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"Was fehlt Ihnen?" bleibt auch im Zeitalter von Gesundheits-Apps die zentrale Frage im medizinischen Behandlungsalltag. Sie bestimmt nicht nur jede therapeutische Beziehung, sondern sie bezieht sich auf das, was kranke Menschen, aber auch engagierte medizinische Helfer in diesem Behandlungsalltag vermissen. Was soll sich ändern? Es erscheint paradox: Noch nie war das deutsche Gesundheitswesen so leistungsfähig und noch nie war die Kritik an der erlebten medizinischen Praxis so groß. Für eine ärztliche Diagnose ist es unerlässlich, die jetzigen Beschwerden und deren Vorgeschichte zu erfragen. Analog erklärt dieses Buch die komplexen gegenwärtigen Strukturen des Gesundheitswesens und seine Defizite vor seinem geschichtlichen Hintergrund mit all seinen Brüchen und Umbrüchen. Das Buch beginnt somit mit einem Rückblick auf 1400 Jahre europäische Medizingeschichte, der die komplexen Strukturen unseres heutigen Gesundheitswesens und auch aktuelle kontroverse gesundheitspolitische Positionen verstehen lässt. Breiter ausgeführt wird dabei, wie eine nicht mehr am Wohl des einzelnen Menschen ausgerichtete Medizinethik zu einer mörderischen Medizin führen konnte und kann. Weitere Themen sind die Regulation des Arzneimittelmarktes, Lobbyismus in der Medizin und ein ökonomischer Paradigmenwechsel, der das Gesundheitswesen mit Falschmeldungen einer "Kostenexplosion" in eine nicht mehr primär am Patientenwohl ausgerichtete Gesundheitswirtschaft transformiert hat. Das Buch bleibt nicht bei einer Analyse stecken. Entgegengestellt werden Ergebnisse der Placebo- und Kommunikationsforschung sowie moderne Konzepte von Salutogenese und Ganzheitlichkeit, die sich von inflationären Ganzheitlichkeitsfloskeln unterscheiden. Mit diesen Erkenntnissen fordert der Autor, aufbauend auf seiner jahrzehntelangen ärztlichen Praxis, eine mitmenschliche Medizin ein. Es geht um eine selbstkritische, wissenschaftlich orientierte Medizin für einen Behandlungsalltag, in dem kranke Menschen kompetente Hilfe und Wertschätzung erfahren und in dem gleichzeitig engagierte Krankenschwestern und Krankenpfleger, Ärztinnen und Ärzte, Psychologinnen und Psychologen und andere medizinische Helfer für ihre Tätigkeit brennen können, ohne auszubrennen.
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Seitenzahl: 534
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Für meine Enkelkinder
Luca und Vincent,
denen ich eine gesunde Zukunft und einfühlsame Begegnungen
in einer mitmenschlichen Medizin wünsche
Einleitung
„Size matters“ - was uns Städtereisen über den Stellenwert von Medizin lehren
Hast du mal ´nen Euro? - Armut als Krankheits- und Todesursache Nummer eins
Vom Hotel-Dieu zu Bettenhotels - 1400 Jahre westliche Medizingeschichte
Mörderische Medizinethik – Humanmedizin ohne Menschlichkeit
Als ob nichts gewesen wäre
Moderne Medizin: von der Behandlung zur Gesundheitsleistung
Aufstand gegen die „Kolonialisierung des Körpers“ in der Medizin der Moderne
Die Wiederentdeckung des Herzens
Neoliberalismus – was als soziale Marktwirtschaft begonnen hat macht „sozial“ zum Schimpfwort
Der Markt kennt keine Indikationsqualität
Als das deutsche Gesundheitswesen zur Gesundheitswirtschaft wurde
Nicht das Menschenbild, das Maschinenbild hat sich geändert
Eine veränderte Bedeutung von Autonomie und Individuum
Digitale Revolution – der Mensch ist nicht mehr Maschine, sondern Programm
Pharma-Branche: Kranke zwischen Hoffnung auf neue Medikamente und Misstrauen
Lobbyismus in der Medizin und Wissenschaft
Krankenversicherung – ein deutsches Erfolgsmodell
Ärztliches Handeln zeigt viele Gesichter - aber auch hässliche Fratzen
Engagierte Ärztinnen und Ärzte gibt es ganz real - auch außerhalb der Fernsehserien
Ganzheitliche Medizin – zwischen Patientenorientiertheit, Esoterik und Marketing
Konzepte von Ganzheit – jenseits von völkischen Spuren und Werbesprüchen
Kommunikative Kompetenz: Zuhören und Wahrnehmen, Worte und Gesten
Ohne Beziehung wird es nicht gut - Für eine Beziehungsmedizin der Lebendigkeit
Krankheitsbilder halten sich nicht an die Trennung körperlich oder psychisch
Vom psycho-physiologischen Dualismus zu psychosomatischer und integrierter Medizin
„Nach dem langen Studium ist man einfach zu wenig Arzt“
Eine moderne Heilkunde muss wissenschaftlich fundiert sein
Was hält eigentlich gesund – Salutogenese
Patientenorientiertheit ist auch eine Frage der Wirtschaftsethik
Das Wohin der Medizin von ihrem Ziel her gedacht
Nachschau und Ausblick
Dank
Zur Person
„Wir verstehen unter Humanmedizin die Summe der Regeln, Programme oder Rezepte, die Menschen die Möglichkeit eröffnen, anderen Menschen zu helfen, ihre Gesundheit wiederzugewinnen und zu erhalten.“
Prof. Thure von Uexküll, Prof. Wolfgang Wesiak 1
Vor 40 Jahren stand ich am Klinikbett eines Allgäuer Kreiskrankenhauses. Ich war jetzt nicht mehr beobachtend lernender Student, sondern als Assistenzarzt erstmals direkt verantwortlich für die Behandlung. Einige Eindrücke dieser ersten Tage sind mir noch immer gestochen scharf im Gedächtnis: Meine erste Visite mit unverdienter Dankbarkeit von wortkargen Bergbauern, eine kluge Stationsärztin, die mir ermutigend zur Seite stand, eine verbitterte Stationsschwester, die mir ein Gespräch mit ihren untergebenen Schwestern unterband, der Name und das Gesicht der greisen Frau, zu der ich am zweiten Arbeitstag zur Leichenschau gerufen wurde und für die ich meinen ersten Totenschein ausfüllte. Diese medizinische Welt war eine ganz andere als die, die ich in der hinteren Reihe der Visitenprozessionen in Universitätskliniken und in den Hörsälen gelernt und kennengelernt hatte. Später war ich dann in einem großen Klinikum der Maximalversorgungstufe fast ein Viertel Jahrhundert selbst in der Rolle, Studentinnen und Studenten am Krankenbett zu unterrichten und Ärztinnen und Ärzten, die eben ihr Staatsexamen in der Tasche hatten, das Hineinwachsen in den Arztberuf zu erleichtern. Ich hatte das Glück in einer Klinik zu arbeiten, in der bei hohem Anspruch an die medizinische Behandlungsqualität eine kritisch reflektierte, motivierende und gegenseitig wertschätzende Kommunikationskultur gepflegt wurde. Diese hat trotz der auslaugenden Arbeitstage und -nächte mit Schwer- und Schwerstkranken eine Zufriedenheit hinterlassen.
Nun habe ich eine von mir aufgebaute internistische Schwerpunktpraxis für Krebskranke nach vielen Jahren an einen Kollegen übergeben. Im Rückblick bleibe ich jetzt mit Erinnerungen hängen, einerseits an berührende Begegnungen, andererseits aber an vielen strukturellen Unzulänglichkeiten, Reibungsverlusten und Ärgernissen in den Jahrzehnten meiner ärztlichen Tätigkeit in allen Sektoren und Ebenen des Gesundheitswesens: stationär in Kliniken der Regel- und Maximalversorgung, ambulant in Polikliniken und eigener Praxis, fachgebietsübergreifend als angestellter und selbstständiger Arzt sowie als wissenschaftlicher Forscher.
Viele sehen das Gesundheitswesen nicht nur in Deutschland an einem Scheideweg angelangt 2. Ich bin somit vermessen genug, mich mit meiner Erfahrung an ein Buch zu wagen, das Gegebenheiten der gegenwärtigen Medizin beschreibt und analysiert. Das Buch möchte jedoch die Menge der Bücher, die - grob holzschnittartig oder mit sehr detaillierten Fakten - die gegenwärtige Medizin kritisieren, nicht lediglich um einen Band erweitern. Vielmehr orientiere ich mich nach 40 Jahren eher an einer langen Paarbeziehung, in der frühere sowie gegenwärtige Probleme und Ärgernisse ungeschönt benannt werden und trotzdem eine zukunftsgewandte Liebeserklärung durchklingt. Es gilt das Woher und das Jetzt der Medizin zu verstehen, um das Wohin zu gestalten. Das Buch möchte Menschen jeglichen Hintergrunds zusammenbringen, die sich Gedanken über das Gesundheitssystem machen und sich mit einer unbefriedigend erlebten medizinischen Praxis nicht abfinden wollen. Es versteht sich somit nicht primär als medizinisches Fachbuch, will aber natürlich engagierte Ärztinnen und Ärzte, Psychologinnen, Krankenschwestern und Krankenpfleger ermutigen, eine patientenorientierte medizinische Praxis zu gestalten, in der sie brennen, statt ausbrennen.
Ich beginne das Buch mit Stadtrundgängen. Stadtrundgänge sind Ausflüge in die Geschichte und den Zeitgeist. Sie führen allein durch den Blick auf die höchsten Bauwerke unmittelbar vor Augen, was in einer Gesellschaft „überragende“ Bedeutung hat und wie sich diese im Zeitverlauf verändert. Unübersehbar in der Stadtsihlouette ist dabei ein sich wandelnder Stellenwert von Religion, Medizin und Wirtschaft. Ein Stadtrundgang zeigt auch auf, dass von der Zeit überlebte architektonische Elemente selten ganz verschwinden, auch wenn sie überragt oder in den Hintergrund gedrängt werden. Der Zeitgeist greift nicht selten sogar auf Elemente aus vergangenen Epochen zurück. Das trifft nicht nur in der Architektur, sondern auch auf medizinische Konzepte und Positionen zu. Die Medizin der Moderne und Postmoderne ist kein in einem einheitlichen Baustil errichtetes Haus. Vielmehr gleicht sie einem Gebäude mit moderner Fassade, dessen repräsentative Obergeschosse auf einem historischen Gewölbe ruhen. Da gibt es aber noch Seiteneingänge in Anbauten aus verschiedenen Epochen, deren Türmchen und Erker einer - aus der Sicht von Planern halbherzigen, in der Meinung mancher Bewohner dagegen unpersönlich sterilen - Sanierung getrotzt haben.
