Was im Dunkeln liegt - Harlan Coben - E-Book

Was im Dunkeln liegt E-Book

Harlan Coben

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Beschreibung

Privatdetektiv Wilde ist dafür bekannt, jedem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Das größte jedoch trägt er selbst mit sich herum. Denn als kleiner Junge wurde er in den Wäldern der Appalachen gefunden – ohne Erinnerung, wie er dort hinkam, ohne jegliches Wissen über seine Eltern. Seither ist er auf der Suche nach seiner Vergangenheit. Als er eines Tages endlich eine heiße Fährte aufnimmt, stellt sich heraus, dass seine mysteriöse Herkunft mit einem aktuellen Vermisstenfall verknüpft scheint – und mit einem vermeintlichen Selbstmord. Und je näher Wilde seiner eigenen Geschichte kommt, desto gefährlicher wird seine Suche ...

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Seitenzahl: 486

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Buch

Privatdetektiv Wilde ist bekannt dafür, fast jedem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Das größte jedoch trägt er selbst mit sich herum. Denn als kleiner Junge wurde er in den Wäldern der Appalachen gefunden – ohne Erinnerung, wie er dort hinkam, ohne jegliches Wissen über seine Eltern. Dieses Rätsel um seine Vergangenheit blieb bisher ungelöst. Und Wilde hatte sich gut mit seinem Leben arrangiert, das zwar bisweilen einsam war, ihm aber umso mehr Freiheiten ermöglichte.

Bis ein eigentlich schon längst vergessener Eintrag auf einer Ahnenforschungs-Website auf einmal doch noch einen Treffer hervorbringt – und Wilde den Namen eines Mannes erfährt, der sein Vater sein könnte. Auch wenn ein persönliches Treffen erst einmal mehr Fragen als Antworten aufwirft, ist Wildes Neugier geweckt. Zumal ein weiterer Verwandter kurz auftaucht und dann sofort wieder verschwindet. Wilde wird in einen veritablen Vermisstenfall verwickelt – und in der Folge in eine mysteriöse Mordserie, bei der es bald um viel mehr geht als um seine eigene Herkunft …

Weitere Informationen zu Harlan Coben und zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.

HARLAN COBEN

Was im Dunkeln liegt

Thriller

Aus dem Amerikanischenvon Gunnar Kwisinski

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel »The Match« bei Grand Central Publishing, New York/Boston. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstveröffentlichung August 2022

Copyright © der Originalausgabe 2022 by Harlan Coben

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2022

by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Waltraud Horbas

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: Magdalena Russocka / Trevillion Images

TH · Herstellung: ik

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-28651-4V001www.goldmann-verlag.de

In liebendem Gedenken an Penny Hubbard1966 – 2021

EINS

Im Alter von etwa vierzig bis zweiundvierzig Jahren – er wusste nicht genau, wie alt er war – fand Wilde endlich seinen Vater.

Wilde hatte seinen Vater nie kennengelernt. Oder seine Mutter. Oder sonst einen Verwandten. Er kannte ihre Namen nicht, wusste nicht, wann und wo er geboren wurde, und wie er als sehr kleines Kind allein im Wald der Ramapo Mountains gelandet war und sich selbst versorgt hatte. Jetzt, etwa drei Jahrzehnte, nachdem er als kleiner Junge »gerettet« wurde – »AUSGESETZTUNDVERWILDERT!« lautete eine Schlagzeile, »EINMODERNERMOGLI!«, schrie eine andere –, war Wilde keine zwanzig Meter von einem Blutsverwandten und vielen noch unbekannten Antworten auf seine mysteriöse Herkunft entfernt.

Erst vor Kurzem hatte er erfahren, dass sein Vater Daniel Carter hieß. Carter war einundsechzig Jahre alt und mit einer Frau namens Sofia verheiratet. Sie hatten drei erwachsene Töchter, Cheri, Alena und Rosa – Wildes Halbschwestern, wie er annahm. Carter lebte an der Sundew Avenue in Henderson, Nevada, in einem Ranch-Haus mit vier Schlafzimmern. Er leitete seine eigene kleine Baufirma, Dream House Construction.

Als der junge Wilde vor fünfunddreißig Jahren allein im Wald aufgefunden wurde, schätzten die Ärzte sein Alter auf fünf bis sieben Jahre. Er konnte sich weder an Eltern noch an sonstige Bezugspersonen erinnern, und auch nicht daran, je ein anderes Leben geführt zu haben, als sich irgendwie allein in diesen Bergen durchzuschlagen. Der kleine Junge hatte überlebt, indem er in leer stehende Hütten und Sommerhäuser eingebrochen war und dort Kühlschränke und Vorratskammern plünderte. Manchmal hatte er in leer stehenden Häusern oder in Zelten geschlafen, die er aus Garagen gestohlen hatte. Wenn das Wetter mitspielte, schlief der junge Wilde allerdings draußen unter dem Sternenhimmel.

Das tat er immer noch.

Nachdem man ihn entdeckt und aus diesem wilden Dasein »errettet« hatte, brachte das Jugendamt den kleinen Jungen vorübergehend bei einer Pflegefamilie unter. Angesichts des großen Medienechos rechneten fast alle damit, dass sich die Eltern bald melden und den »kleinen Tarzan« für sich beanspruchen würden. Doch aus Tagen wurden Wochen. Dann Monate. Dann Jahre. Dann Jahrzehnte.

Drei Jahrzehnte.

Niemand hatte sich gemeldet.

Natürlich gab es Gerüchte. Manche glaubten, dass Wilde einem mysteriösen und verschwiegenen Bergvolk entstammte und der kleine Junge weggelaufen war, weil man ihn dort womöglich vernachlässigt hatte. Vielleicht hatten die Angehörigen dieses Stamms Angst zuzugeben, dass er zu ihnen gehörte. Andere spekulierten, dass die Erinnerungen des kleinen Jungen unzutreffend wären, da er nicht jahrelang allein im gefährlichen Wald hätte überleben können, und er außerdem zu sprachgewandt und intelligent war, als dass er ohne Eltern aufgewachsen sein könnte. Diese Leute gingen davon aus, dass dem kleinen Wilde etwas Schreckliches zugestoßen war – etwas Traumatisches, das er nur bewältigen konnte, indem er jede Erinnerung an den Vorfall verdrängte.

Wilde wusste, dass das nicht stimmte, aber es spielte auch keine Rolle.

Die einzigen Erinnerungen an seine frühe Kindheit blitzten als unverständliche Visionen oder in Träumen auf: ein rotes Geländer, ein dunkel eingerichtetes Haus, das Porträt eines Mannes mit Schnurrbart, und manchmal meinte er eine Frau schreien zu hören.

Wilde – sein Ziehvater hatte sich diesen passenden Namen ausgedacht – wurde zu so etwas wie einer modernen Mythengestalt. Er war das lokale Schreckgespenst, das allein in den Bergen lebte. Wenn Eltern in der Umgebung von Mahwah sichergehen wollten, dass ihre Kinder vor Sonnenuntergang nach Hause kamen oder keine Streifzüge durch die ausgedehnten, dichten Waldgebiete unternahmen, griffen sie oft auf die Geschichte vom Jungen aus dem Wald zurück. Bei Einbruch der Dunkelheit würde er aus seinem Versteck kommen – wild, ungestüm und blutdürstig.

Drei Jahrzehnte waren inzwischen vergangen, und noch immer hatte niemand eine Vorstellung davon, woher er stammte. Auch Wilde selbst hatte sie nicht gehabt.

Bis jetzt.

Aus seinem geparkten Mietwagen beobachtete Wilde, wie Daniel Carter auf der gegenüberliegenden Straßenseite die Haustür öffnete und auf seinen Pick-up zuging. Mit der iPhone-Kamera zoomte er das Gesicht seines Vaters heran und schoss ein paar Fotos. Er wusste, dass Daniel Carter derzeit an einem neuen Bauprojekt arbeitete – zwölf Wohneinheiten mit jeweils drei Schlafzimmern, zwei Badezimmern, einer Gästetoilette und, wie es auf der Website hieß, einer Küche mit »anthrazitfarbenen Schrankfronten«. Wenn man auf der Website auf »Über uns« klickte, erschien: »Dream House Construction plant, errichtet und verkauft seit mehr als fünfundzwanzig Jahren qualitativ hochwertige Häuser, die ganz auf Ihre Bedürfnisse und Träume zugeschnitten sind.«

Wilde mailte drei Fotos von der Website an Hester Crimstein, eine renommierte Anwältin aus New York City, die für ihn so etwas wie eine Ersatzmutter geworden war. Er fragte sie auch, ob sie eine Ähnlichkeit zwischen ihm und dem Mann sah, der womöglich sein leiblicher Vater war.

Fünf Sekunden, nachdem er auf Senden gedrückt hatte, rief Hester an.

Wilde ging ran und fragte: »Und?«

»Holla.«

»Holla, der sieht ja aus wie ich?«

»Wenn er dir noch ähnlicher sehen würde, Wilde, hätte ich angenommen, dass du eine Alterungssoftware benutzt hast.«

»Du glaubst also …«

»Das ist dein Vater, Wilde.«

Er saß nur ganz ruhig mit dem Handy am Ohr da.

»Alles okay mit dir?«, fragte Hester.

»Ja.«

»Wie lange beobachtest du ihn schon?«

»Seit vier Tagen.«

»Und was hast du jetzt vor?«

Wilde überlegte. »Ich könnte die ganze Sache einfach auf sich beruhen lassen.«

»Quatsch.«

Er sagte nichts.

