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Heimat – ein Wort, für das es nur in wenigen anderen Sprachen eine Entsprechung gibt. Doch was bedeutet Heimat wirklich? Ist sie ein Ort, sichere Zuflucht, eine Erinnerung, ständige Sehnsucht, ein Gefühl? Wo fühlen wir uns zuhause, während wir zwischen den grellen Lichtern der Großstadt und den dunklen Weiten des Landes ständig in Bewegung sind?
In „Von Großstadtpflanzen und Landeiern“ gehen verschiedene Autor*innen und Bühnenpoet*innen der Heimat auf den Grund. Ohne allgemeingültige Antworten zu liefern, entdecken wir gemeinsam, was Heimat aus verschiedenen Perspektiven bedeuten kann. Zwischen poetischen, eindringlichen und humorvollen Texten sind wir auf der Suche, finden und erfinden neu. Dabei offenbaren sich einzigartige Einblicke in das, was es heißt, sich zugehörig zu fühlen. Was es heißt, zuhause zu sein. Was es heißt, im Kaleidoskop der Gefühle etwas Heimat zu nennen. Ein Muss für alle, die sich auf eine Entdeckungsreise zu den Wurzeln des Menschseins begeben wollen.
Mit Texten von:
Anna Lisa Azur | Hanna Flieder | Felicitas Friedrich | Dominik Heißler | Sven Hensel | Annika Hofmann | Marcel Ifland | Michael Jakob | Björn H. Katzur | Eberhard Kleinschmidt | Evelyn Krutsch | Matti Linke | Robert Muecke | Elias Raatz | Emily Schilz | Theresa Sperling | Klaus Urban | Katharina Wenty | Sadaf Zahedi | hrsg. von Elias Raatz
Inhaltsverzeichnis:
Vorwort: Von Landeiern und Großstadtpflanzen (Elias Raatz)
Heimatlos (Annika Hofmann)
Privet und Guten Tag (Evelyn Krutsch)
Essay zum Heimatbegriff (Elias Raatz)
Den Frieden gewinnen (Matti Linke)
Fisch und Moin, mehr braucht es nicht (Björn H. Katzur)
Landeimanifest (Anna Lisa Azur)
Heimat in Gefahr (Elias Raatz)
Nur das Mittelmeer schrie seinen Namen (Katharina Wenty)
Erinnerst du dich? (Katharina Wenty)
Was ist Heimat? (Michael Jakob)
Über das künstlerische Motiv "Heimat" (Elias Raatz)
Wo wir zuhause sind ... (Eberhard Kleinschmidt)
Graubunt Stadt (Hanna Flieder)
Mein Zuhause (Robert Muecke)
Süße Heimat? (Klaus Urban)
Ein Gedanke im Geiste Ernst Blochs (Elias Raatz)
Vaatane man (Sadaf Zahedi)
Das grüne Haus (Marcel Ifland)
Treppenhaustwitter (Marcel Ifland)
Einmal Zuhause zum Mitnehmen (Emily Schilz)
Komma inne Pötte (Sven Hensel)
Fatma Fee Fingernagelgroß (Theresa Sperling)
Gespräch mit einem Barista (Elias Raatz)
Heimat ist ein Spektrum (Felicitas Friedrich)
Text über einen sehr deutschen Begriff (Dominik Heißler)
Über den Verlag:
Beim Dichterwettstreit deluxe dreht sich alles rund um Poetry Slam: hier haben einige der renommiertesten Bühnenpoet*innen des deutschsprachigen Raumes ihr literarisches Zuhause. Vom Poetry Slam Buch über Gedichtsammlungen bis hin zu diversen Anthologien voller Poetry Slam Texte ist der Dichterwettstreit deluxe leidenschaftlicher Poetry Slam Verlag aus der Szene. Entdecke in unserem Programm spannende Poetry Slam Bücher aus Liebe zur Literatur - überall zu finden, wo es Bücher gibt, oder unter www.dichterwettstreit-deluxe.de
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 110
Veröffentlichungsjahr: 2024
Inhalt
Herausgeber
Vorwort: Von Landeiern und Großstadtpflanzen (Elias Raatz)
Heimatlos (Annika Hofmann)
Privet und Guten Tag (Evelyn Krutsch)
Essay zum Heimatbegriff (Elias Raatz)
Den Frieden gewinnen (Matti Linke)