Stadtrundgänge konfrontieren unausweichlich auch mit Armut. Diese ist weltweit Krankheits- und Todesursache Nummer eins, so dass das Thema Armut auch an vorderer Stelle in meinen Überlegungen platziert ist. Zudem waren in der Medizingeschichte über lange Zeiträume die mitmenschlichen Einrichtungen für Kranke nicht von denen für Arme getrennt.
Zum besseren Verständnis der heutigen Strukturen des Gesundheitswesens umreiße ich seine - parallel zu gesellschaftlichen Veränderungen und Brüchen - diskontinuierliche Entwicklung von den Mönchsärzten des Pariser HȐtel Dieu zu den Weißkitteln der Berliner Charité-Universitätsmedizin. Dabei überrascht, wie historisch konkurrierende Einstellungen immer wieder mit neuem Gewand und verändertem Namen bis in die Gegenwart wirksam werden. Deutlich wird, wie nicht zuletzt eine ökonomische Wertorientierung zu Kategorien von „unwertem Leben“ und einer „Medizin ohne Menschlichkeit“ geführt hat. Letztere thematisiere ich ausführlich, da sie oft ethisch verbrämt und in ihrem Ausmaß und ihrer personellen Kontinuität nahezu bis in die Gegenwart tabuisiert worden ist und in diese hineinwirkt.
Die noch viel stärkere Ökonomisierung und Kommerzialisierung des Gesundheitswesens der letzten Jahrzehnte bliebe ohne ein Kapitel zu Details der Wirtschaftsgeschichte unverständlich. Dabei zeige ich auf, wie sich das Gesundheitswesen in eine Gesundheitswirtschaft gewandelt hat. Wem gehört eigentlich dieses große, verschachtelte Medizingebäude? Vorgestellt werden die mächtigen Akteure und wichtige Marktgebaren: Pharmaunternehmen und die Regulierung des Arzneimittelmarktes, das System der deutschen Krankenversicherung, private und öffentliche Krankenhausträger sowie Investment-Käufer von Gesundheitseinrichtungen. Nicht fehlen darf die Rolle der Gesundheitspolitik und von Lobbyismus auf unterschiedlichen Ebenen.
Wenn Stadtrundgänge faszinieren sollen, müssen sie selektiv sein. Es werden danach immer einige ausgewiesene oder selbsternannte Stadtkenner anmerken, dass diese oder jene Sehenswürdigkeit doch unbedingt zum minimalen Pflichtprogramm gehört hätte. Diese Kritik kann auch meinen Rundgang durch die Zeiten und den Zeitgeist der Medizin treffen. Aber auch im ärztlichen Behandlungsalltag werden jetzige Beschwerden und Vorgeschichten stets nur selektiv erfasst. Für die adäquate Behandlung eines Beinbruchs muss der Arzt nicht alle Kinderkrankheiten erfragen. Genauso wie sich eine ärztliche Anamnese von einer Biografie unterscheidet, so haben die medizin- und wirtschaftsgeschichtlichen Vignetten dieses Buches keinen Vollständigkeitsanspruch. Sie dienen dazu, die jetzige Medizin besser zu verstehen.
Interessante Stadtrundgänge machen nicht nur Halt an großartigen Bauwerken, sondern auch an eher unauffälligen Orten, an denen wir zeitversetzt Menschen begegnen: hier hat Johann Sebastian Bach komponiert, da hat Wilhelm Röntgen gewohnt, dort ist Bert Brecht begraben. Kurze Anekdoten holen wenig bekannte Facetten der historischen Persönlichkeiten in die Gegenwart. Ähnlich bleibe ich im Buch gelegentlich erinnernd stehen, wenn ich auf Personen treffe, denen ich real oder zeitversetzt an Orten begegnet bin.
Unterschiedliche Standpunkte bedingen bei Stadtrundgängen verschiedene Blickwinkel und Eindrücke. Ein Stadtrundgang ist immer auch ein Diskussionsforum, in dem kontroverse Meinungen aufeinanderprallen. Manche gepriesene avantgardistische Architektur stößt auf Unverständnis, Ironie oder Spott. Beispielsweise kommentierte Prinz Charles bitter, man müsse in der modernen Londoner Architektur wegkommen von den „aufgeblasenen phallischen Strukturen und den deprimierend vorhersagbaren Antennen“, die eher das Ego der Architekten abbilden würden 3. Seine wiederholte Einmischung in die stadtplanerischen Diskussionen traf sowohl auf Kritik als auch auf Zustimmung 4. Ähnlich hoffe ich, dass meine Standpunkte eine grundsätzlichere Diskussion über unser Gesundheitswesen befördern, auch wenn manche nicht geteilt werden.
Das Hauptanliegen des Buches ist, nach einer Analyse des „Woher“ und „Jetzt“ unseres Gesundheitswesens sein „Wohin“ zu reflektieren. Ohne Rückschau bliebe eine Diskussion in gutgemeinten „Ergänzungen“ oder „ganzheitlichen Alternativen“ zur „Schulmedizin“ stecken, ohne zu realisieren wie sehr diese Begrifflichkeiten selbst historisch belastet und damit ein Teil des Problems sind. Deshalb setzt sich ein Kapitel des Buches mit den geschichtlichen und heutigen Facetten der Begriffe „Naturheilkunde“, „Schulmedizin“ und „ganzheitlich“ auseinander.
Das Buch ist kein Blick zurück im Zorn, vielmehr „ein Blick zurück und nach vorn“. „Was fehlt Ihnen?“ bleibt auch im Zeitalter von Gesundheits-Apps die zentrale Frage im medizinischen Behandlungsalltag. Sie bestimmt zum einem kommunikativ jede therapeutische Beziehung. Zum anderen bezieht sie sich auf die Defizite, die Sie als kranker Mensch oder Sie als im Gesundheitswesen Tätige in diesem Behandlungsalltag erleben: Was fehlt Ihnen in diesem Gesundheitssystem? Was soll und muss sich ändern? Nirgends sonst gibt es wohl mehr idealistisch und altruistisch motivierte Menschen als in Heilberufen. Mit ihnen und gemeinsam mit den Menschen, die auf ihre Hilfe vertrauen, wird es gelingen, eine moderne wissenschaftlich orientierte Heilkunst, die die Lebendigkeit des Menschen in Gesundheit und Krankheit in den Mittelpunkt stellt, human zu verorten.
Aber ist Humanmedizin selbstredend human? Human – menschlich – wird in zwei unterschiedlichen Bedeutungen verwendet. Einerseits meint es die landauf landab zitierten humanistischen Alleinstellungsmerkmale, wie sie Goethe aufgestellt hat: Edel sei der Mensch, hilfreich und gut; denn das allein unterscheidet ihn von allen Wesen, die wir kennen! 5 Andererseits ist human aber ein allgemeines, menschlichen Sein und Verhalten zugeordnetes Attribut: angefangen vom menschlichen Organismus, den wir untersuchen, bis zu menschlichen Abgründen, in die wir schauen. Menschliche Taten sind somit nicht selten „unmenschlich“. Die inhumanen Kapitel der Humanmedizin werden uns in diesem Buch wiederholt begegnen. Humanitäre Qualitäten zeigen sich allein in Beziehung, also in Mit-Menschlichkeit. Deshalb plädiere ich in und mit diesem Buch für eine mitmenschliche Medizin.
1 Th. von Uexküll, W. Wesiak. Theorie der Humanmedizin. Urban & Schwarzen. München 1991
2 Rider EA, Gilligan MAC, Osterberg LG et al. Healthcare at the Crossroads: The Need to Shape an Organizational Culture of Humanistic Teaching and Practice. J Gen Intern Med. 2018:1-8.
3 Baunetz. 21.12.2001. Alte Wunden. Prinz Charles äußert sich zur Architektur. www.baunetz.de
4 Charles kritisiert moderne Architektur – gut so! www. welt.de vom 22.04.2009, abgerufen am 20.1.2019
5 Johann Wolfgang von Goethe: Das Göttliche. 1783
„Fast die ganze Welt hat sich freiwillig der Diktatur der Marktwirtschaft unterworfen. Deshalb ist es illusorisch anzunehmen, Stadtplaner könnten das Erscheinungsbild einer Stadt wie früher mit Regeln und Vorgaben beeinflussen. Der Kapitalismus hat diese Damen und Herren entmachtet und zur Bedeutungslosigkeit verdammt.“
Rem Koolhaas, Stararchitekt, 2018 6
2009 gab es in der Schweiz drei Minarette, und nach langem Streit kam damals ein viertes hinzu: sechs Meter hoch auf dem Haus eines türkischen Kulturvereins in dem Gewerbegebiet des Ortes Walten. Im gleichen Jahr setzten Initiativen, die das Erscheinungsbild der Schweiz gefährdet sahen, in einer Volksabstimmung durch, dass ein Bauverbot für Minarette in einen Artikel der eidgenössischen Bundesverfassung eingefügt wird. Auf deutschem Boden wurde übrigens ein erster Gebetsraum für Muslime bereits 1739 vom „Soldatenkönig“, Friedrich Wilhelm I, in Potsdam für seine muslimischen „Langen Kerle“ eingerichtet. Knapp 300 Jahre später schlugen in Deutschland antiislamische Protestwogen hoch, zum Beispiel in Köln gegen den Bau einer Moschee mit zwei 55 Meter hohen Minaretten. Der Kölner Dom ragt 157 Meter in den Himmel. Mit seiner Aussage: „Es traut sich ja kaum mehr jemand zu sagen, dass Minarette hierzulande nicht höher sein dürfen als Kirchtürme", reihten sich auch prominente konservative Politiker in die Stimmungsmache ein. Architektur baut also nie nur ästhetische Aussagen, sondern sie zementiert auch mit „herausragenden“ Bauwerken gesellschaftliche Wertehierarchien. Das regt an, bei Stadtrundgängen die zeitgeschichtliche Konkurrenz und Ablösung hoher Bauten zu reflektieren. Unmittelbar vor Augen geführt werden dabei Veränderungen im gesellschaftlichen Stellenwert von Medizin.
Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts waren die höchsten Gebäude überall in Europa Sakralbauten, meist christliche Gotteshäuser, aber auch große Moscheen, wie die altehrwürdige Begova Moschee in Sarajevo mit seinem 47 m hohem Minarett.
In der Schweiz löste erst 1893 der 100 Meter hohe Turm des Berner Münsters die jahrhundertlange Spitzenstellung des 67 Meter hohen Basler Münsters und des fast gleich hohen Großmünsters zu Zürich ab. In Zürich ist dann 1970 das 70 Meter hohe Bettenhochhaus des Triemli Hospitals über die höchsten Kirchtürme der Stadt hinausgewachsen. Eine neue Ära hatte begonnen. Kliniktürme konkurrierten jetzt auch anderswo mit Kirchtürmen oder ließen sie sogar weit unter sich: 1971 wuchs das Bettenhaus der Kölner Universitätsklinik auf 89 Meter. Beim Blick von der Zugspitze versteckte sich in der Ferne die 98 Meter hohe Münchner Frauenkirche neben der gleißenden Aluminiumfassade des 205 Meter langen und 60 Meter hohen Bettenhauses des Universitäts klinikums Großhadern. Fast klein und schon auf den ersten Blick einer anderen Zeit zugehörig wirkte plötzlich auch der 31 Meter hohe Aachener Dom gegenüber der 1985 eingeweihten 54 Meter hohen „modernen Kathedrale“ des Aachener Universitätsklinikums mit seinen 24 Treppenhaustürmen. Und die Weltkulturerbestadt Bamberg grüßt zwar nach wie vor von weitem mit den vier bis 76 Meter hohen Türmen des 1000-jährigen Kaiserdoms. Von Süden imponiert jedoch auf gleicher Höhe - seit 1984 vorgelagert als säkulares Gegengewicht der Neuzeit - die trutzige Turmsilhouette des neuen Bamberger Klinikums.