»Wilde?«

»Was ist?«

»Du bist ein Opfer«, sagte Hester.

»Opfer.«

»Das Wort hab ich von meinem Enkel. Es bedeutet Feigling.«

»Ja, das war schon klar.«

»Geh schon und rede mit ihm. Frag ihn, warum er einen kleinen Jungen allein im Wald zurückgelassen hat. Ach, und dann ruf mich sofort an, ich bin nämlich wahnsinnig neugierig.«

Hester legte auf.

Daniel Carter hatte weiße Haare, sonnengebräunte Haut und muskulöse Unterarme, wahrscheinlich weil er schon sein Leben lang körperlich arbeitete. Die Familie schien sich, wie Wilde beobachtet hatte, ziemlich nahe zu stehen. Gerade stand seine Frau Sofia lächelnd in der Tür und winkte zum Abschied, als er in seinen Pick-up stieg.

Letzten Sonntag hatten Daniel und Sofia in ihrem Garten ein Grillfest für die ganze Familie veranstaltet. Ihre Töchter Cheri und Alena waren mit ihren Familien da gewesen. Daniel hatte am Grill gestanden, mit Kochmütze und einer Schürze, auf der »Göttergatte« stand. Sofia hatte Sangria und Kartoffelsalat vorbereitet. Zum Sonnenuntergang machte Daniel ein Feuer in der Feuerstelle, und tatsächlich röstete die ganze Familie Marshmallows und spielte Brettspiele, wie in einem Gemälde von Norman Rockwell. Bei diesem Anblick und dem Gedanken an das, was ihm entgangen war, erwartete Wilde eigentlich, einen stechenden Schmerz zu verspüren, in Wahrheit fühlte er jedoch sehr wenig.

Dieses Leben war nicht besser als seines. Es war nur anders.

Er kämpfte mit dem Wunsch, zum Flughafen zu fahren und nach Hause zu fliegen. Die letzten sechs Monate hatte er damit verbracht, in Costa Rica mit einer Mutter und ihrer Tochter so etwas wie ein normales Familienleben zu führen, aber es wurde Zeit, in seine abgelegene Ecocapsule tief im Herzen der Ramapo Mountains zurückzukehren. Da gehörte er hin, da fühlte er sich am ehesten zu Hause.

Allein. Im Wald.

Hester Crimstein und der Rest der Welt mochten »wahnsinnig neugierig« sein und mehr über die Herkunft des »Jungen aus dem Wald« wissen wollen, der Junge selbst war es nicht. Er war es auch nie gewesen. Seine Eltern waren entweder tot, oder sie hatten ihn im Stich gelassen. Welche Rolle spielte es da, wer sie waren, oder aus welchem Grund sie das getan hatten? Es änderte nichts, zumindest nicht zum Besseren.

Wilde ging es gut, besten Dank auch. Warum sollte er ohne jede Not Unruhe in sein Leben bringen?

Daniel Carter startete den Motor seines Pick-ups. Er fuhr die Sundew Avenue hinauf und bog links ab in die Sandhill Sage Street. Wilde folgte ihm. Vor ein paar Monaten war Wilde der Versuchung erlegen und hatte seine DNA widerstrebend an eine dieser Ahnenforschungs-Websites geschickt, die gerade so angesagt waren. Das hatte noch nichts zu bedeuten, dachte er. Falls es eine Übereinstimmung geben sollte, könnte er sie immer noch ignorieren. Es war nicht mehr als ein unverbindlicher erster Schritt.

Die Ergebnisse brachten keine weltbewegenden Neuigkeiten. Die größte Übereinstimmung bestand mit einem Mann mit den Initialen PB, der laut der Ahnenforschungs-Website ein Cousin zweiten Grades war. Na super. PB meldete sich über die Website. Als Wilde gerade antworten wollte, machte das Leben ihm einen dicken Strich durch die Rechnung. Zu seiner eigenen Überraschung verließ er nach all den Jahren den Wald, den er immer als sein Zuhause bezeichnet hatte, um sich in Costa Rica in einem etwas unkonventionellen Familienleben zu versuchen.

Es war nicht wie geplant verlaufen.

Vor zwei Wochen, er packte gerade für die Rückreise aus Costa Rica, hatte ihm die Ahnenforschungs-Website eine E-Mail mit dem Betreff »WICHTIGESUPDATE!« geschickt. Sie hatten einen Treffer für »einen Verwandten, der erheblich mehr DNA mit Ihnen gemeinsam hat« als »alle bisherigen Treffer«. Zu diesem Account waren die Initialen DC angegeben. Am Ende der E-Mail blinkte ein Link: »MEHRERFAHREN!« Entgegen seiner Instinkte hatte Wilde darauf geklickt.

Alter, Geschlecht und die hohe Übereinstimmung zeigten, dass DC Wildes Vater war.

Wilde hatte nur auf den Bildschirm gestarrt.

Was jetzt? Die Tür zu seiner Vergangenheit war direkt vor ihm. Er brauchte sie nur noch zu öffnen. Doch er zögerte. Funktionierte diese irre, aufdringliche Website nicht in beide Richtungen? Wenn Wilde eine Benachrichtigung bekommen hatte, dass sein Vater in der Datenbank war, war dann nicht umgekehrt davon auszugehen, dass auch sein Vater eine Benachrichtigung erhalten hatte?

Warum hatte DC sich nicht bei ihm gemeldet?

Zwei Tage lang ließ Wilde die Sache auf sich beruhen. Zwischenzeitlich hätte er beinahe sein gesamtes Profil gelöscht. Bei der Sache konnte nichts Gutes rauskommen, davon war er überzeugt. Er hatte sich im Laufe der Jahre alle erdenklichen Intrigen durch den Kopf gehen lassen, die erklären würden, wie ein kleiner Junge allein in den Wald geraten und dort – wenn man ehrlich war – zum Sterben zurückgelassen worden war.

Als er Hester anrief und ihr von dem väterlichen Treffer und seinem Widerwillen, dem nachzugehen, erzählte, sagte sie: »Willst du hören, wie ich darüber denke?«

»Klar.«

»Du bist ein Schmock.«

»Das hilft mir echt weiter.«

»Hör mir gut zu, Wilde.«

»Okay.«

»Ich bin erheblich älter als du.«

»Das ist wahr.«

»Sei still. Damit du mich hörst. Ich kick Knowledge.«

»Ich kick Knowledge? Im Ernst? Ist das aus Hamilton, dem Musical?«

»Ja, ist es.«

Er rieb sich die Augen. »Sprich weiter.«

»Die hässlichste Wahrheit ist besser als die schönste Lüge.«

Wilde runzelte die Stirn. »Und das stammt jetzt womöglich aus einem Glückskeks?«

»Schluss mit den klugen Sprüchen. Du kannst nicht davor weglaufen, das weißt du ganz genau. Du musst die Wahrheit erfahren.«

Natürlich hatte Hester recht. Selbst wenn er die Tür nicht öffnen wollte, konnte er doch nicht den Rest seines Lebens davorstehen und sie anstarren. Also loggte er sich wieder auf der Ahnenforschungs-Website ein und schrieb eine Nachricht an DC. Er schrieb knapp und schlicht:

Ich bin vielleicht Ihr Sohn. Können wir uns unterhalten?

Als er auf Senden tippte, bekam er sofort eine automatische Antwort. Laut der Website war DC nicht mehr in der Datenbank. Das war sowohl seltsam als auch unerklärlich – sein Vater hatte beschlossen, seinen Account zu löschen –, doch genau dieser Schritt erhöhte plötzlich Wildes Drang, an eine Antwort zu kommen. Scheiß aufs Türöffnen – es wurde Zeit, sie einzutreten. Er rief Hester noch einmal an.

Falls Ihnen Hesters Name bekannt vorkommt, liegt es wahrscheinlich daran, dass es sich um die legendäre Fernsehanwältin Hester Crimstein handelt, die Moderatorin von Crimstein on Crime. Sie tätigte ein paar Telefonate, ließ ihre Kontakte spielen. Wilde nutzte ein paar andere Quellen aus den Jahren, in denen er in der gelegentlich etwas dubiosen »Security«-Branche gearbeitet hatte. Es dauerte zwar zehn Tage, aber dann hatten sie einen Namen:

Daniel Carter, 61, aus Henderson, Nevada.

Vor vier Tagen war Wilde direkt von Liberia, Costa Rica, nach Las Vegas, Nevada, geflogen. Jetzt saß er in einem gemieteten blauen Nissan Altima und folgte Daniel Carters Dodge Ram Pick-up zu einer Baustelle. Er hatte lange genug gezögert. Als Daniel Carter vor der halbfertigen Siedlung hielt, parkte Wilde auf der Straße und stieg aus. Der Baulärm war ohrenbetäubend. Wilde wollte sich gerade auf den Weg machen, als zwei Arbeiter auf Carter zukamen. Wilde wartete. Ein Mann reichte Carter einen Bauhelm. Der andere gab ihm ein Paar Ohrstöpsel. Carter setzte den Helm auf, steckte sich die Stöpsel in die Ohren und ging so auf die Baustelle. Die beiden Männer folgten ihm. Die Sicherheitsschuhe der drei wirbelten so viel Wüstenstaub auf, dass man sie kaum noch sah. Wilde blieb stehen und beobachtete sie. Ein mit Holzbalken aufgestelltes Schild verkündete in einer übertrieben verschnörkelten Schrift, dass hier die »VISTAMEWS« entstanden – konnte man sich einen noch gewöhnlicheren Namen vorstellen? »Luxuriöse Stadthäuser mit drei Schlafzimmern«, die man ab 299 000 Dollar erwerben konnte. Ein schräg darauf geklebter roter Schriftzug besagte: Demnächst!

