Wächter der Nacht - Sergej Lukianenko - E-Book
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Wächter der Nacht E-Book

Sergej Lukianenko

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Beschreibung

Der Auftakt zu einer faszinierenden Fantasy-Trilogie

In Russland das Kultbuch schlechthin und erfolgreicher als »Der Herr der Ringe« oder »Harry Potter«: Sergej Lukianenkos »Wächter der Nacht« – eine einzigartige Mischung aus Fantasy und Horror über den ewigen Kampf zwischen den Mächten des Lichts und der Finsternis. Auf Grundlage dieses Romans entstand der erfolgreichste russische Film aller Zeiten.

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Seitenzahl: 674

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Das Buch

Seit Menschengedenken gibt es die sogenannten »Anderen«: Vampire, Gestaltwandler, Hexen, Schwarzmagier. Unerkannt leben sie in unserer Mitte und sorgen dafür, dass das Gleichgewicht zwischen den Dunklen Anderen und den Hellen Anderen gewahrt bleibt. Zwei Organisationen, den »Wächtern der Nacht« und den »Wächtern des Tages«, obliegt es, den vor langer Zeit geschlossenen Waffenstillstand zu überwachen und jegliche Verstöße zu ahnden. Doch es heißt, dass ein mächtiger Anderer kommen wird, der die Fähigkeit besitzt, das Gleichgewicht der Kräfte für immer zu verändern. Und sollte er sich auf die Seite des Bösen schlagen, würde dies die Welt ins Chaos stürzen …

In Russland das Kultbuch schlechthin und beliebter als »Der Herr der Ringe« oder »Harry Potter«: Sergej Lukianenkos »Wächter der Nacht« — der Auftakt zu einer faszinierenden Fantasy-Trilogie. Auf Grundlage dieses Romans entstand der erfolgreichste russische Film aller Zeiten. Als Buch wie Film ist »Wächter der Nacht« das Phantastik-Ereignis des Jahres!

»Gerade nachdem wir Der Herr der Ringe durchlebt haben und dachten, kein anderer Film könnte uns jemals wieder so faszinieren, kommt das Fantasy-Meisterwerk Wächter der Nacht – ein Epos von ganz außerordentlicher Kraft!«

QUENTIN TARANTINO

Der Autor

Sergej Lukianenko, 1968 in Kasachstan geboren, studierte in Alma-Ata Medizin, war als Psychiater tätig und lebt nun als freier Schriftsteller in Moskau. Er ist der populärste russische Fantasy- und Science-Fiction-Autor der Gegenwart, seine Romane und Erzählungen wurden mehrfach preisgekrönt. Gemeinsam mit Regisseur Timur Bekmambetov schrieb Lukianenko auch das Drehbuch für die Verfilmung von »Wächter der Nacht«.

Mehr zu Buch und Film unter: www.waechter-der-nacht.de und www.lukianenko.ru

Inhaltsverzeichnis

Das BuchDer AutorErste Geschichte - Das eigene Schicksal
PrologEinsZwei Drei Vier Fünf Sechs Sieben Acht
Zweite Geschichte - Der eigene Kreis
Prolog Eins Zwei Drei Vier Fünf Sechs Sieben
Dritte Geschichte - Im eigenen Saft
Prolog Eins Zwei Drei Vier Fünf Sechs Sieben
Copyright

Titel der russischen Originalausgabe

HочHоЙ До3оP

Deutsche Übersetzung von Christiane Pöhlmann

In »Wächter der Nacht« werden Auszüge aus Songs der Gruppen Piknik, Woskressenje, Splin und Blackmore’s Night verwendet. Die Nachdichtungen dazu besorgten Christiane Pöhlmann und Erik Simon (»Das Städtchen«, I - Kapitel 5) bzw. Erik Simon (übrige Liedtexte).

Das Gedicht von Edgar Allan Poe ist übersetzt von Hans Wollschläger, zitiert nach: Kuno Schumann und Hans Dieter Müller (Hrsg.): Edgar Allan Poe. Das gesammelte Werk in zehn Bänden (Manfred Pawlak Verlagsgesellschaft mbH, Herrsching 1980). (Siehe II - Kapitel 3)

Der vorliegende Text ist der Sache des Lichts dienlich und zur Verbreitung zugelassen.

Die Nachtwache

Der vorliegende Text ist der Sache des Dunkels dienlich und zur Verbreitung zugelassen.

Die Tagwache

Erste Geschichte

Das eigene Schicksal

Prolog

Langsam und ächzend kroch die Rolltreppe nach oben. Kein Wunder, so alt wie die Station war. Dafür fegte der Wind durch die ganze Betonröhre, zerzauste ihm das Haar, zerrte an der Kapuze, schlängelte sich unter den Schal und drückte Jegor nach unten.

Der Wind wollte nicht, dass er hinauf fuhr.

Der Wind bat ihn umzukehren.

Sonderbar – anscheinend spürte niemand sonst den Wind. Es waren nur wenige Menschen unterwegs, gegen Mitternacht wirkte die Metro-Station immer wie ausgestorben. Ein paar Leute kamen Jegor auf der anderen Rolltreppe entgegen, auf seiner fuhr außer ihm kaum noch jemand hinauf: ein Mann vor ihm, zwei oder drei Leute hinter ihm. Das war’s auch schon.

Bis auf den Wind vielleicht.

Jegor steckte die Hände in die Taschen und blickte über die Schulter zurück. Seit er vor zwei Minuten aus dem Zug gestiegen war, hatte er das Gefühl, ein fremder Blick ruhe auf ihm. Das jagte ihm jedoch keine Angst ein, sondern hatte eher etwas Hypnotisierendes, etwas Stechendes, als pike ihn jemand mit einer Spritze.

Ganz unten auf der Rolltreppe stand ein großer Mann in Uniform. Kein Milizionär, sondern ein Soldat. Dann war da eine Frau mit einem Jungen an der Hand, dem ständig die Augen zufielen. Schließlich noch ein jüngerer Mann mit einem MD-Player, der eine grelle orangefarbene Jacke anhatte. Er schien ebenfalls im Stehen zu schlafen.

Nichts Verdächtiges. Nicht einmal für einen kleinen Jungen, der reichlich spät nach Hause ging. Jegor schaute erneut nach oben. Dort stand ein Milizionär, der sich gegen das glänzende Absperrgitter lehnte und verdrossen nach leichter Beute unter den wenigen Fahrgästen Ausschau hielt.

Nichts, wovor Jegor Angst haben müsste.

Der Wind drückte ein letztes Mal gegen ihn und legte sich dann, so als gebe er Ruhe, als habe er eingesehen, dass sein Kampf aussichtslos war. Der Junge blickte noch einmal nach hinten und hastete dann die nach oben gleitenden Stufen hoch. Er musste sich beeilen. Warum, wusste er nicht, er musste es einfach. Da war auch wieder dieses komische und beunruhigende Piken, während über seinen Rücken ein eisiger Schauder lief.

Ist doch bloß der Wind.

Jegor stürzte durch die halb offene Tür hinaus. Die durchdringende Kälte schlug mit aller Wucht über ihm zusammen. Seine Haare waren nach dem Schwimmen noch nass – der Föhn hatte mal wieder nicht funktioniert – und gefroren im Handumdrehen. Jegor zog sich die Kapuze tiefer ins Gesicht und lief, ohne an einer der Buden stehen zu bleiben, schnell auf die Unterführung zu. Obwohl auf der Straße viel mehr Menschen unterwegs waren, verließ ihn das mulmige Gefühl nicht. Deshalb drehte er sich im vollen Lauf sogar noch einmal um, doch niemand folgte ihm. Die Frau mit dem Kind ging zur Straßenbahnhaltestelle, der Mann mit dem MD-Player war an einer Bude stehen geblieben, um das Angebot an Flaschen zu studieren, der Soldat noch gar nicht aus dem Bahnhofsgebäude herausgekommen.

Mit immer schnelleren Schritten ging der Junge durch die Unterführung. Von irgendwoher drang Musik an sein Ohr, eine leise, kaum wahrnehmbare, aber unglaublich schöne Musik. Die zarten Klänge einer Flöte, umschmeichelt von einer Gitarre, begleitet vom Klimpern eines Xylophons. Die Musik rief ihn, trieb ihn an. Jegor wich ein paar ausgelassenen Leuten aus, die ihm entgegengerannt kamen, und überholte einen leicht torkelnden, angeheiterten Mann. Jeder klare Gedanke schien sich aus seinem Kopf verflüchtigt zu haben. Er rannte jetzt fast.

Die Musik rief ihn.

