ozeandampfer, der behauptet, das Schiff zu steuern, ohne auch nur von der Existenz des gewaltigen Maschinenraums im Inneren zu wissen.“6 Trotz dieser Voreingenommenheit wird das Schiff in der Regel erfolgreich gesteuert, die Nützlichkeit dieser Verzerrung kann nicht abgesprochen werden.
Unser Autopilot
„Wir können einfach nicht anders, als mit den beschränkten Informationen, die wir besitzen, so zu verfahren, als wären sie alles, was man über das Thema wissen kann. Aus den uns verfügbaren Informationen konstruieren wir die bestmögliche Geschichte, und wenn es eine gute Geschichte ist, glauben wir sie.“7 Kahneman hat für diese Art der Wahrnehmung den Begriff WYSIATI (‚What you see is all there is‘)8 geprägt. Das heißt ins Deutsche übersetzt: Was du siehst ist alles, was da ist. In unserem Gehirn finden zwei Prozesse statt, die Kahneman als ‚schnelles Denken bzw. langsames Denken‘ bezeichnet. Das schnelle Denken findet automatisch und unbewusst statt. Das spart Kräfte, weil das langsame Denken und damit das Bewusstsein9 nicht aktiviert werden muss. Unsere Wahrnehmungen (Sehen, Hören, Fühlen, Riechen oder Schmecken) fordern 20.000 Entscheidungen pro Tag, die ohne Automatismen nicht funktionieren würden. Unser Gehirn greift zu Abkürzungen und Sinnestäuschungen10, die oft unproblematisch sind. Eine einfache Täuschung der Wahrnehmung ist zum Beispiel die Bewegungsillusion:
Abbildung 2: Eigene Folie, Quelle Grafik:11
So unzuverlässig arbeiten die Einschätzungen des schnellen Denkens nicht, in Alltagssituationen können wir uns meistens darauf verlassen. Nach dem Soziologen Anthony Giddens verfügen wir alle über eine routinisierte Selbstbeobachtung während des Handelns, ohne dabei das Tun zu reflektieren.12 Dennoch herrscht eine besondere Art von Aufmerksamkeit, die der Philosoph Ronald Dworkin in einem Satz auszudrücken verstand: „Um den Charakter oder Stil im Vollzug unseres Lebens auszumachen, versuchen wir zu verstehen, was wir tun, während wir es tun.“13
Das langsame Denken schaltet sich nur bei Unstimmigkeiten ein, deren sparsame Nutzung war fürs Überleben der Menschheit äußerst sinnvoll. Routinen, Typisierungen und Voreingenommenheit gehören notwendigerweise zu unserem Leben dazu. Je komplexer das Leben aber wird, desto schwieriger ist es, darauf mit Routinen zu reagieren und das Feld der Trugschlüsse wird größer und reichhaltiger. Hier folgen einige Beispiele zur Illustration.
Selbstüberschätzung und der blinde Fleck
Unser Zugang zur Selbstüberschätzung beginnt mit einem Alltagsbeispiel von Ehepaaren: „Beide Eheleute erinnern sich an ihre eigenen Bemühungen und Beiträge sehr viel deutlicher als an die ihres jeweiligen Partners, und dieser Verfügbarkeitsunterschied führt zu einem Unterschied in der beurteilten Häufigkeit. Diese Verzerrung ist nicht unbedingt eigennützig: Eheleute überschätzen auch ihre Beiträge zu Streitigkeiten, wenn auch in geringerem Ausmaß als ihre Beiträge zu erwünschten Ergebnissen.“14 Ein ähnliches Beispiel: Autoren schätzen ihren Artikelbeitrag für ein Gesamtwerk sogar auf 140 %.15 Diese Wahrnehmung gilt auch in anderen Lebensbereichen: 90 % der Autofahrer glauben, besser als der Durchschnitt zu fahren.16
Durch Kahneman wurde uns deutlich gemacht, dass wir nicht ‚Herr in unserem Haus‘ sind. Der Sozialpsychologe Jonathan Haidt hat weitere schlechte Nachrichten für unser Selbstwertgefühl: Er wie auch andere Forscher konnten nachweisen, dass unsere moralischen Einstellungen und Handlungen rein intuitiv sind und nur nachträglich durch unseren Verstand eine rationalistische Interpretation17 angefügt wird. „Die Heuchelei zu heilen ist viel schwieriger, weil ein Teil des Problems darin besteht, dass wir nicht glauben, dass es ein Problem gibt.“18 Die Selbsttäuschung kann auch in Kombination mit der Täuschung, dem Gauklertrick auftreten. Wir sollten unseren Edelmut nicht ganz so hoch einschätzen, wie wir es gerne hätten, weil wir so selektiv wahrnehmen.