In London zeigt die Architektur den gesellschaftlichen Aufstieg der Medizin im letzten Drittel des 20 Jahrhunderts und ihre jetzt „überragende“ Bedeutung noch eindrucksvoller. Dort hatte als höchstes Gebäude bis 1967 über Jahrhunderte die 111 Meter hohe Saint Pauls Cathedral die Silhouette an der Themse dominiert. Bei meinem ersten Besuch in London 1974 war dann eben wenige hundert Meter weiter auf der anderen Flussseite der Guy´s Tower mit seiner brutalistischen Architektur und seinen 148 Metern Höhe zum weltweit höchsten Krankenhausbau und zum höchsten Gebäude Londons in den meist bedeckten Himmel gewachsen.
Genauso wie sich im angloamerikanischen Sprachraum Hospital zu Medical Center gewandelt hat, ist auch im deutschen Sprachraum der Begriff Krankenhaus altmodisch geworden. Seit 1969 änderten in Deutschland alle größeren Krankenhäuser ihren Namen in Klinikum oder Kliniken um. Sie verkörpern in ihrer monumentalen Architektur eine technische Faszination und einem neuen säkularen, aber trotzdem nach dem Himmel greifenden und die Schwerkraft überwindenden Fortschrittsglauben.
1969 setzte der erste Mensch seinen Fuß auf den Mond und Millionen Menschen nahmen daran vor den Fernsehern teil. Der neue gesellschaftliche Anspruch von technologischer Machbarkeit auch von Gesundheit, Leben und Überleben hatte sich schon vorher in nichts so paradigmatisch verkörpert wie in der ersten Herztransplantation im Dezember 1967 in Kapstadt. Der Patient überlebte nur 18 Tage, doch Kliniken weltweit griffen diese prestigeträchtige Operation innerhalb von Tagen und Monaten auf, so dass nach zwei Jahren schon etwa 100 Patienten eine Herztransplantation erhalten hatten. Wie sehr die Herzchirurgie innerhalb weniger Jahre zum Inbegriff kurativer Verheißung der modernen Medizin aufgestiegen war, lernte ich eindrücklich Mitte der 70er Jahre während eines mehrmonatigen Aufenthalts als Medizinstudent an einem großen Krankenhaut in Kairo. Im starken Kontrast zu den brennenden gesundheitlichen Problemen des Landes war bei einer Vielzahl meinen ägyptischen Mitstudenten der für sie ganz oben stehende Wunschtraum, Herzchirurg zu werden!
Städtebaulich sind somit im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts die genauso himmelstürmende Tempel der modernen Medizin an die Stelle christlicher Kathedralen getreten. Gesellschaftlich waren die Verheißungen einer religiösen Heilskultur durch die Versprechungen einer modernen Heilkunde in den Hintergrund gedrängt oder sogar abgelöst worden. Im naturwissenschaftlich technischen Weltbild der Zeit konkurrierte nun Gott als „höchste Instanz“ mit Gesundheit als „höchstem Gut“ und „(Halb)Göttern in Weiß“.
Die modernen Großkliniken stellten mit ihrer architektonischen Dominanz die ehrwürdigen Kathedralen jedoch nur sehr kurze Zeit in ihren Schatten. Bereits 1973 war das Kölner Colonia-Haus – heute firmiert dort die Axa-Versicherung – mit 147 Metern kurzfristig zum höchsten Gebäude Europas in den Himmel gewachsen. Seitdem dominiert die Finanzwelt überall die städtischen Skylines: In Aachen überragt das 72 Meter hohe Iduna-Hochhaus das Klinikum deutlich, den Dom sogar um mehr als das Doppelte. In der Schweiz hatte mit 126 Metern der Hochhausturm der Immobiliengesellschaft Swiss Prime Site in Zürich den Klinikturm und die Kathedralen weit unter sich gelassen und neue Maßstäbe gesetzt, bis ihn 2015 der Turm des Pharmariesen Roche in Basel um gleich 52 Meter überflügelte. Selbst im traditionsgemütlichen München legten 1981 der 113 Meter hohe Turm der Hypo-Bank, und dann 2004 das 146 Meter hohe Uptown Hochhaus, das sich Immobilieninvestmentgesellschaften teilen, die urbane Rangordnung neu fest. Seit 2015 haben auch die beiden Türme der neuen Europäischen Zentralbank mit ihrer Höhe von 185 und 165 Metern das höchste europäische Klinikgebäude und auch die höchsten europäischen Sakralbauten - das Ulmer Münster (161 Meter) und den Kölner Dom (157 Meter) - deutlich überflügelt.
Diese Hochhäuser wirken jedoch fast verloren im Vergleich zu Wolkenkratzern in Wien mit seinem 220 Meter hohen DC Tower und seiner Vielzahl anderer fertiggestellter und geplanter Wolkenkratzer an der Donau, die eher der Skyline Londons nachzueifern scheinen. Nicht von ungefähr hat die Strömung des ökonomischen Libertarismus, der ausgehend von London und Chicago in den letzten Jahrzehnten weltweit nicht nur Stadtbilder, sondern auch Gesellschaften verändert hat, wichtige Wurzeln in der Donaumetropole.
Architektonisch hat in London 1980 die National Westminster Bank mit einem 183 Meter hohen Wolkenkratzer im Londoner Zentrum den Beginn der neuen, deregulierten Wirtschaftspolitik von Margaret Thatcher markiert. Als ich 2018 London zuletzt besuchte, waren dort inzwischen nicht weniger als zwei Dutzend Wolkenkratzer von über 150 Meter Höhe in den Himmel zementiert. Ein weiteres Dutzend von Hochhäusern der gleichen Größenordnung war im Bau. Alle gehören dem Finanzsektor und überragen den Guy´s Klinikturm – manche mehr als das Doppelte. Die Saint Paul´s Cathedral wirkt neben ihnen wie eine unscheinbare Miniatur, wenn man vom Parliament Hill des Hampstead-Heath-Parks nach Süden auf die Skyline der Stadt blickt.
Ausblick vom Parliament Hill (Dezember 2018). Im Zentrum The Shard (310 m), an dessen linken Fuß die St. Pauls Cathedral (111 m) und rechts daneben der Guy´s Tower (148 m )
Die nationale Empörung in der Schweiz über ein 6 m hohes Minarett und ähnliche Proteste in anderen Ländern kontrastieren erstaunlich mit der breiten gesellschaftlichen Akzeptanz von in ihrer Höhe fast unbegrenzt konkurrierenden Phallustürmen der ökonomischen Potenz. Während in der Sexualmedizin die Frage: „Does size matter?“ - ob die Orgasmus Qualität von der Größe des männlichen Glieds abhänge – weitgehend verneint wird, steigert sich offensichtlich die ökonomische Euphorie mit der Höhe der Bauwerke. Diese haben innerhalb einer Generation die altehrwürdigen sakralen Finger zum Himmel klein werden lassen. Hat die lange jüdisch-christliche Tradition immer warnend an das Götzenbild eines Goldenen Kalbes erinnert, so huldigt die Finanzwelt jetzt Abbildern von Bullen vor ihren Börsen und Finanztürmen. Die Ökonomie ist eine neue Religion geworden, und erklärt nun den Kunden zu Gott. „Der Kunde ist nicht König, er ist Gott“ predigen Managementtrainer7. Das gleiche Bekenntnis schrien grellrote Werbetafel mit großen schwarzen Lettern in München 2018 in die vorbeifahrende S-Bahnen und huldigten damit die Wachstumsraten des Online-Handels. Eine grundsätzliche Kritik an der Steigerungsdynamik des Marktes ist heute eine ungeheuerlichere Blasphemie, als vor 300 Jahren die Dreifaltigkeit Gottes in Frage zu stellen.
Jede metropole Skyline zeigt in ihrem Wandel unmissverständlich auf, wie sich gesellschaftliche Werte verschoben haben. Die monumentalen Klinikfabriken, die im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts in westlichen Ländern entstanden sind, spiegeln eine Auffassung von Krankheit als technisches Problem mit prinzipiell wiederherstellbarer Gesundheit wider. Obwohl wissenschaftliche Erkenntnisse sich noch nie so schnell vermehrt haben und in die Behandlungspraxis eingegangen sind, wird heute inzwischen jedoch die gesellschaftliche Diskussion eher von Ernüchterung, Ängsten und vor allem - marktgemäß - Kostenrechnungen beherrscht. Finanzexperten mit ihren Konzepten der Kostenkontrolle und Gewinnentwicklung haben die ärztlichen Experten der Krankheitskontrolle in die zweite Reihe gedrängt. Die kürzliche Entscheidung Münchens, das oben erwähnte, dort respektlos „Toaster“ genannte, riesige Großhadener Bettenhochhaus abzureißen, erscheint fast metaphorisch für den im Vergleich zur Finanzwirtschaft bröckelnden gesellschaftlichen Stellenwert der Medizin.
6 Sven Michaelsen. Der Architekt Rem Koolhaas erklärt, warum er nicht in einem Gebäude von Rem Koolhaas wohnen möchte (Interview). SZ-Magazin 18.5.2018. S.14.
7https://www.augsburger-allgemeine.de/augsburg/Der-Kunde-ist-nicht-Koenig-er-ist-Gott-id4111611.html
„Die Behauptung, es gibt kein Geld, um das Elend zu beseitigen, ist eine Lüge. Wir haben auf der Erde Geld wie Dreck. Es haben nur die falschen Leute.“
Heiner Geißler (1930 – 2017), Ex-CDU-Generalsekretär
Großstädte mit ihrer Zurschaustellung von Reichtum in Auslagen, Fassaden und himmelstrebender Architektur konfrontieren in den letzten Jahrzehnten vermehrt auch in Europa mit offensichtlicher Armut: ausgestreckte Hände mit der kumpelhaften Aufforderung „Hast du mal `nen Euro?“, Bettler in Passagen, Obdachlose unter Brücken, Zelte von Niedriglohnarbeitern in Grünanlagen, Rentner, die Abfallkörbe und Wartezonen nach Pfandflaschen absuchen, Flüchtlingskinder in zerschlissenen Kleidern auf Spielplätzen, Menschenschlangen vor Tafeln, die Lebensmittel an Bedürftige abgeben.
