Wächter des Tages - Sergej Lukianenko - E-Book

Wächter des Tages E-Book

Sergej Lukianenko

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Beschreibung

Die grandiose Fortsetzung von „Wächter der Nacht“

Vampire, Gestaltwandler, Hexen, Magier – seit ewigen Zeiten leben die so genannten „Anderen“ unerkannt in unserer Mitte. Und zwei Organisationen obliegt es, den Frieden zwischen den Mächten des Lichts und den Mächten der Dunkelheit aufrechtzuerhalten: den „Wächtern der Nacht“ und den „Wächtern des Tages“. Doch dieser Friede ist so brüchig wie nie zuvor … In Russland die Kult-Fantasy-Serie schlechthin und beliebter als „Der Herr der Ringe“ oder „Harry Potter“ – jetzt auch in Deutschland ein riesiger Erfolg!

Nach der Verfilmung von „Wächter der Nacht“, dem erfolgreichsten russischen Film aller Zeiten, kommt 2006 auch die Fortsetzung „Wächter des Tages“ in die deutschen Kinos.

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Seitenzahl: 689

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Das Buch

Seit Menschengedenken gibt es die so genannten »Anderen«: Vampire, Gestaltwandler, Hexen, Schwarzmagier. Unerkannt leben sie in unserer Mitte und sorgen dafür, dass das Gleichgewicht zwischen den Dunklen Anderen und den Hellen Anderen gewahrt bleibt. Zwei Organisationen, den »Wächtern der Nacht« und den »Wächtern des Tages«, obliegt es, den vor langer Zeit geschlossenen Waffenstillstand – den »Großen Vertrag« – zu überwachen und jegliche Verstöße zu ahnden. Doch plötzlich wird eine uralte Sekte von Dunklen Anderen, die sich abseits der Vereinbarungen hält, aktiv, um den vor vielen Jahrhunderten umgekommenen Magier Fafnir ins Leben zurückzurufen. Sowohl Geser, der Chef der Moskauer Nachtwache, als auch sein Dunkler Gegenspieler Sebulon versuchen, daraus für ihre Pläne Kapital zu schlagen, und schrecken dabei auch nicht davor zurück, eigene Leute zu opfern …

In Russland die Fantasy-Kultreihe schlechthin und beliebter als »Der Herr der Ringe« oder »Harry Potter«: Sergej Lukianenkos »Wächter«-Romane, auf deren Grundlage die erfolgreichsten russischen Filme aller Zeiten entstanden.

»Düster und kraftvoll – der Russe Sergej Lukianenko ist der neue Star der phantastischen Literatur!«

FRANKFURTER RUNDSCHAU

»So subtil und charmant, wie es nicht mehr zu lesen war seit Bram Stokers Dracula-Roman!«

SÜDDEUTSCHE ZEITUNG

Der Autor

Sergej Lukianenko, 1968 in Kasachstan geboren, studierte in Alma-Ata Medizin, war als Psychiater tätig und lebt nun als freier Schriftsteller in Moskau. Er ist der populärste russische Fantasy- und Science-Fiction-Autor der Gegenwart, und war als Drehbuchautor an den Verfilmungen von »Wächter der Nacht« und »Wächter des Tages« beteiligt. Den zweiten Band der Serie, »Wächter des Tages«, hat er gemeinsam mit seinem ukrainischen Schriftstellerkollegen Wladimir Wassiljew geschrieben.

Mehr zu den »Wächter«-Büchern und -Filmen unter:

www.lukianenko.ru

Inhaltsverzeichnis

Das BuchDer AutorInschriftErste Geschichte - Zutritt für Unbefugte erlaubt
PrologEins
Copyright

Der vorliegende Text ist der Sache des Lichts abträglich und nicht zur Verbreitung zugelassen.

Die Nachtwache

Der vorliegende Text ist der Sache des Dunkels abträglich und nicht zur Verbreitung zugelassen.

Die Tagwache

Erste Geschichte

Zutritt für Unbefugte erlaubt

Prolog

Der Hauseingang flößte keinen Respekt ein. Das Zahlenschloss hing heraus und funktionierte nicht, überall auf dem Fußboden lagen platt getretene Kippen billiger Zigaretten. Im Fahrstuhl prangten unzählige hirnlose Graffiti, in denen das Wort Spartak genauso oft vorkam wie saftige Vulgärausdrücke; die Knöpfe waren von Zigaretten durchgebrannt und die Löcher sorgsam mit hart gewordenem Kaugummi verklebt.

Auch die Wohnungstür im dritten Stock fügte sich ins Bild: Erbärmliches Kunstleder, noch aus Sowjetzeiten, billige aufgesetzte Ziffern aus Aluminium, die jeden Moment von den schräg hineingedrehten Schrauben zu fallen drohten.

Natascha zögerte einen Moment, bevor sie die Klingel drückte. Wie dumm, irgendwelche Hoffnungen zu hegen und hierher zu kommen. Wenn sie schon so dämlich sein musste, zu Magie Zuflucht zu suchen, dann hätte sie die Zeitung aufschlagen, den Fernseher einschalten oder Radio hören sollen. Seriöse Einrichtungen, erfahrene Übersinnliche mit internationalen Diplomen … Aber was soll’s, letztendlich war das natürlich genauso ein Schwindel. Vielleicht wäre dann jedoch wenigstens die Atmosphäre angenehmer gewesen, die Leute respektabler. Vielleicht wäre sie nicht in diesem Nest von Versagern gelandet.

Trotzdem drückte sie schließlich auf den Klingelknopf. Es wäre schade um die Zeit, die sie für den Weg hierher gebraucht hatte.

Ein paar Minuten lang glaubte sie, die Wohnung sei leer. Dann hörte sie hastige Schritte, wie sie charakteristisch für einen Menschen in Eile sind, der aufpassen musste, die ausgelatschten Pantoffeln nicht zu verlieren. Der kleine primitive Spion verdunkelte sich kurz, dann klapperte das Schloss und die Tür ging auf.

»Natascha, ja? Komm rein, komm rein …«

Leute, die sie sofort duzten, mochte sie nicht. Gewiss, sie selbst bevorzugte diese Form der Anrede auch. Aber sollte man nicht wenigstens der Ordnung halber vorher um Erlaubnis bitten?

Inzwischen zog die Frau, die die Tür geöffnet hatte, sie bereits hinein, indem sie Natascha ohne zu fackeln am Arm packte, wobei sich auf ihrem nicht mehr jungen, grell geschminkten Gesicht eine derart aufrichtige Gastfreundschaft widerspiegelte, dass Natascha nichts dagegenzusetzen hatte.

»Eine Freundin von mir hat mir gesagt, Sie würden …«, fing Natascha an.

»Ja, ich weiß, ich weiß doch, meine Liebe.« Die Frau winkte ab. »Ach, du brauchst die Schuhe nicht auszuziehen, ich wollte nämlich gerade sauber machen … Oder warte, ich hol dir doch Hausschuhe.«

Natascha sah sich um, konnte ihren Ekel dabei aber kaum verbergen.

Eine nicht unbedingt kleine, aber unglaublich zugemüllte Diele. An der Decke baumelte eine trübe Glühbirne, die, obwohl sie mal gerade mit 30 Watt funzelte, die allgemeine Unordnung erkennen ließ. An der Garderobe hingen Unmengen von Kleidern, zur Freude der Motten sogar ein Winterpelz aus Bisam. Das Linoleum von verwaschener grauer Farbe löste sich vom Boden ab. Offensichtlich wollte die Hausfrau schon seit einer ganzen Weile sauber machen.

»Du heißt Natascha, Töchterchen? Ich bin Dascha.«

Dascha war fünfzehn, zwanzig Jahre älter als sie. Mindestens. Sie hätte tatsächlich gut und gern Nataschas Mutter sein können – nur dass man sich einer solchen Mutter lieber gleich den Strick nahm! Eine fette Frau mit ungewaschenem stumpfen Haar, grell lackierten Fingernägeln – und natürlich blätterte der Lack bereits ab –, in einem ausgewaschenen Kittel und mit ausgetretenen Latschen an den nackten Füßen. Mein Gott, selbst die Zehennägel waren lackiert! Wie vulgär!

»Sie sind eine Kräuterfrau?«, fragte Natascha. Um sich innerlich zuzuschreien: Und ich bin eine Idiotin!

Dascha nickte. Nach einigem Stöbern zog sie aus einem wüsten Schuhberg ein Paar Gummilatschen. Die bescheuertsten Dinger, die die Menschheit je erfunden hatte, mit zahllosen hochstehenden Gumminoppen innen drin. Der Traum eines Yogi. Ein Teil dieser Gumminägel fehlte schon seit langem – was freilich nicht zu ihrer Bequemlichkeit beitrug.

»Zieh die an!«, schlug Dascha fröhlich vor.

Wie hypnotisiert streifte Natascha ihre Sandalen ab und zog die Latschen an. Lebt wohl, ihr Perlons. Ohne Laufmaschen würde sie hier bestimmt nicht wieder rauskommen. Selbst bei diesen berühmten Omsa mit dem sagenhaften Lycra nicht. War eben doch alles auf der Welt Beschiss, den sich durchtriebene Blödmänner ausdachten. Und auf den kluge Leute aus irgendeinem Grund immer wieder hereinfielen.

