Was kostet ein Lächeln? - Ulrich Schnabel - E-Book

Was kostet ein Lächeln? E-Book

Ulrich Schnabel

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Beschreibung

Fünf Jahre nach seinem Best- und Longseller Muße – das neue Buch des großen Wissenschaftsjournalisten.

Merken Sie, wie Sie unwillkürlich lächeln, wenn Sie jemand anlächelt, wie Sie schlechte Laune erfasst, wenn Ihnen ein mürrisches Gesicht entgegenblickt? Nichts prägt unser Fühlen und Erleben so sehr wie die Emotionen anderer. Wir Menschen haben eine erstaunliche Fähigkeit, die Gefühle anderer zu lesen, uns in sie hineinzuversetzen – und uns von ihnen anstecken zu lassen. Forschungen zeigen, dass unser Verhalten oft stärker vom emotionalen Umfeld bestimmt wird als von unseren eigenen Überzeugungen. Und das hat zum Teil dramatische Folgen.

Ulrich Schnabel kartografiert die Gefühlslandschaft, durch die wir täglich navigieren, und beschreibt, wie wir zwischen der Sehnsucht nach stabilen Beziehungen und dem Wunsch nach Freiheit hin und her gerissen werden. Er entlarvt die emotionalen Fallen der Konsumgesellschaft, beschreibt die Mühen der modernen Liebe und berichtet von der „Gefühlsarbeit“ und der emotionalen Erschöpfung speziell in sozialen Berufen. Zugleich zeigt er, wie wir uns gegen die emotionalen Zumutungen unserer Zeit wehren – ein starkes Plädoyer dafür, die Souveränität über die eigenen Gefühle zurückzuerobern.

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Das Buch

Merken Sie, wie Sie unwillkürlich lächeln, wenn Sie jemand anlächelt, wie Sie schlechte Laune erfasst, wenn Ihnen ein mürrisches Gesicht entgegenblickt? Nichts prägt unser Fühlen und Erleben so sehr wie die Emotionen anderer. Wir Menschen haben eine erstaunliche Fähigkeit, die Gefühle anderer zu lesen, uns in sie hineinzuversetzen – und uns von ihnen anstecken zu lassen. Forschungen zeigen, dass unser Verhalten oft stärker vom emotionalen Umfeld bestimmt wird als von unseren eigenen Überzeugungen. Und das hat zum Teil dramatische Folgen.

Ulrich Schnabel kartographiert die Gefühlslandschaft, durch die wir täglich navigieren, und beschreibt, wie wir zwischen der Sehnsucht nach stabilen Beziehungen und dem Wunsch nach Freiheit hin und her gerissen werden. Er entlarvt die emotionalen Fallen der Konsumgesellschaft, beschreibt die Mühen der modernen Liebe und berichtet von der »Gefühlsarbeit« und der emotionalen Erschöpfung speziell in sozialen Berufen. Zugleich zeigt er, wie wir uns gegen die emotionalen Zumutungen unserer Zeit wehren – ein starkes Plädoyer dafür, die Souveränität über die eigenen Gefühle zurückzuerobern.

Der Autor

Ulrich Schnabel, geboren 1962, studierte Physik und Publizistik in Karlsruhe und Berlin und ist Wissenschaftsredakteur bei der ZEIT. Ulrich Schnabel schrieb in der ZEIT und in GEO viel beachtete Artikel über Religion und Bewusstseinsforschung und wurde 2006 mit dem Georg von Holtzbrinck-Preis für Wissenschaftsjournalismus ausgezeichnet. Drei Jahre später veröffentlichte er bei Blessing: Die Vermessung des Glaubens. Es wurde von »Bild der Wissenschaft« als »Wissenschaftsbuch des Jahres 2009« ausgezeichnet. Im Oktober 2010 erhielt Schnabel ferner den Werner und Inge Grüter-Preis für Wissenschaftsvermittlung. Sein Buch Muße. Vom Glück des Nichtstuns (2010) wurde ein Best- und Longseller.

Ulrich Schnabel

Was kostet ein Lächeln?