Es mischten sich nun auch Worte hinein – noch zusammenhanglose, viel zu leise, aber sehr betörende Worte. Jegor spurtete aus der Unterführung, um dann kurz hechelnd in der kalten Luft stehen zu bleiben. Gerade kam der Oberleitungsbus. Wenn er eine Station fahren würde, wäre er fast zu Hause …

Langsam, als seien ihm die Beine plötzlich eingeschlafen, ging der Junge auf den Obus zu. Der wartete ein paar Sekunden mit offenen Türen an der Haltestelle, dann schlossen sie sich, und der Bus fuhr ab. Während Jegor ihm mit leerem Blick nachsah, wurde die Musik immer lauter, bis sie den ganzen Raum zwischen dem Halbrund des vielstöckigen Hotels und der in der Nähe liegenden »Schachtel auf Beinen«, seinem Zuhause, ausfüllte. Die Musik lud ihn ein, zu Fuß zu gehen. Den hell erleuchteten Prospekt entlang, der selbst um diese Zeit noch recht belebt war. Überhaupt, bis zu seiner Haustür waren es ja nur fünf Minuten.

Bis zur Musik noch weniger …

Nach hundert Metern bot das Hotel Jegor keinen Schutz mehr gegen den Wind. Eisige Kälte biss ihm ins Gesicht und erstickte beinah die Melodie, die ihn rief. Der Junge geriet ins Stolpern und machte Halt. Der Zauber verflog, dafür glaubte er jetzt von Neuem den fremden Blick auf sich zu spüren. Und diesmal mischte sich ganz eindeutig Angst in dieses Gefühl. Er drehte sich um – gerade kam wieder ein Oberleitungsbus. Außerdem schimmerte die grelle orangefarbene Jacke im Licht der Straßenlaterne auf. Der Mann, der mit ihm die Rolltreppe heraufgekommen war, folgte ihm. Die Augen hielt er zwar noch immer halb geschlossen, dennoch bewegte er sich erstaunlich schnell und setzte Jegor so zielsicher nach, als habe er ihn fest im Blick.

Der Junge rannte los.

Die Musik ertönte mit neuer Kraft und zerriss den Vorhang, den der Wind bildete. Er konnte bereits einzelne Worte unterscheiden – hätte es gekonnt, wenn er gewollt hätte.

Am klügsten wäre es, wenn er sich jetzt dicht an den geschlossenen, aber hell erleuchteten Geschäften hielte, wenn er in der Nähe der Fußgänger bliebe, die noch so spät unterwegs waren, in Sichtweite der vorbeirasenden Autos.

Stattdessen trat Jegor in einen Tordurchgang, der in der Häuserfront aufklaffte. Die Musik rief ihn dorthin.

Stockfinster war es hier, lediglich an der einen Wand rührten sich zwei Schatten. Jegor sah sie wie durch einen Nebel, der von einem leblosen bläulichen Licht erleuchtet schien. Ein Mann und eine Frau, beide noch sehr jung und so leicht angezogen, als herrschten keine zwanzig Grad minus.

Die Musik schwoll zu einem letzten triumphierenden Fortissimo an. Dann verstummte sie. Der Junge spürte, wie alle Kraft aus seinem Körper wich. Er war in Schweiß gebadet, die Knie wurden ihm weich, und er hatte nur noch den Wunsch, sich auf das glitschige, von überfrorenem Dreck bedeckte Pflaster zu setzen.

»Mein Kleiner …«, brachte die Frau leise hervor. Sie hatte ein mageres Gesicht, hohle Wangen und blasse Haut. Nur ihre Augen wirkten lebendig: große, schwarze, faszinierende Augen.

»Lass was übrig … wenigstens ein bisschen«, sagte der Mann. Er lächelte. Die beiden glichen einander wie Bruder und Schwester, nicht von den Gesichtszügen her, sondern aufgrund von etwas kaum Greifbarem, das sie einzuhüllen schien wie staubiger, halb durchsichtiger Tüll.

»Für dich?« Die Frau wandte den Blick kurz von Jegor ab. Die Starre wich daraufhin ein wenig von ihm, dafür packte ihn jetzt Angst. Der Junge öffnete den Mund, doch kaum fing er den Blick des Mannes auf, blieb ihm der Schrei in der Kehle stecken – als zöge sich eine kalte Gummihaut eng um ihn zusammen.

»Ja. Halt ihn fest!«

Die Frau schnaubte höhnisch. Als sie Jegor wieder anblickte, spitzte sie die Lippen, als wolle sie ihm einen Kuss zuhauchen. Leise sprach sie die bereits vertrauten Worte, die Worte, die sich unter die betörende Musik gemischt hatten. »Komm her … komm zu mir …«

Jegor blieb reglos stehen. Zum Weglaufen fehlte ihm die Kraft – trotz seines Entsetzens, trotz des Schreis, der ihm immer noch in der Kehle steckte. Das Einzige, was er zustande brachte, war, einfach stehen zu bleiben.

Am Tordurchgang kam eine Frau mit zwei großen Schäferhunden an der Leine vorbei. Langsam, irgendwie abgebremst, als bewege sie sich unter Wasser oder schleppe sich durch einen Albtraum. Als Jegor aus den Augenwinkeln heraus sah, wie die Hunde sie zerrten, sie in den Durchgang zogen, flammte irrsinnige Hoffnung in ihm auf. Die Schäferhunde knurrten zwar, aber irgendwie unsicher, voller Hass und Angst zugleich. Ihre Besitzerin blieb kurz stehen und spähte argwöhnisch den Gang entlang. Jegor fing ihren Blick auf – gleichgültig, als blicke sie ins Leere.

»Kommt weiter!« Sie zog an der Leine, und die Hunde kamen bereitwillig bei Fuß.

Der junge Mann lachte leise.

Die Hundebesitzerin beschleunigte den Schritt, bis sie nicht mehr zu sehen war.

»Der kommt nicht!«, quengelte die junge Frau. »Guck dir das an, der kommt einfach nicht!«

»Streng dich an«, sagte der Mann bloß. Er schaute finster drein. »Du musst es lernen!«

»Komm! Komm zu mir!«, verlangte die Frau energisch. Jegor stand nur zwei Meter von ihr entfernt, doch sie legte offensichtlich größten Wert darauf, dass er von sich aus weiter auf sie zuging.

Und dann merkte Jegor, dass er keine Kraft mehr hatte, sich ihr zu widersetzen. Der Blick der Frau hielt ihn gefangen, band ihn an eine unsichtbare Gummileine, die Worte riefen ihn – und er konnte nichts dagegen tun. Obwohl er wusste, dass er sich nicht bewegen durfte, machte er einen Schritt. Die Frau lächelte, und ihre ebenmäßigen weißen Zähne blitzten auf. »Bind deinen Schal ab«, sagte sie.

Er schaffte es nicht mehr, sich dagegen zu wehren. Mit zitternden Händen schob er die Kapuze nach hinten und zog den lose umgebundenen Schal weg. Er ging auf die schwarzen Augen zu, die ihn riefen.

Etwas geschah mit dem Gesicht der Frau. Der Unterkiefer hing plötzlich herunter, die Zähne erbebten, krümmten sich. Lange Eckzähne blitzten auf, die nichts Menschliches mehr an sich hatten.

Jegor machte noch einen Schritt.

Eins

Die Nacht ließ sich schlecht an.

Als ich aufwachte, dunkelte es bereits. Vom Bett aus beobachtete ich, wie sich die letzten Lichtstrahlen durch die Ritzen der Jalousien verkrochen, und dachte nach. Die fünfte Nacht auf Jagd – und null Erfolg. Kaum anzunehmen, dass ich heute mehr Glück haben würde.

Die Wohnung war kalt, die Heizung höchstens lauwarm. Am Winter mag ich überhaupt nur eins: dass es früh dunkel wird und nur wenige Leute auf den Straßen sind. Ansonsten … ansonsten hätte ich schon längst alles hingeschmissen, hätte Moskau verlassen und wäre nach Jalta oder Sotschi gefahren. Irgendwohin ans Schwarze Meer, bloß nicht auf eine dieser fernen Inseln in fremden warmen Ozeanen – ich mag es nun mal, wenn man um mich herum Russisch spricht.

Das sind dumme Träume, na klar.

Ist nämlich noch ein bisschen früh für mich, um mich irgendwo in warmen Gefilden zur Ruhe zu setzen.

Das hab ich mir noch nicht verdient.

Das Telefon schien förmlich darauf gewartet zu haben, dass ich wach werde, und läutete jetzt energisch, geradezu widerlich. Ich griff nach dem Hörer und presste ihn ans Ohr, schweigend, ohne ein Wort zu sagen.

»Anton, melde dich!«

Ich schwieg. Larissas Stimme klang sachlich, konzentriert, aber auch müde. Bestimmt hatte sie den ganzen Tag nicht geschlafen. »Anton, soll ich dir den Chef geben?«

»Nicht nötig«, brummte ich.

