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Dieses Buch enthält drei Tauchgänge, die das Hauptbuch ‚Vom Umgang mit Gauklertricks, Absolutheitsansprüchen und ‚kalter‘ Gewalt -Gegenseitigkeit als Orientierungshilfe in unübersichtlichen Zeiten‘ ergänzen. Jeder der Tauchgänge lässt sich auch als eigenständiger Aufsatz lesen, um Hintergrundwissen über das jeweilige Thema zu vermitteln. Tauchgang I beschäftigt sich mit den Hintergründen des Zeitgeschehens ausgelöst durch die Wahlen 2016 in Großbritannien und den USA. Tauchgang II beschäftigt sich mit Moral- und Wertekonzepten. Nach einer Übersicht werden dann insbesondere Konzepte genauer besehen, die im alltäglichen Leben bei der Ausrichtung des eigenen Kompasses helfen können. Der letzte Tauchgang mit dem Thema der sozialen bzw. materiellen Gerechtigkeit ist ein wichtiger Streitpunt des gesellschaftlichen Zeitgeschehens wie auch der Moraldebatten unserer Zeit.
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Seitenzahl: 294
Veröffentlichungsjahr: 2023
Zeitgeschehen, Moralkonzepte und soziale Gerechtigkeit
Drei Tauchgänge zum Hauptbuch: Vom Umgang mit Gauklertricks, Absolutheitsansprüchen und ‚kalter‘ Gewalt
Michael Freiberg
© 2023 Michael Freiberg
ISBN Softcover: 978-3-347-94690-3
ISBN E-Book: 978-3-347-94691-0
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany
Covergestaltung: Annika Damico
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Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Vorwort
Tauchgang I: Hintergründe des sozialen Geschehens
1.1 Das Jahr 2016: Die Gefährdung für Demokratie und Freiheit wird akut
1.2 Das Jahr 1933 – was können wir lernen?
1.3 Die Digitalisierung und die moderne Berufstätigkeit
1.4 Die Singularitätstheorie von Andreas Reckwitz
1.5 Die Diskussion zu den aktuell vorhandenen Gesellschaftsschichten
1.5.1 Die dreigeteilte Gesellschaft nach Reckwitz
1.5.2 Die neue Mittelschicht und der psychosoziale Prozess ihrer Aufspaltung
1.6 Der Wiederaufstieg nationaler Politik und Kultur
1.7 Die Idee des „postfaktischen“ Zeitalters
1.7.1 Medien
1.7.2 Soziale Medien
1.7.3 Politik
1.7.4 Wissenschaft
1.8 Erster Tauchgang abgeschlossen
Tauchgang II: Kultur, Werte, Moral und Ethik – Sollen und Wollen
2.1 Kulturressourcen oder Kulturidentität?
2.2 Das Menschenbild und der archimedische Punkt
2.3 Der individuelle, einzigartige Wertekosmos des Wollens
2.4 Im Dickicht der Definitionen: Ethik und Moral
2.5 Zur Einordnung der sechs moralischen Orientierungen
2.5.1 Fürsorge
2.5.2 Reinheit (Heiligkeit)
2.5.3 Gerechtigkeit
2.5.4 Autorität
2.5.5 Loyalität
2.5.6 Freiheit
2.6 Harte Nüsse knacken – einschneidende Moralfragen
2.7 Zweiter Tauchgang abgeschlossen: Über Moral im Verhältnis zu Menschenrecht und Recht im Allgemeinen
Tauchgang III: Soziale Gerechtigkeit: Wie entwickelt sich die soziale Ungleichheit?
Schluß: Wie das Werkzeugmodell entstanden ist
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Vorwort
Dieses Buch enthält drei Tauchgänge, die das Hauptbuch ‚Vom Umgang mit Gauklertricks, Absolutheitsansprüchen und ‚kalter‘ Gewalt -Gegenseitigkeit als Orientierungshilfe in unübersichtlichen Zeiten‘ ergänzen.
Jeder der Tauchgänge lässt sich auch als eigenständiger Aufsatz lesen, um Hintergrundwissen über das jeweilige Thema zu vermitteln.
Tauchgang I beschäftigt sich mit den Hintergründen des Zeitgeschehens ausgelöst durch die Wahlen 2016 in Großbritannien und den USA. Dabei wird auch darauf eingegangen, ob das für die beiden Länder anwendbare Modell der gespaltenen Gesellschaft auch in Deutschlang zutrifft, welche Schichtungen vorzufinden sind und wie das Konfliktgeschehen derzeit funktioniert.
Tauchgang II beschäftigt sich mit Moral- und Wertekonzepten. Nach einer Übersicht werden dann insbesondere Konzepte genauer besehen, die im alltäglichen Leben bei der Ausrichtung des eigenen Kompasses helfen können.
Der letzte Tauchgang mit dem Thema der sozialen bzw. materiellen Gerechtigkeit ist ein wichtiger Streitpunt des gesellschaftlichen Zeitgeschehens wie auch der Moraldebatten unserer Zeit.
Abschließend berichte ich noch davon, wie das von mir im Hauptbuch verwendete Konzept der drei Blickwinkel entstanden ist.