Daniel Carter mochte Vorarbeiter oder Generalunternehmer sein oder wie auch immer man den Chef nannte. Offensichtlich machte es ihm aber nichts aus, sich die Hände schmutzig zu machen. Wilde beobachtete, wie er seinen Arbeitern mit gutem Beispiel voranging. Er passte einen Balken ein. Er setzte sich eine Schutzbrille auf und bohrte. Er prüfte die Arbeit, nickte seinen Mitarbeitern zu, wenn er zufrieden war, und wies sie auf Mängel hin, wenn ihm etwas nicht gefiel. Die Arbeiter respektierten ihn, das erkannte Wilde. Oder vielleicht wollte er es einfach so sehen. Schwer zu sagen.

Zweimal war Daniel Carter allein. Als Wilde zu ihm gehen wollte, kam ihm aber immer jemand zuvor. Auf der Baustelle herrschte reger Betrieb, alles war in Bewegung, und es war laut. Wilde hasste Lärm. Das hatte er schon immer. Er beschloss, noch etwas zu warten und seinen Vater auf dem Heimweg abzufangen.

Um fünf Uhr nachmittags leerte sich die Baustelle. Daniel Carter ging als einer der Letzten. Er winkte zum Abschied und stieg wieder in seinen Pick-up. Wilde folgte ihm zurück zu seiner Ranch in der Sundew Avenue.

Als Daniel Carter den Motor ausmachte und aus dem Pick-up stieg, hielt Wilde vor seinem Haus. Als Carter Wilde entdeckte, blieb er stehen. Die Haustür der Ranch öffnete sich. Seine Frau Sofia begrüßte ihn mit einem fast schon engelsgleichen Lächeln.

Wilde stieg aus seinem Nissan und sagte: »Mr Carter?«

Sein Vater blieb an der offenen Wagentür stehen, fast so, als überlege er, ob er wieder einsteigen und wegfahren sollte. Er ließ sich Zeit und musterte den Eindringling misstrauisch. Wilde wusste nicht recht, was er sagen sollte, also entschied er sich für das Einfachste:

»Kann ich Sie kurz sprechen?«

Daniel Carter sah seine Frau Sofia an. Die beiden verständigten sich irgendwie ohne Worte, was Ehepartner, die seit dreißig Jahren verheiratet waren, anscheinend konnten. Sofia ging ins Haus zurück und schloss die Tür.

»Wer sind Sie?«, fragte Carter.

»Mein Name ist Wilde.« Er ging ein paar Schritte auf Carter zu, um nicht schreien zu müssen. »Ich glaube, Sie sind mein Vater.«

ZWEI

Daniel Carter sagte nicht viel.

Er hörte schweigend zu, als Wilde von seiner Vergangenheit erzählte, von der Ahnenforschungs-Website und dem Ergebnis, dass sie höchstwahrscheinlich Vater und Sohn seien. Seine Miene blieb neutral, aber er nickte von Zeit zu Zeit, rang gelegentlich die Hände oder wurde etwas blasser. Carters Gleichmut beeindruckte Wilde und erinnerte ihn merkwürdigerweise an sich selbst.

Sie standen immer noch im Vorgarten. Carter warf immer wieder verstohlene Blicke zu seinem Haus. Schließlich sagte er: »Lassen Sie uns eine Runde drehen.«

Sie stiegen in den Pick-up und fuhren schweigend los. Beiden war nicht nach Reden zumute. Wilde ging davon aus, dass Carter verblüfft war von seiner Erzählung und die Fahrt zur Erholung nutzte wie ein angeschlagener Boxer, der angezählt wurde. Aber vielleicht täuschte er sich. Es war schwer, Menschen einzuschätzen. Carter mochte verblüfft sein. Er konnte aber auch durchtrieben sein.

Zehn Minuten später saßen sie an einem Tisch im Mustang Sally’s, einem Diner im Stil der 60er-Jahre, das sich in einer Ford-Verkaufsniederlassung befand. Die Sitze waren mit rotem Vinyl bezogen, und auch die sonstige Einrichtung versuchte, Nostalgie zu erwecken, aber wenn man aus New Jersey kam, brachten es solche Fake-Diner einfach nicht.

»Wollen Sie Geld?«, fragte Carter.

»Nein.«

»Hatte ich auch nicht erwartet.« Er atmete lang aus. »Wahrscheinlich könnte ich Ihre Behauptungen erst einmal anzweifeln.«

»Das könnten Sie«, stimmte Wilde zu.

»Wir könnten einen Vaterschaftstest machen.«

»Könnten wir.«

»Aber eigentlich sehe ich die Notwendigkeit nicht. Wir sehen uns ähnlich.«

Wilde sagte nichts.

Carter fuhr mit der Hand durch seine weiße Mähne. »Mann, das ist echt schräg. Ich habe drei Töchter. Wussten Sie das?«

Wilde nickte.

»Die Mädchen sind mein Ein und Alles.« Er schüttelte den Kopf. »Sie müssen mir ein paar Minuten Zeit geben, okay?«

»Okay.«

»Ich weiß, dass Sie eine Menge Fragen haben. Die hab ich auch.«

Eine junge Kellnerin kam zu ihnen und sagte: »Hey, Mr C.«

Daniel Carter lächelte ihr freundlich zu. »Hallo, Nancy.«

»Wie geht’s Rosa?«

»Ihr geht’s prima.«

»Grüßen Sie sie von mir.«

»Mach ich.«

»Was kann ich Ihnen beiden bringen?«

Daniel Carter bestellte ein Club-Sandwich mit Pommes. Er deutete auf Wilde, der das Gleiche nahm. Nancy fragte, ob sie etwas trinken wollten. Beide Männer schüttelten gleichzeitig den Kopf. Nancy ergriff die Speisekarten und ging.

»Nancy Urban ist mit meiner Jüngsten auf die Highschool gegangen«, sagte Carter, als sie außer Hörweite war. »Tolles Mädchen.«

»Mhm.«

»Sie haben auch im selben Volleyballteam gespielt.«

»Mhm«, sagte Wilde noch einmal.

Carter beugte sich leicht vor. »Ich versteh das wirklich nicht.«

»Da sind wir schon zu zweit.«

»Ich finde das, was Sie mir erzählt haben, einfach unglaublich. Sind Sie wirklich der kleine Junge, den man vor all den Jahren im Wald gefunden hat?«

»Der bin ich«, sagte Wilde.

»Ich erinnere mich noch an die Berichte in den Nachrichten. Da wurden Sie der kleine Tarzan genannt oder so ähnlich. Irgendwelche Wanderer haben Sie entdeckt, stimmt’s?«

»Ja.«

»In den Appalachen?«

Wilde nickte. »In den Ramapo Mountains.«

»Wo sind die?«

»In New Jersey.«

»Ehrlich? Die Appalachen reichen bis nach New Jersey hinein?«

»Das tun sie.«

»Hab ich gar nicht gewusst.« Wieder schüttelte Carter den Kopf. »Ich war noch nie in New Jersey.«

Jetzt war es raus. Sein leiblicher Vater war nie in dem Staat gewesen, den Wilde schon sein ganzes Leben lang sein Zuhause nannte. Wilde wusste nicht recht, was er davon halten oder wie er damit umgehen sollte.

»Man erwartet von New Jersey nicht, dass da Berge sind«, sagte Carter, der noch dabei war, seine Gedanken zu ordnen. »Ich denke dabei eher an Überbevölkerung, Umweltverschmutzung, Bruce Springsteen und die Sopranos.«

»Es ist ein komplizierter Staat«, sagte Wilde.

»Das ist Nevada auch. Sie glauben nicht, was für Veränderungen ich hier miterlebt habe.«

»Seit wann leben Sie in Nevada?«, versuchte Wilde das Gespräch sanft zu lenken.

»Ich wurde hier in der Nähe geboren, in einer Stadt namens Searchlight. Schon mal davon gehört?«

»Nein.«

»Rund eine Dreiviertelstunde Fahrt von hier nach Süden.« Er deutete mit dem Finger in die angegebene Richtung, als würde das etwas bringen, dann sah er seinen Finger an, schüttelte den Kopf und legte die Hand auf den Tisch. »Ich fange schon grundlos an, Small Talk zu betreiben. Tut mir leid.«

»Schon okay«, sagte Wilde.

»Es ist bloß – ein Sohn.« Möglicherweise traten ihm Tränen in die Augen. »Ich krieg das einfach nicht in den Kopf.«

Wilde schwieg.

»Eins will ich gleich zu Anfang klarstellen, okay? Ich bin mir nämlich sicher, dass Sie sich das fragen.« Er senkte die Stimme. »Ich habe nichts von Ihnen gewusst. Ich habe nicht gewusst, dass ich einen Sohn habe.«

»Wenn Sie sagen ›ich habe das nicht gewusst …‹«

»Ich meine, nie. Bis zu diesem Augenblick. Das ist ein totaler Schock für mich.«

Kalte Schauer strömten durch Wildes Körper. Er hatte sein Leben lang auf Antworten wie diese gewartet. Er hatte dieses Bedürfnis verdrängt, so getan, als würde es keine Rolle spielen, und in vielerlei Hinsicht tat es das auch nicht, aber natürlich war die Neugierde allgegenwärtig. Irgendwann hatte er beschlossen, sich nicht vom Unbekannten leiten zu lassen. Man hatte ihn zum Sterben im Wald zurückgelassen, und irgendwie hatte er das überlebt. Natürlich veränderte das einen Menschen, formte ihn, war Teil von allem, was er tat.