»He, he. Bist du überhaupt schon wach?«

»Hm.«

»Jeden Tag das Gleiche mit dir.«

»Gibt’s was Neues?«

»Nein, nichts.«

»Hast du was zum Frühstück da?«

»Werd schon was finden.«

»Gut. Viel Erfolg.«

Der Wunsch kam ohne rechte Überzeugung, ohne Anteilnahme. Larissa glaubte nicht an mich. Der Chef vermutlich auch nicht.

»Vielen Dank auch«, sagte ich zu den rasch aufeinander folgenden Pieptönen des Telefons. Ich stand auf und begab mich auf eine Exkursion in Klo und Bad. Ich wollte mir schon Zahnpasta auf die Bürste drücken, begriff dann aber, dass ich den zweiten Schritt vor dem ersten machte, und legte die Bürste auf den Rand des Waschbeckens.

Obwohl es in der Küche stockdunkel war, knipste ich das Licht natürlich nicht an. Ich öffnete den Kühlschrank, in dem das herausgeschraubte Lämpchen zwischen den Lebensmitteln vor sich hin fror. Mein Blick fiel auf eine Kasserolle, in der ein Sieb hing. Darin lag ein Stück halb aufgetautes Fleisch. Ich nahm das Sieb heraus, setzte den Topf an die Lippen und trank einen Schluck.

Falls irgendjemand glaubt, Schweineblut schmecke lecker, irrt er gewaltig.

Nachdem ich die Kasserolle mit dem restlichen, bereits aus dem Fleisch getropften Blut zurückgestellt hatte, ging ich wieder ins Bad. Die trübe blaue Lampe kam kaum gegen die Dunkelheit an. Ausgiebig und verbissen putzte ich mir die Zähne, hielt es aber schließlich doch nicht mehr aus und wanderte noch einmal in die Küche, um eine Flasche aus dem Froster zu nehmen und daraus einen Schluck eisgekühlten Wodkas zu trinken. Danach strömte nicht einfach Wärme durch meinen Bauch, sondern glühende Hitze. Was für ein wunderbares Bouquet aus Empfindungen: die Kälte an den Zähnen und die Glut im Bauch.

»Hol dich doch …«, setzte ich in Gedanken an meinen Chef an, konnte mich aber noch rechtzeitig bremsen. Bei ihm musste man damit rechnen, dass er sogar halb ausgesprochene Flüche spürte. Ich tigerte eine Weile durchs Zimmer und fing an, meine überall verstreuten Kleidungsstücke einzusammeln. Die Hose lag unter dem Bett, die Socken auf dem Fensterbrett, und das Hemd hing aus irgendeinem Grund über der Maske des Choyong.

Missbilligend sah der alte koreanische Herrscher mich an.

»Pass halt besser auf«, brummte ich. In dem Moment schrillte abermals das Telefon. Ich sprang im Zimmer umher, bis ich es endlich fand.

»Anton, wolltest du mir etwas sagen?«, erkundigte sich mein unsichtbarer Gesprächspartner.

»Nein. Nichts«, sagte ich verdrossen.

»Na, na. Wo bleibt das Ich schätze mich glücklich, Euch zu Diensten zu sein, Euer Wohlgeboren?«

»Ich bin nicht glücklich. Tut mir Leid … Euer Wohlgeboren.«

Der Chef schwieg einen Moment.

»Anton, ich bitte dich trotzdem, die Entwicklung der Lage mit etwas mehr Ernst zu betrachten. Abgemacht? Morgen früh erwarte ich deinen Bericht, so oder so. Und … viel Glück.«

Verlegen wurde ich deswegen nicht. Aber immerhin regte ich mich etwas ab. Nachdem ich mein Handy in die Jackentasche gesteckt hatte, öffnete ich den Schrank in der Diele. Einen Augenblick lang überlegte ich, ob ich meine Montur irgendwie aufpeppen sollte. Ich hatte ein paar neue Klamotten, die mir Freunde in der letzten Woche geschenkt hatten. Am Ende beließ ich es jedoch bei der gewöhnlichen Kluft, die recht vielseitig und ziemlich kompakt war.

Fehlte noch der MD-Player. Die Musik bräuchte ich gar nicht, aber Langeweile ist ein unerbittlicher Feind.

An der Wohnungstür spähte ich lange durch den Spion ins Treppenhaus hinaus. Niemand da.

Eine weitere Nacht begann.

Sechs Stunden lang fuhr ich mit der Metro, wechselte ohne irgendein Prinzip die Linien, döste immer mal wieder ein, damit sich mein Bewusstsein erholen und meine Sinne frei werden konnten. Alles war ruhig. Nun ja, das eine oder andere Interessante sah ich schon, aber alle diese Fälle hatten weiter nichts Besonderes an sich, sie waren etwas für Neulinge. Erst gegen elf, als die Metro sich merklich leerte, änderte sich die Situation.

Mit geschlossenen Augen saß ich da und hörte schon zum dritten Mal an diesem Abend die fünfte Symphonie von Manfredini. Die Mini-Disc im Player war absolut verrückt, meine höchstpersönliche Zusammenstellung, bei der sich das italienische Mittelalter und Bach mit den Rockgruppen Alissa und Piknik oder Ritchie Blackmore ablösten.

Es war immer spannend, welche Melodie mit welchem Ereignis zusammentraf. Heute untermalte Manfredini mein Glück.

Etwas presste mich zusammen, ein Krampf, der von den Zehen bis zu den Haarwurzeln alles erfasste. Ich zischte sogar unwillkürlich irgendwas, als ich die Augen öffnete und den Blick durch den Waggon schweifen ließ.

Sofort entdeckte ich die Frau.

Eine junge und sehr sympathische Frau. In einem eleganten Pelz, mit einer Handtasche und einem Buch in Händen.

Und mit einem derart gewaltigen schwarzen Wirbelwind über dem Kopf, wie ich ihn seit bestimmt drei Jahren nicht mehr gesehen hatte!

Vermutlich guckte ich wie ein Wahnsinniger drein. Was die Frau spürte, denn sie sah zu mir herüber, wandte den Blick aber gleich wieder ab.

Du solltest lieber nach oben schauen!

Nein, sie war natürlich nicht imstande, den Strudel zu sehen. Bestenfalls konnte sie etwas spüren, eine leichte Unruhe. Und nur ganz vage, nur aus den Augenwinkeln heraus, vermochte sie ein Flirren über ihrem Kopf wahrzunehmen – als schwirrten Fliegen über ihr, als flimmerte an einem heißen Tag die Luft über dem Asphalt …

Doch sehen konnte sie nichts. Nichts. Sie würde noch einen oder zwei Tage leben, bevor sie auf Glatteis ausrutschte, und zwar so, dass sie eine tödliche Kopfverletzung davontrug. Oder sie würde unter ein Auto geraten. Oder im Hauseingang ins Messer eines Verbrechers laufen – der nicht die geringste Ahnung hatte, warum er diese Frau umbrachte. Und alle Welt würde sagen: »Sie war so jung, das ganze Leben lag noch vor ihr, alle haben sie gern gehabt …«

Ja. Ganz bestimmt. Das glaube ich, zu gut und zu freundlich ist ihr Gesicht. Müdigkeit zeichnet sich in ihm ab, aber keine Verbitterung. Neben einer solchen Frau fühlst du dich nicht so mies, wie du eigentlich bist. Du versuchst, besser zu sein, auch wenn es dir schwer fällt. Mit solchen Frauen möchte man gern befreundet sein, ein wenig flirten, Geheimnisse teilen. In solche Frauen verliebt man sich selten, doch lieben tun alle sie.

Bis auf den einen, der den Dunklen Magier bezahlt hat.

Ein schwarzer Strudel ist im Grunde eine völlig alltägliche Erscheinung. Als ich mich umsah, konnte ich noch weitere fünf oder sechs entdecken, die über den Köpfen der Fahrgäste hingen. Doch sie alle wirkten verwischt, trübe und drehten sich kaum. Resultate eines absolut durchschnittlichen, unprofessionellen Fluchs. Jemand wirft einem anderen ein »Verrecken sollst du, Dreckskerl!« hinterher. Ein anderer drückt es schlichter, weniger hart aus: »Hol dich doch der Kuckuck!« Und von der Dunklen Seite rankt sich ein kleiner Wirbelsturm herüber, der das Glück aus einem herauspresst, der die Kräfte aussaugt.

Doch ein gewöhnlicher Fluch, ein dilettantischer und unausgegorener Fluch, hält bloß ein, zwei Stunden, maximal einen Tag an. Seine Folgen sind zwar unangenehm, aber auf gar keinen Fall tödlich. Der schwarze Strudel über der Frau war von einem anderen Kaliber, stabil, geschaffen von einem erfahrenen Magier. Ohne dass die Frau es wusste, war sie bereits tot.