Tauchgang I
Hintergründe des sozialen Geschehens
1.1 Das Jahr 2016: Die Gefährdung für Demokratie und Freiheit wird akut
Die Brexit-Wahl und die Wahl von Donald Trump machten das Jahr 2016 zu einer Zeitenwende, zumindest aber zu einem Kipppunkt einer früher anzusetzenden Zeitenwende. Die Medien wie auch viele Denker und Dichter mühten sich mit unterschiedlichsten Erklärungen wie dem der ‚großen Regression‘1 ab. Es ist keine gute Zeitenwende und in diesem Kapitel werde ich hauptsächlich auf die Situation in den USA eingehen. Die Wahl von Boris Johnson als britischen Premierminister bestätigt jedenfalls, dass die Ereignisse im Jahre 2016 keine Eintagsfliege und Einzelfälle waren, sondern Ergebnis einer Drift, wie sich Peter Sloterdijk auszudrücken pflegt.2 Vielleicht sind wir aber im Alarmismus gefangen? Für die Zeitschrift Cicero war kurz nach der US Wahl die Welt noch in Ordnung, es sei nur „der ultimative Albtraum aller weltoffenen Kosmopoliten, sensiblen Schöngeister und progressiven Intellektuellen“ 3 eingetreten. Es gibt auch das Argument, dass es sich um keine Zeitenwende handelt. Sicherlich kann man den Kipppunkt früher ansetzen, aber 2016 konnten wir die Zeitenwende nicht mehr übersehen, die kaum einer hat kommen sehen.
Durch seine Worte und Taten erschüttert Donald Trump „unsere vermeintlichen Wahrheiten und moralischen Gewissheiten“.4 Offensichtlich ist, dass die systematische Verbreitung von Lügen bis zur Wahl 2020 erfolgreich war. In der Politik wird die Wahrheit regelmäßig selektiv genutzt, ist es also nur eine Frage der Dreistigkeit und der reinen Menge an Unwahrheiten? Es wird nicht reichen, sich moralisch zu empören. Wir müssen lernen, Trump und seine Anhänger zu verstehen. Trump lügt ganz authentisch, aus vollem Herzen.5 Thomas Assheuer vermutet, dass Sprache für ihn nur ein weiteres Handelsobjekt und Lüge oder Wahrheit kein Kriterium ist. Helfen seine Worte ihm weiter, sind sie gut, schaden sie, wird einfach zu einer neuen Aussage übergegangen.6 Für Cornelia Koppetsch geht Trumps Vorgehensweise weit darüber hinaus, sie versucht neue Spielregeln für die öffentliche Meinungsbildung zu schaffen: „Es geht um die Etablierung eines neuen Wahrheitsspiels, das den Unterschied zwischen Fakten und Meinungen verwischt. Selbstverständlich ist das System Trump nicht in dem Sinne erfolgreich, dass das neue Wahrheitsspiel zu einer fraglosen Selbstverständlichkeit würde. Was sich aber darin widerspiegelt, ist die Fragilität der hegemonialen Wirklichkeitssicht, da sich eine große Zahl von Menschen offenkundig keineswegs davon abschrecken lässt, dass der von ihnen unterstützte Politiker – aus Sicht der tonangebenden Schichten- nachweislich Falsches behauptet.“7 Diese Vorgehensweise ist erfolgreich und fand erst bei den Wählerstimmen ihr Ende, offensichtlich das Einzige, das immerhin für Einige in der republikanische Partei heilig genug war, um dem Wahrheitsspiel ein Ende zu bereiten.
Donald Trump, ein alter, weißer Mann mit allen Eigenschaften, die sich politische Kabarettisten in ihren kühnsten Träumen nicht hätten ausmalen können. Schon Richard Nixon und George W. Bush (siehe oben) wurden schwere charakterliche Mängel zugeschrieben, sie bemühten sich jedoch darum, eine zivilisierte Maske zu tragen. Dadurch hatten die Medien und das Umfeld der vorigen Präsidenten einen Hebel zur Verfügung, der bei dieser Schamlosigkeit und Dreistigkeit Trumps nicht mehr zur Verfügung steht. „Reue und Scham und die damit verwandten Gefühle von Verlegenheit, Schuld und Stolz sind »soziale« oder »moralische« Emotionen. Wer zu der dunklen Triade gehört, spürt diesen Impuls zu ethisch motiviertem Handeln nur in sehr verkümmerter Form, wenn überhaupt.“8
Es wunderte mich, dass der Begriff der ‚dunklen Triade‘ mit seiner toxischen Wirkung nicht schon frühzeitiger gefallen ist: „die Kombination aus den drei Persönlichkeitsmerkmalen Narzissmus, Machiavellismus und Psychopathie. Selbstherrlich, machthungrig und manipulativ sind solche Menschen im Kern. Ihre Ziele setzen sie ohne Rücksicht auf Verluste um […]. Auch, weil sie niemand aufhält.“ 9 Für toxische Menschen gibt es keine eindeutige Definition, aber typische Anzeichen: Sie sind unehrlich, überschreiten Grenzen, denken nur an sich und setzen andere Druck. Sie vergiften das Umfeld und wollen keine Lösung, sondern ihren Willen ohne Kompromisse durchsetzen. Trumps Neigung, auch die kleinste empfundene Kränkung mit einer rachsüchtigen Wut per Twitter zu verfolgen, hätte jeden anderen Politiker sofort zu Fall gebracht. Christian Stöcker, der als Spiegel-Kolumnist unter dem Titel ‚Der Rationalist‘ veröffentlicht, konnte sich seine irrationale Sucht nach Trump-Artikeln nur noch psychologisch erklären: „Eigentlich weiß man längst mehr als genug über den Mann, und nichts davon stimmt einen sonderlich hoffnungsvoll.“10
Schon bei Berlusconi konnten wir einen Millionär als Volkstribun-Darsteller beobachten, der in Wirklichkeit dem Eigennutz folgte: „Die Verbindung von unbelangbarer Stimmungsmacht mit Politikerverachtung ist der Mix, auf dem die Berlusconisierung des politischen Betriebs vorstellbar wird. Wenn grundsätzlich das niedrigste materielle Motiv unterstellt wird, wenn politischer Anstand vornehmlich in den Schmuddelformaten der Massenmedien überprüft wird, dann verlieren die Maßstäbe irgendwann jegliche Glaubwürdigkeit. […] Berlusconi bietet das Beispiel einer entpolitisierten Politik, in der tatsächlich das persönliche materielle Motiv regiert, der Staat also zur Umwelt eines Wirtschaftsimperiums degradiert wird.“11
Wenn Berlusconi schon ‚bizarre, etwas vulgäre Eitelkeit‘12 zugesprochen wurde, wie kann die Steigerung dazu bezeichnet werden? Trump bemüht sich, mit vielen Tabubrüchen Aufmerksamkeit zu erlangen, um seine Großartigkeit hervorzuheben und vertritt „offen und stolz das antidemokratische Programm einer autoritären Herrschaft“, die das gängige Recht oder die Menschenwürde nicht achtet.13 Der Versuch, das Wahlergebnis 2020 zu fälschen und das Aufpeitschen sein Anhänger bis zum Sturm aufs Kapitol ist nur der letzte von vielen Belegen.