»Ja, eine Kräuterfrau«, meinte Dascha, während sie aufmerksam darüber wachte, ob Natascha sich die Latschen anzog. »Das habe ich von meiner Großmutter. Und von meiner Mutter. Die waren alle Kräuterfrauen und haben alle den Menschen geholfen. Das liegt bei uns in der Familie … Gehen wir in die Küche, Natascha, die andern Zimmer sind nicht aufgeräumt …«

Während Natascha sich innerlich ein weiteres Mal selbst verwünschte, folgte sie Dascha. Die Küche entsprach genau ihren Erwartungen. Ein Berg von schmutzigem Geschirr im Spülbecken, ein verdreckter Tisch, von dem bei ihrem Erscheinen eine Kakerlake träge herunterkroch und unter der Tischplatte verschwand. Klebriger Fußboden. Die Fenster warteten natürlich noch auf den Frühjahrsputz, die Lampe starrte vor Fliegendreck.

»Setzt dich!« Mit einer geschickten Bewegung zog Dascha einen Hocker unterm Tisch hervor, den sie an einen Ehrenplatz schob – zwischen dem Tisch und dem Kühlschrank, einem krampfhaft zuckenden »Saratow«.

»Danke, aber ich bleib lieber stehen.« Natascha wollte sich auf gar keinen Fall hinsetzen. Der Hocker flößte ihr noch weniger Vertrauen ein als der Tisch oder der Fußboden. »Dascha … Darja?«

»Darja.«

»Darja, ich wollte eigentlich nur erfahren . . .«

Die Frau zuckte mit den Schultern. Drückte auf den Knopf des elektrischen Teekessels, womöglich des einzigen Gegenstandes in dieser Küche, der nicht aussah, als stamme er aus einem Müllhaufen. Sie sah Natascha an. »Wirklich? Was willst du denn noch erfahren, meine Liebe? Es ist doch alles klar zu erkennen, liegt ganz offen da . . .«

Einen Moment lang hatte Natascha den unerklärlichen, quälenden Eindruck, in der Küche sei nicht genug Licht. Alles wurde grau, das krankhafte Gemurre des Kühlschranks verstummte ebenso wie der Lärm der Autos, der vom nahen Prospekt herüberdrang. Sie strich sich über die Stirn, die mit eisigem Schweiß überzogen war. Das kam alles von der Hitze. Der Sommer, die Hitze, die lange Fahrt in der Metro, das Gedränge im Oberleitungsbus … Warum hatte sie auch kein Taxi genommen? Ihren Fahrer hatte sie mit dem Wagen fortgeschickt – gut, es wäre ihr peinlich gewesen, auch nur anzudeuten, wohin sie wollte. Und warum. Aber weshalb hatte sie kein Taxi genommen?

»Dein Mann hat dich verlassen, Nataschenka«, sagte Darja zärtlich. »Vor zwei Wochen. Mit einem Mal. Hat seine Sachen gepackt, sie in einen Koffer geworfen und ist gegangen. Ohne jeden Streit, ohne jede Auseinandersetzung. Er hat dir die Wohnung überlassen, das Auto. Ist zu seiner Geliebten gezogen, einem Luder mit schwarzen Augenbrauen, einem jungen Flittchen … dabei gehörst du selbst noch nicht zum alten Eisen, Töchterchen.«

Diesmal reagierte Natascha gar nicht mehr auf das »Töchterchen«. Sie versuchte krampfhaft, sich zu erinnern, was sie ihrer Freundin gesagt hatte und was nicht. Die »schwarzen Augenbrauen« hatte sie bestimmt nicht erwähnt. Obwohl: dunkelhäutig war die Frau, mit schwarzem Haar … Erneut packte Natascha wahnsinnige, blinde Wut.

»Auch warum er gegangen ist, weiß ich, Nataschenka … Verzeih mir, dass ich dich Töchterchen genannt habe, schließlich bist du eine starke Frau, die sich kein X für ein U vormachen lässt. Aber ihr seid ja für mich alle wie die eigenen Töchter … Ihr hattet keine Kinder, nicht wahr, Nataschenka?«

»Nein«, flüsterte Natascha.

»Warum nicht, meine Liebe?« Die Kräuterfrau schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »Dabei hat er sich doch so eine kleine Tochter gewünscht, oder?«

»Ja . . .«

»Dann hättest du ihm eine schenken sollen«, meinte Darja achselzuckend. »Ich hab übrigens fünf Kinder. Zwei sind zur Armee gegangen, meine beiden Ältesten. Eine meiner Töchter ist verheiratet und hat ein Kind, die andre lernt. Dann ist da noch mein Jüngster, dieser Lausebengel …« Darja winkte ab. »Aber setz dich doch endlich . . .«

Widerwillig nahm Natascha auf dem Hocker Platz. Fest presste sie ihre Tasche auf die Knie. »Es hat halt nicht sollen sein«, kam sie weiteren Vorstößen Darjas zuvor. »Und selbst wenn ich ein Kind zur Welt gebracht hätte, hätte ich deswegen meine Karriere nicht aufgeben wollen.«

»Das kann ich ja verstehen.« Die Kräuterfrau hatte nichts einzuwenden. Sie wischte sich mit den Händen übers Gesicht. »Du hast deinen Willen … Was machen wir jetzt? Du möchtest ihn doch zurück? Also, weshalb ist er gegangen? Seine Geliebte ist bereits von ihm schwanger … und hat sich dafür mächtig angestrengt. Sie macht, was er sagt, bedauert ihn, lässt sich im Bett was einfallen … Du hast einen guten Mann gehabt, um so einen reißt sich jede. Möchtest du ihn zurückhaben? Trotz allem?«

Natascha biss sich auf die Lippen. »Ja.«

»Zurückhaben kannst du ihn«, meinte die Kräuterfrau seufzend. »Das ja.« Ihr Ton hatte sich plötzlich auf kaum zu fassende Weise verändert, klang jetzt schwer, drückend. »Nur dass es schwierig wird«, fuhr sie fort. »Ihn zurückzuholen ist kein Problem. Aber ihn zu halten, wird nicht einfach!«

»Trotzdem will ich es.«

»In jeder von uns, mein Töchterchen, steckt eine eigene Magie. « Darja beugte sich über den Tisch. Ihre Augen schienen sich förmlich in Natascha zu bohren. »Einfache, ursprüngliche, weibliche Magie. Das hast du mit deinem Ehrgeiz völlig vergessen. Aber das darfst du nicht! Deshalb helfe ich dir. Aber wir müssen das Ganze in drei Etappen bewerkstelligen.« Sie schlug leicht mit der Faust auf den Tisch. »Erstens: Ich gebe dir einen Trank. Das ist keine große Sünde … Der Trank wird dir deinen Mann wiederbringen. Das ja, aber dass er bleibt, bewirkt der Trank nicht.«

Natascha nickte unsicher. Die Einteilung des Ganzen in »drei Etappen« wirkte irgendwie unangemessen – vor allem bei dieser Frau und in dieser Wohnung.

»Zweitens … Die Geliebte darf das Kind nicht zur Welt bringen. Wenn das passiert, wirst du deinen Mann nie halten können. Hier müssen wir eine große Sünde begehen und die unschuldige Leibesfrucht vergiften …«

»Was reden Sie denn da!«, empörte Natascha sich. »Ich habe nicht die Absicht, vor Gericht zu landen!«

»Gift ist dabei nicht im Spiel, Nataschenka. Ich wedel mit den Händen …« Die Kräuterfrau demonstrierte es gleich. »… dann klatsche ich … Und das war’s, das war die ganze Sünde. Wie willst du denn dafür vor Gericht kommen?«

Natascha schwieg.

»Aber diese Sünde will ich nicht auf mich nehmen.« Darja bekreuzigte sich in aller Form. »Wenn du willst, helfe ich dir, aber vor Gott verantworten musst du dich dafür!«

Offenbar fasste Darja das beredte Schweigen als Zustimmung auf. »Drittens«, fuhr sie fort. »Du bringst selbst ein Kind zur Welt. Dabei helfe ich dir auch. Du kriegst eine Tochter, eine schöne und schlaue Tochter, dir zur Hilfe und deinem Mann zur Freude. Dann hat all dein Leid ein Ende.«

»Ist das Ihr Ernst?«, fragte Natascha leise. »Können Sie das alles . . .«

»Also pass auf.« Darja erhob sich. »Wenn du ja sagst, fangen wir an. Dann kommt morgen dein Mann zurück, und übermorgen verliert seine Geliebte ihren Bastard. Geld nehme ich dir erst ab, wenn du selber schwanger bist. Aber das wird kein Pappenstiel sein, das sage ich dir gleich, bei Gott dem Allmächtigen. «

»Und wenn ich Sie betrüge und Ihnen das Geld nicht bringe? « Natascha setzte ein schiefes Lächeln auf. »Schließlich ist dann ja schon alles erledigt …«

Sie verstummte. Die Kräuterfrau schaute sie streng und schweigend an. Mit leichtem Mitgefühl, wie eine Mutter ihre dumme Tochter. »Du wirst mich nicht betrügen, Nataschenka. Wenn du darüber nachdenkst, kommst du selbst dahinter, dass du mich besser nicht betrügst.«

Natascha schluckte den Kloß herunter, der ihr im Hals steckte. »Das heißt ein Erfolgshonorar?«, versuchte sie zu scherzen.