Automatisch fuhr meine Hand zu meiner Tasche, dann machte ich mir jedoch klar, wo ich war, und verzog das Gesicht. Warum funktionieren Handys in der Metro bloß nicht? Fahren ihre Besitzer etwa nicht mit der Untergrundbahn?

Nun zerrten an mir sowohl meine eigentliche Aufgabe, die ich erfüllen musste, auch wenn kaum Aussicht auf Erfolg bestand, wie auch die Sorge um die mit dem Fluch belegte Frau. Mir war unklar, ob für sie nicht jede Hilfe zu spät kam, doch auf alle Fälle musste ich denjenigen finden, der hinter dem Strudel steckte.

In dem Moment traf mich ein zweiter Schlag. Diesmal anders. Ohne Krampf, ohne Schmerz, nur die Kehle trocknete mir aus, mein Zahnfleisch ertaubte, das Blut pulsierte mir in den Schläfen, die Fingerspitzen fingen zu jucken an.

Treffer!

Aber warum ausgerechnet jetzt?

Ich erhob mich. Der Zug bremste bereits vor der nächsten Station ab. Ich ging an der Frau vorbei und spürte ihren Blick. Sie sah mir nach. Ängstlich. Auch wenn sie den schwarzen Wirbel nicht wahrnahm, machte er sie anscheinend nervös, zwang sie, die Leute in ihrer Nähe im Auge zu behalten.

Vielleicht war sie überhaupt nur deshalb noch am Leben?

Möglichst ohne in ihre Richtung zu blicken, steckte ich die Hand in die Tasche. Ertastete das Amulett, einen kalten, aus Onyx geschnitzten Stab. Eine Sekunde zögerte ich und versuchte, mir etwas anderes einfallen zu lassen.

Nein, es gab keine andere Möglichkeit.

Fest packte ich den Stab. Ein stechendes Kribbeln durchschoss meine Finger, dann wurde der Stein wärmer und gab die gespeicherte Energie ab. Dieser Eindruck stimmte, obwohl diese Wärme nicht mit dem Thermometer zu messen ist. Es war, als würde ich ein kleines Kohlestück aus einem Lagerfeuer zusammenpressen – ein Stück Kohle, das mit kalter Asche überzogen war, im Innern jedoch glühte.

Nachdem ich die Kraft des Amuletts völlig in mich eingesogen hatte, warf ich einen Blick auf die Frau. Der schwarze Strudel vibrierte und neigte sich leicht in meine Richtung. So stark, wie der Wirbel war, musste er in Ansätzen sogar über eine gewisse Intelligenz verfügen.

Ich schlug zu.

Wenn im Waggon – doch was heißt im Waggon –, wenn im ganzen Zug nur ein weiterer Anderer gewesen wäre, hätte er einen grellen Blitz gesehen, der mit gleicher Leichtigkeit durch Metall wie durch Beton schlug.

Nie zuvor hatte ich auf einen schwarzen Wirbel von derart komplizierter Struktur eingeschlagen. Und nie zuvor hatte ich das Amulett eingesetzt, wenn es derart aufgeladen war.

Die Wirkung übertraf absolut alles. Die schwächeren Flüche, die über anderen Leuten hingen, lösten sich in nichts auf. Eine ältere Frau, die sich müde die Stirn rieb, blickte verwundert auf ihre Hand: Ihre schwere Migräne war mit einem Mal wie weggeblasen. Ein junger Mann, der stumpfsinnig durch die Scheibe starrte, zuckte zusammen, seine Miene entspannte sich – und die dumpfe Schwermut wich aus seinem Blick.

Der schwarze Wirbel über der Frau schrumpfte um fünf Meter und schlingerte sogar zur Hälfte aus dem Waggon. Seine Struktur verlor er jedoch nicht, und im Zickzack fand er den Weg zurück zu seinem Opfer.

Was für eine Kraft!

Was für eine Zielsicherheit!

Es heißt – wobei ich zugeben muss, dass ich so etwas noch nie gesehen habe –, ein Wirbel verliere, sobald er auch nur um zwei, drei Meter gekappt wird, die Orientierung und hänge sich an den nächstbesten Menschen an. Auch kein Zuckerschlecken, aber fremde Flüche sind viel schwächer, womit das neue Opfer alle Chancen hat zu überleben.

Dieser Wirbel jedoch kam hartnäckig zurück wie ein treuer Hund zu seinem in Not geratenen Herrn!

Die Metro hielt. Ich betrachtete ein letztes Mal den Wirbel, der jetzt wieder über der Frau hing und sich sogar noch schneller drehte. Und es gab nichts, absolut nichts, was ich hätte tun können. Irgendwo hier auf diesem Bahnsteig, in greifbarer Nähe, befand sich das Ziel, das ich eine Woche lang in ganz Moskau gesucht hatte. Es jetzt laufen lassen, um der Frau zu folgen, das konnte ich einfach nicht. Der Chef würde mich in der Luft zerreißen – möglicherweise nicht nur im übertragenen Sinne.

Als die Türen mit einem Zischen auseinander gingen, warf ich einen allerletzten Blick auf die Frau und prägte mir rasch ihre Aura ein. Die Chancen, sie in dieser Riesenstadt wiederzufinden, standen nicht gerade günstig. Trotzdem musste ich es versuchen.

Aber nicht jetzt.

Ich sprang aus dem Waggon und schaute mich um. Im Außendienst fehlte mir in der Tat jede Erfahrung, da hatte der Chef absolut Recht. Trotzdem gefielen mir seine Ausbildungsmethoden nicht im Geringsten.

Wie um alles in der Welt sollte ich mein Ziel finden?

Wenn ich die Leute mit meinem gewöhnlichen Blick ansah, wirkte auch nicht einer von ihnen verdächtig. Selbst jetzt wimmelte es hier nur so von Menschen – immerhin war das die Kurskaja, eine Station mitten auf der Ringlinie, mit Übergang zum Kursker Bahnhof, auf dem Reisende ankamen und Händler in alle Himmelsrichtungen abfuhren, zudem eine Station, wo auch etliche Moskauer umstiegen, um zu der Linie zu hetzen, die sie in ihre Schlafbezirke brachte. Sobald ich die Augen schloss, bot sich mir freilich ein weitaus faszinierenderes Bild: die wie üblich zum Abend hin verblassten Auren. Mittendrin loderte als greller, purpurroter Fleck die Bosheit von jemandem auf, leuchtete in kräftigem Orange ein Pärchen, das es offenbar kaum erwarten konnte, miteinander ins Bett zu steigen, während die Auren der Betrunkenen in verwaschenen braungrauen Streifen zerflossen.

Und nirgends eine Spur. Bloß diese trockene Kehle, dieses Jucken im Zahnfleisch und ein wie irrsinnig hämmerndes Herz. Dieser Beigeschmack von Blut auf den Lippen. Die wachsende Anspannung.

Alles nur indirekte Hinweise – und doch zu eindeutig, als dass ich sie hätte ignorieren können.

Wer konnte es sein? Wer?

Hinter mir setzte sich der Zug in Bewegung. Das Gefühl, ganz in der Nähe meines Ziels zu sein, ließ nicht nach, es musste also hier irgendwo sein. Auf dem gegenüberliegenden Gleis fuhr ein Zug ein. Ich spürte, wie das Ziel sich regte und auf ihn zuging.

Vorwärts!

Ich überquerte den Bahnsteig, schlängelte mich zwischen den auf die Anzeigetafeln glotzenden Leuten hindurch, steuerte auf das Ende des Zugs zu – und spürte mein Ziel nicht mehr so deutlich. Sofort rannte ich zum ersten Waggon … ja … ich kam ihm wieder näher …

Heiß, kalt – wie in dem Kinderspiel.

Die Leute stiegen in die Wagen ein. Ich rannte am Zug entlang, spürte, wie sich glibberiger Speichel in meinem Mund sammelte, meine Zähne anfingen wehzutun, meine Finger sich verkrampften. In meinen Kopfhörern dröhnte die Musik.

In the shadow of the moon,

She danced in the starlight

Whispering a haunting tune

To the night …

Was für ein passender Song! Erstaunlich passend sogar …

Was nichts Gutes verhieß.

Ich sprang zwischen den sich schließenden Türen hindurch, erstarrte, lauschte in mich hinein. Getroffen oder nicht? Denn visuell hatte ich mein Ziel nach wie vor nicht ausgemacht.

Doch, getroffen.

Die Metro jagte den Ring entlang, während meine alarmierten Instinkte schrien: »Hier! Ganz nah!«

Hatte ich vielleicht sogar den richtigen Waggon erwischt?