Die Politik von ‚Wut und Rache‘ nahm 2001 ihren Anfang und wurde mit missionarischem Eifer vorangetrieben (Joschka Fischer staunte darüber, dass die Verursacher die Genossen von früher waren).14 Für Roland Nelles ist die wilde Rache die zweite von vier Taktiken, die Trump anwendet. (Auch als ‚madman‘- Handeln bezeichnet, das dazu führt, dass die Anderen den Wahnsinnigen nicht weiter reizen wollen15) Die erste Taktik ist das Verwirrspiel, um Partner oder Gegner zu verunsichern oder einzuschüchtern. Neben der wilden Rache setzt Trump als dritte Taktik die gezielte Demütigung ein, die ihm Untergebene jederzeit treffen kann, insbesondere wenn sie keine vollkommene Loyalität zeigen. Die vierte Taktik ist die intensive Propaganda mit schönen Bildern und großartigen Inszenierungen von Trump als gütigen und geliebten Anführer.16
Um die gewünschte Rechtsprechung zu erhalten, werden neue konservative Richter ernannt (58 neue Bundesrichter in den ersten 10 Monaten der Präsidentschaft17), auch Begnadigungen werden auf eine neue, eigennützliche Art ausgesprochen.18 Die amerikanische Steuerreform passt in das Muster: „Die superreichen Geldgeber der Republikanischen Partei plündern den Staat aus, während die Arbeiterklasse eine Mauer an der Grenze zu Mexiko, strengere Abtreibungsregeln und lockerere Waffengesetze bekommt. Trumps Populismus ist in Wahrheit rücksichtsloser Klientelismus.“19 (In Wahrheit ist das Bild etwas komplizierter, wie das Tax Policy Center aufzeigt. Entgegen vieler Pressemeldungen berichtet der Spiegel im Januar 2021, dass bis zur Pandemie Schwarze, Latinos und Arme von deutlichen Gehaltssteigerungen profitiert haben).20 In der Tradition der Tea Party wird im Focus sogar eine ‚strategische Staatsdemontage‘ vermutet.21 Tatsächlich sind eine Reihe von staatlichen Einrichtungen mit dem Abbau von bis zu 30% der Stellen beauftragt worden.22 Nils Minkmar hat die Opposition gegen den Staat an sich schon 2011 beschrieben und zitiert ein ironisches Statement von Barack Obama „Am besten wäre es, den Staat aufzulösen, jedem seinen Anteil auszuzahlen, von nun an ist jeder auf sich allein gestellt.“23
Die sozialen und kulturellen Strömungen, die Trump bedient, scheinen schon lange in der amerikanischen Gesellschaft verankert zu sein. Richard Sennett beschreibt die Ablehnung der weißen Arbeiter gegen „die“ (Anderen), was schon in den 70er Jahren des letzten Jahrtausends gleichermaßen die schwarzen Mitbewohner wie auch die führende Elite umfasste.24
Es ist an dieser Stelle auf den Begriff der Elite einzugehen, der oft etwas wahllos verwendet wird. Manchmal wird noch versucht, durch die Hinzufügung von ‚herrschend‘ die Elite näher zu kennzeichnen. Diese so genannte Herrschaft kann einen politischen, ökonomischen oder kulturellen Hintergrund haben (Macht- oder Geltungshierarchien, siehe Hauptbuch), aber eigentlich soll der Begriff diejenigen treffen, die man nicht leiden kann. Das Thema wird unter dem Begriff Eliten-Bashing25 abgehandelt, daher ist es sinnvoll, sich nicht als Elite zu erkennen zu geben. Man gibt sich antielitär und elitenkritisch.26 In jedem Falle lohnt es sich, zu fragen, wer genau mit Elite gemeint ist. Es ist in offenen, egalitären Gesellschaften schwer geworden, ‚die da oben‘ genau zu erfassen. Es bilden sich jedoch einige Muster heraus: Zuerst einmal sind die Reichen die Elite, gerade auch bei ‚unterkomplexer‘ Kapitalismuskritik. In dieser Zeit ist der Focus jedoch mehr auf die Superreichen gerichtet, die 0,1 oder sogar nur 0,01% der Weltbevölkerung stellen. Diese Konzentration des Geldes auf ganz Wenige eröffnet die Möglichkeit, steuernd auf das Weltgeschehen einzugreifen, wie es insbesondere auf die Chefs der digitalen Konzerne zutrifft.27 (siehe Kapitel 1.3 Die Digitalisierung in diesem Tauchgang)
Ganz klassisch kann Elite dann auch noch diejenigen bezeichnen, die an der Regierung sind. Tilman Allert führt aus, dass im Osten Deutschlands durch die Erfahrung mit einer auf den Nationalsozialismus folgende zweite Diktatur mit intensiver Überwachung der Bevölkerung ein vertieftes Misstrauen gegenüber Institutionen und ihren Eliten entstanden ist.28 Zwei Studien des Jahres 2019 zur Befindlichkeit der Deutschen sehen das sinkende Vertrauen in Institutionen und Mitmenschen als zentralen Befund an.29 In einem erweiterten Sinne kann man Elite als die Gruppe auffassen, die sich dazu berufen fühlt, der Bevölkerung zu sagen, an was sie sich zu halten haben und an was sie zu glauben haben. Der Begriff Elite bietet also eine große Projektionsfläche für die Wut auf die ‚da oben‘.