Nun ist insgesamt der Reichtum in Deutschland weiter angestiegen, die Schere zwischen Reich und Arm aber größer geworden. In fast keinem Land Europas ist der Reichtum so ungleich verteilt wie in Deutschland. Eine aktuelle Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung zeigt: Allein das reichste Prozent besitzt ein Drittel des gesamten Privatvermögens. 45 Deutsche besitzen allein so viel wie die 41 Millionen Menschen der ärmeren Hälfte der Bevölkerung8. Der Dortmunder Professor für Wirtschaftsphilosophie, Christian Neuhäußer, hat kürzlich eine Form des Reichtums als problematischen Reichtum analysiert. 9 Dieser existiert nicht nur parallel zu Armut, sondern schafft Armut. In einer ökonomisierten Gesellschafft gilt es eben zu unterscheiden zwischen Wohlstand, Reichtum und problematischem Reichtum. Problematischer Reichtum gefährdet oder zerstört Gesundheit und Würde vieler Menschen, genauso aber auch demokratische Strukturen und ein solidarisches Gesundheitswesen. Wohlstand und problematischer Reichtum verhalten sich wie Mobilität und Raserei. Maßnahmen gegen verantwortungslose Raserei beeinträchtigen keine Mobilität.
Um ein „Wohin“ der Medizin zu formulieren, komme ich nicht umhin, mich ansatzweise nicht nur mit Armut, sondern auch mit Reichtum und den für beide entscheidenden wirtschaftlichen Strukturen auseinanderzusetzen. Armut ist nicht einfach ein soziologisches Phänomen, sondern ein Thema ersten Ranges der Medizin. Denn auch wenn sie in Diagnoseschlüsseln und Todesbescheinigungen nicht vorkommt, ist Armut die Krankheits- und die Todesursache Nummer eins weltweit! An Hunger leiden weltweit 11 Prozent der Bevölkerung – etwa 800 Millionen Menschen, 124 Millionen davon sogar an unmittelbar lebensbedrohlichem akutem Hunger 10. An den Folgen von Hunger sterben weltweit jährlich mehr Menschen als an HIV/AIDS, Malaria und Tuberkulose zusammen, mindestens 8,8 Millionen Menschen. Chronischer Hunger führt zu Mangelzuständen, behindert die körperliche und geistige Entwicklung von Kindern und macht anfällig für viele Infektionskrankheiten. Armut geht einher mit fehlendem sauberem Trinkwasser, schlechter Hygiene, fehlenden Toiletten und fehlenden Abwassersystemen. Nach Zahlen der WHO sterben jährlich eine knappe Million Menschen allein an den dadurch bedingten Durchfallerkrankungen 11.
Hunger ist weitgehend menschengemacht. Auf der Welt werden genug Nahrungsmittel produziert, um alle Menschen mehr als ausreichend zu ernähren. Selbst in sogenannten Entwicklungsländern ist die Nahrungsproduktion bis 2008 pro Kopf und Tag auf 2640 kcal angestiegen – weltweit sind es pro Kopf 2790 Kcal. Somit werden mehr Nahrungsmittel produziert, als zum Sattwerden aller Menschen notwendig sind. Dafür genügen für die meisten Menschen rund 1800 bis 2500 Kcal. Hunger basiert also nicht auf einem absoluten Mangel an Lebensmitteln. Hunger entsteht vielmehr durch Armut, durch die sich Menschen die oft regional vorhandenen Nahrungsmittel oder das Saatgut für die nächste Ernte nicht leisten können, oder weil sie über kein Land verfügen, um Nahrungsmittel anzubauen 12, oder aber durch kriegerische Konflikte, die den Anbau verhindern oder zerstören.
Ein Freund berichtete mir von seinem Einsatz als Arzt für eine Hilfsorganisation während einer Hungerkatastrophe in den 1980er Jahren in einem frankophonen zentralafrikanischen Land. Er schilderte, dass es auf dem Markt der Provinzhauptstadt keinen Mangel an Lebensmitteln gab. Eine Missernte hatte vielen Menschen ihre wirtschaftliche Grundlage zerstört. Sie konnten sich weder neues Saatgut noch die auf dem Markt im Preis gestiegenen Lebensmittel leisten. Die Transportunternehmer verlagerten sich also auf die Lebensmittel, für die es finanziell gutgestellte Käufer gab. So gab es auf dem Markt durchaus importierte erntefrische Weintrauben aus Frankreich, während er in den Zelten der medizinischen Nothilfe bei abgemagerten Säuglingen beurteilen musste, ob deren Grad der Unterernährung bei den begrenzten internationalen Nahrungsspenden für die Aufnahme in ein Ernährungsprogramm qualifizierte. „Am einfachsten und effektivsten wäre der Hunger zu bekämpfen gewesen“, fasste er zusammen, „wenn wir Geld an die Hungernden verteilen hätten können. Aber das wäre Spendern wohl nicht zu vermitteln gewesen.“
Es wäre somit falsch, Hunger und Armut als regionale Probleme unabhängig von einer ungleichen Verteilung des Reichtums zu betrachten. In Afrika steigt die Anzahl der Dollarmillionäre rasant. 2013 waren es bereits mehr als 100.000, die zusammen über fast 950 Milliarden US-Dollar verfügten 13. Die Kapitalflucht aus Afrika beträgt jährlich 200 Milliarden US-Dollar 14. Andererseits leben in den USA – nach den offiziellen Zahlen für 2015 - 13,5% der Bevölkerung, das sind 43,1 Millionen Menschen, in Armut. Damit ist die Armutsquote höher als 1968. 6,1 Prozent aller US-Bürger leben sogar in extremer Armut und verfügen somit nicht einmal über die Hälfte des Einkommens, das die Armutsgrenze definiert. In 5 Prozent der Haushalte ist Hunger ein Problem und Schulspeisungen sind für deren Kinder wichtig. Damit der Begriff Hunger in Statistiken aber nicht mehr vorkommt, ist 2006 in den USA die Kategorie low food security with hunger in very low food security geändert worden 15.
Armut führt auch unabhängig von Hunger über Fehl- und Mangelernährung, die sich auch in Übergewicht zeigen kann, zu einem frühzeitigeren Tod. Menschen in Armut verfügen oft über keine adäquate gesundheitliche Versorgung, können sich vorhandene Angebote nur eingeschränkt leisten oder diese aus anderen Gründen kaum nutzen. Aber selbst in Gesellschaften wie in Deutschland mit einem allen zugänglichen solidarischen Gesundheitswesen ist die Lebenserwartung von armen Mitbürgern um Jahre schlechter: Nach Zahlen des Robert-Koch-Instituts von 2018 sterben Männer mit niedrigem Einkommen im Mittel 11 Jahre früher, einkommensschwache Frauen im Mittel 8 Jahre früher als Menschen mit hohem Einkommen. Sozial benachteiligte Menschen weisen auch ein 2- bis 3-fach erhöhtes Risiko für chronische Krankheiten auf. Sie erleiden also häufiger Herzinfarkte, Schlaganfälle und erkranken öfters an Diabetes. Sozial benachteiligte Kinder weisen durchschnittlich einen deutlich schlechteren Gesundheitszustand auf als Gleichaltrige aus besser verdienenden Familien, und die gesundheitlichen Nachteile, die in der Kindheit entstehen, bleiben häufig im späteren Leben bestehen 16. Selbst bei Krebserkrankungen ist die Lebenserwartung von sozial benachteiligten Patienten, auch wenn alle bekannten Prognosefaktoren kontrolliert werden, signifikant geringer als bei Erkrankten mit einem privilegierteren Hintergrund 17,18. In einem Land, in dem die Schere zwischen Reich und Arm auseinander geht, verschlechtert sich somit die medizinische Situation, selbst wenn in Exzellenz-Zentren der Forschung und Therapie Spitzenleistungen vollbracht werden. Selten ist ein Zusammenhang so linear wie zwischen Einkommen und Gesundheit: je ärmer Menschen sind, desto schlechter ist ihre Gesundheit 19. Medizinisch korrekt formulierte der Sozialphilosoph Max Horkheimer schon im letzten Jahrhundert: „Reichtum ist unterlassene Hilfeleistung.“
Gebäude einer Stadt spiegeln immer auch eine Konzeption von Individuum und Gesellschaft und deren Beziehung zu ökonomischer Macht. Der Augsburger Jakob Fugger, „der Reiche“, hatte vor 500 Jahren ökonomisch Kaiser und Fürsten buchstäblich in der Tasche. Sein damaliger Reichtum entspräche nach der Frankfurter Allgemeinen Zeitung heute 300 Milliarden US-Dollar 20. Als damit reichster Mann der Menschheitsgeschichte wäre er jedoch nie der Idee verfallen, seinen Reichtum und seine wirtschaftliche Macht durch ein Gebäude zu repräsentieren, das die Kirchen seiner Heimatstadt überragt hätte. Sein größtes Bauwerk war mit der Fuggerei eine großzügige Wohnsiedlung für in Armut geratene wohlbeleumundete Menschen seiner Heimatstadt Augsburg, die neben einer lediglich symbolischen Miete täglich Gebete für das Seelenheil des Stifters sprechen sollten. Mit einer für den heutigen Finanzsektor unvorstellbaren Nachhaltigkeit wirkt diese Sozialsiedlung auch noch 500 Jahre später mit unverändertem Konzept weiter.
Die gesellschaftliche Fürsorge für Arme, Kranke und andere Hilfsbedürftige war historisch lange Zeit nicht getrennt. Dies ist auch heute noch bei aufmerksamen Stadtrundgängen erkennbar.
Um das heutige Gesundheitswesen mit seinen vielfältigen Wurzeln besser zu verstehen, lade ich Sie im nächsten Kapitel ein zu einer sehr ausgewählten Führung durch die abendländische Medizingeschichte.
8 Stefan Bach, Andreas Thiemann, and Aline Zucco. Looking for the missing rich: Tracing the top tail of the wealth distribution. DIW Berlin and University of Potsdam, Joint Research Centre DIW Berlin. January 23, 2018
9 Christian Neuhäußer. Reichtum als moralisches Problem. Suhrkamp, Berlin 2018
10 Global Report on Food Crisis 2008. http://www.wfp.org/content/global-report-food-crises-2018. und Gemeinsame Pressemitteilung von EU/FAO/WFP vom 22.03.2018. Wfp 2018.
11https://www.who.int/gho/phe/water_sanitation/burden/en/
12https://www.worldhunger.org/2015-world-hunger-and-poverty-facts-and-statis-tics/#hunger-number
13 Jean Ziegler. Ändere die Welt. Bertelsmann, München 2015.
14 Paul Collier. The Future of Capitalism. Allen Lane, London 2018, S. 208. Der Etat des deutschen Entwicklungshilfeministeriums umfasst 2019 zum Verleich 10,2 Milliarden Euro.