»Was für eine tüchtige Geschäftsfrau du doch bist«, sagte Darja ironisch. »Wer soll denn so eine scharf kalkulierende und schlaue Frau lieben? Ein Weib muss immer auch dumm sein … ach … Also nach Erfolg. Drei Erfolgen.«

»Wie viel?«

»Fünf.«

»Wieso fünf?«, setzte Natascha an und stockte. »Ich dachte, es würde viel billiger werden!«

»Wenn du nur deinen Mann zurückwillst, wird es billiger. Nur dass er dann nach einer gewissen Zeit wieder weg ist. Ich biete dir aber richtige Hilfe an, ein sicheres Mittel.«

»Einverstanden.« Natascha nickte. Irgendwie kam ihr das Ganze leicht irreal vor. Ein Händeklatschen – und das ungeborene Kind sollte nicht mehr da sein? Ein weiteres Händeklatschen – und sie würde dem geliebten Dummkopf selbst eine Tochter schenken?

»Nimmst du die Sünde auf dich?«, fragte die Kräuterfrau nachdrücklich.

»Was soll denn das schon für eine Sünde sein«, entgegnete Natascha, in der jetzt Ärger hochstieg. »Diese Sünde hat doch wohl jede Frau schon mindestens einmal begangen! Außerdem ist sie vielleicht gar nicht schwanger!«

Die Kräuterfrau versank in Gedanken, schien auf etwas zu lauschen. »Doch …« Sie schüttelte den Kopf. »Und anscheinend wirklich ein Töchterchen.«

»Ich nehm alles auf mich«, meinte Natascha immer verärgerter. »Alle Sünden. Welche auch immer. Abgemacht?«

Die Kräuterfrau sah sie streng und missbilligend an. »So geht das nicht, mein Töchterchen. Was heißt hier ›alle Sünden‹? Wer weiß, was ich dir dann noch anhänge? Meine eigenen Sünden und die von andren …, die müsstest du dann vor Gott verantworten. «

»Das klären wir dann schon.«

»Ach, diese Jugend«, seufzte Darja. »Diese dumme Jugend. Als ob er sich mit den menschlichen Sünden herumschlagen sollte. Jede Sünde hinterlässt eine Spur, an diesen Spuren orientiert sich dann auch das Gericht … Doch genug davon, du brauchst keine Angst zu haben. Ich hänge dir keine fremden Sünden an.«

»Da mach ich mir auch gar keine Sorgen.«

Die Kräuterfrau schien sie schon gar nicht mehr zu hören. Im Sitzen lauschte sie aufmerksam auf irgendetwas. Dann zuckte sie die Achseln. »Gut … Machen wir uns an die Arbeit. Deine Hand!«

Unsicher streckte Natascha die rechte Hand aus, den teuren Brillantring voller Sorge im Blick. Wenn er auch nur schwer vom Finger zu ziehen war . . .

»Oi!«

Die Kräuterfrau pikte sie so schnell und geschickt in den kleinen Finger, dass Natascha nicht einmal etwas merkte. Wie erstarrt saß sie da, sah auf den anschwellenden roten Tropfen. Ohne viel Federlesens warf Darja die winzige Lanzette – ein flaches Ding mit spitzem Stachel – auf einen unabgewaschenen Teller mit eingetrockneten Borschtschresten. Solche Nadeln benutzte man auch in Labors.

»Keine Angst, bei mir ist alles steril, es sind Einwegnadeln.«

»Was erlauben Sie sich eigentlich!« Natascha wollte ihre Hand zurückziehen, doch Darja packte sie mit einer unerwartet kräftigen und zielsicheren Bewegung.

»Halt still, du dummes Mädchen! Sonst muss ich noch mal piken!«

Sie zog ein Apothekerfläschchen aus dunkelbraunem Glas aus der Tasche. Die Beschriftung auf dem Etikett war verwaschen, aber nicht vollständig, sogar die ersten Buchstaben ließen sich noch erkennen: Na …. Geübt schraubte Darja es auf, stellte das Fläschchen unter Nataschas kleinen Finger und klopfte den Finger gegen den Flaschenrand. Der Tropfen landete in dem Fläschchen.

»Manche Menschen glauben«, sagte die Kräuterfrau zufrieden, »dass der Trank umso besser wirken würde, je mehr Blut drin ist. Das stimmt nicht. Das Blut muss eine gewisse Qualität haben, die Menge spielt überhaupt keine Rolle …«

Die Kräuterhexe öffnete den Kühlschrank. Holte eine Fünfziggrammflasche Wodka Priwet heraus. Natascha fiel wieder ein, dass ihr Fahrer ihr dieses »Reanimationsmittel« irgendwann einmal empfohlen hatte.

Ein paar Tropfen Wodka kamen auf den Wattebausch, den Natascha gehorsam gegen ihren Finger drückte. Die Kräuterhexe hielt Natascha die Flasche hin. »Willst du?«

Aus irgendeinem Grund malte sich Natascha lebhaft aus, wie sie morgen früh aufwachen würde – am andern Ende der Stadt, ausgeraubt, vergewaltigt und ohne jede Erinnerung an das, was geschehen war. Sie schüttelte den Kopf.

»Na, ich genehmige mir einen.« Darja setzte das »Reanimationsmittel« an die Lippen und trank den Wodka in einem Schluck aus. »So arbeitet es sich doch gleich … viel besser. Und du … du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Raub ist nicht mein Metier.«

Einige Tropfen, die noch in der Flasche waren, gab Darja ebenfalls in das Apothekerfläschchen mit dem Trank. Dann fügte die Kräuterhexe, ohne sich um den neugierigen Blick Nataschas zu scheren, Salz, Zucker, heißes Wasser aus dem Teekessel und ein Pulver mit starkem Vanillegeruch hinzu.

»Was ist das?«, fragte Natascha.

»Hast du Schnupfen? Vanille.«

Die Kräuterhexe hielt ihr das Fläschchen hin. »Nimm das.«

»Und das ist alles?«

»Ja. Gibt das deinem Mann zum Trinken. Schaffst du das? Du kannst es ihm in den Tee mischen oder in Wodka, auch wenn das nicht gerade empfehlenswert ist.«

»Und wo soll da die … Zauberei sein?«

»Was für Zauberei?«

Erneut kam sich Natascha wie eine Idiotin vor. »Da ist ein Tropfen meines Bluts drin«, platzte sie fast schreiend heraus. »Ein Tropfen Wodka, Zucker, Salz und Vanille!«

»Und Wasser«, fügte Darja hinzu. Sie stemmte die Hände in die Hüften. Sah Natascha voller Ironie an. »Was hast du denn erwartet? Getrocknete Krötenaugen? Piroleier? Oder soll ich da reinrotzen? Worauf kommt es dir an? Auf die Zutaten oder auf die Wirkung?«

Natascha schwieg, überrumpelt von dieser Attacke. Darja hingegen fuhr fort, ohne ihre Belustigung zu verbergen. »Mein liebes Mädchen … Wenn ich Eindruck bei dir hätte schinden wollen, dann hätte ich das geschafft. Mit Sicherheit. Aber es kommt nicht auf das an, was in dem Fläschchen ist, sondern darauf, wer den Inhalt zusammengemischt hat. Mach dir keine Gedanken, geh nach Hause und gib es deinem Mann zu trinken. Er kommt doch noch ab und ab bei dir vorbei?«

»Ja … heute Abend. Er hat angerufen, dass er ein paar Sachen holen müsse …«, murmelte sie.

»Soll er sie ruhig holen, nur muss er dabei auch seinen Tee trinken. Morgen schleppt er seine Sachen dann wieder an. Natürlich nur, wenn du willst.« Darja grinste. »Also gut …, bleibt noch das Letzte. Nimmst du diese Sünde auf dich?«

»Ja.« Natascha merkte mit einem Mal, dass ihr das Lachen im Halse stecken blieb. Irgendetwas war hier gar nicht komisch. Die Kräuterfrau gab sich zu ernst. Und wenn ihr Mann morgen wirklich zurückkommen würde . . .

»Dein Wort, meine Tat …« Darja breitete langsam die Arme aus. Sprach eine komplizierte Formel: »Wasser so rot, dazu fremde Not, fauliger Samen, Frucht ohne Namen … Was war, ist nicht mehr, was nicht war, wird nicht sein … Ins Nirgendwo entschwinde, dass keine Spur man finde, nach meinem Willen, auf mein Wort …« Ihre Stimme senkte sich zu einem raunenden Flüstern herab. Eine Minute lange bewegte die Kräuterfrau die Lippen. Dann klatschte sie kräftig in die Hände.