Der Glaube an die Macht des Einzelnen wird nicht nur von Trump offensiv vertreten: „McMaster erklärte im Wall Street Journal, dass es so etwas wie eine globale Gemeinschaft nicht gebe, sondern nur Nationen, die durch Macht und Verhandlung ihren jeweiligen Interessen nachgingen.“30 Diese Macht spielt Trump aus und diktiert die Bedingungen. Dabei hat er ein gutes Gespür für die Schwächen der Anderen und den entsprechenden Lücken, die es zu nutzen gilt.31 Bis weit in das Jahr 2019 hinein zeigte sich, dass die Wirtschaft der USA entgegen ökonomischer Theorien nur wenig leidet.32 Es geht offen in die Erpressung und Plünderung und jeder ist sich selbst der Nächste. Der Gedanke, dass wir in einer Welt leben, in einem Boot, ist damit verabschiedet.
Für Yuval Noah Harari ist jedenfalls klar, dass die Menschheit eine besondere Leichtgläubigkeit in sich hat, was erst einmal schwer von der Hand zu weisen ist.33 Dennoch glaube ich, dass es über die Leichtgläubigkeit hinaus gute Gründe für das überraschende Wahlverhalten der Bürger gibt. Wie können wir also Menschen wie Donald Trump, die Auswirkungen auf unser Leben und die sich derzeit verbreitende kollektive Stimmung so analysieren, dass wir das nächste Mal vorbereitet sind? Wir müssen meines Erachtens zu den Zeiten der Diktatoren und Autokraten zurückgehen, als das Vorhandensein des Bösen keine Frage war. „Das Böse ist im fortschrittlichen Weltbild nicht vorgesehen. Sofort sucht man nach krankhaften Triebkräften, biografischem Unglück, sozialen oder politischen Missständen. Alles wird für die Untaten verantwortlich gemacht, nur der Täter nicht.“34 Dank Richard Wrangham (siehe Hauptbuch) sind wir aber in Lage, das Böse nicht mehr in dämonischen Tiefen suchen zu müssen, sondern können die aktive, geplante Aggression als evolutionär bedingte Erklärung ausmachen. Nach dem Blick auf die Zeitenwende der dreißiger Jahre wird das Thema durch die Beschreibung von kollektiven Stimmungen im Hauptbuch vertieft.
1.2 Das Jahr 1933 – was können wir lernen?
„Wie viel Hitler steckt in Trump?“35 Hitlervergleiche sind politisch und emotional so besetzt, dass die meisten Historiker sie vermeiden (nicht jedoch der zu drastischen Formulierungen neigende Timothy Snyder36), die Demokratie sehen diese aber ziemlich übereinstimmend in Gefahr.37 Auch Sennett verweist auf die 20er Jahre: „Die waren sehr ähnlich zu dem, was heute passiert. Ich denke aber nicht, dass Trump wie Hitler ist. Er ist eher wie Mussolini. Er ist diese Art von Faschist, unstetig und unberechenbar. Ich denke auch, dass er für eine Menge Korruption sorgen wird, er sagte ja schon, dass er die Regierung wie ein Unternehmen führen will. Und er wird sich und seine Familie begünstigen.“38 Tatsächlich hat Mussolini im Gegensatz zu Hitler oder Stalin keine Ausrottung angeblicher oder tatsächlicher Feinde betrieben39, aber mit Pressenzensur und Abschaffung demokratischer Prozeduren die Mittel heutiger Autokraten verwendet. Donald Trump mit seinem Schüren von Hass40 und seinem Kampf gegen die Presse und den Einrichtungen der staatlichen Gewaltenteilung liegt hier auf einer Linie. Wohl auch, was die Selbstbereicherung und Klientelwirtschaft betreffen.
Mein ganzes Leben habe ich in einem friedlichen Europa gelebt, dass uns durch einen Rechtsrahmen im „laissez-fair“ Stil große individuelle Freiheiten ermöglicht haben. Dies hat in guten Zeiten gut funktioniert, scheint aber in schwierigen Zeiten an ihre Grenzen zu geraten. Heute müssen wir uns sogar mit dem Risiko beschäftigen, dass es wieder zu einem großen Krieg kommen kann. Analysen über den Faschismus und den Untergang der Demokratie habe ich während meiner Studienzeit gelesen und nun, wo ich die Bücher wieder hervorhole, merke ich, dass ich alles vergessen hatte, da es überwunden schien.
Eigentlich waren wir doch über die dunklen Zeiten hinweg und nach Jahrzehnten lese ich wieder das grundlegende Buch von Erich Fromm über die ‚Anatomie der menschlichen Destruktivität’41. Seine Beschreibung des Narzissmus ist immer noch aktuell und insbesondere die Erfindung des Begriffs Gruppennarzissmus werde ich in diesem Kapitel noch aufnehmen. Fromms Schlussfolgerung ist: „Daß Destruktivität und Grausamkeit nicht wesensmäßig zur menschlichen Natur gehören, besagt freilich nicht, dass sie nicht intensiv und weit verbreitet wären.“42 Besonders die Analyse von Hitlers Persönlichkeit und seinem Narzissmus hilft einem zu verstehen, wie es Autokraten schaffen, eine Mehrheit der Bevölkerung für sich zu gewinnen. Auch Peter Sloterdijk hat sich um dieses Thema mit einer Geschichte verdient gemacht. Im 19. Jahrhundert komponierte Richard Wagner die Oper „Rienzi, der letzte der Tribunen“. Diese Oper handelt von Cola di Rienzo, der die ungerechte Behandlung des Volkes anprangerte und mit dieser Kampagne zum Herrscher über Rom wurde. Der Titel Volkstribun wurde ihm verliehen. Das Ende seiner Herrschaft wird durch einen Volksaufstand eingeleitet, er fällt den Flammen zum Opfer. Als junger Mann hat Adolf Hitler diese Oper gesehen und soll gerufen haben. „In jener Stunde begann es.“43 So spürte er Ungerechtigkeiten auf, bereitete sich systematisch auf seine Reden vor, die wie eine dramatische Inszenierung aufgeführt wurden mit dem Ziel eine zu allem entschlossene Bewegung aufzubauen.