Dies führt uns zu einem Trugschluss allgemeiner Natur, sozusagen dem blinden Fleck schlechthin, den der Aktionsforscher Otto Scharmer in seinem Buch ‚Theorie U‘ aufzuspüren versucht: „Der blinde Fleck ist der Quellort unserer Aufmerksamkeit in uns bzw. um uns. Es ist der Ort, von dem aus wir handeln, wenn wir handeln. Dass dieser Fleck blind ist, liegt daran, dass er sich gegenläufig zu unseren normalen, nach vorne gerichteten Aufmerksamkeitsrichtung verhält.“19 In der Begabungsforschung hat man festgestellt, dass so sogar das eigene Kerntalent übersehen werden kann20 und das, wo uns doch die gute Außenwirkung so wichtig ist.
Der blinde Fleck betrifft uns nicht nur als Individuum, auch Gruppen und Organisationen arbeiten in diesem Wahrnehmungsmodus. Die eigene Position kann so alternativlos gut werden und in der Folge einen Absolutheitsanspruch erheben. Dabei findet unser Leben in der Regel in den Graubereichen zwischen Schwarz und Weiß statt. Wie können wir mit den Graubereichen, den Wahrscheinlichkeiten umgehen?
Wir können mit Wahrscheinlichkeiten nicht gut umgehen
Daniel Kahneman hat versucht, diese Frage über das Verhalten bei Spielen zu klären. Unsere Entscheidungsgewichte wurden durch die Einsätze bei Glücksspielen ermittelt. In der folgenden Tabelle, die ich um einige Referenzpunkte gekürzt habe, wird die Eintrittswahrscheinlichkeit mit unserer tatsächlichen Nutzung von Chancen gegenübergestellt:
Abbildung 3: Quelle Daniel Kahneman21
In den mittleren Auswahlsituationen funktionieren wir relativ gut. Wenn es jedoch in die Ausnahmesituationen geht, werden die Abweichungen stärker. Im unteren Bereich, also bei Ereignissen mit geringer Eintrittswahrscheinlichkeit, sind unsere Entscheidungen zu optimistisch. Wenn jedoch die Chancen gutstehen, werden wir pessimistisch und greifen nicht zu mit einer Abweichung von 20 % bei einer 80 % Chance. Bei noch höheren Werten gleicht sich die Situation wieder etwas an, bleibt aber deutlich im pessimistischen Bereich. Gegen die pessimistische Einstellung wirkt die positive Selbsttäuschung (sog. rosarote Brille)22, die anscheinend besonders bei geringerer Eintrittswahrscheinlichkeit einsetzt. So nehmen wir auch (zu) schwierige Dinge in Angriff.
Im generellen Zusammenhang macht sich jedoch der Individualblickwinkel der Psychologie verzerrend bemerkbar, worauf Kahneman selbst hinweist.23 Wir stecken nicht unbedingt allein in Entscheidungssituationen bzw. wir holen Rat ein, wenn wir vor einer wichtigen Entscheidung stehen. Es muss nur einer die richtige Lösung haben und die anderen Beteiligten überzeugen, dann findet sich ein Ausweg (Hollywood-Filme haben oft dieses Handlungsmuster, mit dem sich hervorragend Spannung erzeugen lässt). Insbesondere Organisationen können so Einschätzungsmängel besser abfangen.