Von der Macht der Emotionen

in unserer Gesellschaft

Blessing Verlag

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dieses E-Books verweisen.

1. Auflage 2015

Copyright: Ulrich Schnabel 2015

und Karl Blessing Verlag, München, 2015

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Geviert, Christian Otto,

unter Verwendung eines Motives von

© The Gallery Collection/Corbis

Bildredaktion: Annette Mayer

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-12573-8

www.blessing-verlag.de

Für Lisbeth und Sam,

die mich das Lächeln lehrten

INHALT

EINLEITUNG: DAS TSCHECHISCHE RADIO

BESSER FÜHLEN (1): TESTEN SIE SICH SELBST!

In der Achterbahn der Gefühle

1  DIE EMOTIONALE ANSTECKUNG

2  DIE HERAUSFORDERUNG DER MODERNE

BESSER FÜHLEN (2): WAS GEGEN DIE MODERNE ANGST HILFT

3  UNTER DER OBERFLÄCHE DES GLÜCKS

BESSER FÜHLEN (3): WAS EIN HEXENSCHUSS LEHRT

Vom Wesen der Emotionen

4  DER SINN DER GEFÜHLE

5  IN DER KINDERSTUBE DER EMOTIONEN

6  SIND UNSERE GEFÜHLE UNIVERSELL?

Liebe, Arbeit, Mitgefühl

7  DAS DREHBUCH UNSERER LIEBE

BESSER FÜHLEN (4): EINE MÄRCHENHAFTE BEZIEHUNG

8  ARBEITSGEFÜHLE UND GEFÜHLSARBEIT

BESSER FÜHLEN (5): WIE WIR IN EINKLANG KOMMEN

9  VOM MITLEID ZUM MITGEFÜHL

BESSER FÜHLEN (6): WIE MAN DAS LEBEN MIT DEM STERBEN LERNT

SCHLUSS: DAS ZENTRUM DES UNIVERSUMS

Dank

Literaturhinweise

Bildnachweis

Namensregister

EINLEITUNG:   DAS TSCHECHISCHE RADIO

Als in der Nacht zum 21. August 1968 eine halbe Million Soldaten in die Tschechoslowakei einmarschierten, um den Prager Frühling zu beenden, hatten die Tschechen keine Chance. Innerhalb weniger Stunden besetzten die Gefolgstruppen Moskaus alle strategisch wichtigen Positionen des Landes, und die tschechische Führung beschloss, keinen militärischen Widerstand zu leisten. Zu aussichtslos schien die Lage für die unterlegene ČSSR, die es gewagt hatte, einen »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« zu erproben.

Doch so übermächtig die sowjetischen Besatzungstruppen auch waren – die tschechische Bevölkerung dachte nicht daran, klein beizugeben. Die Tschechen montierten Ortstafeln ab oder verdrehten Straßenschilder, um die ortsunkundigen Besatzer in die falsche Richtung zu schicken. Andere malten Plakate, die zum passiven Widerstand aufriefen oder betrieben Piratensender, um der sowjetischen Propaganda etwas entgegenzusetzen. Und selbst als die Plakate abgerissen wurden und die Sowjets die Piratensender nach und nach unter Kontrolle brachten, erlahmte der Widerstandsgeist nicht. Nun verfielen die Tschechen auf die letzte Waffe des Unterdrückten: die Ironie.

Ein paar Spaßvögel bemalten normale Backsteine mit groben Pinselstrichen, nannten sie »tschechische Radios« und taten so, als ob man damit raffiniert verschlüsselte Geheimbotschaften empfangen könnte. Andere griffen die Idee auf und die kuriosen Backsteine wurden zum Symbol des ungebrochenen Widerstandswillens. Mochte der Gegner auch drückend überlegen sein – die Steine brachten zum Ausdruck, dass man nicht resignierte, sondern seine innere Würde und Unabhängigkeit bewahrte.