Anscheinend war die Phantasie mit Natascha durchgegangen, denn sie meinte plötzlich, durch die Küche fege eisiger Wind. Ihr Herz raste, ihre Haut kribbelte.

Darja schien mit dem Kopf etwas abzuschütteln. Dann sah die Kräuterfrau Natascha an. »Das war’s«, meinte sie nickend. »Geh jetzt, meine Liebe. Geh nach Hause, mein Töchterchen, und warte auf deinen Mann.«

Natascha stand auf. »Und was ist … wenn ich . . .«, setzte sie an.

»Wenn du schwanger bist, denkst du von allein an mich. Ich werde drei Monate warten. Danach werde ich nicht lange fackeln. «

Natascha nickte. Sie schluckte den Kloß herunter, der ihr schon wieder im Hals steckte. Aus irgendeinem Grund glaubte sie nun alles, was ihr von dieser Quacksalberin versprochen worden war – und begriff mit schmerzlicher Klarheit, dass es ihr in drei Monaten, wenn wirklich alles klappen sollte, unendlich leid um das Geld tun würde. Sie würde alles einem Zufall zuschreiben wollen. Für den man dieser verdreckten Scharlatanin ja wohl keine fünftausend Dollar geben musste!

Gleichzeitig wusste sie aber auch, dass sie es tun würde. Vielleicht würde sie die Bezahlung bis zum letzten Tag hinauszögern, aber sie würde Darja das Geld geben.

Denn sie würde sich an dieses leichte Klatschen der ungepflegten Hände und diese Welle der Kälte erinnern, die sich plötzlich in der Küche ausgebreitet hatte.

»Geh jetzt«, wiederholte die Kräuterfrau mit leichtem Nachdruck. »Ich muss mich um mein Essen kümmern und die Wohnung sauber machen. Also sieh zu …«

Natascha ging in die dunkle Diele, schlüpfte voller Erleichterung aus den Latschen und zog ihre Schuhe an. Die Strümpfe hatten es offenbar überlebt – immerhin etwas, denn gehofft hatte sie nicht darauf.

Sie sah die Kräuterfrau an, versuchte Worte zu finden, um ihr zu danken, noch nach etwas zu fragen, vielleicht würde ihr sogar ein Scherz über die Lippen kommen …

Aber Darja wirkte völlig entgeistert. Die Augen der Kräuterfrau hatten sich geweitet, sie starrte auf die verschlossene Tür und fuchtelte leicht mit den Händen vor sich in der Luft herum. »Wer …?«, flüsterte sie. »Wer … wer?«

Im nächsten Moment flog hinter Natascha krachend die Tür auf. Im Korridor drängten sich plötzlich lauter Menschen: zwei Männer, die die Kräuterfrau fest bei der Hand gepackt hielten, und einer, der schnellen Schritts und ohne sich umzusehen in die Küche ging – offensichtlich kannte er den Grundriss der Wohnung genau. Neben Natascha stand eine junge schwarzhaarige Frau. Alle Männer trugen einfache und irgendwie absichtlich unauffällige Kleidung: Shorts, in denen aufgrund der außergewöhnlichen Hitze neunzig Prozent der männlichen Bevölkerung Moskaus herumliefen, und T-Shirt. Natascha durchzuckte mit einem Mal der überraschende und beängstigende Gedanke, diese Kleidung könne eine besondere Variante der unauffälligen grauen Anzüge der Herren vom Geheimdienst sein.

»Wie hässlich«, sagte die junge Frau missbilligend, während sie Natascha ansah und den Kopf schüttelte. »Wie gemein, Natalja Alexejewna.«

Im Unterschied zu den Männern trug sie dunkle Jeans und eine Jeansjacke. An einer silbernen Kette um ihren Hals funkelte ein Anhänger, an den Fingern blitzten mehrere massive Silberringe: aufwendig gearbeitete Stücke mit dem Kopf eines Drachen oder eines Tigers, um die sich Schlangen oder seltsame, an die Buchstaben eines unbekannten Alphabets erinnernde Ornamente wanden.

»Wovon reden Sie . . .«, fragte Natascha mit brechender Stimme.

Statt zu antworten zog die Frau schweigend Nataschas Tasche auf und holte das Fläschchen heraus. Hielt es ihr unter die Nase. Und schüttelte abermals vorwurfsvoll den Kopf.

»Gefunden!«, schrie der Mann aus der Küche. »Liegt alles zutage, Leute.«

Einer der Männer, die die Kräuterfrau festhielten, seufzte. »Darja Leonidowna Romaschowa!«, näselte er mit gelangweilter Stimme. »Im Namen der Nachtwache sind Sie verhaftet.«

»Was für eine Nachtwache?« In der Stimme der Kräuterfrau schwang eindeutig ihr Unverständnis mit, klang aber auch Panik an. »Wer sind Sie überhaupt?«

»Sie haben das Recht, auf unsere Fragen zu antworten«, fuhr der junge Mann fort. »Jede magische Handlung von Ihrer Seite wird als feindlicher Akt betrachtet und ohne Vorwarnung geahndet. Sie haben das Recht, um Regelung ihrer persönlichen menschlichen Verpflichtungen nachzusuchen. Ihnen wird zur Last gelegt … Garik?«

Der Gerufene kam aus der Küche zurück. Wie im Traum registrierte Natascha, dass er ein ausgesprochen intelligentes, nachdenklich-trauriges Gesicht hatte. Solche Männer hatten ihr schon immer gefallen …

»Meiner Meinung nach die üblichen Sachen«, sagte Garik. »Gesetzwidrige Beschäftigung mit schwarzer Magie. Manipulationen des menschlichen Bewusstseins dritten oder vierten Grades. Mord. Steuerhinterziehung … aber das geht uns nichts an, damit sollen sich die Dunklen rumschlagen.«

»Ihnen wird gesetzwidrige Beschäftigung mit schwarzer Magie, Manipulation des menschlichen Bewusstseins und Mord vorgeworfen«, wiederholte der Mann, der Darja gepackt hielt. »Sie kommen jetzt mit uns mit.«

Die Kräuterfrau stieß einen durchdringenden, schrecklichen Schrei aus. Unwillkürlich starrte Natascha auf die sperrangelweit aufstehende Tür. Selbstverständlich war es naiv darauf zu hoffen, dass Nachbarn zu Hilfe kommen würden. Aber die Miliz konnten sie doch rufen, oder?

Die seltsamen Besucher reagierten in keiner Weise auf den Schrei. Nur die junge Frau runzelte die Stirn. »Was sollen wir mit der tun?«, fragte sie und nickte in Nataschas Richtung.

»Ihr den Trank abnehmen und die Erinnerung löschen.« Ohne jedes Mitleid blickte Garik Natascha an. »Soll sie doch glauben, es sei niemand zu Hause gewesen.«

»Das ist alles?« Die junge Frau holte eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche und zündete sich genüsslich eine an.

»Was hätten wir denn sonst für Möglichkeiten, Katja? Sie ist ein Mensch, was sollten wir mit der schon anfangen?«

Das alles war nicht einmal schrecklich. Sondern ein Traum, ein Albtraum … und Natascha verhielt sich wie in einem Traum. Mit einer abrupten Bewegung riss sie der jungen Frau die kostbare Flasche aus der Hand und stürzte zur Tür.

Etwas warf sie zurück. Als sei sie gegen eine unsichtbare Wand gerannt. Natascha schrie auf und fiel vor der Kräuterfrau zu Boden, während das Fläschchen ihr aus den Händen flog und unerwartet leicht an der Wand zerschlug. Eine winzige Pfütze aus einer klebrigen farblosen Flüssigkeit breitete sich auf dem Linoleum aus.

»Tigerjunges, sammel die Scherben für den Bericht ein«, sagte Garik ruhig.

Natascha fing an zu weinen.

Nein, nicht aus Angst, obwohl Gariks Ton keinen Zweifel ließ: Sie würden ihre Erinnerung löschen. In die Hände klatschen oder irgendwas andres tun – und sie löschen. Danach würde sie auf der Straße stehen, in der felsenfesten Überzeugung, die Tür zur Wohnung der Kräuterfrau sei für sie verschlossen geblieben.

Sie weinte und beobachtete, wie auf dem dreckigen Boden ihre Liebe zerfloss.

Durch die offene Tür stürmte jemand vom Hausflur herein. »Kinder, wir kriegen Besuch!«, hörte Natascha eine alarmierte Stimme, drehte sich aber nicht einmal um. Wozu auch? Sie würde ja sowieso alles vergessen. Alles würde sich zerschlagen, in spitzen Scherben zerstieben, im Schmutz zerfließen.

Für immer.

Eins

Morgens reichte die Zeit nie, um fertig zu werden. Ich konnte um sieben Uhr aufstehen oder um sechs. Am Ende würden mir so oder so fünf Minuten fehlen.

Wie das wohl kam?