Was die nahende Zukunft betrifft, sieht das Bild weniger gut aus. Kahneman hat zum Beispiel Finanzchefs um ihre Einschätzungder Aktienmarktentwicklung gebeten. „Finanzvorstände von Großunternehmen hatten keinen blassen Schimmer davon, wie sich der Aktienmarkt auf kurze Sicht entwickeln würde; die Korrelation zwischen ihren Schätzungen und dem tatsächlichen Wert lag knapp unter null! […] Die eigentlich schlechte Nachricht ist, dass die Finanzvorstände anscheinend nicht wussten, dass ihre Vorhersagen wertlos sind.“24 Der Aktienmarkt hat Eigenarten, die nicht unbedingt vernünftig vorhersehbar sind. Daher könnte man argumentieren, dass er ein schlechtes Beispiel sei. Wie sieht es aber in anderen Bereichen aus, zum Beispiel in der Medizin?
„Bei einer Studie über Patienten, die auf der Intensivstation gestorben waren, wurden die Obduktionsbefunde mit der Diagnose verglichen, die Ärzte gestellt hatten, als die Patienten noch am Leben gewesen waren. Die Ärzte gaben auch das Ausmaß ihrer Urteilssicherheit an. Das Ergebnis: ‚Kliniker, die sich der Diagnose vor dem Tod ‚vollkommen sicher‘ waren, irrten sich in 40 % der Fälle.‘“25 John-Dylan Haynes erweitert Aussagen dieser Art dahingehend, dass wir allgemein zu oft ganz sicher sind, absolut richtig zu liegen.26 Dies gilt für berufliche, öffentliche oder auch private Situationen. Wir fallen auch auf unterschiedliche Wege der Datenpräsentation herein: Wenn einem Patienten gesagt wird, dass zehn Prozent der Menschen an seiner Krankheit sterben, ist er nicht so betroffen, als wenn ihm erklärt wird, dass 10 von 100 Erkrankten sterben. Dieser Trick funktioniert sogar bei Ärzten! Die Schwelle zur missbräuchlichen Nutzung zur Beeinflussung von Einstellungen und Handlungen kann jederzeit überschritten werden, ein erläuterndes Beispiel findet sich in der Fußnote.27
Können wir unseren Intentionen, dem Bauchgefühl, überhaupt trauen, wenn wir unsere Chancen und die Gefahren nicht so gut einschätzen können? Kahneman ist sehr skeptisch, folgt nach längerer Diskussion des Themas aber dann doch einem Konsens der Forscher: Man kann seinem Bauchgefühl trauen, wenn man viel Erfahrung mit dem zu entscheidenden Bereich hat und auch trainiert ist.28 Insbesondere Feuerwehrleute oder Piloten werden in dieser Hinsicht oft hervorgehoben. Kahneman hat ein interessantes Beispiel für Personalentscheidungen beschrieben: Zuerst vertraute man auf das Bauchgefühl der Personalfachleute und hatte durchwachsene Erfolge, dann wurde ein standardisiertes Einstellungsverfahren etabliert, die Resultate verbesserten sich. Zuletzt durften die Personalfachleute zum Ende des Standardverfahrens ihre persönliche Einschätzung hinzufügen, die den Resultaten der standardisierten Tests einen Mehrwert brachten: „Aus dieser Episode lernte ich auch noch die allgemeine Lektion, nicht einfach dem intuitiven Urteil – dem eigenen oder dem anderer – zu vertrauen, aber es nicht als belanglos abzutun.“29
Ein weiteres Verarbeitungsprinzip des schnellen Denkens ist es, dass wir in Aussicht gestellte Vergünstigungen wie eine kommende Gehaltserhöhung als neuen Referenzpunkt sofort einbuchen.30 Dies gilt auch für den Fall eines erreichten Zieles, das dann sofort durch ein neues Ziel ersetzt wird. Dies wird als Anpassungsprinzip bezeichnet. Dieses Prinzip bewirkt auch das Fortschrittsprinzip: „Die Menschen beurteilen ihren gegenwärtigen Zustand im Vergleich dazu, ob er besser oder schlechter ist, als ihr gewohnter Zustand.“31