Fisch und Moin, mehr braucht es nicht (Björn H. Katzur)
Landeimanifest (Anna Lisa Azur)
Heimat in Gefahr (Elias Raatz)
Nur das Mittelmeer schrie seinen Namen (Katharina Wenty)
Bonustext: Erinnerst du dich? (Katharina Wenty)
Was ist Heimat? (Michael Jakob)
Über das künstlerische Motiv „Heimat“ (Elias Raatz)
Wo wir zuhause sind … (Eberhard Kleinschmidt)
Graubunt-Stadt (Hanna Flieder)
Mein Zuhause (Robert Muecke)
Süße Heimat? (Klaus Urban)
Ein Gedanke im Geiste Ernst Blochs (Elias Raatz)
Vaatane man (Sadaf Zahedi)
Das grüne Haus (Marcel Ifland)
Treppenhaustwitter (Marcel Ifland)
Einmal „Zuhause“ zum Mitnehmen (Emily Schilz)
Komma inne Pötte (Sven Hensel)
Fatma Fee Fingernagelgroß (Theresa Sperling)
Gespräch mit einem Barista (Elias Raatz)
Heimat ist ein Spektrum (Felicitas Friedrich)
Text über einen sehr deutschen Begriff (Dominik Heißler)
Heimat Gedicht
Quellenangaben für verwendete Bilder
Dichterwettstreit deluxe Buchempfehlungen
Herausgeber
© 2024 Dichterwettstreit deluxe, Villingen-Schwenningen
www.dichterwettstreit-deluxe.de/impressum
Satz & Lektorat: Elias Raatz & Annika Siewert
Design & Umschlaggestaltung: T-Sign Werbeagentur
Coverillustration: Barbara Gerlach
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
ISBN Druckausgabe: 978-3-98809-025-6
ISBN E-Book: 978-3-98809-026-3
www.dichterwettstreit-deluxe.de
Herausgegeben von
Elias Raatz
Der 1997 geborene Moderator, Autor und Kulturschaffende Elias Raatz ist Gastgeber diverser Kleinkunstveranstaltungen und versammelt mit dem Dichterwettstreit deluxe regelmäßig Slam Poet*innen auf Bühnen sowie in Büchern. Als kreativer Tausendsassa liebt er geschmunzelt-frönenden Eskapismus, bitterböse Satire und eine gesunde Portion Stumpfsinn, die er mit viel Meinung sowie aktuellem Zeitgeschehen anreichert. Voller Leidenschaft werden die großen und kleinen Themen des Lebens durchdiskutiert, bis sich die Leser*innen auf dem schmalen Grat zwischen Realität und Wahnsinn, zwischen Seitenhieb und Selbsterkenntnis, ihr letztes Urteil bilden. Elias Raatz studierte Medienwissenschaften und Germanistik in Tübingen, wo er auch lebt.
Mehr unter: www.elias-raatz.de
Vorwort: Von Landeiern und Großstadtpflanzen
Von Elias Raatz
Heimat – ein Wort, für das es nur in wenigen anderen Sprachen eine Entsprechung gibt. Doch was bedeutet Heimat wirklich? Ist sie ein Ort, sichere Zuflucht, eine Erinnerung, ständige Sehnsucht, ein Gefühl? Wo fühlen wir uns zuhause, während wir zwischen den Lichtern der Großstadt und den Weiten des Landes ständig in Bewegung sind?
In „Von Großstadtpflanzen und Landeiern“ gehen verschiedene Autor*innen und Bühnenpoet*innen der Heimat auf den Grund. Ohne allgemeingültige Antworten zu liefern, entdecken wir gemeinsam, was Heimat aus verschiedenen Perspektiven bedeuten kann. Zwischen poetischen, eindringlichen und humorvollen Texten sind wir auf der Suche, finden und erfinden neu. Dabei offenbaren sich einzigartige Einblicke in das, was es heißt, sich zugehörig zu fühlen. Was es heißt, zuhause zu sein. Was es heißt, im Kaleidoskop der Gefühle etwas Heimat zu nennen. Ein Muss für alle, die sich auf eine Entdeckungsreise zu den Wurzeln des Menschseins begeben wollen.
Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Lesen und gute Unterhaltung. Bleiben Sie glücklich!