15 Hunger in America: 2016 United States Hunger and Poverty Facts. https://www.world-hunger.org/hunger-in-america-2016-united-states-hunger-poverty-facts/ aufgerufen 22.5. 2018
16 Lampert T, Kroll LE, Kuntz B, Hoebel J (2018) Gesundheitliche Ungleichheit in Deutschland und im internationalen Vergleich: Zeitliche Entwicklungen und Trends. Journal of Health Monitoring, Special Issue 1/2018
17 Bristow RE, Powell MA, Al-Hammadi N, et al. Disparities in ovarian cancer care quality and survival according to race and socioeconomic status. J Natl Cancer Inst. 2013;105(11):823-832. doi:10.1093/jnci/djt065.
18 Chu DI, Moreira DM, Gerber L, et al. Effect of race and socioeconomic status on surgical margins and biochemical outcomes in an equal-access health care setting: Results from the Shared Equal Access Regional Cancer Hospital (SEARCH) database. Cancer. 2012;118(20):4999-5007. doi:10.1002/cncr.27456.
19 Hans, Ola & Anna Rosling. Factfulness. Hodder & Stoughton Ltd. London 2018
20http://www.faz.net/aktuell/finanzen/wer-besitzt-am-meisten-die-welt-der-millionaere.Abgerufen am 24.5.18
„Was einen Wert hat, hat auch einen Preis.
Der Mensch hat aber keinen Wert, er hat Würde.“
Immanuel Kant (1724 – 1804), Philosoph
Klostermedizin – Heilkunde als barmherziges kirchliches Privileg
Das Hôtel-Dieu ist nicht nur das älteste Krankenhaus von Paris, sondern auch weltweit das älteste Hospital, das bis heute Kranke behandelt, jetzt als Universitätsklinik. Es wurde im Jahre 651 vom Pariser Bischof in unmittelbarer Nachbarschaft zur Kathedrale Notre Dame gegründet, als karitative „Herberge Gottes“ für arme Pilger und mittellose Kranke. Sie erhielten dort kostenlos Unterkunft, Verpflegung und medizinische Hilfe. Nach dem Pariser Vorbild entstanden auch in anderen Städten Hôtel Dieu genannte Spitäler. Schon im 6. Jahrhundert hatte der Gründer des Benediktinerordens, Benedikt von Nursia, in seiner Ordensregel Krankenpflege als die wichtigste Aufgabe der Mönche festgelegt. Jedes Kloster sollte dafür einen eigenen Raum einrichten und einen Mönch dahingehend besonders ausbilden, den Infirmar. Die Synoden von Aachen 817/818 schrieben dann sogar fest, dass jedes Kloster über ein Hospital verfügen solle, und wiesen die Krankenpflege primär Mönchen und Nonnen zu. Seitdem pflegte jedes Kloster zumindest einen Heilkräutergarten, so natürlich auch das Kloster von Hildegard von Bingen (1098 – 1179). Ihr ganzheitliches Heilverständnis war ganz davon geprägt, dass Heil und Heilung des kranken Menschen allein von seiner Hinwendung zu Gott abhingen. Hildegard von Bingen erweiterte die gebräuchlichen Heilkräuter durch die Ringelblume (Calendula offincinalis), die in der heutigen Naturheilkunde und Homöopathie sehr gebräuchlich ist.
Die Hildegard-Medizin ist dagegen ein Marketing-Begriff, der kaum 50 Jahre alt ist.
In der Klostermedizin basierte die Für-Sorge auf den christlichen Werken der Barmherzigkeit 21: die Hungernden speisen, den Dürstenden zu Trinken geben, die Nackten bekleiden, die Fremden aufnehmen, die Kranken besuchen, die Gefangenen besuchen, Tote begraben. in den Hospitälern war also die Für-Sorge für Arme, Kranke und alte Menschen weder institutionell noch konzeptionell getrennt. Das gemeinsame Kriterium war die Hilfsbedürftigkeit. Die Kranken waren meist arm und die Armen und Alten oft krank. Jahrhundertelang gab es in Europa außerhalb von Klöstern keine ausgebildete Heilkundige. Die kirchliche Trägerschaft von vielen heutigen Krankenhäusern hat ihre Wurzeln in den Klosterspitälern.
Erst ab dem 14. Jahrhundert waren Hospitäler auch unabhängig von einer kirchlichen Trägerschaft möglich. Hospital oder Hospitium drückte das Leitmotiv einer Gastfreundschaft gegenüber mittel- und wohnungslosen Kranken, aber auch gegenüber alten Menschen aus. Charité und Hospitalité – Barmherzigkeit oder Nächstenliebe und Gastfreundschaft - galten als segensreich nicht nur für die Armen und Kranken selbst, sondern genauso für die Pflegenden, Ärzte und Kostenträger. Die Gründungsurkunde des berühmten Burgunder Hôtel Dieu in Beaune formuliert dies explizit: Ich, Nicolas Rolin, Ritter, Bürger von Autun, Herr von Authume und Kanzler von Burgund, an diesem Sonntag, dem 4. Tag des Monates August, im Jahre des Herrn 1443, […] im Interesse meines Seelenheils, danach strebend irdische Gaben gegen Gottes Gaben zu tauschen, […] gründe ich, und vermache unwiderruflich der Stadt Beaune ein Hospital für die armen Kranken, mit einer Kapelle, zu Ehren Gottes und seiner glorreichen Mutter …“
Obwohl sich begüterte Menschen bis ins 19. Jahrhundert meist häuslich pflegen und ärztlich behandeln ließen, finden sich im HȐtel-Dieu von Beaune bereits Ansätze einer „Zweiklassenmedizin“ im Krankenhaus, der aber ein solidarisches Prinzip zugrunde lag: Nachdem die Mönchsmedizin sehr geschätzt wurde, entstand bald im HȐtel-Dieu ein zusätzlicher Saal für begüterte Kranke. Diese bezahlten aber im Gegensatz zu den „armen Kranken“ des Stiftungsziels selbstredend für ihren Aufenthalt und ihre Pflege. Gesundheitsökonomen können somit den Ursprung der Querfinanzierung im HȐtel-Dieu zu Beaune festmachen.
Der Aufenthalt im mittelalterlichen Hospital war metapherhaft für die leidvolle, vergängliche menschliche Existenz vor dem Übergang in das entscheidende Dasein nach dem Tod. Die ars moriendi, die Kunst des Sterbens, hatte somit in diesen christlichen Hospitälern einen höheren Stellenwert als die Heilkunst, die selbst eng mit göttlicher Gnade verknüpft war. „Mein Sohn, in Krankheit säume nicht! Bestürme Gott; denn er nur macht dich gesund! Lass ab vom Frevel, ordne deine Hände, und reinige das Herz von allen Sünden! ... Doch auch dem Arzt gewähre Zutritt, er soll nicht weichen, denn auch er ist nötig! Denn zur gegebenen Zeit liegt der Erfolg bei ihm. Auch er fleht im Gebete ja zu Gott, dass er die Untersuchung ihm gelingen lasse und auch die Heilung zur Erhaltung eines Lebens.“22.
Die Krankenversorgung lag somit vom Frühmittelalter bis zur Renaissance weitgehend in den Händen von Mönchen, Mönchsärzten und Nonnen. Heilpraktische Behandler wie Bader und Scherer konnten mit dieser Klostermedizin kompetenzmäßig nicht konkurrieren. Eine ärztliche Approbation entwickelte sich erst im 13. Jahrhundert. Hospitäler waren bis Ende des 18. Jahrhunderts als karitative Einrichtungen nur selten ausschließlich Krankenhäuser. Aufnahme auf Zeit fanden auch mittellose Behinderte, obdachlose Arme und gebrechliche Alte. Ab der Zeit der stehenden Heere sollten dann bessere Hôtel des Invalides für Kriegsversehrte und gebrechliche Veteranen die Motivation der Truppen stärken. Menschen mit ansteckenden Krankheiten wurden generell zum Schutz der Gesunden in besonderen Häusern außerhalb der Stadtmauern untergebracht: in Siechenkobeln, Leprosarien, Lazaretten23 oder Pesthäusern.
London: 500 Jahre Royal College of Physicians - Kompetenz hat seinen Preis
In London gründete König Heinrich VIII. auf Drängen seines Leibarztes 1518 das Royal College of Physicians (RCP), da die Medizin weitgehend in der Hand von „Mönchen und Kurpfuschern“ lag. Dem säkularen Royal College of Physicians oblag dann über mehr als 300 Jahre die Approbation der Ärzte, die in London praktizieren durften. Es beschränkte dieses Recht auf seine exklusiven, kaum mehr als 40 Mitglieder, die an den Universitäten Oxford oder Cambridge promoviert haben mussten. Eine chirurgische oder geburtshilfliche Tätigkeit war ihnen untersagt und sie mussten christlich, durften aber nicht katholisch sein. Diese Ärzte standen bald in der britischen Hierarchie der Heilkundigen an der Spitze, sowohl mit ihrem wissenschaftlichen Ruf als auch mit ihrem Einkommen, da sie sich vorwiegend um die vermögenden Bewohner Londons kümmerten. In der Hierarchieleiter darunter kamen die eher zu den Handwerkern gezählten Chirurgen, dann die Apotheker und Hebammen. Das Royal College of Physicians ist ein Beispiel früher ärztlicher Standespolitik, die einerseits auf hohes akademisches Fachkönnen achtete, aber andererseits Einkommensinteressen mehr verfolgte als eine breite gesundheitliche Versorgung.
Außerhalb Londons verblieb die Approbation der Ärzte und die Aufsicht über die Heilberufe beim Klerus. Dies änderte sich erst im 19. Jahrhundert, als der neu geschaffene General Medical Council (GMC) landesweit für die Approbation und Regulierung der ärztlichen Berufstätigkeit zuständig wurde. Die Zulassungsprüfung zum Royal College of Physicians ist auch nach 500 Jahren noch quasi Voraussetzung für in Großbritannien tätige Fachärzte, auch wenn es sich beim Royal College of Physicians mit seinen inzwischen etwa 35.000 Mitgliedern nicht mehr um einen exklusiven Zirkel handelt 24.
Ritter- und Hospitalorden – Medizin mit hierarchisch militärischer Logik
In der Zeit und im Gefolge der Kreuzzüge entstanden zum Schutz von Pilgern und zur medizinischen Versorgung von Kreuzrittern Geistliche Ritter- und Hospitalorden. Sie hatten eine primär militärisch machtbewusste und ständisch elitäre Ausrichtung und verwurzelten sich in die Organisationsstrukturen des europäischen Gesundheitswesens. Denn nachdem die Ritterorden aus dem Nahen Osten vertrieben worden waren, bauten sie im westlichen und nordöstlichen Europa ihre Präsenz aus. So gründete der Deutschherrenorden Spitäler in Nürnberg, Halle und Marburg. Der Ritter- und Spitalorden Johannes von Jerusalem ist mit seinen Organisationen der katholischen Malteser und der protestantischen Johanniter auch gegenwärtig nicht nur in Deutschland ein wichtiger Träger von Krankenhäusern, Altenheimen und ambulanter Nothilfe.