Ich stand vorm Spiegel und legte eilig Lippenstift auf. Immer dasselbe: Sobald ich mich beeilte, zog ich den Strich nicht gleichmäßig, sondern wie eine Schülerin, die zum ersten Mal heimlich Mamas Lippenstift benutzt. Dann sollte ich es besser ganz sein lassen und ungeschminkt aus dem Haus gehen. Ich habe diesbezüglich keine Vorurteile, bei meinem Aussehen wäre das kein Problem.

»Alja!«

Na bitte.

Auch darauf konnte ich warten!

»Was denn, Mamachen?«, schrie ich und schlüpfte rasch in die Sandaletten.

»Komm mal her, Kleine.«

»Mama, ich hab schon Schuhe an!«, rief ich, während ich das herunterrutschende Riemchen zurechtrückte. »Ich komme zu spät, Mama!«

»Alja!«

Es brachte nichts, Streit anzufangen.

Ich klapperte absichtlich laut mit den Absätzen, als ich in die Küche ging, obwohl ich eigentlich überhaupt nicht wütend war. Wie nicht anders zu erwarten, saß meine Mutter vor dem laufenden Fernseher, trank eine Tasse Tee nach der andern und aß Keks um Keks. Was sie wohl an diesen widerlichen dänischen Keksen fand? Dieses schreckliche Zeug! Ganz zu schweigen von den Folgen für die Figur.

»Machst du heute wieder Überstunden, meine Kleine?«, fragte meine Mutter, ohne sich in meine Richtung umzudrehen.

»Weiß ich noch nicht.«

»Alissa, ich weiß nicht, ob du dir das gefallen lassen darfst. Es gibt Arbeitszeiten, und dich bis nachts um eins festzuhalten …« Meine Mutter schüttelte den Kopf.

»Dafür bezahlen sie mich doch«, sagte ich leichthin.

Jetzt sah meine Mutter mich an. Ihre Lippen zitterten. »Willst du mir einen Vorwurf machen? Ja?«

Meine Mutter wusste ihre Stimme stets gut einzusetzen. Wie eine Schauspielerin. Sie hätte ans Theater gehen sollen.

»Ja, wir leben von deinem Gehalt«, sagte meine Mutter bitter. »Der Staat hat uns nach Strich und Faden betrogen und uns zum Sterben in die Gosse geworfen. Vielen Dank, mein Töchterchen, dass du uns nicht vergisst. Dein Vater und ich sind dir sehr dankbar. Aber du musst uns nicht ewig daran erinnern …«

»Mama, das wollte ich doch auch nicht. Du weißt genau, Mama, dass mein Arbeitstag keine festen Zeiten hat.«

»Dein Arbeitstag!« Meine Mutter rang die Hände. An ihrem Kinn hing ein Kekskrümel. »Sag doch lieber gleich deine Arbeitsnacht! Wobei uns noch immer schleierhaft ist, was du eigentlich machst!«

»Mam ….«

Natürlich dachte sie nichts dergleichen. Im Gegenteil, sie erzählte ihren Freundinnen immer voller Stolz, was ich für ein mustergültiges und außergewöhnliches Mädchen sei. Sie war heute Morgen einfach auf Streit aus. Vielleicht hatte sie die Nachrichten gesehen und von einer neuen Gemeinheit in unserm Alltag erfahren. Vielleicht hatte sie sich mit meinem Vater verkracht – er war sicherlich nicht ohne Grund so früh aus dem Haus gegangen.

»Außerdem habe ich nicht die Absicht, mit vierzig Großmutter zu werden!«, fuhr meine Mutter übergangslos fort. Doch was hätte sie auch lang Anlauf nehmen sollen? Schon seit langem befürchtete sie, ich würde heiraten und aus dem Haus gehen, sodass sie und mein Vater zu zweit miteinander auskommen mussten. Das heißt, vielleicht müssen sie das auch gar nicht: Ich hatte mir mal die Realitätslinien angeschaut, und es war sehr wahrscheinlich, dass mein Vater sie wegen einer andern Frau verließ. Er war drei Jahre jünger als meine Mutter … und im Unterschied zu ihr ließ er sich nicht gehen.

»Du wirst dieses Jahr fünfzig, Mama«, sagte ich. »Jetzt entschuldige, ich hab’s eilig.«

Ich war schon in der Diele, als mich der von gerechter Empörung berstende Schrei meiner Mutter erreichte. »Nie willst du mit deiner Mutter mal in Ruhe reden!«

»Es gab eine Zeit, da wollte ich es«, murmelte ich vor mich hin, während ich zur Tür hinausschlüpfte. »Als ich ein Mensch war, wollte ich es. Aber wo warst du damals …«

Natürlich malte meine Mutter sich jetzt aus, welches Fass sie heute Abend aufmachen würde. Außerdem würde sie davon träumen, meinen Vater in den Streit hineinzuziehen. Bei diesem Gedanken platzte mir echt der Kragen.

Was war das nur für eine Art – einen geliebten Menschen in einen Streit hineinzuziehen? Und meine Mutter liebte ihn! Bis jetzt liebte sie ihn, das wusste ich genau, denn das hatte ich überprüft. Aber sie verstand nicht, dass sie mit ihrem Verhalten in meinem Vater die Liebe zu ihr zerstörte.

Das würde ich nie tun.

Und meiner Mutter würde ich es auch nicht erlauben!

Im Hauseingang war niemand, doch selbst wenn, hätte mich das nicht von meinem Plan abgebracht. Ich drehte mich zur Tür zurück und sah sie auf eine besondere Art an, indem ich die Augen leicht zusammenkniff. Damit ich meinen Schatten ausmachen konnte.

Meinen wirklichen Schatten. Den, der im Zwielicht entsteht.

Das sieht aus, als verdichte sich die Finsternis vor dir. Bis sie völlig undurchdringlich ist, bis sie ein Schwarz annimmt, das eine sternenlose Nacht wie Tag wirken lässt.

Vor dem Hintergrund dieser Dunkelheit hebt sich zitternd eine gräuliche, aufwölkende, weder räumliche noch flache Silhouette ab. Eine Silhouette wie aus dreckiger Watte geschnitten. Oder umgekehrt: Wie wenn man das große Dunkel zerschnitten und in ihm eine Tür ins Zwielicht offen gelassen hätte.

Ich machte einen Schritt und trat auf den Schatten, der an mir hochhuschte, meinen Körper einnahm. Und die Welt veränderte sich.

Die Farben verblassten fast völlig. Alles erstarrte in einem grauen, verwaschenen Dunst, wie man es kennt, wenn der Fernseher auf ein Minimum an Farbe und Kontrast eingestellt ist. Die Geräusche dehnten sich, und es senkte sich Stille herab, die nur noch ein kaum wahrnehmbares Brummen durchließ, so leise wie das Rauschen eines fernen Meeres.

Ich war ins Zwielicht eingetreten.

Und sah, wie in der Wohnung die Empörung meiner Mutter loderte. Zitronengelb, eine saure Farbe, vermischt mit Selbstmitleid und grellgrünem Groll auf meinen Vater, der mal wieder zu spät zur Garage aufgebrochen war, um am Auto herumzubasteln.

Dann bildete sich über meiner Mutter langsam ein schwarzer Wirbelwind heraus. Ein gut gezielter Fluch, wenn auch noch etwas schwach, à la »Verblöden sollst du auf deiner Arbeit, du undankbares Biest!«, doch immerhin der Fluch einer Mutter. Was ihn besonders effektiv und langlebig machte.

Das lassen wir mal schön bleiben, Mamotschka!

Papa verdankt deinen Bemühungen den ersten Herzinfarkt mit siebenunddreißig und ist vor drei Jahren einem zweiten nur knapp entkommen – wobei ich für seine Rettung einen Preis zahlen musste, an den ich mich lieber nicht erinnern möchte. Hast du es jetzt auch auf mich abgesehen?

Ich reckte mich mit einer solchen Kraft im Zwielicht, dass es in den Schulterblättern schmerzhaft zog. Packte Mamas Bewusstsein, das krampfhaft zuckte und dann erstarrte.

Gut … machen wir es so …

Mir brach der Schweiß aus, obwohl es im Zwielicht immer kalt ist. Ich gab meine Kraft her, die ich für die Arbeit gebraucht hätte. Dafür erinnerte sich meine Mutter schon im nächsten Moment nicht mehr daran, was sie mir gesagt hatte. Überhaupt war sie rundum zufrieden, dass ich solch ein Arbeitstier war, dass man mich auf der Arbeit schätzte und mochte, dass ich in aller Herrgottsfrühe aus dem Haus ging und erst nach Mitternacht wiederkam.

Gut.

Wahrscheinlich würde die Wirkung nicht lange anhalten, denn ich hatte nicht zu tief ins Bewusstsein meiner Mutter eindringen wollen. Doch ein paar Monate in Ruhe und Frieden dürften mir sicher sein. Und meinem Vater auch, denn ich bin ein Vaterkind und liebe ihn viel stärker als meine Mutter. Nur Kinder haben Schwierigkeiten zu entscheiden, wen sie mehr lieben, Mama oder Papa, Erwachsene haben damit kein Problem.