Hannah Arendt hat mit ihrem Werk über die totale Herrschaft eine hervorragende Analyse über die Mechanismen der Massenbewegung geleistet: „Totalitäre Führer aber sind nicht nur Demagogen, und das Beunruhigende ihres Erfolges liegt nicht darin, daß sie an pöbelhafte Instinkte appellieren. Was die modernen Massen von dem Mob unterscheidet, ist die Selbstlosigkeit und Desinteressiertheit am eigenen Wohlergehen“.44 Hannah Arendt spricht hier insbesondere die Selbstreinigungen der kommunistischen Partei in der Sowjetunion an, da ging es nicht um Feinde wie die Kapitalisten, sondern um Gleichgesinnte und Menschen, die in den gleichen Lebensverhältnissen leben. Wie kann es zu einer solchen Gehirnwäsche kommen? „Eine wichtige Vorbedingung für Massenbewegungen ist eine zerfallende Gesellschaft. Menschen, die sich einer Bewegung anschließen, zeichnen sich stärker durch Bindungs- und Heimatlosigkeit aus als durch Gewaltbereitschaft, Dummheit oder mangelnde Bildung. Nach dem Ersten Weltkrieg herrschte in Deutschland ein chaotischer Zustand, mit allen Symptomen wie Orientierungslosigkeit, Ohnmachtsgefühlen und Todesverachtung. Die Wirtschaftskrise tat ein Übriges.“45 Totale Herrschaft ist nach Arendt nur wenige Male eingetreten, konkret bei Hitler und bei Stalin. Die von Arendt beschriebenen Phänomene begegnen uns heute wieder, wenn Menschen den Brexit wählen oder amerikanische Handelssanktionen bejubeln, die den eigenen Wohlstand mindern.
Ein weiterer wichtiger Zeitzeuge ist für mich Erich Neumann. Neumann war ein Schüler von C.G. Jung, der eigentlich als sein Nachfolger vorgesehen war, jedoch vor ihm verstarb. Als Jude war er wie auch Hannah Arendt persönlich betroffen vom Faschismus und dem folgenden Krieg. Sein Buch ‚Tiefenpsychologie und neue Ethik‘ veröffentlicht er 1948 „in einer Zeit, die verdunkelt ist vom auftauchenden Gespenst des Dritten Weltkriegs […] mit Todesstrahlen und Atombombern.“46 Das Buch ist mehr ein Fragment, eine Reihung von Thesen, die auch heute noch von hoher Bedeutung sind.
Neumann hinterlässt uns einige Hinweise über die soziologische Verfasstheit der damaligen Zeit, die erstaunlich treffsicher für unsere Situation wirken: „Innerhalb dieses Vermassungsprozesses sind immer größere Menschengruppen dem Kulturstandard der Elite nicht gewachsen und werden durch das ethische Postulat vergewaltigt. Je größer die Masse ist, desto niedriger ist notwendigerweise ihr Durchschnittsniveau bewusstseinsmäßig, kulturell und ethisch. Es bildet sich also eine immer umfangreichere Schicht von Menschen, die vom Niveau der Elite aus bewertet, den geforderten Standard nicht erreichen und zu Asozialen, Minderwertigen, Verworfenen und Verbrechern werden.“47 Bisher wurde in diesem Kapitel vorrangig der Blickwinkel ‚von oben‘ betrachtet, mit diesem Zitat rückt die Masse in den Focus. Diese ist nach meiner Meinung nicht so statisch und entwicklungsunfähig, wie es Neumann behauptet. Je weiter sich jedoch die Selbstverwirklichungs- und Perfektionswünsche in einer Gesellschaft entwickeln, desto mehr wird Neumanns Prognose zutreffend sein und es ist wahrscheinlich, dass die Ausgegrenzten mit ihrer Ausgrenzung unzufrieden sind.
So möchte ich auf Erich Fromm zurückkommen, der sich mit großer Redlichkeit bemüht hatte, das Auftreten von Aggressionen zu erklären. Dabei ist er auf den Gruppennarzissmus gestoßen: „Der Gruppennarzißmus hat wichtige Funktionen. Vor allem fördert er die Solidarität und den inneren Zusammenhang der Gruppe und erleichtert ihre Manipulation, da er an narzißtische Vorurteile appelliert. Zweitens ist er außerordentlich wichtig als ein Element, das den Mitgliedern der Gruppe Befriedigung verschafft, vor allem jenen unter ihnen, die an sich wenig Grund hätten, sich stolz und schätzenswert zu finden. […] Der Gruppennarzißmus ist eine der wichtigsten Quellen der menschlichen Aggression“.48 Die Übersicht über Vorgänge und Akteuren unserer Zeit, die die neue Weltunordnung erklären können, möchte ich an dieser Stelle beenden.