Heimlich musterte ich die anderen Fahrgäste, musste mich dann aber von dieser Hoffnung verabschieden. Hier gab es niemanden, der von besonderem Interesse gewesen wäre.

Gut, ich kann warten.

Feel no sorrow, feel no pain,

Feel no hurt, there’s nothing gained …

Only love will then remain,

She would say.

An der Station Prospekt Mira spürte ich, dass sich mein Ziel entfernte. Ich sprang aus dem Waggon und folgte denen, die hier umstiegen. Nah, ganz nah …

Auf dem Bahnsteig der Nord-Süd-Strecke nahm ich mein Ziel in fast schmerzhafter Weise wahr. Ein paar Kandidaten hatte ich bereits ins Auge gefasst: zwei junge Frauen, einen jungen Mann, einen Jungen. Sie alle kamen in Frage, doch wer von ihnen war es?

Mein Quartett stieg in denselben Waggon ein. Immerhin etwas. Ich folgte den vieren und wartete ab.

Eine der beiden Frauen stieg an der Rishskaja aus.

Ich spürte das Ziel genauso stark wie zuvor.

Der junge Mann stieg an der Alexejewskaja aus.

Sehr schön. Die andere Frau oder der Junge? Wer von den beiden?

Ich gestattete mir einen verstohlenen Blick auf sie. Die Frau war füllig, rosawangig und in die Lektüre des Moskowski Komsomolez vertieft. Sie schien in keiner Weise nervös. Der Junge, ihr genaues Gegenteil, nämlich mager und zerbrechlich, stand an der Tür und fuhr mit dem Finger über die Scheibe.

Meiner Ansicht nach war die Frau ungleich … appetitlicher. Zwei zu eins, dass sie es ist.

Doch im Allgemeinen gibt die Frage des Geschlechts den Ausschlag.

Allmählich konnte ich den Ruf hören. Noch ohne Worte, sondern nur als zarte, getragene Melodie. Die Töne aus meinen Kopfhörern drangen bereits nicht mehr zu mir durch, denn der Ruf erstickte die Musik ohne weiteres.

Weder die Frau noch der Junge wurden unruhig. Entweder konnten sie sehr viel ertragen – oder sie hatten sich sofort ergeben.

Der Zug fuhr in die Station ›Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft‹ ein. Der Junge nahm die Hand von der Scheibe, stieg aus und ging schnellen Schrittes auf den alten Ausgang zu. Die Frau blieb im Waggon.

Verflucht!

Beide waren noch so nah, dass ich nicht auszumachen vermochte, wen von ihnen ich spürte.

Und plötzlich schwang sich die Melodie des Rufs jubelnd auf, und es schlich sich eine Stimme in sie ein.

Eine weibliche!

Ich sprang zwischen den sich schließenden Türen nach draußen und eilte dem Jungen nach.

Sehr schön. Die Jagd näherte sich dem Ende.

Bloß – wie sollte ich in dieser Situation mit einem entladenen Amulett zurechtkommen? Ich hatte keinen blassen Schimmer …

Es waren kaum Leute ausgestiegen, auf der Rolltreppe standen insgesamt nur vier Menschen. Zuoberst der Junge, dann eine Frau mit Kind, schließlich ich und hinter mir ein zerknitterter älterer Oberst. Die Aura des Offiziers war sehr schön, strahlte hell und setzte sich aus funkelnden stahlgrauen und hellblauen Tönen zusammen. Amüsiert und müde dachte ich bei mir, dass ich ihn ja zu Hilfe rufen könnte. Männer wie er glauben noch heute an den Begriff der Offiziersehre.

Nur, dass mir der alte Oberst weniger nutzen würde als eine Fliegenklatsche bei der Elefantenjagd.

Ohne weiter über solchen Unsinn nachzudenken, richtete ich den Blick wieder auf den Jungen. Mit geschlossenen Augen scannte ich seine Aura.

Das Ergebnis war entmutigend.

Ein schillerndes, halb durchsichtiges Leuchten hüllte ihn ein. Ab und an färbte es sich rot, dann ging es wieder in tiefes Grün über, um schließlich als dunkelblaues Licht aufzulodern.

Ein seltener Fall. Ein Schicksal, das noch nicht besiegelt war. Ein diffuses Potenzial. Der Junge konnte zu einem elenden Schuft heranwachsen, konnte sich zu einem guten und gerechten Menschen entwickeln oder sich als ein Niemand herausstellen, als leere Stelle, wie im Grunde die meisten Menschen auf dieser Welt. Alles war noch offen, wie es so schön heißt. Eine solche Aura umgibt in der Regel Kinder unter zwei, drei Jahren, während sie bei älteren kaum noch anzutreffen ist.

Womit klar war, weshalb der Ruf gerade ihm galt. Ein Leckerbissen, zweifelsohne.

Ich merkte, wie mir das Wasser im Munde zusammenlief.

Zu lange dauerte das alles schon, zu lange … Ich sah den Jungen an, blickte auf den dünnen Hals unter dem Schal und verwünschte den Chef, die Traditionen und Rituale – all das, was meine Arbeit ausmachte. Mein Zahnfleisch juckte, meine Kehle war ausgedörrt.

Blut hat einen bitteren, salzigen Geschmack, doch es allein vermag diesen Hunger zu stillen.

Verflucht!

Der Junge sprang von der Rolltreppe, rannte durch die Bahnhofshalle und verschwand durch die Glastür. Einen Augenblick lang fühlte ich mich besser. Mit etwas langsameren Schritten folgte ich ihm und beobachtete aus den Augenwinkeln heraus jede seiner Bewegungen: Der Junge tauchte in die Unterführung ab. Rannte schon, denn der Ruf zog ihn an, lockte ihn.

Schneller!

Ich sprintete zu einer Bude und knallte dem Verkäufer zwei Münzen hin. »Für sechs Rubel, mit Ringverschluss«, verlangte ich, möglichst ohne meine Zähne zu zeigen.

Der pickelige Verkäufer schlief fast ein – offenbar kippte er sich selbst den einen oder anderen während der Arbeit hinter die Binde –, als er mir mein Viertelliterchen reichte. »Hab schon besseren Wodka getrunken«, warnte er mich aufrichtig. »Ist zwar kein pures Gift, keine Dorochowskaja, aber trotzdem …«

»Die Gesundheit geht vor«, unterbrach ich ihn. Das Zeug hatte wirklich mit Wodka kaum was zu tun, tat’s im Moment aber. Mit einer Hand zog ich an dem Drahtring, sodass der Verschluss abging, mit der anderen kramte ich das Handy hervor und schaltete den Standardruf ein. Dem Verkäufer gingen die Augen über. Im Gehen nahm ich einen Schluck – der Wodka stank wie Kerosin und schmeckte noch schlimmer, die reinste Plörre, irgendwo heimlich zusammengepanscht – und rannte auf die Unterführung zu.

»Hallo?«

Larissa war schon nicht mehr da. Nachts schiebt in der Regel Pawel Dienst.

»Anton hier. Hotel Kosmos, irgendwo in der Nähe, in einem der Höfe. Ich folge ihm.«

»Eine Brigade?« In seiner Stimme schwang Interesse mit.

»Ja. Ich habe das Amulett schon entladen.«

»Was ist passiert?«

Ein Obdachloser, der in der Mitte der Unterführung vor sich hin döste, streckte die Hand aus, als hoffe er, ich würde ihm die angenuckelte Pulle überlassen. Ich raste an ihm vorbei.

»Da ist noch was anderes … Beeil dich, Pawel.«

»Die Jungs sind schon unterwegs.«

Plötzlich spürte ich im Kiefer einen Schmerz, als stieße jemand eine glühende Nadel in ihn hinein. Verdammte Scheiße aber auch …

»Pascha, ich kann nicht mehr für das garantieren, was ich tu«, sagte ich noch rasch, bevor ich die Verbindung unterbrach. Und vor zwei Milizionären auf Streife stehen blieb.

Ist doch immer dasselbe!

Warum müssen die Ordnungshüter der Menschen immer im unpassenden Moment erscheinen?

»Sergeant Kaminski«, rasselte der junge Milizionär herunter. »Ihre Papiere …«

Was sie mir wohl anhängen wollen? Trunkenheit in der Öffentlichkeit? Vermutlich.

Ich steckte die Hand in die Tasche und berührte das Amulett. Es strahlte kaum noch Wärme aus. Viel war hier jedoch auch nicht nötig.

»Mich gibt’s nicht«, sagte ich.

Zwei Augenpaare wanderten über mich, die schmackhafte Beute – bevor sie erloschen und das letzte Fünkchen Verständnis aus ihnen wich.