Bei den elitären Ritter- und Hospitalorden, die sich auch gegenseitig militärisch bekämpften, stand die Krankenversorgung nicht im Mittelpunkt, sondern sie war oft eher eine instrumentelle Komponente der kriegerischen Effizienz. Eine derartige Instrumentalisierung der Medizin für andere Ziele und Interessen ist dann in der Medizingeschichte bis in die Gegenwart immer wieder zu beobachten.
Barmherzige Brüder – egalitäre Spitzenmedizin mit Empathie
Wieder ein anderes Medizinverständnis als das Royal College of Physicians und die Ritter- und Spitalorden vertrat der 1539 in Spanien gegründete egalitäre Hospitalorden des heiligen Johannes von Gott - breiter bekannt als Die Barmherzigen Brüder. Mit ihrem Leitspruch „Das Herz befehle“ – stellten die Brüder die mitmenschliche Empathie wieder in den Mittelpunkt der karitativen Für-Sorge. Der einfache Ordensgründer hatte zuvor die katastrophalen Verhältnisse in einem Hospital seiner Zeit am eigenen Leib erlebt, als er religiös aufgerüttelt und sozial auffällig selbst einige Monate in das königliche Hospital von Granada eingesperrt worden war - die damalige Terminologie im Diagnoseschlüssel war „vom Teufel besessener Sünder“.
Die Barmherzigen Brüder mit ihrem ordensspezifischen Gelübde der Hospitalität haben das Gesundheitswesen in Europa bis in die Gegenwart nachhaltig segensreich geprägt. Sie trennten in ihren Hospitälern von Anfang nicht nur Frauen von Männern, sondern auch Kranke, Bettler, Pilger, Findelkinder und Geistesgestörte, um für diese Gruppen jeweils eine bedarfsgerechtere Hilfe zu gewährleisten Die Barmherzigen Brüder (in Frankreich Frères de la Charité) wurden somit in ihrer Zeit rasch führend in der Krankenversorgung. Das von ihnen Anfang des 17. Jahrhunderts in Nachbarschaft zum Hôtel Dieu gegründete Pariser Hôpital de la Charité setzte neue Maßstäbe in der Krankenhausmedizin. In ihm wurden Hygieneregeln umgesetzt. Jeder Patient bekam ein Bett für sich alleine, während im HȐtel Dieu nebenan noch über Jahrzehnte jeweils mehrere Kranke ein Bett teilen mussten. Die Frères de la Charité erhielten zudem neben ihrer theologischen eine systematische mehrjährige medizinische Ausbildung, besonders in Chirurgie und Pharmazie. Somit galt das Pariser Krankenhaus der Charité als bestes seiner Zeit. Ihre Mönchsärzte wurden Leibärzte des königlichen Hofes, sahen aber ihre Berufung in der egalitären kostenlosen Behandlung von armen Kranken. Die Mönchsärzte wuschen den Patienten bei deren Aufnahme in das Hôpital de la Charité nach biblischem Vorbild die Füße. Deutlicher hätte sich ihr Medizinverständnis nicht von dem hierarchischen der Ritterorden und auch von dem gutsituierten, königlich protegierten akademischen Zirkel des Royal College of Physicians unterscheiden können.
Das Maßstäbe setzende Pariser Hôpital de la Charité musste erst 1935 dem Neubau der medizinischen Fakultät weichen. Es beeinflusste sicher auch den preußischen „Soldatenkönig“, Friedrich Wilhelm I., zur Namensgebung Haus der Charité, als er 1727 ein Pesthaus vor den Toren Berlins in ein Bürgerspital umwandelte. In ihm haben sich schließlich alle drei obigen Medizinkonzepte vereinigt: Die zweckgerichtete hierarchische Instrumentalisierung der Medizin für die Ausbildung von effizienten Militärchirurgen, die selbstlose brüderliche Gastfreundschaft und Nächstenliebe der Frères de la Charité und die säkulare akademische Ausrichtung des Royal College of Physicians. Aus dem Berliner Haus der Charité hat sich die Charité - Universitätsmedizin Berlin entwickelt, die heute mit über 3000 Betten zu den größten und renommiertesten Kliniken Europas zählt.
Von der Barmherzigkeit für Alle zur Aufteilung von Armut und Krankheit
Als das Pariser Hôpital de la Charité seine Hilfe für Kranke von der für andere Hilfsbedürftige trennte, war bereits eine andere Entwicklung im Gang. Denn seit Ende des 14. Jahrhunderts und verstärkt mit der Zeitenwende der Reformation setzte sich in Europa eine Zweiteilung des Armutsbildes gesellschaftlich durch. Während bis dahin die Almosenpraxis und Caritas sich unterschiedslos auf alle Arme bezogen hatte, wurde jetzt zwischen „würdigen“ und „unwürdigen“ Armen unterschieden. Erstere waren rechtschaffen und ohne eigenes Fehlverhalten durch Schicksalsschläge oder infolge ihres Alters in Not geraten. Sie wurden als der Stadt- oder Dorfgemeinschaft zugehörig betrachtet. Für sie entstanden Armenhäuser oder Stifte, in denen sie in einer gewissen Privatsphäre auf Dauer leben konnten. Genauso wurden Waisenhäuser und Asyle eingerichtet und mancherorts auch Sterbehospize für unheilbar Kranke. „Unwürdig“ einer Für-Sorge durch die Gemeinschaft galten dagegen mittellose Fremde und Arme, denen ein liederlicher Lebenswandel nachgesagt wurde, besonders wenn ein solcher zum jetzigen Elend beigetragen hatte. Alkoholikern, Geschlechtskranken, „Vagabunden“, arbeitsfähigen Bettlern, unverheirateten Schwangeren, Geisteskranken, mittellosen Fremden und „Taugenichtsen“ sollte möglichst der Zutritt in die Stadt ganz verwehrt oder nur mit Einschränkungen gewährt werden, oder sie wurden aus der Stadt verwiesen. Gängig wurde also eine Kategorisierung in „würdige“ und „unwürdige“ Kranke.
Auch im heutigen Behandlungsalltag schlägt Menschen mit Sucht-, Geschlechts- oder psychischen Krankheiten nicht selten eine reservierte Haltung der medizinischen Helfer entgegen. Manche Gesundheitspolitiker und Krankenkassen überlegen immer wieder finanzielle Sanktionen gegen Raucher oder Übergewichtige, weil diese ja teilweise ihre Krankheiten selbst verschuldeten. Ebenso unterscheiden sich heutigen Ansätze, eine „Zuwanderung in die Sozialsysteme“ zu unterbinden, wenig vom damaligen Denken. Auch eine Kategorisierung in „würdige“ und „unwürdige“ Bedürftige oder Flüchtlinge ist uns aus den politischen Diskussionen der Gegenwart gut vertraut 25.
HȐpital général: Wegsperren statt Therapie und Hilfe
Ein nächster Schritt im gesellschaftlichen Umgang mit „unwürdiger“ Krankheit, Elend und sozialer Auffälligkeit – dazu zählten neurologisch und psychisch Kranke – war viel weitreichender. Persönlichkeitsmissachtende, häufig tödliche Zwangsmaßnahme versteckten sich hinter dem Etikett „Therapie“ und „Allgemeinkrankenhaus“. Denn ab Mitte des 17. Jahrhunderts etablierte sich in Frankreich im Machtkampf zwischen Kirche, absolutistischem Staat und dem entstandenen Großbürgertum unter dem euphemistischen Namen Hôpital général - Allgemeinkrankenhaus - ein zentralistisches System übergriffiger Sozialfürsorge in Form von „Bettlergefängnissen“. Bettler waren aber keineswegs die einzigen Internierten. Vielmehr sollten allgemein menschliches Elend, Armut und soziale Auffälligkeit von der Straße verschwinden, um nicht die Prachtentfaltung unter dem Sonnenkönig und der für Begüterte wieder florierenden Wirtschaft zu stören. Unterschieden wurde jetzt kaum mehr zwischen „würdigen“ und „unwürdigen“ Armen, da ihnen nun immer ein individuelles Fehlverhalten unterstellt wurde: Arbeitslose, Bettler, Obdachlose, Geschlechtskranke, Epileptiker, Geisteskranke, Prostituierte, Homosexuelle, Vagabunden, Ungläubige, Waisen, Greise, alleinstehende Schwangere wurden zusammen weggesperrt. Treibende Kraft waren die Dames de la Charité, eine Gruppe von reichen adeligen oder großbürgerlichen Frauen, die sich nach der Gegenreformation in devoter Frömmigkeit gegen die Armut und soziale Entwurzelung im Land durchaus mit hehrem Motiv karitativ engagierten. Missernten, jahrzehntelangen Kriegswirren und der Umbruch der Wirtschaftsordnung hatten zu einer krassen Verelendung der unterprivilegierten Volksschichten geführt. Mittellose strömten in der Hoffnung auf eine bessere Existenz in die Städte und besonders nach Paris. Im dortigen HȐtel Dieu hatten die einflussreichen Dames de la Charité eine Nachmittagsspeisung eingerichtet und die Not hautnah vor Augen geführt bekommen. Die edlen Dames holten sich für schmutzige Arbeiten und für Kranke mit ansteckenden Krankheiten rechtschaffene, fromme Gehilfinnen aus niedrigem Stand, die analog zu Hausmädchen „filles“ genannt wurden. Aus diesen Filles de la Charité ging dann die Ordensgemeinschaft der Barmherzigen Schwestern (Vinzentinerinnen) hervor. Aus Sicht der privilegierten Dames waren die Not und das Elend der Armen und Kranken primär weniger materiell, sondern Folge eines Mangels an Frömmigkeit und religiöser Lebensführung. Somit sollten die Armen kaserniert im Hôpital général „zu ihrem Besten“ unter klerikaler Aufsicht von Filles de la Charité religiös unterwiesen, gepflegt und vor allem zum Arbeiten angehalten werden. Mit dem Hôpital général war, trotz seiner ursprünglich religiösen Ausrichtung, erstmals die Zuständigkeit für die Fürsorge für Arme und ausgegrenzte Kranke von der Kirche auf den Staat übergegangen 26. Das System des Hôpital général hatte in seiner Praxis rasch nichts mehr mit karitativer Fürsorge und Gastfreundschaft gemein, sondern entwickelte sich zum wahren Gulag willkürlicher Herrschaftsausübung. Innerhalb weniger Jahre wurde mehr als ein Prozent der Pariser Bevölkerung weggesperrt, die meisten in den Moloch des Hospice de la Salpétière. Gängig war eine Ausbeutung in Arbeitshäusern und Missbrauch der schwächsten Internierten in jeglicher Form. Unter den unsäglichen hygienischen Bedingungen und nur minimaler medizinischer Versorgung war die Sterblichkeit hoch. Für eine medizinische Versorgung wäre eine Verlegung in das HȐtel Dieu notwendig gewesen.