Ihr Elias Raatz
Annika Hofmann
Annika Hofmann (*1996 in Hanau) steht seit ihrer frühen Kindheit leidenschaftlich gern auf Theaterbühnen. Mit dem Deutschunterricht ist ihre Liebe zur Lyrik entflammt. 2015 brachte sie diese Begeisterung auf die erste Poetry Slam-Bühne – und von dort nicht mehr weg. Seitdem arbeitet sie als Spoken Word-Künstlerin, Schauspielerin, Sprecherin und gibt Workshops.
Wenn Annika nicht gerade auf einer Bühne steht, an einem neuen Gedicht schreibt oder ein kreatives Projekt plant, nimmt sie ein sprudelndes Schaumbad, kuschelt mit ihren flauschigen Katzen, malt Bilder mit Blattgold oder ist am Tanzen.
Mehr unter: www.annikaspoesie.de
Heimatlos
Von Annika Hofmann
Vielleicht hast du dich auch schon einmal gefragt, was sich hinter dem Begriff „Heimat“ versteckt. Ich habe das vor kurzem gemacht und schließlich entdeckt: „Heimat“, das weiß scheinbar jeder, was das ist.
Aus der Füllfeder, die sich sehr oft Social Media nennt, liest du so einiges, was Heimat eigentlich sein soll. Und dabei ist es doch großartig, wenn das für andere so einfach ist…
Heimat ist ein Ort.
Doch was ist, wenn dort jetzt jemand anderes lebt? Wenn dort kein Stein mehr auf dem anderen steht?
Bist du dann heimatlos?
Heimat ist ein Wort.
Aber was ist, wenn Deutsch nicht deine Muttersprache ist? Was ist, wenn es das Wort nicht einmal in deiner Sprache gibt?
Bist du dann heimatlos?
Heimat ist Kindheit.
Aber was ist, wenn du in dieser deine Heimat verlassen hast? Was ist, wenn du statt an einem vertrauten Ort plötzlich an zwei neuen bist zu Gast?
Bist du dann heimatlos?
Heimat ist da, wo du als Erstes warst.
Aber was ist mit dem Fakt, dass es immer jemanden vor dir gab? Dass sich an den Orten, die du sehen wirst, bereits ein anderer auf die Reise begab?
Bist du dann heimatlos?
Heimat ist, wo sich WLAN automatisch verbindet.
Aber was ist, wenn dort jemand lebt, der so gar nichts mehr für dich empfindet? Was ist, wenn das einst eingegebene Passwort das Einzige ist, das euch noch verbindet?
Bist du dann heimatlos?
Heimat ist kein Ort, sondern ein Gefühl.
Aber was ist, wenn du im Gedankengewühl nicht sagen kannst: „Home is where my heart is.“ Weil du nicht weißt, „where the heart“ ist.
Bist du dann heimatlos?
Heimat, das sind Menschen.
Aber was ist, wenn du froh bist, wenn sich mal keiner beschwert? Wenn Menschennähe das ist, was dir dein Heimatgefühl verwehrt?
Bist du dann heimatlos?
Heimat ist alles, aber auf jeden Fall schön.
Aber was ist, wenn deine Heimat mal schön war? Was ist, wenn das einzige Wort, das du heute dafür findest, lautet: „furchtbar“.
Bist du dann heimatlos?
Heimat in diesem Land ist für uns eben normal.
Aber was ist, wenn das nicht normal, sondern ein Privileg ist? Und was ist, wenn ein Privileg nur besteht, wenn es für andere nicht so ist?
Bist du dann heimatlos?
Heimat ist Orientierung.
Aber was ist, wenn dich dieser ausgeworfene Anker zu fest hält? Was ist, wenn du durch ihn nicht ausfliegen kannst und es dich immer dort festhält?
Bist du dann heimatlos?
Bist du heimatlos, weil dein Empfinden in keine Definition passt? Vielleicht ist es einfach nur schwer, Dinge greifbar zu machen, die du nicht zu greifen schaffst.
Im wahren Leben ist die Frage doch nicht, was sich hinter der Begrifflichkeit „Heimat“ befindet, sondern wo du sie findest. Denn selbst das so individuell zu betrachtende Wort wurde auch nur erfunden. Ich habe meine Heimat hier gefunden:
Wenn meine Katze ihre Nase
unter meine Bettdecke steckt.
Wenn meine beste Freundin mich
mit einem Spaziergang im matschigen Feld neckt.
Wenn eine dicke Badekugel
in meiner Wanne zischt.
Wenn einem zunächst Fremden
ein Lächeln entwischt.
Wenn ich mich
am windigen Meer erfrische.
Wenn ich einer lieben Person
eine Träne abwische.