»Wie schon gesagt, habe ich drei Töchter. Aber jetzt, nach all den Jahren zu erfahren, dass ich einen Sohn hatte, bevor eine von ihnen überhaupt geboren wurde …« Er schüttelte den Kopf und blinzelte. »Oh Mann, daran muss ich mich erst mal gewöhnen. Geben Sie mir etwas Zeit, um zu Atem zu kommen.«

»Natürlich.«

»Sie haben gesagt, dass Sie Wilde genannt werden?«

»Das ist richtig.«

»Wer hat Sie so genannt?«

»Mein Ziehvater.«

»Passt ja«, sagte Carter und fuhr fort: »War er gut zu Ihnen? Ihr Pflegevater?«

Wilde gefiel es nicht, immer reagieren zu müssen statt selbst Fragen zu stellen, antwortete aber »Ja« und beließ es dabei.

Carter trug immer noch sein Arbeitshemd. Es war mit einer Staubschicht bedeckt. Er zog einen Stift und eine Lesebrille aus der Brusttasche. »Sagen Sie mir noch einmal, wann Sie gefunden wurden.«

»Im April 1986.«

Carter notierte das auf dem Platzset aus Papier. »Und wie alt hat man Sie geschätzt?«

»Auf etwa sechs oder sieben.«

Auch das schrieb er auf. »Das heißt also, dass Sie um 1980 herum geboren wurden. Plus/minus ein Jahr.«

»Richtig«, sagte Wilde.

Daniel Carter nickte und blickte auf seine Notizen. »Ich nehme an, Wilde, dass Sie irgendwann im Sommer 1980 gezeugt und neun Monate später geboren wurden, das wäre dann zwischen März und Mai 1981.«

Die Tischplatte vibrierte leicht. Carter griff nach seinem Handy und sah aufs Display. »Sofia«, sagte er. »Meine Frau. Ich geh lieber ran.«

Wilde nickte knapp.

»Hey, Schatz – Ja, ich bin im Mustang Sally’s.« Während Carter zuhörte, schweifte sein Blick zu Wilde. »Ein Lieferant. Er macht ein Angebot für die PVC-Rohre. Ja, natürlich, ich erzähl dir später mehr.« Nach einer weiteren Pause beendete er das Gespräch mit einem aufrichtigen: »Bis nachher. Ich liebe dich.«

Er legte das Handy wieder auf den Tisch. Dann starrte er es lange an.

»Diese Frau ist das Beste, was mir je passiert ist«, sagte er. Immer noch auf das Telefon starrend fügte er hinzu: »Es muss schwer für Sie gewesen sein, Wilde. Nichts über Ihre Vergangenheit zu wissen. Es tut mir leid.«

Wilde sagte nichts.

»Kann ich Ihnen vertrauen?«, fragte Carter. Bevor Wilde eine Antwort geben konnte, winkte Daniel Carter ab. »Blöde Frage. Sogar ziemlich beleidigend. Ich habe kein Recht, etwas von Ihnen zu verlangen. Und entweder, man hält sein Wort, oder man tut es nicht. Es ändert nichts, wenn man denjenigen vorher fragt. Die größten Lügner, denen ich je begegnet bin, konnten auch die schönsten Versprechen geben und einem dabei direkt in die Augen sehen.«

Carter legte die Hände zusammen. »Ich nehme an, dass Sie hier sind, weil Sie Antworten suchen.«

Wilde wusste nicht, ob er einen Ton herausbekommen würde, also nickte er nur.

»Ich werde Ihnen erzählen, so viel ich kann, okay? Ich überlege nur, wo ich anfangen soll. Ich denke …« Er sah nach oben, blinzelte und fing an. »Also, Sofia und ich haben im letzten Jahr der Highschool angefangen, miteinander auszugehen. Wir haben uns ziemlich schnell ineinander verliebt. Aber wir waren fast noch Kinder. Sie wissen ja, wie das ist. Jedenfalls ist Sofia viel klüger als ich. Nachdem wir den Abschluss gemacht hatten, ist sie aufs College gegangen. Nicht in Nevada. In Utah. Sie war die Erste in ihrer Familie, die aufs College gegangen ist. Ich bin zur Air Force. Waren Sie beim Militär?«

»Ja.«

»Welche Truppe?«

»Bei der Army.«

»Waren Sie im Kriegseinsatz?«, fragte er.

Wilde sprach nicht gerne darüber. »Ja.«

»Ich nicht. Lag an meinem Alter. Ich hatte Glück. Nachdem wir aus Vietnam raus waren, das war ja schon in den Siebzigern, und bis Reagan 1986 Libyen bombardiert hat, dachte ich, dass wir nie wieder in den Krieg ziehen würden. Klingt ziemlich seltsam heutzutage, aber so war das damals. Das hat der Vietnamkrieg unserer Psyche angetan. Das ganze Land litt an einer posttraumatischen Belastungsstörung, was vielleicht auch ganz gut war. Die meiste Zeit war ich in der Nellis Air Force Base stationiert, die nur rund eine halbe Stunde von hier entfernt ist, aber ich war auch für ein paar kurze Einsätze im Ausland. In Ramstein in Deutschland und in Mildenhall in England. Ich war kein Pilot oder so etwas. Ich habe im Hoch- und Tiefbau gearbeitet und im Wesentlichen Stützpunkte instand gehalten und erweitert. Da habe ich dann viel über das Bauwesen gelernt.«

Nancy, die Kellnerin, unterbrach ihn. »Die Pommes frites waren schon fertig, also habe ich sie schon mal rausgebracht. Die schmecken einfach besser, wenn sie heiß sind.«

Carter setzte sein breites, charmantes Lächeln auf. »Das ist sehr aufmerksam von dir. Danke, Nancy.«

Nancy Urban stellte den großen Korb mit Pommes frites zwischen die beiden Männer, und einen kleinen Teller vor jeden von ihnen. Ketchup stand schon auf dem Tisch, Nancy rückte die Flasche jedoch in die Mitte, als wolle sie sie daran erinnern, dass sie da war. Als sie ging, nahm Carter eine einzelne Pommes.

»Sofia und ich haben uns verlobt, kurz bevor ich zu meinem Sommereinsatz in Ramstein aufgebrochen bin. Wir waren noch sehr jung, und ich hatte Angst, sie zu verlieren. Schließlich hat sie an der Uni all diese coolen Typen kennengelernt. Die anderen Paare aus der Highschool, die ich kannte, hatten sich schon wieder getrennt – oder sie mussten heiraten, weil die Frau schwanger geworden war. Jedenfalls habe ich ausgerechnet in einem Pfandhaus einen Verlobungsring gekauft.« Er kniff die Augen zusammen. »Haben Sie ein Problem mit Alkohol, Wilde?«

»Nein.«

»Drogen? Sonst irgendeine Sucht?«

Wilde rutschte auf der Bank herum. »Nein.«

Carter lächelte. »Freut mich, das zu hören. Ich hatte eine Alkohol-Phase, bin aber inzwischen seit achtundzwanzig Jahren trocken. Aber darauf kann ich nicht die Schuld schieben. Nicht so richtig. Lange Rede, kurzer Sinn. Ich hatte einen verrückten Sommer in Europa. Ich hielt es für meine letzte Chance als alleinstehender Mann, und idiotischerweise dachte ich, ich müsste mir die Hörner abstoßen, oder was auch immer für Begriffe wir Männer uns ausdenken, um so etwas zu beschönigen und unser Verhalten zu rechtfertigen. Außer damals, in diesem Sommer, habe ich Sofia nie betrogen, und manchmal, selbst nach all den Jahren, sehe ich sie an, wenn sie schläft, und fühle mich schuldig. Aber ich habe es getan. One-Night-Stands, so nannten wir das früher. Verdammt, ich glaube, man nennt es heute immer noch One-Night-Stands, oder?«

Er sah Wilde an, als erwarte er eine Antwort von ihm.

»Ich denke schon«, sagte Wilde, um das Gespräch in Gang zu halten.

»Richtig. Sind Sie verheiratet, Wilde?«

»Nein.«

»Geht mich aber auch nichts an. Entschuldigung.«

»Ist schon okay.«

»Jedenfalls habe ich im Sommer 1980 mit acht Frauen geschlafen. Ja, ich kenne die genaue Zahl. Erbärmlich, oder? Abgesehen von Sofia sind das die einzigen Frauen, mit denen ich in meinem Leben je Sex hatte. Die logische Schlussfolgerung lautet also, dass eine dieser acht Frauen Ihre Mutter ist.«

Bei einem One-Night-Stand gezeugt, dachte Wilde. Hatte das etwas zu bedeuten? Wilde hätte nicht sagen können, was. Vielleicht lag eine gewisse Ironie darin, dass Wilde sich in sehr kurzfristigen Beziehungen am wohlsten fühlte – oder, um es konkret zu sagen, bei One-Night-Stands. Er hatte ein paar Freundinnen gehabt, Frauen, mit denen er versucht hatte, eine Beziehung einzugehen, aber irgendwie hatte es nie recht funktioniert.