Zum Schluss knickte ich den halbfertigen schwarzen Wirbel ab – er drang durch die Wand, auf der Suche nach jemandem, an den er sich anheften konnte. Dann atmete ich tief durch. Mit einem kritischen Blick betrachtete ich den Hauseingang.

Ich hatte hier schon lange nicht mehr sauber gemacht. Das blaue Moos wucherte bereits wieder, an unserer Tür übrigens am stärksten. Kein Wunder, so hysterisch wie meine Mutter sich aufführte, fand es immer was zu futtern. Als ich noch ein kleines Mädchen war, habe ich gedacht, die Lichten würden das Moos züchten, um uns zu ärgern. Später habe ich dann erfahren, dass das blaue Moos ein eingeborener Bewohner des Zwielichts ist, ein Parasit, der menschliche Gefühle frisst.

»Eis!«, befahl ich und riss den Arm hoch. Die Kälte konzentrierte sich gehorsam um meine Finger herum, um dann wie eine feste Bürste über die Wände zu kratzen. Die gefrorenen nadelartigen Blättchen des Mooses rieselten auf den Boden und zerfielen im Nu zu Staub.

Richtig so!

Hier bekommst du es mit etwas anderm zu tun, als mit den Gedanken der Menschen, von denen du dich sonst ernährst!

Das hier ist echte Kraft – die Kraft einer Anderen.

Ich trat aus dem Zwielicht heraus – in der Menschenwelt waren noch nicht mal ein paar Sekunden vergangen – und strich mir das Haar zurecht. Da mir Schweiß auf der Stirn stand, holte ich ein Taschentuch hervor und tupfte ihn ab. Und klar doch: Als ich danach in den Spiegel blickte, konnte ich mich davon überzeugen, dass die Wimperntusche verschmiert war.

Mich um mein Aussehen zu kümmern blieb mir nun wirklich keine Zeit. Ich warf mir einfach einen leichten Schleier der Attraktivität über, der es keinem Menschen erlauben würde, das ruinierte Make-up zu erkennen. Wir nennen diesen Zauber nach dem traditionellen Gewand muslimischer Frauen »Parandscha« und lassen es uns normalerweise nicht entgehen, einen Anderen im »Parandscha« auszulachen. Trotzdem bedienen sich alle dieses Zaubers. Wenn die Zeit nicht reicht, wenn man unbedingt einen guten Eindruck machen muss, wenn man sich einen Spaß erlauben will. Eine junge Hexe aus Pskow, die nichts andres hinkriegte, als sich in den »Parandscha« zu hüllen, arbeitet schon seit drei Jahren als Mannequin. Und kommt damit über die Runden. Ihr einziges Pech: Bei Fotos und Videos wirkt der Zauber nicht, weshalb sie keines der unzähligen Angebote, in die Werbung zu kommen, annehmen kann.

Heute hatte sich alles gegen mich verschworen. Der Fahrstuhl brauchte eine Ewigkeit – der zweite funktionierte schon lange nicht mehr –, und als ich aus dem Haus kam, stieß ich mit Witalik zusammen, dem Jungen, der über uns wohnte. Als er mich im »Parandscha« sah, erstarrte er förmlich zur Salzsäule und lächelte einfältig. Seit er dreizehn ist, ist er in mich verliebt, und zwar schwer, unerwidert und wortlos. Was auf meine Unzulänglichkeit zurückgeht, wenn ich ehrlich sein soll. Damals erlernte ich gerade Betörungszauber und wollte sie bei diesem Jungen aus der Nachbarschaft ausprobieren, der mich ohnehin nicht genug anstarren konnte, wenn ich im Badeanzug auf dem Balkon saß und mich sonnte. Also habe ich an ihm geübt! Dabei habe ich die Begrenzungsfaktoren übersehen. Sodass er sich ein für alle Mal in mich verliebt hat. Wenn er mich längere Zeit nicht sieht, lässt sein Gefühl etwas nach, doch ich brauche ihm nur kurz zu begegnen – und schon geht alles von vorn los. Glück in der Liebe wird er jedenfalls nie finden.

»Witalik, ich hab’s eilig«, sagte ich lächelnd.

Doch er hatte sich bereits vor mir aufgebaut und blockierte meinen Weg. Dann wagte er ein Kompliment. »Du siehst heute wunderschön aus, Alissa.«

»Danke.« Ich schob ihn sanft beiseite und spürte, wie mein Nachbar erbebte, als mein Arm seine Schulter berührte. Sicherlich würde er sich eine Woche an diese Berührung erinnern . . .

»Ich habe meine letzte Prüfung bestanden, Alissa!«, rief er mir schnell nach. »Das war’s, jetzt bin ich Student!«

Ich drehte mich um und sah ihn mir aufmerksam an.

Dieser Konsument von Antipickelcreme hegte doch wohl nicht etwa irgendwelche Illusionen? Hoffte er etwa, wenn er ein Studium aufnimmt, sein »Erwachsenenleben« beginnt, kann er irgendetwas von mir wollen?

»Um die Armee drückst du dich also?«, fragte ich. »Die Männer sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Alles Waschlappen. Keiner mehr, der dienen will, Lebenserfahrung sammeln und danach studieren.«

Langsam erstarb sein Lächeln. Ein Bild für Götter!

»Tschüss, Witalka«, sagte ich. Und sprang aus dem Haus hinaus in die drückende sommerliche Hitze. Meine Laune hatte sich jedoch etwas gehoben.

Es ist immer komisch, diese verliebten Jüngelchen zu beobachten. Mit ihnen zu flirten ist langweilig, mit ihnen ins Bett zu gehen widerlich, aber sie zu beobachten ist das reinste Vergnügen. Irgendwann muss ich ihm mal einen Kuss geben . . .

Übrigens war schon eine Minute später jeder Gedanke an meinen verliebten Nachbarn verpufft. Mit ausgestrecktem Daumen stellte ich mich an den Straßenrand. Das erste Auto fuhr an mir vorbei – der Fahrer verschlang mich zwar mit Blicken, doch neben ihm saß seine Frau. Das nächste Auto hielt an.

»Ich muss ins Zentrum«, sagte ich, wobei ich mich etwas zum Fenster hinunterbeugte. »In die Maneshnaja.«

»Steigen Sie ein.« Der Fahrer, ein etwa vierzigjähriger Mann mit hellbraunem Haar und intelligentem Aussehen, beugte sich herüber und öffnete die Tür. »Eine so attraktive Frau kann ich doch nicht stehen lassen.«

Ich schlüpfte auf den Beifahrersitz des alten Shiguli, eines »Neuner«, und ließ das Fenster ganz herunter. Wind peitschte mir ins Gesicht. Wenigstens eine gewisse Erleichterung.

»Mit der Metro wären Sie schneller da«, gab der Fahrer ehrlich zu bedenken.

»Die mag ich nicht.«

Der Fahrer nickte. Er gefiel mir, glotzte nicht zu sehr – obwohl ich es mit dem »Parandscha« vermutlich etwas übertrieben hatte. Das Auto war gepflegt. Außerdem hatte er schöne Hände. Kräftige Hände, die locker, aber sicher auf dem Lenkrad ruhten.

Schade, dass ich keine Zeit hatte.

»Kommen Sie zu spät zur Arbeit?«, erkundigte sich der Fahrer. Er siezte mich, aber auf eine sehr persönliche, intime Weise. Ob ich ihm meine Telefonnummer geben sollte? Inzwischen bin ich eine freie Frau, kann machen, was mir gefällt.

»Ja.«

»Und was machen so schöne Frauen wie Sie?« Das war kein Versuch, mich anzubaggern oder mir ein Kompliment zu machen, sondern eher echte Neugier.

»Was die andern machen, weiß ich nicht. Aber ich arbeite als Hexe.«

Er lachte.

»Eine Arbeit wie jede andre …« Ich holte meine Zigaretten und das Feuerzeug heraus. Da mich der Fahrer kurz mit einem missbilligenden Blick ansah, fragte ich gar nicht erst um Erlaubnis. Sondern zündete mir gleich eine an.

»Und was hat eine Hexe so für Aufgaben?«

Wir bogen in die Russakowskaja, und der Fahrer gab Gas. Vielleicht kam ich doch noch pünktlich?

»Kommt ganz drauf an«, meinte ich ausweichend. »Vor allem bieten wir den Kräften des Lichts paroli.«

Der Fahrer nahm offenbar als Spiel, was alles andre als ein Spiel war.

»Du stehst also auf der Seite der Finsternis?«

»Des Dunkels.«

»Das ist stark. Ich kenne auch eine Hexe. Meine Schwiegermutter. « Der Fahrer lachte. »Aber sie ist Gott sei Dank schon in Rente. Und was hast du gegen die Kräfte des Lichts?«

Heimlich überprüfte ich seine Aura. Nein, alles in Ordnung – er war ein Mensch.

»Sie stören. Sagen Sie doch mal, was ist für Sie das Wichtigste im Leben?«

Der Fahrer dachte kurz nach. »Das Leben. Und das mich niemand stört zu leben.«

»Ganz genau«, stimmte ich ihm zu. »Jeder möchte frei sein, oder etwa nicht?«

Er nickte.