»Es gibt Sie in der Tat nicht«, echoten sie im Chor.

Die Zeit, sie richtig zu programmieren, fehlte mir. Deshalb platzte ich mit dem Erstbesten heraus, das mir in den Sinn kam: »Kauft euch einen Wodka und lasst es euch gut gehen. Sofort! Abmarsch!«

Offensichtlich traf der Befehl auf fruchtbaren Boden. Indem sie sich wie zwei Jungen beim Spaziergang an den Händen fassten, zogen die Milizionäre durch die Unterführung in Richtung der Kioske ab. Leichte Gewissensbisse befielen mich, als ich mir die Folgen meines Befehls ausmalte, aber ich hatte einfach nicht die Zeit, noch etwas zu korrigieren.

Aus der Unterführung stürmte ich in der sicheren Überzeugung, dass bereits alles zu spät war. Doch der Junge, so seltsam das auch sein mochte, war noch nicht sehr weit gekommen. Leicht schwankend stand er da, etwa hundert Meter vor mir. Was für eine Widerstandskraft! Der Ruf hallte mit einer solchen Kraft, dass ich mich fragte, warum die wenigen Fußgänger nicht anfingen, das Tanzbein zu schwingen, warum die Oberleitungsbusse nicht vom Prospekt abbogen, nicht in diesen Tordurchgang drängten, dem süßen Schicksal entgegen …

Der Junge drehte sich um. Erblickte mich offenbar. Rasch ging er weiter.

Das war’s, er kapitulierte.

Während ich ihm folgte, überlegte ich fieberhaft, was ich tun sollte. Am klügsten wäre es, auf die Brigade zu warten – sie würde nur zehn Minuten brauchen, höchstens.

Inzwischen konnte jedoch allerlei passieren, konnte dem Jungen allerlei passieren.

Mitleid ist eine gefährliche Sache. Zum zweiten Mal fiel ich heute schon darauf rein. Erst in der Metro, als ich mein Amulett bei dem missglückten Versuch, den schwarzen Wirbel zu zerstören, entladen hatte. Und jetzt wieder, indem ich dem Jungen nachging.

Vor vielen Jahren habe ich mal einen Satz gehört, dem ich nie zustimmen wollte. Bis heute habe ich das auch nicht getan, obwohl ich mich schon oft genug davon überzeugen musste, dass er wahr ist.

Das Wohl der Allgemeinheit und das Wohl des Einzelnen gehen selten miteinander einher.

Stimmt, das sehe ich ein. Das ist die Wahrheit.

Aber gewiss gibt es eine Wahrheit, die schlimmer als die Lüge ist.

Ich rannte dem Ruf entgegen. Wahrscheinlich vernahm ich ihn nicht auf die Weise wie der Junge. Für ihn fügten sich die Töne zu einem betörenden Flehen, einer bezaubernden Melodie, die ihm seinen Willen und seine Kraft raubte. Für mich war es das genaue Gegenteil: ein das Blut aufwühlender Alarm.

Das Blut aufwühlend …

Der Körper, mit dem ich eine Woche lang Schindluder getrieben hatte, streikte jetzt. Ich wollte etwas trinken, aber kein Wasser – obwohl ich ohne irgendeinen Schaden meinen Durst mit dem dreckigen Schnee der Stadt hätte stillen können. Und auch keinen Alkohol – da hätte ich nur zu dem Fläschchen mit diesem ungenießbaren Fusel greifen müssen, der mir auch nicht geschadet hätte. Ich wollte Blut.

Und zwar weder von einem Schwein noch von einer Kuh, sondern von einem Menschen.

Verflucht sei diese Jagd …

»Du musst da durch«, hatte der Chef gesagt. »Fünf Jahre in der analytischen Abteilung sind eine lange Zeit, findest du nicht?« Ich weiß nicht, vielleicht ist das eine lange Zeit, aber mir gefällt es da. Außerdem gab sich der Chef selbst auch seit mehr als hundert Jahren nicht mehr mit operativer Arbeit ab.

Ich rannte an den erleuchteten Schaufenstern vorbei, in denen sich nachgemachte weiß-blaue Gsheler Keramik oder Lebensmittel aus Plastik türmten. Autos rasten vorbei, hier und da waren noch ein paar Leute unterwegs. Doch auch das war eine Fälschung, eine Illusion, war nur eine der Seiten der Welt – und die einzige, die Menschen zugänglich ist. Wie gut, dass ich kein Mensch bin.

In vollem Lauf rief ich das Zwielicht herbei.

Die Welt seufzte auf und trat zur Seite. Als würden mir die Scheinwerfer einer Startbahn in den Rücken knallen, grub sich plötzlich vor mir ein langer dünner Schatten in den Boden. Der Schatten wölkte auf und gewann Volumen, der Schatten zog sich in sich selbst zurück, in den Raum, in dem es keine Schatten mehr gibt. Riss sich vom schmutzigen Asphalt los, erhob sich, federnd, gleich einer Säule aus dichtem Rauch. Der Schatten lief vor mir her …

Während ich immer schneller rannte, zerschlug ich die graue Silhouette und trat ins Zwielicht ein. Die Farben der Welt verblassten, die Autos auf dem Prospekt schienen langsamer zu fahren, stecken zu bleiben.

Ich näherte mich dem Ort meiner Bestimmung.

Als ich in den Tordurchgang trat, war ich darauf gefasst, nur noch das Schlussbild zu sehen: den unbeweglichen, ausgelaugten, leer getrunkenen Körper des Jungen und die im Verschwinden begriffenen Vampire.

Doch ich kam rechtzeitig.

Der Junge stand vor der Vampirin, deren lange Eckzähne aufblitzten, und zog langsam den Schal weg. In diesem Moment hatte er bestimmt keine Angst – der Ruf erstickte das Bewusstsein absolut. Wahrscheinlich sehnte er sich sogar danach, dass die spitzen, funkelnden Eckzähne ihn berührten.

Neben den beiden stand ein Vampir. Intuitiv erfasste ich sofort, dass er das Sagen hatte: Er hatte die Frau initiiert, er hatte sie ans Blut gebracht. Und das Widerlichste von allem: Er hatte eine Moskauer Registriermarke. Dieses Schwein!

Immerhin erhöhte das meine Erfolgsaussichten.

Die Vampire drehten sich mir zu, waren jedoch verwirrt und begriffen nicht gleich, was hier vor sich ging. Der Junge stand in ihrem Zwielicht, sodass ich ihn nicht hätte sehen können, nicht hätte sehen dürfen. Wie sie selbst auch nicht.

Nach und nach entspannte sich das Gesicht des jungen Vampirs, er lächelte sogar, freundlich und ruhig.

»Hallo.«

Er hielt mich für einen von seinesgleichen. Was ihm nicht vorzuwerfen war: Im Moment war ich wirklich einer von ihnen. Fast. Die Woche Vorbereitung war nicht umsonst gewesen: Ich fing an, sie zu spüren – wäre dafür aber beinah selbst auf der Dunklen Seite gelandet.

»Nachtwache«, sagte ich. Ich streckte die Hand mit dem Amulett vor. Es war zwar entladen, aber das war auf die Entfernung nicht so leicht mitzukriegen. »Tretet aus dem Zwielicht heraus!«

Der Mann hätte womöglich gehorcht. In der Hoffnung, dass ich nichts von der Blutspur wusste, die er hinter sich herzog, und das Ganze als »Versuch der unerlaubten Interaktion mit einem Menschen« abgetan wurde. Doch die Frau verfügte nicht über seine Selbstbeherrschung und vermochte ihre Lage nicht einzuschätzen.

»Aaaah!!!« Heulend stürzte sie sich auf mich. Immerhin schlug sie ihre Zähne dann nicht dem Jungen ins Fleisch. Sie war jetzt absolut unzurechnungsfähig, wie eine Drogensüchtige auf Turkey, der man die Spritze, die sie sich gerade setzt, aus den Adern reißt, wie eine Nymphomanin, aus der man sich kurz vor dem Höhepunkt zurückzieht.

Für einen Menschen kam die Attacke zu schnell, niemand hätte sie parieren können.

Doch ich befand mich in derselben Realitätsschicht wie die Vampirin. Ich riss die Hand hoch und spritzte ihr etwas von dem Fusel direkt in das durch die Transformation entstellte Gesicht.

Warum vertragen Vampire Alkohol so schlecht?

Das bedrohliche Geschrei ging in ein leises Wimmern über. Die Vampirin drehte sich um sich selbst und hämmerte mit den Händen auf ihr Gesicht ein, von dem die Haut und das gräuliche Fleisch schichtweise abblätterten. Der Vampir aber wirbelte herum und wollte wegrennen.