Wenn mich auf neuen, steinigen Wegen
eine Blume aus dem Boden anstrahlt.
Wenn eine kalte Cola
für meinen Durst bezahlt.
Wenn eine vertraute Melodie
mein Herz zum Hüpfen bringt.
Wenn meine Familie „Happy Birthday“
unfassbar schief singt.
Wenn ich mir vertraute Orte
nach längerer Zeit wieder betrete.
Wenn ich zu meinem
Heimatschenker bete.
Wenn ich einen mit Stift auf Papier
geschriebenen Brief erhalte.
Wenn sich Worte in anderen
Gedankenkreisen entfalten.
Wenn eine Kerze ausgeht
und der Geruch davon die ganze Wärme enthält.
Wenn ein geliebtes Detail
volle Aufmerksamkeit erhält.
Wenn ich im Kühlschrank
Zartbitterschokolade ergrabe.
Und, wenn ich Heimweh habe.
Ich glaube, das hat jede*r schon mal gehabt. Das zarte oder heftige Gefühl des Vermissens deutet an, was du liebgewonnen hast.
Mathe ist nie mein Heimatfach gewesen und ich glaubte bis zum jetzigen Zeitpunkt auch an keinerlei Anwendbarkeit im realen Leben oder dergleichen. Aber ein Grenzwert ist das, was immer stärker gegen einen Wert strebt, ohne ihn zu erreichen.
Wenn deine Heimat dieser Punkt ist, dann bist du die Person, die eine Wahl trifft: Du kannst den Fokus auf diesen Punkt legen und dich für immer heimatlos nennen. Oder du kannst dich dazu bekennen, dass Heimat das ist, wovon jeder Schritt in eine andere Richtung in die Ferne führt. Und dann hast du Heimweh. Dann musst du deine Heimat nicht suchen, denn dann wird sie von sich aus versuchen, dich zu finden.
Evelyn Krutsch
Evelyn Krutsch (*2001) realisierte in ihrem Heimatdorf im Nordschwarzwald schnell, dass sie sich ein intensivfesselndes Hobby suchen muss, um der Langeweile zu entfliehen. Da sie mathematisch so talentiert ist wie ein kaputter Taschenrechner, fiel die Wahl auf Sprache und alles, was mit ihr einhergeht. Egal ob beim exzessiven Lesen, bei der Regie von Theaterstücken oder beim Schreiben: Der Klang der Worte fasziniert Evelyn Krutsch schon ein Leben lang. Seit 2022 bringt sie diese Begeisterung auch auf Bühnen zum Ausdruck. Ganz nach dem Motto: Es wird das geschrieben, was nachts wachhält und tagsüber träumen lässt.
Mehr unter: @evelyn_krutsch auf Instagram
Privet und Guten Tag
Von Evelyn Krutsch
Privet und Guten Tag
Ich würde mich gerne vorstellen
Ich bin Evelyn
Und aufgewachsen bin ich zwischen zwei Welten
Zwischen zwei Sprachen
Zwischen Pelmeni und Maultaschen
Und zwischen zwei Identitäten
Identitäten, die ich dir gerne beschreiben würde
In Worte fassen
Doch würd’ ich versuchen
Dir ein Bild davon zu malen
Würde mir keine Farbpalette der Welt reichen
Und kein Papier wäre groß genug
Scheitern würde ich schon
Beim Ansetzen des Stiftes
Denn die Klänge
Und Kindheitserinnerungen
Und Kopfbilder
Vermag ich nicht zu malen
Es ist komplex, ganz gewiss
Doch die Komplexität
Ist nicht der Grund meines Scheiterns
Denn wessen Identität ist schon einfach?
Vielmehr ist es das verwirrt-Sein
Das Ungreifbare
Das mich stocken lässt
Privet und Guten Tag
Ich würde mich gerne vorstellen
Aber ich kann es eigentlich gar nicht
Ich weiß nicht, wie ich mich beschreiben würde
Ich weiß irgendwie so ziemlich gar nichts
Neu ist das Ganze nicht – denn
Identitätskrise, wer hat sie nicht?