»Und wir, die Hexen, kämpfen für diese Freiheit. Für das Recht eines jeden, das zu tun, was er möchte.«

»Und wenn ein Mensch etwas Böses möchte?«

»Das ist sein Recht.«

»Aber wenn er dabei das Recht andrer Menschen verletzt? Sonst könnte ich ja jetzt einfach jemanden über den Haufen fahren und sein Recht verletzen.«

Mich amüsierte das. Wir führten hier die fast klassische Diskussion zum Thema »Was ist das Licht und was ist das Dunkel«. Und sowohl wir, die Dunklen, wie auch diejenigen, die sich selbst die Lichten nennen, unterziehen die Novizen diesbezüglich einer Gehirnwäsche.

»Wenn jemand versucht, deine Rechte zu verletzen, hindere ihn daran. Das ist dein Recht.«

»Alles klar. Das Gesetz des Dschungels. Das Recht des Stärkeren. «

»Stärker, schlauer, weitblickender. Und das ist keineswegs das Gesetz des Dschungels, sondern das Gesetz des Lebens. Oder sehen Sie da wirklich einen Unterschied?«

Der Fahrer dachte kurz nach und schüttelte den Kopf.

»Nein, seh ich nicht. Das heißt, ich hätte jetzt das Recht, irgendwohin zu fahren, mich auf Sie zu stürzen und Sie zu vergewaltigen? «

»Sind Sie sicher, dass Sie stärker sind als ich?«, fragte ich.

Wir hielten gerade an einer Kreuzung, und der Fahrer sah mich aufmerksam an. »Nein …«, meinte er kopfschüttelnd. »Da bin ich mir nicht sicher. Aber wenn ich nicht über Frauen herfalle, so doch nicht deshalb, weil sie sich wehren könnten!«

Er wurde leicht nervös. Obwohl wir anscheinend nur herumsponnen, spürte er, dass mehr dahinter steckte.

»Deshalb und weil Sie im Gefängnis landen könnten«, sagte ich. »Das ist alles.«

»Nein«, widersprach er fest.

»Doch.« Ich lächelte. »Genau deshalb. Sie sind doch ein normaler, gesunder Mann, und Ihre Reaktionen sind völlig adäquat. Aber es gibt ein Gesetz, und deshalb ziehen Sie es vor, nicht über Frauen herzufallen, sondern sie erst zu umgarnen.«

»Eine Hexe …«, brummelte der Fahrer mit einem schiefen Lächeln. Dann drückte er das Gaspedal durch.

»Genau«, bestätigte ich. »Denn ich sage die Wahrheit und verrenk mir nicht die Seele. Jeder möchte in Freiheit leben. Das tun, was ihm gefällt. Immer gelingt das natürlich nicht, denn jeder hat seine eigenen Wünsche, aber trotzdem versucht jeder genau das. Aus diesen Konflikten heraus entsteht dann auch die Freiheit! Eine harmonische Gesellschaft, in der jeder alles bekommen möchte, auch wenn er sich mit den Wünschen anderer arrangieren muss.«

»Und wo bleibt die Moral?«

»Was für eine Moral?«

»Die allgemein menschliche.«

»Was für eine?«, fragte ich.

Es gibt nichts Besseres, als einen Menschen mit der Forderung, seine Frage präzise zu formulieren, in eine Sackgasse zu treiben. Die Menschen denken in der Regel nicht über den Sinn der Wörter nach, die sie in den Mund nehmen. Sie glauben, Wörter gäben die Wahrheit wieder, meinen, unter dem Wort »rot« stelle sich jeder Mensch eine reife Himbeere vor, aber nicht fließendes Blut, während das Wort »Liebe« alle an die Sonette Shakespeares und nicht an erotische Playboy-Filme denken lasse. So geraten sie in eine Sackgasse, wenn das gewählte Wort nicht die gewünschte Reaktion auslöst.

»Es gibt doch wohl Grundlagen«, meinte der Fahrer. »Dogmen. Tabus. So was … wie … Gebote.«

»Zum Beispiel?«, wollte ich wissen.

»Du sollst nicht stehlen.«

Ich lachte los. Der Fahrer lächelte ebenfalls.

»Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib.« Jetzt lächelte er bereits von sich aus.

»Klappt das?«, fragte ich.

»Je nachdem.«

»Selbst das nicht begehren klappt? Haben Sie Ihre Instinkte derart gut unter Kontrolle?«

»Hexe!«, sagte der Fahrer genüsslich. »Also gut, ich beichte …«

»Zu beichten ist nicht nötig!«, unterbrach ich ihn. »Das ist normal. Das ist die Freiheit! Ihre Freiheit. Sowohl zu stehlen … als auch zu begehren.«

»Du sollst nicht töten!«, parierte der Fahrer. »Was ist damit? Was sagst du jetzt? Das ist ein allgemein menschliches Gebot!«

»Es heißt aber auch: Du sollst das Böcklein nicht in der Milch seiner Mutter kochen. Sehen Sie fern oder lesen Zeitung?«, fragte ich.

»Manchmal. Und ohne jedes Vergnügen.«

»Warum nennen Sie dann Du sollst nicht töten ein Gebot? Du sollst nicht töten … Heute morgen haben sie berichtet, dass man im Süden drei weitere Geiseln genommen hat und Lösegeld fordert. Allen dreien ist bereits ein Finger abgeschnitten worden, um die Ernsthaftigkeit der Forderung zu unterstreichen. Eine der Geiseln ist, nebenbei bemerkt, ein dreijähriges Mädchen. Ihr hat man übrigens auch einen Finger abgeschnitten. «

Die Finger des Fahrers, die das Steuer hielten, verkrampften sich, wurden weiß.

»Diese Schweine …«, zischte er. »Diese Entarteten. Ich habe es gehört, ja … Aber das sind Dreckskerle, Unmenschen, nur die sind zu so etwas fähig! Mit meinen eigenen Händen könnte ich jeden Einzelnen von ihnen erwürgen …«

Ich schwieg. Die Aura des Fahrer loderte purpurrot auf. Wenn er jetzt bloß keinen Unfall baute. Er hatte sich kaum noch unter Kontrolle. Zu genau hatte ich ins Ziel getroffen: Er hatte selbst eine kleine Tochter . . .

»Öffentlich aufhängen sollte man die!«, zeterte er weiter. »Mit Napalm abfackeln!«

Ich schwieg. Und erst als der Fahrer allmählich verstummte, fragte ich: »Und wo bleiben dann Ihre allgemein menschlichen Gebote? Wenn Sie jetzt ein Maschinengewehr in Händen hätten, würden Sie die Kerle ohne zu zögern abknallen.«

»Für entartete Bestien gelten überhaupt keine Gebote!«, blaffte der Fahrer. Wo war nur seine ruhige Intelligenz geblieben? Energieströme sprudelten auf allen Seiten aus ihm heraus – und ich saugte sie auf, um rasch die heute Morgen verlorene Kraft zu erneuern.

»Selbst Terroristen sind keine entarteten Bestien«, sagte ich. »Sie sind Menschen. Wie Sie einer sind. Und für Menschen gibt es keine Gebote. Das ist eine wissenschaftlich erwiesene Tatsache. «

Je mehr ich von der aus ihm austretenden Energie aufnahm, desto stärker beruhigte sich der Fahrer. Das würde natürlich nicht lange anhalten. Bis heute Abend würde sich sein Zorn wieder hochgeschaukelt, die Wut ihn wieder gepackt haben. Das ist wie mit einem Brunnen. Selbst wenn man das Wasser schnell aus ihm herausschöpft, füllt er sich wieder nach.

»Trotzdem haben Sie Unrecht«, entgegnete er etwas ruhiger. »Die Logik ist auf Ihrer Seite, sicher … Aber wenn wir uns heute mit dem Mittelalter vergleichen, dann hat die Moral doch unbedingt zugenommen.«

»Hören Sie doch damit auf!« Ich schüttelte den Kopf. »Was heißt das: ›zugenommen‹ … Selbst in den Kriegen gab es damals einen strengen Ehrenkodex. Krieg bedeutete damals noch wirklich Krieg, und die Könige zogen mit ihrem Heer in den Kampf, wobei sie Thron und Kopf riskierten. Aber heute? Da will ein großes Land ein kleines unterwerfen, also schickt es drei Monate lang seine Bomben über das Land und wird damit nebenbei noch seine veraltete Munition los. Nicht einmal die Soldaten riskieren dabei ihr Leben! Genauso gut könnten Sie auf den Gehsteig fahren und die Fußgänger umhauen wie Kegel.«

»Der Ehrenkodex galt nur unter Aristokraten«, widersprach der Fahrer scharf. »Die einfachen Menschen sind massenhaft umgekommen.«

»Soll sich daran heute tatsächlich etwas geändert haben?«, fragte ich. »Wenn ein Oligarch einen Konflikt mit einem andern austrägt, wird ein bestimmter Ehrenkodex beachtet! Denn sowohl der eine wie der andre verfügt über Dummköpfe, die für ihn die Drecksarbeit machen, beide haben Materialien, mit denen sie den andern kompromittieren können, irgendwo gibt es gemeinsame Interessen, irgendwo verwandtschaftliche Beziehungen. Das ist die gleiche Aristokratie wie früher! Dieselben Könige, die wie die Maden im Speck leben. Während die einfachen Menschen für sie Vieh sind. Eine Hammelherde, die man schert, um Profit zu machen. Aber manchmal bringt es eben mehr ein, sie zu schlachten. Es gab nie Gebote, es gibt sie auch jetzt nicht!«

Der Fahrer verstummte.