Alles lief schon fast zu glatt. Ein registrierter Vampir ist kein zufälliger Gast, mit dem man einen fairen Kampf ausfechten müsste. Ich schleuderte den Flachmann gegen die Vampirin, streckte die Hand aus und erwischte die Schnur der Registriermarke, die sich gehorsam abrollte. Aufstöhnend fasste sich der Vampir an den Hals.

»Komm aus dem Zwielicht raus!«, schrie ich.

Anscheinend begriff er, dass er richtig in der Klemme saß. Indem er sich auf mich stürzte, versuchte er, der gespannten Schnur den Druck zu nehmen. Aus der Bewegung heraus ließ er die Eckzähne hervortreten und begann seine Transformation.

Wenn das Amulett voll geladen gewesen wäre, hätte ich ihn einfach betäubt.

So aber musste ich ihn umbringen.

Die Marke – ein leicht glänzendes, hellblaues Siegel auf der Brust des Vampirs – knirschte, als ich einen lautlosen Befehl aussandte. Die Energie, die von jemandem stammte, der weitaus fähiger war als ich, ergoss sich in den toten Körper. Der Vampir rannte noch. Er war satt, stark, und noch nährte fremdes Leben das tote Fleisch. Doch einen Schlag von dieser Kraft vermochte er nicht auszuhalten: Die Haut trocknete ein, legte sich wie Pergament über die Knochen, die Gallerte sickerte aus den Augenhöhlen. Dann brach die Wirbelsäule auseinander, und das zuckende Gerippe krachte vor meinen Füßen zusammen.

Ich drehte mich zurück – die Vampirin hatte das Bewusstsein schon zurückerlangt. Gefahr ging von ihr jedoch keine mehr aus. Mit riesigen Sprüngen hastete sie über den Hof davon. Noch immer war sie nicht aus dem Zwielicht herausgetreten, sodass dieses frappierende Schauspiel nur ich zu sehen vermochte. Und die Hunde natürlich. Von irgendwoher erklang das hysterische Gebell einer kleinen Töle, die Hass und Angst gleichermaßen gefangen hielten – und all die Gefühle, die die Hunderasse seit Urzeiten für diese lebenden Toten hegt.

Die Vampirin zu verfolgen fehlte mir die Kraft. Ich reckte mich und nahm einen Abdruck ihrer Aura, einer ausgetrockneten, grauen, muffigen Aura. Sie würde uns nicht entkommen. Doch wo steckte der Junge?

Nachdem er aus dem von den Vampiren geschaffenen Zwielicht herausgetreten war, konnte er entweder in Ohnmacht oder in völlige Erstarrung gefallen sein. Im Tordurchgang war er jedoch nicht zu sehen. An mir vorbeigelaufen sein konnte er auch nicht … Ich stürmte aus dem Durchgang in den Hof, wo ich den Jungen tatsächlich entdeckte. Er hatte sich womöglich noch schneller davongemacht als die Vampirin. Tapferer kleiner Kerl! Ein echtes Wunder. Meine Hilfe brauchte er gewiss nicht. Bloß dumm, dass er sich an alles erinnerte – aber wer würde schon einem kleinen Jungen glauben? Bis morgen früh würde die Erinnerung verblasst sein, sich verwischt, sich in einen irrealen Albtraum verwandelt haben.

Oder sollte ich dem Jungen trotzdem nach?

»Anton!«

Vom Prospekt her kamen Igor und Garik angerannt, unser Einsatzteam im Doppelpack.

»Die Frau ist entkommen!«, rief ich.

Garik kickte im vollen Lauf gegen die vertrocknete Leiche des Vampirs, worauf eine Wolke modrigen Gestanks in die eisige Luft aufstieg. »Den Abdruck!«, schrie er.

Ich übermittelte ihm den Abdruck der geflohenen Vampirin. Garik verzog das Gesicht und legte einen Zahn zu. Die Fahnder nahmen die Verfolgung auf. »Kümmer dich um den Müll!«, brüllte Igor mir noch zu.

Mit einem Nicken – als ob sie eine Antwort erwarteten – trat ich aus meinem Zwielicht heraus. Die Welt gewann an Farbe. Die Silhouetten der beiden Jungs aus der operativen Abteilung zerschmolzen, selbst der Schnee, der in der Menschenwelt lag, wurde nicht länger von unsichtbaren Füßen platt getreten.

Aufseufzend ging ich zu dem am Straßenrand geparkten grauen Volvo. Auf der Rückbank lagen ein paar banale Dinge, die ich gut gebrauchen konnte: ein stabiler Plastiksack, eine Schaufel und ein Besen. In fünf Minuten hatte ich die Reste des Vampirs, die kaum etwas wogen, zusammengefegt und den Sack im Kofferraum verstaut. Aus dem kümmerlichen Schneehaufen, den der schlampige Hausmeister liegen gelassen hatte, holte ich etwas schmutzigen Schnee, den ich im Durchgang verteilte und feststampfte, um die Moderreste tief unter dem Dreck zu begraben. Eine menschliche Bestattung bekommst du nicht, denn du bist kein Mensch …

Das war’s dann.

Ich ging zum Auto zurück, setzte mich hinters Steuer und machte meine Jacke auf. Es ging mir gut. Sogar sehr gut. Der Anführer der beiden Vampire war tot, seine Freundin würden unsere Leute einfangen, der Junge lebte.

Der Chef würde zufrieden sein!

Zwei

»Pfush!«

Ich versuchte etwas einzuwenden, doch der nächste Ausruf, der knallend wie eine Ohrfeige kam, verschloss mir den Mund.

»Schlamperei!«

»Aber ...«

»Ist dir wenigstens klar, was du alles falsch gemacht hast?«

Der chef hörte sich nicht mehr ganz so aufgebracht an, sodass ich es wagte, den Blick zu heben. »Im Großen und Ganzen ...«, brachte ich vorsichtig hervor.

Ich halte mich gern im Zimmer des chefs auf. Irgendetwas Kindliches wird in mir angesprochen, wenn ich all die komischen Sachen sehe, die in Vitrinen hinter Panzerglas stehen, an den Wänden hängen, im wüstem Durcheinander auf dem Tisch herumliegen und Geschäfasunterlargen zu einem Ganzen fügen. Angefangen bei dem alten japanischen Fächer bis hin zu jenem verbogenen Stück Metall dem aufgesetzten Elch, dem Emblem eines Autoherstellers, gibt es zu jedem Stück eine Geschichte. Wenn der Chef bei Laune ist, weiß er die kuriosesten Dinge zu erzählen.

Nur dass ich ihn selten in dieser Stimmung erwische.

»Gut.« Der Chef hörte auf, durchs Zimmer zu tigern, nahm in einem Ledersessel Platz und zündete sich eine Zigarette an. »Dann fang mal an.«

Seine Stimme hatte einen sachlichen Ton angenommen, passend zu seiner äußeren Erscheinung. Für ein menschliches Auge wirkte er wie ein Vierzigjähriger und gehörte jener schmalen Mittelschicht von Geschäftsleuten an, auf die die Regierung so gern ihre Hoffnungen setzt.

»Womit?«, fragte ich, wobei ich es riskierte, mir eine weitere klug abgewogene Beurteilung meiner Person einzufangen.

»Mit der Auflistung der Fehler. Deiner Fehler.«

Das heißt also … Gut. »Mein erster Fehler, Boris Ignatjewitsch«, fing ich mit Unschuldsmiene an, »bestand darin, dass ich meine Aufgabe falsch verstanden habe.«

»Ah ja?«, hakte der Chef nach.

»Nun, ich habe gedacht, dass ich den Vampir ausfindig machen sollte, der seit kurzem in Moskau auf Jagd ging. Ihn ausfindig und … äh … unschädlich machen.«

»Nur weiter …«, spornte der Chef mich an.

»Eigentlich sollte mit der Aufgabe aber meine Eignung für die operative Arbeit und den Außendienst getestet werden. Da ich von einer falschen Einschätzung meiner Aufgabe ausging, genauer gesagt, da ich nach dem Prinzip abgrenzen und schützen handelte …«

Der Chef seufzte und nickte. Jemand, der ihn nicht so gut kannte wie ich, hätte vermutlich gedacht, er sei verlegen.

»Hast du dieses Prinzip denn verletzt?«

»Nein. Und deshalb habe ich das Ganze ja vermasselt.«

»Und wie?«

»Gleich am Anfang …« Mein Blick streifte eine ausgestopfte Schnee-Eule, die in einer Vitrine stand. Hatte sie gerade den Kopf bewegt oder nicht? »Gleich am Anfang habe ich mein Amulett bei dem missglückten Versuch, einen schwarzen Strudel zu neutralisieren, entladen …«

Boris Ignatjewitsch verzog das Gesicht. Er strich sich das Haar glatt. »Gut, fangen wir damit an. Ich habe mir die Form genau angeschaut, und wenn du nicht übertrieben hast …«

Empört schüttelte ich den Kopf.