Da die Armen, Obdachlosen und sozial oder moralisch Auffälligen im Hôpital Général interniert waren, rückte nun im Pariser HȐtel Dieu die alleinige Krankenversorgung in den Vordergrund - es wandelte sich zum Krankenhaus im heutigen Sinn, wie bereits vorher das Hôpital de la Charité. Dieses hatte aber den Wechsel konzeptionell vollzogen, um besser Hilfe leisten zu können.
Als verhasster Moloch der ständischen Unterdrückung wurde die Salpétière in der Französischen Revolution gestürmt. Dem Mob zum Opfer fielen dabei aber zahlreiche auf die Straße geschleppte Geisteskranke. Während seiner Zeit als HȐpital général waren etwa 10 Prozent der Eingesperrten geistig oder neurologisch Kranke gewesen. Mit der Revolution wandelte sich das Hôpital de la Salpétière zum fortschrittlichen und im 19 Jahrhundert weltweit führenden Nervenkrankenhaus. Heute ist das Hôpital de la Salpétière eine renommierte Universitätsklinik, die 1997 beim Tod der englischen Prinzessin Diana in die Schlagzeilen gerückt ist.
Die keineswegs in Frankreich erfundene Politik des Wegsperrens im Hôpital général hat sich weniger zentralisiert und unter weniger euphemistischen Namen im 17. Jahrhundert europaweit ausgedehnt oder verstärkt: Houses of correction und working houses in England, im deutschen Sprachraum Arbeits-, Zucht- und Armenhäuser sowie desolate Hospitäler, in denen der nominelle Anspruch von Gastfreundschaft oder Behandlung nicht mehr zu erkennen war.
Ein derartiger Umgang mit sozialer Auffälligkeit reicht bis in die Gegenwart hinein. In der Schweiz sind bis 1981 mindestens 60.000 Menschen – Arbeitslose, Alkoholkranke, fahrendes Volk, Mütter unehelicher Kinder – als „Gefahr für die öffentliche Ordnung“ ohne Gerichtsverfahren zwangsweise und manchmal über Jahre in Anstalten gesperrt worden 27.
Auch die Kritik am gegenwärtigen Justiz- und Strafvollzugsystem der USA geißelt dort eine in den letzten Jahrzehnten verschärfte Politik des Wegsperrens von sozialer Auffälligkeit an. Bevölkerungsbezogen sind in den USA etwa 10-mal mehr Menschen in Gefängnissen als in Europa. Es sind vorwiegend Menschen der schwarzen Unterschicht, häufig wegen Suchtdelikten oder Straffälligkeit bei psychischer Störung. Die Zahl der Inhaftierten in den USA nähert sich einem Prozent der Bevölkerung an, dem Anteil der Weggesperrten in Paris zur Zeit des Hôpital général.
Allgemeinkrankenhaus neu definiert - vom HȐpital Général zum General Hospital
Die dunkle Episode des Hôpital général zu kennen, ist wichtig. Denn ab dem 18. Jahrhundert wurde in Europa und in den USA das Konzept von Großkrankenhäusern mit dem Namen General Hospital und Allgemeinkrankenhaus mit einem jetzt fortschrittlich humanitären Ansatz übernommen. Paradigmatisch dafür ging 1781 im Pariser Hôtel Dieu die Leitung von Nonnen auf Ärzte über und es stand jetzt allein Kranken offen. Das Hôtel Dieu war damit endgültig ein Krankenhaus im heutigen Sinne. Abgesehen von der Vorreiterposition des Pariser HȐpital de la Charité begann erst ab diesem Zeitpunkt, Ende des 18. Jahrhunderts, die Spezialisierung von Hospitälern auf Einzelaufgaben, weg von der ursprünglich breiten Gastfreundschaft und Fürsorge für Arme, Kranke, Obdachlose, Alte, Kriegsversehrte und Waisen. In Deutschland spiegelt sich diese Spezialisierung in der gegenwärtigen Spitallandschaft wider, die Stadtrundgänge spannend macht: So hat das fast 700 Jahre alte Heilig-Geist-Spital Nürnberg die Krankenbehandlung seit über 170 Jahren an ein neu errichtetes allgemeines Krankenhaus abgegeben, wirkt aber noch immer als Altenheim. Das Hospital zum Heiligen Geist Frankfurt ist dagegen heute ein modernes Krankenhaus, das Hospital zum Heiligen Geist in Hamburg wiederum das größte Alten- und Pflegeheim der Stadt. Genauso ist das Bürgerspital zum Heiligen Geist in Würzburg ein Seniorenheim für in Würzburg geborene Bürger, das Bürgerspital Stuttgart fungiert hingegen allein als Krankenhaus. Nur die Stiftung des Juliusspitals in Würzburg vereint noch mehrere ursprüngliche Hospitalaufgaben: mit einem Altenheim, einem Akademisches Lehrkrankenhaus und einer Palliativstation als Einrichtung für unheilbar Kranke und Sterbende.
In Wien ist das Großarmen- und Invalidenhaus nach dem Vorbild des Pariser Hôtel Dieu umgebaut und 1784 als Allgemeines Krankenhaus eröffnet worden. Als Medizinische Universität übernahm es in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts mit seiner „Wiener Schule“ die bis dahin unbestrittene Vorreiterrolle der „Pariser Schule“ in Bezug auf medizinische Forschung und klinische Praxis. Durch die Vielzahl amerikanischer Studenten – unter ihnen mit William Osler, Harvey Cushing und William Halstead spätere Galionsfiguren der modernen Medizin - beförderte die Wiener Schule auch die Qualitätsentwicklung der amerikanischen akademischen Medizin 28. Die Medizin der Berliner Charité schloss dann zur Wiener Schule auf. Der Pionier der Brustkrebschirurgie, William Halstead, wird uns in einem späteren Abschnitt des Buches wieder begegnen.
Das wesentlich von Benjamin Franklin 1751 mitgegründete Pennsylvania Hospital wollte explizit eine kostenlose hochqualifizierte medizinische Behandlung von armen Kranken. Das Siegel des Krankenhauses formuliert das Verständnis einer Krankenhausfinanzierung mit einem Zitat aus der biblischen Geschichte des guten Samariters: "Take Care of Him and I will repay Thee"
Auch das 1811 in Boston gegründete Massachusetts General Hospital – eines der heute weltweit renommiertesten Krankenhäuser - basiert auf dem Anspruch: „Care for the poor.“ Diese Geschichte geht in der Diskussion über das gegenwärtige US-amerikanische Gesundheitswesen meist unter.
Von der Heilkunst für den Leib zur Körpermedizin
Die Gründung der großen allgemeinen Krankenhäuser Europas und den USA ab Ende des 18. Jahrhunderts basierte trotz der noch allgegenwärtigen Verweise auf biblische Barmherzigkeit mehr auf den Gedanken der Aufklärung und ihren Konzepten einer technisch–naturwissenschaftlich ausgerichteten Medizin. Krankenhäuser bekamen jetzt einen primär kurativen Auftrag und übernahmen gesellschaftlich auch eine ordnungs- und sozialpolitische Funktion: Die Krankheits- und Sterberate in der Bevölkerung sollte gesenkt und der Ausbildungsstand der Ärzte verbessert werden. Damit sollte die moderne Medizin auch für produktivere Arbeiter in den expandierenden Industriebetrieben sorgen - und auch für gesündere Rekruten bei der mit dem Nationalismus einhergehenden militärischen Aufrüstung. Bekannte militärisch hierarchische Organisationstrukturen und entsprechende Konzepte von Disziplin und Ordnung finden sich nun sowohl in Industriebetrieben als auch in den „Gesundheitsfabriken“ der Krankenanstalten 29 umgesetzt.
Als ich ab 1979 als Assistenzarzt am Nürnberger Klinikum arbeitete, war noch viele Jahre die ärztliche Hierarchie durch sichtbare Rangabzeichen abgebildet: Assistenzärzte trugen Kittel mit üblichen weißen Kunststoffwechselknöpfen, Oberärzte waren durch silberfarbene Knöpfe erkennbar, und Chefärzte glänzten mit goldenen Knöpfen am Arztkittel. In den meisten Kliniken wurden diese hierarchischen Insignien sehr ernst genommen. In der neugegründeten Onkologischen Abteilung, hatte mein Chefarzt, der die Jahre zuvor in den USA gearbeitet hatte, dagegen laut gelacht, als er seine Goldknöpfe zugeteilt bekommen hatte. Er reichte sie umgehend an den nächststehenden Assistenzarzt mit der Bemerkung weiter, dass die Dinger besser im Fasching nützlich sein könnten.
Im neuen kurativen Selbstverständnis – und zunehmend militärisch geprägten Denken - der Medizin wurde folgerichtig der Tod zum Todfeind. Die modernen großen Krankenhäuser sahen sich nicht zuständig für „austherapierte“ chronisch Leidende oder Sterbende.
Sie wurden weitgehend an häusliche Betreuungsstrukturen delegiert. Eine ars moriendi gehörte nicht mehr zur Heilkunst. Die zunehmend objektivistisch ausgerichtete Medizin offenbarte jedoch durchaus missionarische Züge einer Heilskultur. Die Auseinandersetzung mit den in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch verbreiteten vitalistischen Konzepten einer romantischen Heilkunde, die von einer eigenständigen Lebenskraft in organischen Substanzen ausgingen, war dogmatisch. So formulierte 1842 ein Briefwechsel von herausragenden Ärzten und Wissenschaftlern dieser Zeit - Emil Dubois Reymond, Ernst von Brücke und Hermann von Helmholtz – unmissverständlich das neue medizinische Selbstverständnis: „ Brücke und ich [Dubois] haben uns verschworen, die Wahrheit geltend zu machen, dass im Organismus keine anderen Kräfte wirksam sind, als die gemeinen physikalisch –chemischen ….“ 30. Der Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud sprach von Ernst von Brücke als der „größten Autorität, die je auf mich gewirkt hat“ 31.