»Diese acht Frauen«, sagte Wilde.

»Was ist mit ihnen?«

»Haben Sie ihre Namen oder Adressen?«

»Nein.« Carter rieb sich das Kinn und sah nach oben. »Ich erinnere mich nur noch an ein paar Vornamen, tut mir leid.«

»Hat sich je eine bei Ihnen gemeldet?«

»Hinterher, meinen Sie? Nein. Ich habe nie wieder etwas von ihnen gehört. Sie müssen bedenken, dass das 1980 war. Handys oder E-Mails gab es nicht. Ich kannte ihre Nachnamen nicht, sie kannten meinen nicht. Kennen Sie die Songs von Bob Seger & The Silver Bullet Band?«

»Eigentlich nicht.«

Ein wehmütiges Lächeln huschte über sein Gesicht. »Oh Mann, da verpassen Sie was. Aber Night Moves oder Turn the Page haben Sie bestimmt schon mal gehört. In Night Moves singt Bob Seger jedenfalls: ›I used her, she used me, neither one cared.‹ So war es für mich in jenem Sommer.«

»Dann waren das alles One-Night-Stands?«

»Na ja, mit einem Mädchen war es eher eine Wochenendaffäre. In Barcelona. Das waren wahrscheinlich drei Nächte.«

»Und die kannte Sie nur als Daniel«, sagte Wilde.

»Meistens nenne ich mich Danny, aber im Prinzip ja.«

»Keine Nachnamen. Keine Adressen.«

»So ist es.«

»Haben Sie ihnen erzählt, dass Sie Soldat sind, oder wo Sie stationiert waren?«

Er überlegte. »Schon möglich.«

»Aber selbst wenn Sie das getan haben«, fuhr Wilde fort, »Ramstein ist riesig. Da sind mehr als 50 000 Amerikaner.«

»Waren Sie da?«

Wilde nickte. Er hatte dort drei Wochen lang für eine geheime Mission im Nordirak trainiert. »Wenn also eine junge Frau schwanger geworden ist und auf der Suche nach dem Vater auf dem Stützpunkt nach einem Danny oder Daniel gefragt hat …«

»Moment mal«, unterbrach Carter. »Glauben Sie, Ihre Mutter hat mich gesucht?«

»Keine Ahnung. Es war 1980. Sie war schwanger. Vielleicht. Aber vielleicht auch nicht. Vielleicht stand sie auch auf One-Night-Stands. Vielleicht hatte sie damals mit einem Haufen Typen One-Night-Stands und wusste nicht, wer der Vater ist. Wer weiß.«

»Aber Sie haben recht«, sagte Carter, und die Farbe schien aus seinem Gesicht zu weichen. »Selbst wenn sie mich gesucht hätte, hätte sie keine Chance gehabt. Ich war ja auch nur zwei Monate da. Vielleicht war ich sogar schon wieder in den Staaten, als sie mitgekriegt hat, dass sie schwanger ist.«

Nancy brachte die Sandwiches. Sie stellte einen Teller vor Carter und einen vor Wilde. Ihr Blick wanderte hastig zwischen den beiden hin und her. Sie spürte, dass die Stimmung angespannt war, und verschwand wieder.

»Acht Frauen«, sagte Wilde. »Wie viele von ihnen waren Amerikanerinnen?«

»Ist das nicht egal?« Doch dann: »Ach so, verstehe. Sie wurden in New Jersey im Wald ausgesetzt. Daher ist anzunehmen, dass Ihre Mutter Amerikanerin ist.«

Wilde wartete.

»Nur eine. Die meisten Mädchen habe ich in Spanien kennengelernt. Das war damals für die Europäer wie hier der Spring Break in Florida.«

Wilde bemühte sich, ruhig zu atmen. »Was wissen Sie noch über sie?«

Wieder ergriff Carter ein einzelnes Pommes-Stäbchen mit Daumen und Zeigefinger und starrte darauf hinunter, als läge darin die Antwort. »Ich glaube, sie hieß Susan.«

»Okay«, sagte Wilde. »Und wo haben Sie Susan kennengelernt?«

»In einer Diskothek in Fuengirola. Das ist eine Stadt an der Costa del Sol. Ich erinnere mich, dass ich sie angesprochen habe, und als sie antwortete, war ich von ihrem Akzent überrascht, weil damals nur sehr wenige Amerikaner da unten Urlaub gemacht haben.«

»Sie sind also in der Disco«, fuhr Wilde fort. »Versuchen Sie, sich zu erinnern. Mit wem waren Sie da?«

»Wahrscheinlich mit ein paar Jungs aus meinem Regiment. Aber genau weiß ich das nicht mehr. Tut mir leid. Es kann sein, dass sie dabei waren. Wir sind von einer Disco zur nächsten gezogen.«

»Hat Susan Ihnen erzählt, woher sie kam?«

Carter schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht mal mehr sicher, ob sie wirklich Amerikanerin war. Man ist da unten, wie schon gesagt, nur selten jungen Amerikanerinnen begegnet. Die waren damals, also 1980, einfach nicht in der Gegend unterwegs. Aber sie hatte eindeutig einen amerikanischen Akzent, also nehme ich an, dass sie von hier war. Ich war auch schon ziemlich betrunken. Ich weiß noch, dass ich mit ihr getanzt habe. So machte man das damals. Man hat heftig getanzt, bis beide verschwitzt waren, dann ist man gegangen.«

»Wohin sind Sie mit ihr gegangen?«

»Wir hatten mit ein paar Leuten das Geld für ein Hotelzimmer zusammengeschmissen.«

»Wissen Sie noch, wie das Hotel hieß?«

»Nein, aber es war ganz in der Nähe der Disco. Ein Hochhaus. Ich erinnere mich noch, dass es rund war.«

»Rund?«

»Ja. Es war ein rundes Hochhaus. Unverwechselbar. Unser Zimmer hatte einen Balkon. Fragen Sie mich nicht, woher ich das weiß, aber ich weiß es. Wenn ich mir im Internet Bilder von Hotels in Fuengirola angucke, würde ich es wahrscheinlich wiedererkennen. Falls es noch steht.«

Als ob das irgendetwas ändern würde, dachte Wilde. Als ob er nach Spanien fliegen und in einem großen Hotel fragen könnte, ob eine junge Amerikanerin namens Susan 1980 dort einen One-Night-Stand hatte.

»Wissen Sie noch, wann genau das war?«

»Meinen Sie das Datum?«

»Ja. Oder sonst irgendwas.«

»Ich glaube, das mit ihr war gegen Ende meines Aufenthalts. Sie muss ungefähr das sechste oder siebte Mädchen gewesen sein, also war es wahrscheinlich im August. Aber das ist nur eine Schätzung.«

»Hat sie auch in diesem runden Hochhaus gewohnt?«

Carter verzog das Gesicht. »Ich weiß es nicht, kann es mir aber nicht vorstellen.«

»Mit wem war sie unterwegs?«

»Keine Ahnung.«

»Als Sie sie angesprochen haben, war da jemand bei ihr?«

Carter schüttelte langsam den Kopf. »Sorry, Wilde. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern.«

»Wie sah sie aus?«

»Braune Haare. Hübsch. Aber …« Er zuckte die Achseln und entschuldigte sich noch einmal.

Sie gingen andere Möglichkeiten durch. Eine Ingrid aus Amsterdam. Rachel oder Racquel aus Manchester. Anna aus Berlin. Eine Stunde verging. Dann eine weitere. Schließlich aßen sie ihre Sandwiches und die inzwischen kalten Pommes frites. Zwischendurch vibrierte Daniel Carters Handy mehrmals. Er ignorierte es. Sie unterhielten sich, wobei Carter den Großteil des Gesprächs bestritt. Wilde war nicht der Typ, der sich öffnete.

Als das Handy erneut vibrierte, winkte Daniel Carter Nancy, dass sie ihm die Rechnung bringen sollte. Wilde wollte sie bezahlen, aber Carter winkte ab. »Ich würde sagen, das ist das Mindeste, was ich tun kann, aber das wäre eine Beleidigung.«

Sie stiegen wieder in den Pick-up und fuhren zurück zum Haus in der Sundew Avenue. Beide Männer versanken in ein dichtes, fast schon greifbares Schweigen. Wilde blickte durch die Windschutzscheibe in den Nachthimmel. Er sah schon sein Leben lang zu den Sternen hinauf, aber einen solchen Himmel wie den im amerikanischen Südwesten kurz nach der Abenddämmerung – diesen vollen Türkiston – gab es nur hier.

»Wo schlafen Sie heute Nacht?«, fragte sein Vater.

»Im Holiday Inn Express.«

»Schick.«

»Ja.«

»Ich muss Sie um einen Gefallen bitten, Wilde.«

Wilde sah das Profil seines Vaters an. Die Ähnlichkeit zu seinem eigenen war nicht zu übersehen. Carter starrte nach vorne auf die Straße, seine knorrigen Hände umklammerten das Lenkrad in einer perfekten Zehn-vor-zwei-Stellung.

»Und das wäre?«, sagte Wilde.

»Ich habe eine wirklich tolle Familie«, sagte er. »Eine liebevolle Frau, wunderbare, bezaubernde Töchter und sogar Enkelkinder.«

Wilde sagte nichts.