»Ich glaube dir ja. Also, gegen einen derartigen Strudel kommt man mit einem Amulett nicht an. Kannst du dich noch an die Klassifikation erinnern?«

Mist! Warum hatte ich mir bloß nicht noch einmal die alten Unterlagen vorgenommen?

»Ich bin mir sicher, dass du sie nicht im Kopf hast. Das spielt aber keine Rolle, denn dieser Strudel fällt völlig aus dem Schema heraus. So oder so wäre es dir nicht gelungen, mit ihm fertig zu werden …« Der Chef beugte sich über den Tisch zu mir herüber und sagte in verschwörerischem Flüsterton: »Und weißt du was …«

Ich horchte auf.

»Mir auch nicht, Anton.«

Dieses Geständnis kam unerwartet, und ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Zwar sprach niemand laut die Ansicht aus, der Chef bringe absolut alles fertig, dennoch hegten alle Mitarbeiter des Büros diese Überzeugung.

»Anton, einen Strudel von solcher Kraft … kann nur der Urheber vernichten.«

»Dann müssen wir ihn finden …«, bemerkte ich unsicher. »Nicht auszudenken, wenn der Frau …«

»Um sie geht es gar nicht. Zumindest nicht um sie allein.«

»Wieso denn nicht?«, platzte ich heraus und schob rasch hinterher: »Müssen wir einem Dunklen Magier das Handwerk legen?«

Der Chef seufzte. »Womöglich hat er eine Lizenz. Womöglich hat er das Recht, sie mit dem Fluch zu belegen … Doch es geht noch nicht einmal um den Magier. Ein schwarzer Strudel von derartiger Kraft … Erinnerst du dich noch an den Flugzeugabsturz im letzten Winter?«

Ich erschauerte. Nachlässigkeit brauchten wir uns nicht vorzuwerfen, das Unglück ließ sich wohl eher auf eine Gesetzeslücke zurückführen: Der Pilot, der mit dem Fluch belegt worden war, hatte die Kontrolle über das Flugzeug verloren, das dann über der Stadt abgestürzt war. Hunderte von unschuldigen Menschenleben …

»Solche Strudel können nicht gezielt eingesetzt werden. Die Frau ist dem Tode geweiht, aber ihr wird kein Dachziegel auf den Kopf fallen. Eher stürzt das ganze Haus ein, bricht eine Epidemie aus, wird zufälligerweise eine Atombombe über Moskau abgeworfen. Darin besteht das Unglück, Anton.«

Der Chef drehte sich plötzlich um und warf einen vernichtenden Blick auf die Eule. Rasch legte sie die Flügel an, während das Funkeln in den Glasaugen erlosch.

»Boris Ignatjewitsch …«, sagte ich entsetzt. »Das ist meine Schuld …«

»Sicher ist es das. Dich rettet nur noch eins, Anton.« Der Chef räusperte sich. »Indem du Mitleid gezeigt hast, hast du genau das Richtige getan. Das Amulett konnte den Wirbel nicht vollständig zerschlagen, hat aber den Ausbruch des Infernos noch einmal hinausgezögert. Damit haben wir einen Tag gewonnen … vielleicht sogar zwei. Ich war schon immer der Ansicht, dass unüberlegtes, doch gut gemeintes Handeln mehr Nutzen bringt als überlegtes, aber grausames. Hättest du das Amulett nicht eingesetzt, läge bereits halb Moskau in Schutt und Asche.«

»Und was machen wir jetzt?«

»Dieses arme Mädchen suchen. Es beschützen … so weit es in unseren Kräften steht. Wir können den Wirbel noch ein-, zweimal destabilisieren. In dieser Zeit müssen wir den Magier finden, der für den Fluch verantwortlich ist, und ihn zwingen, den Wirbel aufzulösen.«

Ich nickte.

»An der Suche werden sich alle beteiligen«, sagte der Chef wie nebenbei. »Ich habe unsere Leute aus dem Urlaub zurückgerufen. Gegen Morgen treffen Ilja und Semjon aus Ceylon ein, gegen Mittag die übrigen. Das Wetter in Europa ist schlecht, ich habe die Kollegen aus dem Europabüro um Hilfe gebeten, aber noch sind sie dabei, die Wolken auseinander zu treiben …«

»Gegen Morgen?« Ich sah auf die Uhr. »Das ist noch einen Tag hin.«

»Nein, heute Morgen«, erwiderte der Chef, ohne sich um die mittägliche Sonne zu scheren, die durchs Fenster schien. »Du wirst dich auch auf die Suche machen. Vielleicht gelingt es dir noch einmal … Wollen wir jetzt deine anderen Fehler durchgehen? «

»Lohnt denn diese Zeitverschwendung?«, fragte ich schüchtern.

»Keine Angst, wir verschwenden keine Zeit.« Der Chef erhob sich, ging zu der Vitrine, entnahm ihr die ausgestopfte Eule und pflanzte sie auf den Tisch. Aus der Nähe betrachtet, konnte kein Zweifel mehr daran bestehen, dass sie tatsächlich ausgestopft war, dass in ihr nicht mehr Leben steckte als in einem Pelzkragen … »Kommen wir zu den Vampiren und ihrem Opfer. «

»Die Vampirin ist mir entwischt. Und unsere Leute haben sie nicht mehr geschnappt«, gab ich zerknirscht zu.

»In dieser Hinsicht hast du dir nichts vorzuwerfen. Du hast dich wacker geschlagen. Das Problem ist das Opfer …«

»Stimmt, der Junge kann sich an alles erinnern. Aber er ist einfach abgehauen …«

»Anton! Ich bitte dich! Der Junge folgte einem Ruf, der aus einer Entfernung von einigen Kilometern kam! Als er in den Tordurchgang trat, hätte er hilflos wie eine Marionette sein müssen! Und als sich das Zwielicht auflöste, hätte er in Ohnmacht fallen müssen! Anton, wenn er nach alldem noch in der Lage war, sich zu bewegen, schlummert in ihm ein phänomenales magisches Potenzial.«

Der Chef schwieg.

»Ich Idiot!«

»Nicht doch. Du hockst einfach schon zu lange in deinem Labor. Anton, dieser Junge hat das Zeug, mächtiger zu werden als ich!«

»Das ist doch …«

»Sehen wir den Tatsachen ins Auge …«

Das Telefon auf dem Tisch klingelte. Offenbar musste es etwas Wichtiges sein, denn kaum jemand kannte die Durchwahl des Chefs. Ich zum Beispiel kenne sie nicht.

»Ruhe!«, befahl der Chef dem unschuldigen Apparat, der daraufhin verstummte. »Anton, wir müssen diesen Jungen finden. Die geflohene Vampirin stellt an und für sich keine Gefahr dar. Entweder erwischen Igor und Garik sie doch noch, oder sie läuft einer unserer Streifen in die Arme. Doch wenn sie den Jungen aussaugt – oder, was noch schlimmer wäre, ihn initiiert … Dir ist nicht klar, was es mit einem richtigen Vampir auf sich hat. Die von heute – das sind doch nur Mücken verglichen mit irgend so einem Nosferatu. Dabei war er noch nicht einmal einer der größten, auch wenn er sich noch so sehr aufgespielt hat … Daher muss der Junge gefunden, untersucht und, wenn möglich, in die Wache aufgenommen werden. Wir dürfen ihn nicht der Dunklen Seite überlassen, denn dann würde das Gleichgewicht in Moskau endgültig zusammenbrechen.«

»Was ist das? Ein Befehl?«

»Eine Lizenz«, sagte der Chef düster. »Ich habe das Recht, Anweisungen dieser Art zu erlassen, wie du weißt.«

»Ja«, erwiderte ich leise. »Womit soll ich anfangen? Besser gesagt, mit wem?«

»Wie du willst. Vielleicht trotz allem mit der Frau. Versuch aber auch, den Jungen zu finden.«

»Ich gehe dann jetzt?«

»Schlaf dich erst mal aus.«

»Ich hab genug geschlafen, Boris Ignatjewitsch …«

»Das glaube ich nicht. Ich würde dir raten, dich noch ein Stündchen aufs Ohr zu legen.«

Ich verstand gar nichts mehr. Um elf war ich heute aufgestanden und sofort ins Büro gerast, fühlte mich frisch und voller Kraft.

»Und das ist deine Assistentin.« Der Chef schnipste mit den Fingern gegen die ausgestopfte Eule. Der Vogel breitete die Flügel aus und schrie empört auf.

Ich schluckte. »Wer ist das?«, traute ich mich zu fragen. »Oder besser, was ist das?«