Alles wird schlechter, früher war es besser: Verlustaversion
Eigentlich läuft es gut für uns Menschen: Über die Jahrhunderte sind wir friedlicher geworden und haben sogar Hunger, Krankheit und Armut zurückgedrängt. „Man mag zwar einiges auszusetzen haben an unserer Gesellschaftsform, und vieles ist sicher verbesserungswürdig. Doch konnten wohl noch nie zuvor so viele Menschen in einer Gesellschaft ihren Lebenswandel so frei gestalten, mussten so wenige Angst haben vor Hunger, Kälte, Obdachlosigkeit, gewaltvollen Übergriffen und anderen schrecklichen Dingen.“32 (Vivian Dittmar, durchaus kritisch gegenüber Kapitalismus und Wachstumsphilosophie.)
Wir kreisen jedoch oft um den Gedanken, dass alles oder vieles schlechter geworden ist. Autoren wie Roser, Rosling und Pinker haben große Mengen Material darüber zusammengestellt, in welchem Maße sich die Welt in vielerlei Hinsicht verbessert hat. Der Evolutionspsychologe Steven Pinker findet es schockierend, dass dieses Wissen so gut wie keine Verbreitung findet.33 An dieser Stelle möchte ich nurein Schaubild mit vier Beispielen der Verbesserungzeigen:
Abbildung 4: Aus der ZEIT als kleiner Auszug von Our World in Data34
Es entspricht auch einer Generaltheorie der Aufklärung, dass die Menschheit sich beständig weiterentwickelt (eventuell schwankend von einem Extrem zum anderen und auch nicht in jeder Hinsicht) ,35 Nur unsere Stimmungen und Sorgen passen nicht ins Bild. Unsere Reaktion auf Verlust ist ungefähr doppelt so hoch wie auf Gewinn: „Für die meisten Menschen ist die Furcht, 200 Dollar zu verlieren, stärker als die Hoffnung, 150 Dollar zu gewinnen.“36 Diese Einstellung bezeichnet Kahneman als Verlustaversion.
Die doppelte Befangenheit: Vertrauen in das Bekannte, Misstrauen gegen das Fremde
Du kennst mich doch, ich hab nichts gegen Fremde.
Einige meiner besten Freunde sind Fremde.
Aber diese Fremden sind nicht von hier.
Methusalix
So sehr wir es uns wünschen mögen, universalistisch zu denken und alle Menschen willkommen zu heißen, so sehr ist die Trennung zwischen ,denen‘ und ,uns‘ mit der Abneigung gegen das Fremde und Unbekannte in unser Gehirn eingebrannt. „Dein Gehirn hasst andere Leute“, ist Robert Sapolskys plakative Formel, die der Neurowissenschaftler und Primatologe in dem über 1.000 Seiten schweren Buch „Gewalt und Mitgefühl“ multidisziplinär herleitet.37 Die Unterstellung der Bösartigkeit der Fremden oder Gegner macht diese Befangenheit so gefährlich, sie bereitet den Boden für geplante Aggressivität. Leider ist in vielen heutigen Fernsehdebatten eine solche Gesprächskultur häufig vorzufinden. Für Robert Sapolsky müssen wir zuerst das ,Wir gegen Die‘ in uns akzeptieren, wenn wir etwas ändern wollen. Immer wieder möchte ich daran erinnern, dass die genannten Forschungsergebnisse nur zeigen, was ist, und nicht, was sein soll. Wir können uns entwickeln (was Sapolskys zentrales Anliegen ist), aber nur mit dem arbeiten, was uns mitgegeben wurde.