1.3 Die Digitalisierung und die moderne Berufstätigkeit
Der Gang in den Cyberspace heutzutage gleicht dem Gang der Kultur Westeuropas während der Geburtszeit der Marktwirtschaft nach der Neuen Welt in Amerika. Die Herrscher dieser Zeit, die Erben der feudalistischen Aristokratie, gingen wie fast alle anderen davon aus, daß sich im neuen Raum der neuen Kontinente eine Variante der feudalistischen Ökonomie herausbilden sollte, könnte und würde. Sie nahmen als völlig selbstverständlich an, daß die Aufgabe darin bestand, die neuen Ländern mit Adeligen, Leibeigenen oder Bauern aufzufüllen und sie in Grafschaften, Fürstentümer, Königreiche usw. aufzuteilen.
Etwas ganz Ähnliches geschieht heute. Der Cyberspace wird der "Raum" sein, zu dem hin sich die neue Ökonomie am stärksten bewegt, aber die in diesem Prozeß gewonnene Stärke wird irgendwann auch zurückschwappen, um den Rest des Lebens zu beherrschen. Und der Gang in den Cyberspace kann dies nur deswegen beschleunigen, weil die neue Ökonomie schon eine ziemliche Macht besitzt. In einem gewissen Umfang ist sie schon fast so mächtig und wichtig wie die Geldökonomie.
„Die Veränderungsgeschwindigkeit ist jetzt offensichtlich viel schneller als bei der Herausbildung des Marktsystems vor einigen Jahrhunderten. Wir können erwarten, daß der Cyberspace sowohl hinsichtlich der Zahl der an ihm Partizipierenden als auch in seinem technischen Umfang während der nächsten Jahrzehnte wächst, d.h. er umfaßt eine immer größere werdende Medienvielfalt, beispielsweise Multitasking, mobiles Zwei-Kanal-Video und Virtuelle Realität. Dann wird er bereits zu einem wesentlichen Bestandteil des Lebens von jedem auf diesem Planeten geworden sein. Auch wenn Spuren der alten Ökonomie noch lange überleben werden, so wird ihre Bedeutung kontinuierlich schwinden, was bereits jetzt der Fall ist.“49 „Inzwischen hat die Tendenz zur Entmaterialisierung den Wirtschaftsprozeß als ganzen erfaßt. Sowohl die Materiallastigkeit der Wertschöpfung als auch der Materialismus des wirtschaftlichen Strebens ist auf dem Rückzug. Eine der ökonomisch wichtigsten Umwälzungen in diesem Jahrhundert war, daß die dienstleistende Aufmerksamkeit alle anderen Produktionsfaktoren an wirtschaftlicher Bedeutung überrundet hat. Zugleich ist es zum Imperativ wirtschaftlicher Rationalität geworden, die Material- und Energieumsätze zu reduzieren. In den Dimensionen der stofflichen Umsätze kommt keine wirtschaftliche Überlegenheit, sondern der Niedergang unserer natürlichen Lebensgrundlagen und die Unmöglichkeit zum Ausdruck, die herrschende Materialwirtschaft noch lange aufrechtzuerhalten.“50 Welche Auswirkungen die Digitalisierung auf unser individuelles und gesellschaftliches Leben hat oder haben wird, wird bereits intensiv diskutiert. Die Optimisten wie auch Pessimisten äußern sich entlang der Einteilung von Horx über den Segen oder Fluch der Technik. Zuerst möchte ich eine historische Einordnung von Armin Nassehi wiedergeben, die ich jedoch weitgehend in eigene Worte fassen möchte, weil dieser sich nicht immer um Verständlichkeit bemüht: Nassehi sieht einen Zusammenhang von radikalen Umbrü-chen der Gesellschaft und Medienrevolutionen. Die Erfindung der Sprache ist die Revolution, die die Menschheit hervorbringt. Die Erfindung der Schrift hat es ermöglicht, Informationen ohne Bindung an die konkrete Zeit und den konkreten Ort von Sprechern weiterzugeben. Der Buchdruck hat die Reichweite auf die gesamte Gesellschaft erweitert und die Zeitung hat zur Beschleunigung dieser Verbreitung beigetragen. Das Fernsehen sorgte für ein gemeinsames Bild der Gesellschaft“ und das Internet ermöglicht neben vielfältigen Konsummethoden (‚googlen‘, ‚streamen‘) auch die Erstellung und Verbreitung von eigenen Produkten und Diensten.51
Die neuen Freiheitsgrade des Suchens, Findens und Neu-Zusammensetzens bieten großartige Potentiale, die kreativ genutzt werden können. Seit 1987 war ich mit dabei, die Infrastruktur für die Vernetzung der Computer aufzubauen. Die Aussichten, Wissen jederzeit und überall teilen zu können waren so vielversprechend. Nach einiger Zeit schlich sich die Kommerzialisierung ein, die nicht weiter auffiel, eher schon die Hacker und später die ersten kriminellen Aktivitäten. Wir waren davon überzeugt, dass wir keine Regeln und Gesetze brauchen, die Probleme seien doch technisch zu lösen. Wenn ich rückblickend etwas bereue, ist es, in dieser Hinsicht nicht weitsichtiger gewesen zu sein. Desinformation, Kriminalität und Hassverbreitung stellen ein großes Problem dar. Autokratische staatliche Einrichtungen nutzen die Freiräume zur Manipulation und Meinungsmache geschickt aus.52
Sehr beunruhigend ist für mich ist auch die wirtschaftliche Entwicklung. War in den 80ern des letzten Jahrhunderts IBM mit seinen Großrechnern noch das Maß der Dinge, war es in den 90ern Microsoft, die IBM übertrumpfen konnte, weil dort das Thema ‚personal computing‘ als Nebensache galt. Microsoft wiederum unterschätzte dann die Wirkmöglichkeiten des Internets und der mobilen Geräte. Immerhin gehört der Konzern noch mit den Neulingen Google, Facebook, Amazon und Apple zu den fünf Internetkonzernen an der Top10-Spitze der weltweit größten Firmen nach Marktkapitalisierung. Das Geschehen ist äußerst schnelllebig, die Riesen von heute können die Zwerge von morgen sein. Dennoch können die Spitzenkonzerne inzwischen über einen riesigen Datenschatz verfügen, mit dem sie inzwischen eine erdrückende Marktmacht erreicht haben. Allein Google und Facebook hielten im Jahr 2016 77% des Online-Werbemarkts, die bei Facebook als Werbung gebuchten ‚Fake News‘ erreichten 126 Millionen Benutzer.53 Der öffentliche Raum im Internet wird durch private Firmen dominiert und verkommt zum Anzeigenmarkt.54 Die Aufmerksamkeit der Benutzer wird verkauft, mit Adwords von Google sogar meist bietend.55 Wir finden einen ‚the winner takes it all‘ Markt vor.