»Wir sind ziemlich einfache Menschen. Wir arbeiten hart. Wir versuchen, das Richtige zu tun. Ich besitze schon seit Langem eine eigene Firma. Ich habe nie jemanden betrogen und biete meinen Kunden einen anständigen Service. Zweimal im Jahr fahren Sofia und ich mit einem Airstream-Wohnmobil in einen Nationalpark, den wir noch nicht kennen, und machen dort Urlaub. Früher sind die Mädchen mitgekommen, aber inzwischen haben sie natürlich ihre eigenen Familien.«

Carter setzte den Blinker und griff beim Abbiegen um. Dann sah er Wilde an.

»Ich möchte nicht so eine Bombe platzen lassen und ihr Leben derart durcheinanderwirbeln«, erklärte er. »Das werden Sie doch verstehen, oder?«

Wilde nickte. »Das tue ich«, sagte er.

»Als ich in jenem Sommer nach Hause gekommen bin, hat Sofia mich auf der Air Base besucht. Sie hat gefragt, was ich da drüben gemacht habe. Ich habe ihr direkt in die Augen gesehen und gelogen. Es scheint so lange her zu sein – und das ist es auch, verstehen Sie mich nicht falsch – aber wenn Sofia jetzt erfährt, dass unsere Ehe auf dieser Lüge basiert …«

»Schon klar«, sagte Wilde.

»Ich – können Sie mir einfach etwas Zeit geben? Um darüber nachzudenken?«

»Worüber nachzudenken?«

»Darüber, was ich ihnen sage. Ob ich es ihnen sage. Wie ich es ihnen sage.«

Wilde überlegte. Er wusste gar nicht genau, ob er das überhaupt wollte. Wollte er drei neue Schwestern? Nein. Wollte oder brauchte er einen Vater? Nein. Er war ein Einzelgänger. Er hatte sich entschieden, allein im Wald zu leben. Beziehungen waren nichts für ihn. Die einzige Person, für die er sich wirklich verantwortlich fühlte, war sein Patenkind Matthew, der inzwischen seinen Abschluss auf der Highschool gemacht haben mussteund jetzt auf die Uni ging– und auch das lag nur daran, weil Matthews Vater David, Wildes einziger Freund, aufgrund von Wildes Unachtsamkeit gestorben war. Er schuldete dem Jungen etwas. Und das würde auch immer so bleiben.

Es gab noch mehr Menschen in seinem Leben. Niemand, nicht einmal Wilde, war eine Insel.

Aber brauchte er dies in seinem Leben?

Als sie in die Sundew Avenue einbogen, sah Wilde, wie sein Vater erstarrte. Sofia und seine Tochter Alena standen auf der Eingangstreppe.

»Wie wär’s damit?«, fing Daniel Carter an. »Wir treffen uns morgen zum Frühstück. Um acht im Holiday Inn Express. Dann besprechen wir alles und machen einen Plan.«

Wilde nickte, als Carter in die Einfahrt bog. Beide Männer sprangen heraus. Sofia eilte zu ihrem Mann. Der erzählte wieder die Geschichte vom PVC-Rohr-Lieferanten. So wie Sofia ihn ansah, hatte Wilde aber nicht das Gefühl, dass sie ihm das abnahm. Sie ließ Wilde keine Sekunde aus den Augen.

Als es nicht mehr unhöflich erschien, sich zu verabschieden, sah Wilde auf die Uhr, sagte, dass er gehen müsse und machte sich sofort auf den Weg zu seinem Mietwagen. Er drehte sich nicht um, spürte aber ihre Blicke in seinem Rücken. Ohne einen einzigen Blick zurückzuwerfen, stieg er ein und gab Gas. Als er am Holiday Inn Express angelangt war, packte Wilde seine Sachen. Es war nicht viel. Er checkte aus, fuhr zum Flughafen und gab den Wagen bei der Autovermietung ab. Er bekam noch den letzten Flug von Las Vegas zurück nach New Jersey.

Wilde setzte sich auf seinen Fensterplatz und ließ sich das Gespräch noch einmal durch den Kopf gehen. Er wollte keine Bombe platzen lassen und ihr Leben durcheinanderwirbeln. Und er wollte auch keine Bombe auf sein eigenes Leben werfen.

Das war’s, dachte er.

Doch da täuschte er sich.

DREI

Chris Taylor, früher bekannt als Der Fremde, sagte: »Giraffe ist dran.«

Giraffe räusperte sich. »Ich will nicht melodramatisch klingen.«

»Du klingst doch immer melodramatisch.« Das war Panther. Alle glucksten.

»Na gut. Aber dieses Mal … Ich meine, der Typ verdient eine Welt voller Schmerz.«

»Einen Hurrikan der Kategorie 5«, stimmte Alpaka zu.

»Eine Plage wie die Pest«, ergänzte Kätzchen.

»Wenn jemand das Schlimmste verdient hat«, sagte Panther, »dann dieser Typ.«

Chris Taylor lehnte sich zurück und betrachtete die Gesichter auf seinem riesigen Wandmonitor. Für den Laien sah das aus wie ein gedoptes Zoom-Meeting, aber dieses Meeting hielten sie über ein sicheres Videokonferenzprogramm ab, das Chris selbst entwickelt hatte. Auf dem Monitor waren sechs Teilnehmer zu sehen, drei oben, drei unten. Ihre eigentlichen Bilder wurden durch digitale Ganzkörper-Animoji ersetzt, und zwar von – was auch sonst – einer Giraffe, einem Panther, einem Alpaka, einem Kätzchen, einem Eisbären und dem Animoji des Fremden als Anführer der Gruppe, einem Löwen. Chris, der sich jetzt in aller Öffentlichkeit in einem edlen Loft in der Franklin Street in Manhattan mit Blick auf den Tribeca Grill versteckt hatte, wollte eigentlich nicht als Löwe erscheinen. In seinen Augen war der Löwe ein zu offensichtliches Symbol für einen Anführer und erzeugte so eine zu starke Distanz, erhob ihn also gewissermaßen zu sehr über – wenn man so wollte – die Meute.

»Lasst uns nicht vorgreifen«, sagte Chris. »Stell den Fall bitte vor, Giraffe.«

»Der Antrag wurde von einer alleinerziehenden Mutter namens Francine Courter eingereicht«, begann Giraffe. Das Giraffen-Animoji erinnerte Chris immer an den Spielzeugladen seiner Kindheit – Geoffrey die Giraffe war das Maskottchen der Spielwarenkette Toys ’R’ Us gewesen. Chris erinnerte sich, dass seine Eltern ihn nur zu besonderen Anlässen dorthin mitgenommen hatten, und dass er das Geschäft immer voller Ehrfurcht betreten und über die schiere Magie dieser Wunderwelt gestaunt hatte. Es waren glückliche Erinnerungen, und er fragte sich oft, ob Giraffe, wer auch immer sie sein mochte, sich aus diesem Grund für dieses Animoji entschieden hatte.

»Francines einziges Kind – ihr Sohn Corey – wurde bei der Schießerei an der Schule in Northbridge im letzten April ermordet. Corey war fünfzehn Jahre alt und ging in die zehnte Klasse. Er hat Theater gespielt und Musik gemacht. Bei einer Probe für das Frühjahrskonzert platzte der Schütze herein und schoss ihm in den Kopf. Bei diesem Gewaltakt wurden achtzehn Kinder verletzt, von denen, wie ihr euch sicher erinnert, zwölf starben.« Giraffe stoppte und atmete tief durch. »Löwe?«

»Ja?«

»Muss ich noch weitere Einzelheiten über diesen Gewaltakt erzählen?«

»Ich glaube nicht, Giraffe«, sagte Chris/Löwe. »Wir alle erinnern uns an die Nachrichtenberichte. Sofern niemand etwas dagegen hat.«

Das hatte keiner.

»Okay, dann fahre ich fort«, sagte Giraffe. Trotz der Stimmveränderungs-Software hörte Chris das Zittern in Giraffes Tonfall. Sie verwendeten alle irgendeine Art von Stimmveränderungs-Technologie. Das war Teil ihrer Sicherheitsvorkehrungen zum Schutz der Anonymität. Aus diesem Grund verdeckten die Animoji auch nicht nur ihre Gesichter – sie ersetzten ihr gesamtes Aussehen.

»Nachdem Francine ihren einzigen Sohn beerdigt hatte, wurde sie von ihrer Trauer überwältigt. Das kann man sich ja vorstellen. Sie versuchte da herauszukommen, indem sie dieses Gefühl kanalisierte und sich dafür einsetzte, dass andere Eltern dieses Leid nicht durchmachen müssen. Sie wurde zu einer lautstarken Verfechterin von Gesetzen zur Waffenkontrolle.«

»Giraffe?«

Es war Eisbär.

»Ja, Bär?«

»Vielleicht sollte ich das Thema nicht aufbringen, aber ich unterstütze den zweiten Verfassungszusatz. Wenn jemand mit der Position dieser Frau nicht einverstanden ist, selbst wenn sie eine trauernde Mutter ist …«

Giraffe unterbrach ihn barsch. »Darum geht es nicht.«

»Okay, ich will nur nicht, dass wir hier politisch werden.«

Chris meldete sich zu Wort. »In dem Punkt waren wir uns doch einig. Bei unserer Mission geht es einzig und allein um die Bestrafung von Grausamkeit und Missbrauch oder Misshandlung, nicht um Politik.«

»Es geht in diesem Fall nicht um Politik«, beharrte Giraffe. »Francine Courter wird von jemandem attackiert, der wirklich böse ist.«

»Sprich weiter«, sagte Chris zu Giraffe.