Schon in ganz harmlosen Fällen wirkt der Mechanismus: Wir empfinden unseren Haushalt als sicheren Ort und fürchten die Risiken der Außenwelt, zum Beispiel Unfälle oder mangelnde Hygiene. Hausunfälle kommen jedoch am häufigsten vor und unser Wischtuch ist das schmutzigste, das wir anfassen könnten. (Wie wir es bei einem Vortrag zur Risikobewertung im Rahmen des Schutzes kritischer Infrastrukturen lernen durften.)
Man kann von einem Doppelstandard sprechen: Ich bin sauber und sicher, der Rest das Gegenteil. Meine Familie, meine Freunde und mein Verein sind gut, die anderen schlecht. Der Doppelstandard erzeugt Sündenböcke wie die Ausländer, die Flüchtlinge oder eben auch den alten, weißen Mann. Sich gegen letzteren zu äußern ist nach Margarete Stokowski kein Rassismus, da es sich um die Privilegierten und Mächtigen handele.38 Wenn wir so angegriffen werden, gibt es zwei Wege: Wir schämen uns und machen uns Selbstvorwürfe, oder wir gehen selbst zum Angriff über und machen Vorwürfe. Diese Figur hat uns Donald Trump seit Jahren vorgeführt: Er lügt und bezichtigt die andere Seite der Lüge, er versucht die Wahl 2020 zu stehlen und wirft Joe Biden den Diebstahl der Wahl vor.39 Ein schönes Beispiel liefert uns auch Kardinal Gerhard Ludwig Müller, der einen Aufruf mit dem Vorwurf der Verschwörung gegen die katholische Kirche unterschrieb. In einem Interview zu diesem Aufruf beklagt er sich, dass man der Kirche Böses unterstellen würde. Es bleibt unerwähnt, dass der Aufruf der anderen Seite ebenfalls Böses unterstellt.40
Diese Positionierung ist ganz typisch für Meinungsäußerungen in diesen Zeiten: Ich selber will nur Gutes, aber die Anderen wollen mir oder der guten Sache Böses. Diese selektive Wahrnehmung mit der Unterstellung negativer oder niederer Motive anderer Menschen hat Konjunktur und zeigt, dass unsere Voreingenommenheit begonnen hat, toxisch zu werden. Auf das Thema Macht und die rhetorischen Finten zur Etablierung von Doppelstandards wie die erwähnten werde ich in Kapitel 3.2 eingehen.
Neben vielen anderen bestätigt die Politikwissenschaftlerin Liya Yu den Befund des im Gehirn verankerten ‚Othering‘ und zieht die nur mit Beispielen beschriebene Dehumanisierung als rote Linie.41 Laut psychologischem Lexikon wird mit der Dehumanisierung ein Mensch als Monster oder Tier (Trump über Nancy Pelosi42) oder Objekt (gefühllose Roboter) bezeichnet.43 Liya Yu beschreibt die seelischen Folgen und bringt den Aspekt der mentalen Erschöpfung in die Diskussion.
Mentale Erschöpfung
Mentale Erschöpfung tritt nicht nur in Extremsituationen der Entmenschlichung auf. Wie bereits weiter oben gesagt, müssen die 20.000 Entscheidungen pro Tag vom Gehirn energiesparend gefällt werden, es verbraucht auch so ungefähr 20 % unseres Energiebedarfs. Kognitive Dissonanzen (die Dinge passen nicht zueinander) sind Energiefresser und werden entweder schnell verworfen oder führen in die Erschöpfung.
Das Hilfsmittel im Alltag ist die Typisierung, die uns bei der Orientierung hilft.44