Der Internet-Pionier Jaron Lanier hat in seinem Buch ‚Wem gehört die Zukunft‘56 aufgezeigt, dass die Monopolisierung eine Notwendigkeit für Internetkonzerne ist, weil nur mit weitgehenden Datenbeständen die genutzten Algorithmen ihre Wirkkraft entfalten können. Zudem weist er darauf hin, dass die Firmen keine Haftung für ihre Vermittlungsdienste oder verbreiteten Inhalte übernehmen und sich als reine Plattform betrachten (siehe auch Niall Ferguson57). Lanier schreibt auch, dass die jetzigen Chefs ihm keine Sorgen bereiten, weil sie guten Willens sind. Das entstandene System könne aber in der nächsten Generation missbraucht werden. Ein Kollege, den ich ausgebildet habe, ist in den 90ern zu Microsoft gewechselt und berichtete, dass Bill Gates jedes Jahr eine Firma ausgerufen hat, die vom Markt verschwinden müsse. Die Beispiele DR-DOS, Lotus 1-2-3 und Freelance mögen einigen noch in Erinnerung sein. Aggressive Marktstrategien gab es also durchaus auch schon im digitalen Zeitalter und Amazon zeigt, wie auf diese Weise der Einzelhandel ‚schöpferisch zerstört‘58 werden kann. Lanier ist jedoch zuzustimmen, dass Marktmacht für Internetkonzerne im Gegensatz zu klassischen Hard- und Softwareherstellern eine intrinsische Notwendigkeit darstellt.
Wenn wir auf den NSA-Skandal, die US Wahl 2016 und die Nutzung von Alexa als Lauschgerät mit den gerade erwähnten Zahlen zurückblicken, denke ich, dass wir bereits in die Missbrauchsphase gerutscht sind.59 Der Begriff des ‚Überwachungskapitalismus‘ versucht die Situation zu beschreiben.60 Die Notwendigkeit das Internet und die entstandenen Monopole regulieren zu müssen61, ist offensichtlich, ganz abgesehen davon, sie endlich angemessen zu besteuern62. (Amazon E-Books zum Beispiel werden aus Luxemburg ‚geliefert‘, früher sogar ohne Mehrwertsteuer abzuführen, wie ich an den Rechnungen sehen konnte.) „Superstar-Firmen zeichnen sich nicht nur dadurch aus, dass sie 80 Prozent der Profite auf sich vereinigen. Sie sind auch digitaler, innovativer und weltweit vernetzter als ihre Konkurrenten.“63 Für uns alle ist auch wichtig, was mit den ungeheuren Geldmengen passiert. Manche Superreiche wie Bill Gates versuchen, das Leben auf der Erde zu verbessern (‚The Giving Pledge‘ – Ein großer Sinnes-wandel, wenn man an sein unternehmerisches Handeln erinnert.). Andere, wie Elon Musk und Jeff Bezos wollen ins Weltall und dortbleiben.64 Der Verdacht liegt dann nahe, dass eine kleine Elite bereits mit der Abkapselung vom Schicksal der Menschheit beginnt. Die jetzt schon erreichte Marktmacht führt der Superstar-Firmen führt auch dazu, dass neue Anbieter klein gehalten werden. Dies gilt nicht nur für den digitalen Sektor, auch in der Finanzbranche und der Pharmaindustrie finden sich Superstar-Firmen.65
Ein weiteres Risiko ist der rasante Verlust von Arbeitsplätzen. Hier ist aktuell Amazon das deutlichste Warnzeichen. Generell brauchen Internetkonzerne weit weniger Mitarbeiter als die früheren Spitzenkonzerne wie General Electric, Exxon oder Wal-Mart. Wo noch eine größere Anzahl von Mitarbeiter gebraucht wird wie bei Amazon, helfen Algorithmen gegen Streikaktionen. Die Warenflüsse werden einfach auf nicht streikende Standorte umgelegt.66 Andererseits wurde schon seit Jahrzehnten mit dem Abbau der Arbeitsplätze gedroht und bisher ist immer wieder eine Bedarfswelle gekommen, die für Arbeit gesorgt hat.