Und ließ auch danach kein Wort mehr fallen. Wir bogen von der Kamergerski-Gasse in die Twerskaja, und ich sagte ihm, wo er mich rauslassen solle. Bezahlte und gab ihm absichtlich mehr als nötig. Erst da fand der Fahrer seine Sprache wieder.

»Nie wieder nehme ich eine Hexe mit«, brachte er mit schiefem Lächeln hervor. »Das ist zu nervig. Nie hätte ich gedacht, dass mir ein Gespräch mit einer schönen Frau derart die Laune vermiesen kann.«

»Entschuldigen Sie.« Ich lächelte sanft.

»Frohes … Schaffen.« Er schlug die Tür zu und fuhr scharf an.

Das konnte doch nicht wahr sein! Obwohl mich bisher noch niemand für eine Prostituierte gehalten hatte, war er offenbar dieser Ansicht gewesen. Das kam alles vom »Parandscha« … Und natürlich von meinem Bezirk.

Dafür hatte ich die heute Morgen vergeudete Kraft mehr als erneuert. Ein herausragender Spender, dieser Fahrer, dieser kluge, intelligente und starke Mann. Besser bekam ich das nur … nur mit Hilfe des Kraftprismas hin.

Bei der Erinnerung daran erzitterte ich.

Wie dumm … wie unglaublich dumm damals alles gelaufen war.

Mein ganzes Leben war den Bach runtergegangen. Alles hatte ich verloren – in einem einzigen kurzen Moment.

›Du gierige Idiotin!‹

Nur gut, dass kein Mensch jetzt den tatsächlichen Ausdruck auf meinem Gesicht sehen konnte. Es sah bestimmt genauso dämlich aus wie das meines jungen Nachbarn.

Gut, geschehen ist geschehen. Die Vergangenheit kehrt nicht wieder. Weder meine berufliche Stellung noch … noch Sebulons Zuneigung. Natürlich war ich selbst schuld an allem. Und hätte eigentlich froh sein sollen, dass Sebulon mich nicht den Lichten ausgeliefert hatte.

Er liebte mich. Und ich liebte ihn – es wäre geradezu komisch, wenn sich eine junge, unerfahrene Hexe nicht in den Chef der Tagwache verlieben würde, sofern dieser sie plötzlich mit einem geneigten Blick bedachte …

Ich ballte die Fäuste so fest zusammen, dass sich die Nägel in die Haut bohrten. Ich hatte den Boden unter den Füßen zurückgewonnen. Hatte den letzten Sommer überlebt. Allein das Dunkel weiß, wie, aber ich hatte ihn überlebt.

Und nun wollte ich nicht mehr an die Vergangenheit denken, sondern mir den Rotz abwischen und damit aufhören, nach Sebulons Aufmerksamkeit zu jiepern. Seit dem Hurrikan im letzten Jahr, der am Tag meiner beschämenden Gefangennahme ausgebrochen war, hatte er nie wieder mit mir gesprochen. Und würde auch die nächsten hundert Jahre nicht mit mir reden, davon war ich überzeugt.

Hinter mir surrten plötzlich Reifen, als ein langsam am Straßenrand entlangfahrendes Auto stehen blieb. Ein guter Wagen, ein Volvo, der ganz bestimmt nicht vom Schrottplatz stammte. Eine kahl geschorene, selbstgefällige Fresse lehnte sich heraus. Sah mich an, ging in einem zufriedenen Lächeln auf. »Wie viel?«, presste der Typ hervor.

Ich erstarrte.

»Für zwei Stunden – wie viel?«, präzisierte der glatzköpfige Idiot.

Ich sah mir die Nummer an. Keine Moskauer. Natürlich nicht.

»Die Prostituierten stehen weiter unten, du Schwachkopf«, sagte ich mit zärtlichster Stimme. »Verpiss dich!«

»Tu doch nicht so, als ob du nie die Beine breit machst«, zischte der enttäuschte Schwachkopf, der trotz allem versuchte, sein Gesicht zu wahren. »Guck doch mal, ich habe heute die Spendierhosen an.«

»Halt dein Geld zusammen«, riet ich ihm und schnippte mit den Fingern. »Du brauchst es noch, du musst nämlich deine Karre flottmachen.«

Ich drehte ihm den Rücken zu und ging gemächlich auf das Gebäude zu. Meine Handfläche schmerzte leicht vom Rückstoß. Der »Gremlin« ist ein einfacher Fluch, doch ich wirke ihn nur selten. Unter der Motorhaube des neuen Volvo krabbelte jetzt ein körperloses Wesen herum, genauer gesagt kein Wesen, sondern ein Energieklumpen, voller Leidenschaft, jedwede Technik zu zerstören.

Wenn alles perfekt klappte, bedeutete dies das Ende des Motors. Wenn nicht, würden immerhin die ach so feine Elektrik, der Vergaser, die Ventilatoren sowie verschiedene Zahnräder und Riemen ihren Geist aufgeben, mit denen das Innere des Autos voll gestopft war. Ich hatte mich nie dafür interessiert, was alles in einem Auto steckte, sondern kannte nur den groben Aufbau. Doch die Wirkung des ›Gremlins‹ kann ich mir bestens vorstellen.

Der enttäuschte Typ fuhr, ohne sich lang mit Geschimpfe aufzuhalten, bereits weiter. Ob er sich wohl an meine Worte erinnern würde, wenn seine Karre langsam verreckte? Sicherlich. Dann würde er »Verdammte Hexe!« schreien.

Ohne zu wissen, wie richtig er damit lag.

Der Gedanke daran erheiterte mich zwar, aber trotzdem war der Tag hin. Unwiderruflich.

Fünf Minuten zu spät zur Arbeit, dazu noch der Streit mit meiner Mutter und dieser Schwachkopf im Volvo …

Mit diesen Gedanken ging ich an den funkelnden, prächtigen Schaufenstern eines Geschäfts vorbei, hob meinen Schatten vom Boden – was ein Reflex war, ich dachte nicht einmal darüber nach – und betrat das Gebäude durch eine Tür, die normale Menschen nicht sehen können.

Das Hauptquartier der Lichten liegt in der Nähe der Metrostation Sokol und ist als normales Büro getarnt. Wir haben uns eine weit renommiertere Adresse gesucht und uns auch eine originellere Tarnung einfallen lassen. In dem Gebäude gibt es sieben Etagen mit Wohnungen und im Parterre die selbst für Moskauer Verhältnisse prächtigen Geschäfte – plus drei weitere Stockwerke, von denen niemand etwas ahnt. Das Haus wurde von vornherein als Residenz der Tagwache erbaut, und die die eigentliche Fassade des Hauses verbergenden Zauber sind in die Ziegel und Steine der Mauern gelegt worden. Die Bewohner des Hauses – in der Regel ganz gewöhnliche Menschen – verspüren vermutlich ein seltsames Gefühl, wenn sie mit dem Fahrstuhl nach oben fahren. Als ob es vom Parterre zum ersten Stock zu lange dauerte …

Und tatsächlich braucht der Fahrstuhl länger als normalerweise. Denn der erste Stock ist in Wirklichkeit der zweite, der eigentliche zweite unsichtbar, dort befinden sich die Räume der Wachhabenden, das Waffenlager und der technische Dienst. Zwei weitere Stockwerke von uns krönen das Gebäude, und auch von ihnen weiß kein Mensch etwas. Ein Anderer dagegen, der über ausreichend Kraft verfügt, kann durchs Zwielicht blicken und den strengen schwarzen Granit der Mauern und die Bögen der Fenster sehen, vor die fast immer schwere dichte Gardinen gezogen sind. Vor etwa zehn Jahren hat man im Haus eine Klimaanlage eingebaut, sodass im schwarzen Stein jetzt

Titel der russischen Originalausgabe

ДHeBHой ДозоР

Deutsche Übersetzung von Christiane Pöhlmann

In »Wächter des Tages« werden Auszüge aus Liedern von Wladimir Wyssozki, Juli Burkin, Kipelow sowie der Gruppen Arija, Woskressenje und Nautilus Pompilius verwendet. Die Nachdichtungen dazu besorgten Christiane Pöhlmann und Erik Simon.

Redaktion: Erik Simon

Lektorat: Sascha Mamczak

Deutsche Erstausgabe 4/06

Copyright © 1998 by Sergej W.Lukianenko & Wladimir N. Wassiljew Copyright © 2006 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbHhttp://www.heyne.de

Satz: C.Schaber Datentechnik, Wels

eISBN 978-3-641-06580-5

www.randomhouse.de

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