Doch meine beschränkt sich nicht
Auf Charakter
Meine fängt beim Land an
Und hört bei der Sprache auf
Lass mich erklären:
Zum ersten Mal bemerkte ich, dass ich anders bin
Als ich mein Pausenbrot auspackte
Sorgsam gewickelt in Alufolie
Statt in Tupperdosen
Alufolie, die verräterisch knisterte
Wenn ich im Unterricht
Hunger hatte
Und dicke Scheiben Wurst
Statt dünne Scheiben Lyoner
Auf dem Brot
Lass mich erklären:
Ich merkte es, als ich wütend wurde
Weil meine deutschen
Mitschüler und Mitschülerinnen
Eine Eins bekamen
Und ich „nur“ eine Zwei
Es war nicht so, als würde ich es ihnen nicht gönnen
Ich fand es nur unfair
Denn es waren Arbeiten
Die von Eltern korrigiert wurden
Während bei mir Worte angestrichen wurden
Die ich beim Lesen gelernt hatte
Worte, die auf russischen Zungen nicht weilten
Und ich mir neu erschließen musste
Aus Scham fing ich irgendwann mal an zu sagen
Ich sei nur Deutsch
Das erste Mal, als mich der Nachbarsjunge fragte
Ob der Grund für meine blauen Augen
Vodka trinken in der Schwangerschaft sei
Und ein weiteres Mal, als die Deutschlehrerin sagte
Es sei verwirrend zwei Sprachen zu sprechen
Der Grund für schlechte Noten
Ich sagte also recht schnell, ich sei Deutsch
Obwohl ich mich nie Deutsch gefühlt habe
Obwohl mich Dinge verwirrten
Wie die Reihenfolge
Erst Kuchen und dann warmes Essen
Bei Kindergeburtstagen
Obwohl mich verwirrte warum
Niemand außer mir
Am Fototag in der Schule
Aufwendig geflochtenes Haar und Kleider trug
Obwohl ich neben KiKa und Super RTL
Sowjetische Kinderfilme kannte
Und obwohl meine Familienfeiern
Ungefähr doppelt so viele Stühle brauchten
Als die von meiner deutschen Freundin
Doch wenn ich nicht deutsch bin
Was bin ich dann?
Russisch hab’ ich mich nie bezeichnet
Meine Zunge und meine Augen
Stolpern über Redewendungen
Über Wortendungen
Die für mich keinen Sinn ergeben
Und über anders aussehende Buchstaben
Die ich nur langsam lesen kann
Und die zu Neologismen werden
Die weder die eine Sprache noch die andere sind
Aufgewachsen bin ich hier
Birkenstocks schmücken im Sommer meine Füße
Und Schnitzel find’ ich genauso gut wie Schaschlik
In meinem Träumen redet jeder deutsch
Und am Tag eben auch
Du hast es mir nie gesagt
Und doch steht es zwischen uns
Es ist ein Gefühl, das ich in mir trage
Ich bin nicht wie du
Du bist nicht wie ich
Ich bin nicht deutsch genug
Hier
Und dort
Bin ich nicht russisch genug
Privet und Guten Tag
Ich würde mich gerne vorstellen
Aber wie du gemerkt hast, weiß ich nicht wie
Aufgewachsen bin ich zwischen zwei Welten
In einer Welt
Die ich mir teile
Mit den Kindern der Eltern
Die mit meinen nach Deutschland kamen
Mit den Kindern, denen hier und da
Das rollende R rausrutscht
Während sie Redewendungen im Kopf übersetzen
Die es so bei unseren Freunden nicht gibt
Mit den Kindern, die in den Genuss
Von Spätzle und Kartoffelsalat
Erst in der Mensa kamen
Die, die mit mir tanzen zwischen zwei Welten
Zwei Sprachen und
Zwei Identitäten
Privet und Guten Tag
Ich bin Evelyn
Und seit meiner Kindheit
Bin ich zwischendrin
Zwischen Schaschlik und Schnitzel
Pelmeni und Maultaschen
Zwei Weihnachtsfeiern
Zwei Heimaten
Die sich mischten
Und zu meinen ganz eigenen wurden
Und das ist wunderschön
Essay zum Heimatbegriff
Von Elias Raatz
Vorwort:
Seit am 15. April 2023 das letzte aktive deutsche Kernkraftwerk in Neckarwestheim abgeschaltet wurde, klagt ein mir liebgewonnener Bekannter aus der Region um Heilbronn: Als der Berufspendler früher seiner Heimat über die Autobahn A81 näherkam, lotste ihn die Rauchfahne des AKW quasi nachhause. Für ihn ist das Kernkraftwerk beziehungsweise eher dessen Rauchfahne mit seiner Heimat verschmolzen – und wird nun vermisst.