Welche Energiequelle nutzen wir durch die Digitalisierung? Es ist die Information! Welche Entlohnung gerät dabei in den Vordergrund? Die Anerkennung bzw. Aufmerksamkeit: „Die Aufmerksamkeitsökonomie ist deswegen grundsätzlich mit der uns vertrauteren Ökonomie inkompatibel, und sie kann nur auf Kosten der letzteren wachsen. Wir leben folglich in der Zeit eines großen Übergangs zu einer ganz neuen, nahezu alles umfassenden ökonomischen Ordnung.“67 In jedem Fall gilt die These, dass wir nicht vorbereitet sind: „Für den digitalen Kapitalismus fehlen bislang die demokratischen Antworten; für eine Welt, in der Maschinen vieles von dem tun, was Menschen bislang taten, fehlen die politischen Perspektiven; für die Technologie, deren Wirkung und Einfluss positiv oder negativ sein kann, fehlen die Visionen.“68 Die fehlenden Antworten und Visionen machen sich auch deshalb schmerzlich bemerkbar, weil das Geschehen nicht nur schnelllebig, sondern auch komplex ist. Richard Sennett bringt es auf den Punkt, was eine zentrale Themenstellung für unsere Zukunft ist: „Die Frage ist, wie man die Profite aus den neuen Technologien nutzen kann, um den Leuten ein Gefühl zu geben, dass sie auch künftig eine produktive Arbeit verrichten, auch wenn diese Arbeit traditionell nicht oder nicht gut bezahlt wird. Man könnte eine Steuer einführen, die ein Unternehmen zu zahlen hätte, wenn es Jobs durch Automation eliminiert.“69
Das Thema Arbeit und menschliche Selbstwirksamkeit hat immense Folgen für das individuelle Leben, ist jedoch nur eine Facette vielfältiger Folgen, die nach meiner Ansicht nur selektiv Aufmerksamkeit erhalten.
Zuerst einmal sind die kognitiven Folgen zu erwähnen. Daniel Goleman70 und andere Wissenschaftler sehen durch die Informationsüberflutung die Fähigkeit zur Konzentration gefährdet. Insbesondere der Wunsch, alles gleichzeitig erledigen zu wollen und physisch wie virtuell präsent zu sein, führt dazu, dass wir verlernen ‚irgendwo zu sein‘.71
Unser Denken ändert sich aber insgesamt, an dieser Stelle seien nur zwei Beispiele genannt: einerseits müssen wir uns nichts mehr merken, sondern können alles nachschauen, andererseits verbessert sich das räumliche Wahrnehmungsvermögen.72
Ein weiterer Bereich massiver Veränderungen betrifft die Körperwahrnehmung und seiner Optimierung. Hartmut Rosa führt aus: „Die Verfügbarmachung von Körper und Psyche wird darüber hinaus natürlich auch mit konventionelleren Mitteln wie der unablässigen Arbeit am Body-Mass-Index im Fitnessstudio, der Analyse und Steuerung der Kalorien-, Fett-, Zucker- oder Kohlenhydratzufuhr sowie durch Psychotechniken wie Yoga, Zen, Meditation und Achtsamkeitstraining vorangetrieben. Schönheitskliniken, Apotheken und Drogerien helfen darüber hinaus dabei, unser Aussehen und unsere Körpermaße in die Reichweite des Verfügbaren zu bringen. Google, Amazon und Facebook schließlich übernehmen die Arbeit, uns über unsere Präferenzen, Neigungen und Vorlieben zu informieren, indem sie uns mitteilen, was uns interessiert und was wir haben wollen.“73 Wir liefern uns mit allem, was wir haben und was wir sind aus. Das Risiko einer vollkommenen Kontrolle scheint unbedeutend zu sein.74 Stephan Grünewald hat die Metapher des AppSolutismus zur Verdeutlichung der Problematik geprägt75 und weist auf die Bedeutung des Smartphones hin: „In unseren psychologischen Studien wird deutlich, dass wir deswegen unser Menschenbild ändern müssen. Der Mensch heute verfügt mit dem Smartphone über einen zusätzlichen Körperteil, mit dem er beinahe verwachsen ist. Diesen Körperteil erleben die Menschen als ein unverzichtbares Zepter der Macht. Das Smartphone verheißt seinen Nutzern eine fast gottähnliche Allmacht und Allwissenheit.“76 Stephan Grünewald weist auch darauf hin, dass diese digitale Allmacht mit der Ohnmacht im kleinschrittigen und störanfälligen analogen Alltag eng verknüpft ist.77
Für Christoph Quarch ist die Sache klar: „Die Digitalisierung beraubt uns unserer Menschlichkeit. Sie nimmt uns die Freiheit, unserem Leben Tiefe zu verleihen und echte Begegnungen zu erleben, sie raubt unsere Lebendigkeit und entfremdet uns von unserer Sterblichkeit und Verwundbarkeit. Ich spreche hier nicht nur die Digitalisierung an, sondern auch die Human Enhancement-Bewegung mit ihren Unsterblichkeits- und Machbarkeitsfantasien. Hier wird die Denaturierung des Menschen betrieben. Das wiederum führt dazu, dass uns unsere natürliche Umwelt immer gleichgültiger wird.“78 Spätestens bei Quarch spricht der Zukunftspessimismus in Reinform. Anstatt eine solche Fundamentalposition zu beziehen wäre es sinnvoller, geeignete Stopp-Regeln für das von Quarch berechtigterweise befürchtete Szenario zu suchen.
Die Pioniere der Digitalisierung wie Jaron Lanier und dem Web-Erfinder Tim Berners-Lee versuchen dagegen bereits, neue Lösungen anzustreben, die die Ungleichgewichte des Internets korrigieren sollen. Konkret geht es darum, den Nutzern die Hoheit über ihre Daten zurückzugeben.79 Projekte wie Solid von Berners-Lee oder SSIS (Self-Sovereign Identity Systems)80 sollen das erreichen und so die Basis für eine Wertbeimessung und damit auch einer Bezahlung der Nutzer oder einer Besteuerung der Digitalkonzerne bieten. Gerade in diesem Bereich klafft eine große Gerechtigkeitslücke: „2017 hat Google unglaubliche 20 Milliarden Euro aus Europa in das Steuerparadies auf den Bermuda-Inseln verschoben, ohne einen Cent Steuern zu zahlen. Das Geld kam von einer niederländischen Tochter von Google. Die Niederlande hatten zwischenzeitlich Irland nachgeeifert, was das Anlocken großer Konzerne mit Steuervergünstigungen angeht. So kam auch der bekannte Steuervermeidungstrick namens "Double Irish with a Dutch Sandwich" zustande.“81