»Wo war ich – ach richtig, sie setzt sich für Waffenkontrolle ein. Und, wie Eisbär schon anmerkte, natürlich waren viele Leute mit ihrer Position nicht einverstanden. Das hatte sie erwartet. Was dann aber als Gedankenaustausch begann, verwandelte sich im Nu zu einer allumfassenden und gezielten Terrorkampagne gegen sie. Francine erhielt Morddrohungen. Im Internet wurde sie ständig von Bots verfolgt und belästigt. Ihre Adresse wurde veröffentlicht, sodass sie zu ihrem Bruder und seiner Familie ziehen musste. Aber trotz allem war sie nicht auf das vorbereitet, was die Sache dann erst richtig ins Rollen brachte.«

»Und das war?«

»Ein Verschwörungsfanatiker veröffentlichte ein Video im Netz, in dem er behauptete, die Schießerei hätte gar nicht stattgefunden.«

»Ehrlich?«, sagte Kätzchen.

»Dann waren die Überwachungsvideos, auf denen man sah, wie Kinder abgeschlachtet wurden, für diese Psychos wohl nicht Beweis genug«, ergänzte Panther.

»Ein Fake«, sagte Giraffe, »das wurde im Verschwörungsvideo behauptet. Es wäre alles nur von Befürwortern der Waffenkontrollgesetze inszeniert, damit sie euch die Waffen wegnehmen können. Francine Courter sei eine ›Katastrophendarstellerin‹, was auch immer das sein mag, außerdem wird in dem Video behauptet – und das ist jetzt das Widerlichste an der Geschichte –, dass ihr Sohn Corey nie existiert hätte.«

»Mein Gott. Wie sind …«

»Das meiste haben sie einfach erfunden. Oder sie haben die Tatsachen so sehr entstellt, bis sie unglaubwürdig wirkten. Sie haben zum Beispiel eine andere Francine Courter ausfindig gemacht, die in Kanada lebt und von sich selbst sagt, dass sie kinderlos ist, also haben sie eine Tonaufnahme gemacht, in der der Berichterstatter sie anruft und ›Francine Courter‹ erzählt, dass sie nie einen Sohn namens Corey hatte und deshalb natürlich auch kein Kind von ihr erschossen oder anderweitig getötet wurde. Ergo muss das alles Schwindel sein.«

»Ich kann mit diesen Leuten nicht«, sagte Alpaka.

»Schlimm genug, ein Kind zu verlieren«, fügte Kätzchen an, die einen englischen Akzent hatte, der allerdings auch auf ihre Stimmveränderungs-Software zurückzuführen sein könnte, »aber dann auch noch so von diesen Irren traktiert zu werden.«

»Wer ist denn so dumm und glaubt so etwas?«, fragte Eisbär.

»Du würdest dich wundern«, sagte Giraffe. »Oder vielleicht auch nicht.«

»Was wurde in dem Verschwörungsvideo denn noch gezeigt?«, fragte Chris.

»Nichts, das irgendwelchen Sinn ergibt. Es wurden noch eigenartige Suggestivfragen gestellt, wie ›Warum sind einige Überwachungsvideos aus der Schule in Schwarzweiß, andere aber in Farbe?‹, als ob das ein Beweis dafür wäre, dass das alles Fake ist. Dann fälschen oder erfinden sie vermeintliche Beweisfotos. Zum Beispiel – und das ist einfach nur abscheulich – hat ein Bot ein Foto eines Jungen, der Corey ein wenig ähnelt, bei einem Mets-Spiel gepostet, das nach dem Gewaltakt stattfand. Der Text dazu lautete: ›Hier sieht man den Schauspieler, der bei der Northbridge-High-Inszenierung den Corey Courter gespielt hat, letzte Woche bei einem Baseball-Spiel!‹, worauf andere dann Kommentare schreiben wie: ›Wow, das ist der Beweis, dass das alles nur Fake war, der sieht doch vollkommen fit aus, das ist alles nur Betrug, ihr Schlafschafe, hört endlich auf, das zu glauben, was die Mainstream-Medien euch erzählen, recherchiert selbst, Francine Courter ist ein Lügenmaul‹, und so weiter.«

»So schrecklich das auch klingt«, sagte Eisbär, »aber es scheint, als würden wir über zu viele Personen sprechen, um sinnvolle Maßnahmen zu ergreifen.«

»Das war auch meine Sorge«, sagte Giraffe, »bis ich mir das zweite Video näher angesehen habe.«

»Das zweite Video?«

»Das erste Video, das auf YouTube war und in dem behauptet wird, die Schießerei sei ein Fake gewesen, wurde von einem Account namens Bitter Truth gepostet. Das Video wurde dann zwar irgendwann gelöscht, aber wie immer in solchen Fällen war es viel zu spät. Bis dahin war es schon über drei Millionen Mal aufgerufen worden. Es war längst kopiert und weiterverbreitet worden. Das kennt ihr ja. Aber dann kam ein zweites Video unter dem Namen Truth de Bitter heraus.«

»Nicht gerade ein tolles Pseudonym«, sagte Chris.

»Nein, absolut nicht. Er will uns wissen lassen, dass es aus der gleichen Quelle stammt.«

»Du sagst ›er‹«, merkte Panther an.

»Ja.«

»Dann ist es ein Mann?«

»Ja.«

Das überraschte keinen von ihnen. Ja, auch Frauen trollten. Aber nicht wie Männer. Das war kein Sexismus. Es waren Fakten.

»Sein zweites Video …« Giraffe stoppte, um sich zu sammeln.

Schweigen.

Schließlich fragte Panther leise: »Bist du okay, Giraffe?«

»Lass dir Zeit«, sagte Chris.

»Ja, gebt mir ein paar Sekunden. Es war einfach schwer, das anzusehen. Der Link ist in meinem Bericht, aber kurz gesagt geht der Typ zu Coreys Grab. Er stellt sich an den Grabstein eines fünfzehnjährigen Jungen. Der Typ ist ganz schwarz gekleidet wie ein Ninja und trägt eine Maske, damit man ihn nicht erkennt. Außerdem hat er dieses Gerät dabei. Es sieht aus wie so ein Metalldetektor, mit denen man manchmal Leute am Strand herumlaufen sieht. Verdammt, wahrscheinlich war es das auch. Er behauptet, es wäre ein ›BCD‹ – ein Buried Corpse Detector, mit dem man begrabene Leichen orten kann. Dann demonstriert er an anderen Gräbern, dass der Detektor anschlägt, wenn er ihn knapp über den Boden hält. Es klingt wie statisches Rauschen. Er behauptet, dass das Gerät auf diese Weise anzeigt, dass in dem Grab tatsächlich eine Leiche liegt. Dann schwenkt er das Gerät über Coreys Grab. Ratet mal, was dann passiert?«

»Oh mein Gott«, sagte Alpaka.

»Genau. Er behauptet, das fehlende Rauschen zeige, dass dort keine Leiche liegt.«

»Und die Leute glauben das?«

»Wenn es in ihr Weltbild passt«, sagte Chris, »nehmen einem die Menschen alles ab. Das wisst ihr ebenso gut wie ich.«

»Leider bin ich noch nicht fertig.« Giraffe atmete tief durch. »Am Ende des Videos uriniert der Typ auf Coreys Grab.«

Stille.

»Dann postet er das Video, in dem er das tut, auf jeder Seite, die mit Francine Courter zu tun hat.«

Schweigen.

Chris sagte als Erster etwas. »Wie heißt er?«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

»Kenton Frauling. Es hat eine Weile gedauert, aber ich konnte mindestens zehn der beteiligten Bots zu demselben Account wie Bitter Truth und Truth de Bitter zurückverfolgen.«

»Wie hast du ihn aufgespürt?«

»Ich habe ihm eine E-Mail geschickt, in der ich behauptet habe, für die Medien zu arbeiten und seine Geschichte zu glauben. Er hat auf den Link geklickt, und tja, den Rest kennt ihr.«

»Also hat dieser Frauling nicht nur die schrecklichen Videos gedreht …«

»Nein, er hat auch die meisten Kommentare dazu geschrieben. Er hat die ganze Zeit nur Selbstgespräche geführt. Er hat diesen Angriff orchestriert. Darüber hinaus hat er einer Bot-Farm im Ausland den Auftrag erteilt, ihn bei seinem unaufhörlichen Trommelfeuer auf Francine zu unterstützen. Neben tonnenweisen Posts und Nachrichten auf Twitter und Facebook und so weiter, ruft er Francine rund um die Uhr auf ihrem Handy an. Er schickt ihr Briefe mit Bildern von Corey und klebt sogar Flugblätter an ihr Auto.«

»Und wer ist dieser Frauling?«

»Er ist ein sechsunddreißigjähriger Verkaufsleiter einer großen Versicherungsgesellschaft. Verdient sechsstellig.«

Chris spürte, wie sich seine Hände zu Fäusten ballten. Diese Information, die Tatsache, dass Kenton Frauling Erfolg im Leben hatte, hätte ihn eigentlich schockieren müssen, tat es aber nicht. Die meisten Menschen nahmen an, dass die große Mehrheit der bösartigen Internet-Trolle, die andere Menschen belästigten, arbeitslose Loser waren, die wütend in Mamas Keller saßen und ihre Hass-Posts in die Welt schickten. Die meisten waren jedoch gebildet, berufstätig und finanziell gut situiert. Sie alle einte allerdings das Gefühl, auf irgendeine Weise gekränkt zu werden, sie bildeten sich ein, überall auf Ablehnung zu stoßen, und sahen sich daher ohne triftigen Grund in einer Opferrolle.