Ärzte und Wissenschaftler wie von Brücke haben lediglich die verbreitete zukunftsoptimistische geschichtsphilosophische Position geteilt, die bereits ein halbes Jahrhundert vorher der große französische Mathematiker, Philosoph und frühe Verfechter der gesellschaftlichen Gleichstellung von Frauen, Marquis de Condorcet (1743-1794), formuliert hatte: dass eben die hygienische und medizinische Überwindung von Elend und Krankheit möglich sei und „eine Zeit kommen muss, da der Tod nurmehr die Wirkung außergewöhnlicher Umstände sein wird.“ 32
Die gemeinen physikalisch-chemischen Kräfte bildeten somit ein mechanistisches Verständnis des Organismus: der Mensch als Maschine mit komplexen physikalisch-chemischen Abläufen. Damit gilt in der Medizin, die einzelnen Teile dieser Maschine zu erforschen, um Störungen reparieren, also Krankheiten behandeln und vorbeugen zu können. Krankheit wurde unabhängig vom Krankheitsempfinden und Krankheitserleben gleichbedeutend mit einer Abweichung von Normwerten oder Normfunktionen. Unter Ruhebedingungen führen beispielsweise Blutdruckwerte von 170 mm Quecksilbersäule in der Kontraktionsphase und von 95 mm in der Erschlaffungsphase des Herzmuskels zur Diagnose „Arterielle Hypertonie“ - Bluthochdruck, selbst wenn sich der Untersuchte beschwerdefrei fühlt. Die Aufmerksamkeit der Medizin verlagerte sich weg vom menschlichen Subjekt, das Leib ist und einen Körper hat, hin zu diesem Körper. Leib leitet sich von Leben ab – noch erkennbar im englischen life. Körper dagegen stammt vom lateinischen corpus, bezeichnet den Leichnam – so erhalten im englischen corps. Obwohl die Erhaltung des Lebens im neuen medizinischen Denken noch zentraler geworden war, hatte es sich abgewendet von der menschlichen Lebendigkeit und hin zum toten Körper. Die Medizinstudenten begannen jetzt ihr Studium der Heilkunde mit dem Sezieren von Leichen im Anatomiekurs, mit Physik und Biochemie. Diagnosen offenbarte zunehmend das Mikroskop, das Labor und das Blutdruckmessgerät, weniger die Sprechstunde. Bei den Prüfungen wurde das Philosophicum durch das Physicum ersetzt. Die Krankenhausmedizin übernahm das arbeitsteilige Organisationsmuster, die hierarchische Großbetriebsstruktur und das technisch–naturwissenschaftliche Denken, die den stürmischen Wandel zur Industriegesellschaft ermöglicht hatten. Und sie war damit beispiellos erfolgreich. Am eindrücklichsten zeigt dies eine Verdopplung der allgemeinen Lebenserwartung. Vergessen wird dabei oft: die geringere Frühsterblichkeit war weniger durch therapeutische Fortschritte bedingt, als durch sanitäre Maßnahmen und Ansätze einer sozialen Absicherung der armen Bevölkerungsgruppen.
Im Abriss der Medizingeschichte werde ich jetzt der Zeitspanne des Nationalsozialismus einen eigenen Abschnitt einräumen, auch wenn dieser Abschnitt nur 12 Jahre umfasst. Denn von der Medizin anderer westlicher Länder, in denen es durchaus antisemitische Strömungen und eugenische Bestrebungen gab, unterschied sich die deutsche Medizin in dieser Zeit durch ihr aktives Mitwirken an einem vorher kaum vorstellbaren Zivilisationsbruch. Die Medizin hat das Ausmaß ihres Verstricktseins in Verbrechen nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus verleugnet und über mehr als eine Generation eine ehrliche Auseinandersetzung mit ihrer damaligen Rolle weitgehend abgelehnt. Dadurch war nach dem Kriege nicht nur eine personelle, sondern in Ansätzen auch eine inhaltliche Kontinuität möglich, die bis in die Gegenwart manche Medizinkonzepte kontaminiert. Ich werde dies am Beispiel von „ganzheitlicher Medizin“ und „Naturheilkunde“ ausführen. Eine besondere Darstellung der sehr verzögerten Aufarbeitung ist auch deshalb wichtig, weil in der deutschen Medizin der Verlust von Tausenden ihrer besten Ärzte und renommiertesten Wissenschaftler durch Vertreibung und Ermordung bis in die Gegenwart nachwirkt.
21 Evangelium nach Matthäus. Mt 25, 34-46.
22 Jesus Sirach 38,9-14.
23 Lazarette waren über Jahrhunderte Pestspitäler. Der Name geht zurück auf das Pestspital auf der venezianischen Insel Santa Maria di Nazaretto und einer Verwechslung mit dem Aussätzigenhospiz Ospedale di San Lazzarro die Mendicanti. Erst im 19. Jahrhundert wandelte sich der Begriff zur Bezeichnung für Krankenhäuser für verwundete Soldaten
24 Shorvon S, Luxon L. The Royal College of Physicians at 500 years: changing roles and challenges. Lancet 2018; 392:1004-1007
25 Ein Beispiel ist: „Wir müssen klar zwischen wirklich Schutzbedürftigen, wie den Kriegsflüchtlingen aus Syrien, und denen, die diese Schutzbedürftigkeit nur vorgeben, unterscheiden.“ Andreas Scheuer. Wir erleben massenhaft Asylmissbrauch. Zeit online. 18. August 2015. https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2015-08/asyl-andreas-scheuer-csu-asylrecht-gastbeitrag Zugriff am 25.04. 2018 Heutige Begriffe wie „Wirtschaftsflüchtling“ bis „Faulenzer“ und „Sozialschmarotzer“ sind nicht weniger abwertend
26 Marie Louise Gude († 2013). Les Dames de la Charité and the Creation of the Paris General Hospital. University of Notre Dame, Notre Dame, IN/USA. https://earlymodernfrance.org/files/03.GUDE_.pdf ·
27 Eingesperrt ohne Verfahren. Süddeutsche Zeitung vom 3.09.2019
28 Eric Kandel. Das Zeitalter der Erkenntnis. München 2014, Siedler Verlag. S. 43-48.
29 Das Klinikum Nürnberg, eines der größten kommunalen Krankenhäuser Europas, firmierte bis in die 1980er Jahre als „Städtische Krankenanstalten“
30 Uexküll, Th. v. Psychosomatik als Suche nach dem verlorenen lebenden Körper. Psychother. Ppsychosom med Psychol 1991; 41: 482-488.
31 Eric Kandel. Das Zeitalter der Erkenntnis. Pantheon Verlag, München 2014. S. 69
32 M. J. A. Caritat de Condorcet. Esquisse d`un Tableau Historique de Progrés de l` Esprit Humain. Paris 1794. Zitiert nach W. Alff (Hrsg.) Condorcet. Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschtitte des menschlichen Geistes. Suhrkamp, Frankfrurt/M 1963. S. 395.
„Denn ist einmal die Linie überschritten, glaubt sich der Arzt einmal berechtigt, über die Notwendigkeit eines Lebens zu entscheiden, braucht es nur stufenweise, um den Unwert und folglich das Unnötigsein eines Menschenlebens auch auf andere Fälle anzuwenden.“
Christoph Wilhelm Hufeland (1762-1836), Arzt, 1806 33
Wenn Ärzte menschliche Würde ökonomisch bilanzieren
Konzipiert waren Ende des 19. Jahrhunderts Krankheiten nun als Abweichungen im Organismus von physikalisch-chemischen Normen. Therapie war dann die weitgehende Wiederherstellung von Normalität. Dieses Krankheitsverständnis entsprach letztlich einer Abweichung von industriellen Qualitätsvorgaben für ein Werkstück. Falls ein minderwertiges Produkt in der industriellen Fertigung aber nicht nachgebessert werden kann, wird es als unbrauchbarer Ausschuss verworfen.
Die Instrumentalisierung der Medizin in der rasant voranschreitenden Industrialisierung und die Entwertung ihrer Patienten durch eine Übernahme nicht nur der Organisationstrukturen und mechanistischen Arbeitskonzepte, sondern implizit auch der einseitig ökonomischen Wertorientierung wird bereits 1848 von Sozialökonomen scharf kritisiert: „Sie [die Bourgeoisie] hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an der Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenslose Handelsfreiheit gesetzt. … Die Bourgeoisie hat alle bisher ehrwürdigen und mit frommer Scheu betrachteten Tätigkeiten ihren Heiligenschein entkleidet. Sie hat den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann der Wissenschaft in den bezahlten Lohnarbeiter verwandelt.“34
Während für die wachsende Arbeiterbewegung ausgehend von den republikanischen Grundideen der französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – das Prinzip Solidarität zentral war, legitimierte sich der ungebremste Wettbewerbskapitalismus mit den eingängigen „wissenschaftlichen“ Thesen eines Sozialdarwinismus und einer von ihm abgeleiteten biologistischen Ethik. Nicht überraschend begann somit in den Industrienationen gerade in der wirtschaftlichen Blütezeit der Gründerjahre Ende des 19. Jahrhunderts eine Diskussion über einen unterschiedlichen Lebenswert von „höchsten und niedersten Menschen“, über „unwertes Leben“ sowie dessen wirtschaftliche Kosten. Einer der renommiertesten Wissenschaftler seiner Zeit, der Jenaer Professor für Medizin und Zoologie, Ernst von Haeckel, hatte bereits in den 1880er Jahren die Erhaltung und Zunahme Erbkranker zum Problem erklärt und sich für die Tötung unheilbar Kranker ausgesprochen 35. 1904 schrieb er: „Hunderttausende von unheilbaren Kranken, namentlich Geisteskranke, Aussätzige, Krebskranke usw. werden in unseren modernen Culturstaaten künstlich am Leben erhalten und ihre beständigen Qualen sorgfältig verlängert, ohne irgend einen Nutzen für sie selbst oder für die Gesamtheit.“ 36
Das nicht mehr unterschiedslos am Wohl des einzelnen Patienten ausgerichtete Medizinverständnis war dann bereits während des Ersten Weltkriegs für ungefähr die Hälfte aller deutschen Psychiatriepatienten tödlich: Sie erhielten systematisch eine geringere Verpflegung, so dass etwa 70.000 Kranke in den Krankenhäusern unter den Augen ihrer Ärzte und Pflegekräfte langsam verhungerten 37. Ärztlicher Protest formulierte sich offensichtlich nicht. Auch hier offenbarte sich implizit wieder eine Kategorisierung in „würdige“ und „unwürdige“ Kranke. Lediglich die Terminologie hatte sich gewandelt: zu „lebenswert“ und „lebensunwert“.
So formulierten dann 1920 der Freiburger Ordinarius für Psychiatrie, Prof. Alfred Hoche, und der Strafrechtler und frühere Rektor der Universität Leipzig, Prof. Karl Binding, Forderungen nach Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens38. Hoche plädierte in seinen „Ärztlichen Bemerkungen“ dieser Schrift für eine „Tötungsfreigabe“ unheilbar Kranker mit deren Willen und – wenn sie diesen nicht mehr äußern können – auch unter sehr engen Voraussetzungen ohne deren Willen, aber niemals gegen ihren Willen. Die Argumentation ist vorwiegend ökonomisch und rechtfertigt sich mit „einer höheren staatlichen Sittlichkeit“, die den Arzt zu einer Verantwortung für einen „kranken Volkskörper“ verpflichte: „Die Anstalten, die der Idiotenpflege dienen, werden anderen Zwecken entzogen; soweit es sich um Privatanstalten handelt, muß die Verzinsung berechnet werden; ein Pflegepersonal von vielen tausend Köpfen wird für diese gänzlich unfruchtbare Aufgabe festgelegt und fördernder Arbeit entzogen; es ist eine peinliche Vorstellung, daß ganze Generationen von Pflegern neben diesen leeren Menschenhülsen dahinaltern, von denen nicht wenige 70 Jahre und älter werden.