»Frauling hat zwei Kinder. Er ist seit Kurzem geschieden. Das ist die Zusammenfassung des Falls. Ich habe jedem von euch eine Datei mit den erwähnten Videos und Posts geschickt.«

Chris sagte: »Im Namen sämtlicher Boomerangs möchte ich Giraffe für die unermüdliche Arbeit an diesem Fall danken.«

Die anderen murmelten zustimmend.

»Lasst uns abstimmen«, sagte Chris. »Sind alle dafür, dass wir den Fall Kenton Frauling weiterverfolgen?«

Alle stimmten mit »Aye«. Dies war der sechste und letzte Fall, der den Boomerangs heute vorgelegt wurde. Die Regel lautete: Wenn zwei Mitglieder oder mehr mit »Nay« stimmten, wurde der Troll in Ruhe gelassen. Von den sechs heute vorgelegten Fällen waren fünf angenommen worden. Bei dem einen abgelehnten Fall ging es um einen durchgestylten Reality-TV-Star, der im Internet belästigt wurde. Panther hatte den Fall vorgestellt, aber der Fernseh-Schönling war ein ziemlich unsympathisches Opfer, sodass sie beschlossen, ihre Energie lieber für Fälle aufzusparen, die es mehr verdient hatten.

Das Motto der Boomerangs war schnell erklärt: Karma ist wie ein Bumerang – was du von dir gibst, fällt auf dich selbst zurück. Die Gruppe hatte ein gründliches Präsentations- und Prüfverfahren für die Auswahl ihrer Zielpersonen aufgebaut. In seiner früheren Rolle als »Der Fremde« hatte Chris auf die harte Tour gelernt, dass man nur nach Gerechtigkeit streben durfte, wenn es keinerlei irgendwie begründeten Zweifel daran gab, dass die Zielperson die Strafe verdient hatte. Um ganz sicher zu gehen, würde Chris jetzt die gesamte Akte durchgehen und nachprüfen, ob die Einzelheiten Giraffes Präsentation entsprachen. Er rechnete allerdings nicht mit irgendwelchen Problemen. Giraffe war von allen Boomerangs am gründlichsten und penibelsten.

»Okay«, sagte Chris, »lasst uns über die Härte der Reaktion sprechen. Giraffe, welche Hurrikan-Kategorie schlägst du vor?«

Giraffe antwortete, ohne zu zögern. »Wenn es jemals ein Monster gab, das nach einem Hurrikan der Kategorie 5 geschrien hat …«

»Aye«, pflichtete Panther bei. »Kategorie 5.«

Die anderen stimmten sofort zu.

Boomerang entschied sich nicht oft für einen Hurrikan der Kategorie 5. Die meisten Internet-Trolle stuften sie eher in Kategorie 2 oder 3, sodass ihre Strafe darin bestand, dass ihre Kreditwürdigkeit in Mitleidenschaft gezogen oder ein Bankkonto ausgeräumt wurde, oder man sie vielleicht erpresste – irgendetwas, womit sie dem Troll eine Lektion erteilten, ohne ihn jedoch zu vernichten.

Kategorie 5 hingegen war verheerend. Bei Kategorie 5 ging es nicht darum, jemandem zu schaden, sondern um die totale Zerstörung.

Gott mochte Gnade walten lassen, aber von den Boomerangs durfte Kenton Frauling keine erwarten.

VIER

Vier Monate später

Hester Crimstein, prominente Strafverteidigerin der Extraklasse, beobachtete ihren Konterpart Staatsanwalt Paul Hickory, der gerade seine Krawatte zurechtrückte, um zu seinem Schlussplädoyer anzusetzen.

»Meine Damen und Herren Geschworenen, dies ist nicht nur der klarste und eindeutigste Mordfall, den ich je vor Gericht gebracht habe – es ist der unverkennbarste und eindeutigste Mord, der sämtlichen Mitarbeitern in meinem Büro je untergekommen ist.«

Hester widerstand dem Drang, die Augen zu verdrehen. Es war noch nicht so weit.

Gönn ihm seinen Moment.

Hickory ergriff die Fernbedienung, richtete sie auf den Fernseher und drückte mit dem Daumen die Einschalttaste. Der Bildschirm wurde hell. Er hätte den Fernseher mit dem Bild darauf schon vorher einschalten können, aber Paul Hickory arbeitete gerne mit ein paar kleinen Showeffekten. Hester setzte eine gelangweilte Miene auf, damit die Geschworenen, die zu ihr herüberblickten, sofort sahen, dass sie vollkommen unbeeindruckt war.

Neben Hester saß ihr Mandant, Richard Levine, der Angeklagte in diesem Mordprozess. Sie hatte mit Richard ausführlich besprochen, wie er sich verhalten sollte, wie er auftreten und wie er vor der Jury reagieren sollte – oder, was noch wichtiger war, nicht reagieren sollte. Im Moment hatte ihr Mandant, der, wenn Hickory seinen Willen bekam, den Rest seines Lebens hinter Gittern verbringen würde, die Hände ordentlich auf dem Tisch zusammengelegt und blickte mit festem Blick in den Saal.

Brav.

Auf dem Bildschirm sah man etwa ein Dutzend Menschen, die sich in der Nähe des berühmten Triumphbogens im avantgardistischen Washington Square Park versammelt hatten. Paul Hickory drückte mit dramatischer Geste die PLAY-Taste. Als das Video startete, achtete Hester darauf, ganz ruhig weiterzuatmen.

Nichts anmerken lassen, ermahnte sie sich.

Paul Hickory hatte dieses Video natürlich schon vorher gezeigt. Mehrfach. Aber er war klug genug gewesen, es nicht zu übertreiben und hatte es nicht bis zum Erbrechen wiederholt, sodass die Geschworenen sich an die Brutalität, die darin zu sehen war, hätten gewöhnen können.

Es sollte ihnen noch immer durch Mark und Bein gehen. Es sollte ihnen das Herz zerreißen.

Auf dem Video trug Richard Levine, Hesters Mandant, einen zeitlosen blauen Anzug und schwarze Cole-Haan-Slipper. Er ging auf einen Mann namens Lars Corbett zu, hob die Hand, in der er eine Schusswaffe hielt, und jagte Corbett ohne jedes Zögern zwei Kugeln in den Kopf.

Schreie.

Lars Corbett sackte zusammen und war schon tot, als sein Körper auf dem Boden aufschlug.

Paul Hickory drückte PAUSE und hob die Arme.

»Muss ich wirklich noch einmal zusammenfassen, was da passiert ist?«

Er ließ der rhetorischen Frage Zeit, im Gerichtssaal zu verhallen, während er von einem Ende der Geschworenenbank zum anderen schlenderte und jedem, der in seine Richtung blickte, in die Augen sah.

»Das, meine Damen und Herren Geschworenen, war eine Hinrichtung. Es handelt sich um einen kaltblütigen Mord auf den Straßen unserer Stadt – im Herzen eines unserer beliebtesten Parks. Das ist passiert. Niemand bestreitet den Tathergang. Genau hier sehen wir das Opfer, Lars Corbett.« Er deutete auf den gefallenen Mann auf dem Bildschirm, der in seinem eigenen Blut lag. »Und hier sehen wir unseren Angeklagten, Richard Levine, der die Glock 19 abgefeuert hat. Laut dem ballistischen Gutachten handelt es sich um die Mordwaffe – eine Handfeuerwaffe, die Levine nur zwei Wochen vor dem Mord bei einem Waffenhändler in Paramus, New Jersey, gekauft hatte. Wir haben vierzehn Zeugen in den Zeugenstand gerufen, die den Mord mit eigenen Augen gesehen und Mr Levine als Täter identifiziert haben. Wir haben zwei weitere Videos aus zwei unabhängigen Quellen vorgelegt, die diesen Mord aus anderen Blickwinkeln zeigen.«

Hickory schüttelte den Kopf. »Also, mein Gott, braucht irgendwer wirklich noch mehr Beweise?«

Er seufzte – nach Hesters Ansicht vielleicht etwas zu melodramatisch. Paul Hickory war jung, Mitte dreißig. Hester hatte mit seinem Vater Jura studiert, einem recht extravaganten Strafverteidiger namens Flair (ja, er hieß wirklich Flair Hickory), der inzwischen einer ihrer härtesten Konkurrenten war. Der Sohn war gut, er würde auch noch besser werden – der Apfel fällt nicht weit vom Stamm –, aber er war noch nicht so gut wie sein Vater.

»Niemand, nicht einmal Ms Crimstein oder jemand anders von der Verteidigung, hat auch nur ein einziges dieser Schlüsselereignisse bestritten. Niemand ist vorgetreten und hat gesagt, dass dies …«, er deutete auf das pausierende Video, »… nicht Richard Levine sei. Niemand hat sich gemeldet, um Mr Levine ein Alibi zu geben oder in irgendeiner Weise zu behaupten, dass er Mr Corbett nicht auf brutale Weise ermordet hat.« Er hielt inne und trat näher an die Geschworenenbank heran.

»Alles. Andere. Spielt. Keine. Rolle.«

Er sagte es so. Jedes Wort war ein eigener Satz. Hester konnte nicht widerstehen. Sie nahm Blickkontakt zu einem Mitglied der Jury auf – einer Frau namens Marti Vandevoort, die Hester für unsicher hielt – und verdrehte kurz konspirativ die Augen.