Und die Sowjets? Die wurden angesichts der Verbreitung bemalter Backsteine regelrecht nervös. Vielleicht fürchteten sie tatsächlich eine unbekannte Geheimtechnologie, vielleicht war ihnen auch nur die Symbolik des Widerstands ein Dorn im Auge – jedenfalls ordneten sie an, alle »tschechischen Radios« unverzüglich zu konfiszieren. Und so schwärmten ihre Soldaten aus und sammelten die wertlosen Steine ein; so groß war die Angst der Mächtigen vor einer Bevölkerung, die zwar besiegt, aber nicht gebrochen war.1

Was die tschechischen Widerständler damals auf so einfallsreiche Weise demonstrierten, war nicht nur eine beachtliche emotionale Stärke, sondern auch die Tatsache, dass unser Leben niemals nur durch seine äußeren Umstände definiert ist. Auch in der aussichtslosesten Lage können wir uns einen inneren Spielraum bewahren, wir haben immer noch die Wahl, wie wir diese Umstände bewerten und wie wir uns innerlich dazu stellen. Es liegt an uns, ob die Realität nur schwarz erscheint oder ob wir auch helle, hoffnungsfrohe Farben wahrnehmen. Selbst vermeintlich unverrückbare Tatsachen sind nie eindeutig, sondern erscheinen – je nach dem emotionalen Filter, durch den wir sie betrachten – mal in diesem, mal in jenem Licht.

Um diese emotionale Färbung unseres Daseins geht es in diesem Buch. Es handelt von jenen unbewussten Kräften, die unser Handeln steuern und unseren Erfahrungen ihre Bedeutung verleihen. Mit anderen Worten: Es handelt von den Mechanismen unseres Gefühlslebens, die letztlich darüber entscheiden, wie wir der Welt gegenübertreten.

Das gilt natürlich nicht nur für Kriegs- oder Katastrophenzeiten, sondern auch im unspektakulären Alltag. Wie reagieren wir auf den Drängler, der uns im Berufsverkehr den Weg abschneidet? Wie gehen wir mit stressigen Arbeitssituationen oder Streit in unserer Beziehung um? Wie stellen wir uns einem Jobverlust oder einer schlimmen Krankheitsdiagnose, die uns überraschend beim Arzt ereilt? Lösen solche Situationen nur Angst, Wut oder Aggression in uns aus, oder wecken sie auch andere Gefühle, Mut etwa oder Mitgefühl, Ehrfurcht, Liebe oder Respekt? Auch wenn die äußeren Fakten nicht wegzuleugnen sind, so liegt es doch an uns, wie wir sie interpretieren und welche emotionale Bedeutung wir ihnen zuschreiben. Angesichts unüberwindlich erscheinender Schwierigkeiten können wir zum Beispiel verzweifeln – oder mithilfe einer Idee wie der des »tschechischen Radios« zumindest unsere Selbstachtung und Würde wahren.

Zusammenbruch und Heilung

Ich begegnete den bunt bemalten Backsteinen erst viele Jahre nach dem Prager Frühling, im Jahr 2012 auf der Documenta in Kassel. Diese weltgrößte Schau der Gegenwartskunst reißt alle fünf Jahre das unscheinbare Kassel aus seinem Dornröschenschlaf und katapultiert es ins Zentrum der globalen Kunstwelt. Hunderte von Exponaten sind dort zu sehen, manche so groß, dass sie ganze Hallen füllen und für Millionensummen gehandelt werden, andere so unscheinbar, dass sie fast übersehen werden – so wie die zwei bemalten Backsteine.

Als Symbole des Überlebenswillens passten sie bestens zum damaligen Leitmotiv der Documenta, Collapse and Recovery. Von Zusammenbruch und Heilung erzählten in Kassel auch viele andere Kunstwerke: Sie berichteten vom Krieg und der unausrottbaren Sehnsucht nach Frieden, erzählten von allen möglichen Arten des Scheiterns – und vom Impuls des Immer-wieder-Neubeginnens. Der amerikanische Künstler Michael Rakowitz schlug etwa eine Brücke von den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs zum aktuellen Zerstörungswerk in Afghanistan. Dort hatten 2001 die Taliban die riesigen Buddha-Statuen von Bamiyan gesprengt, die einst zum Weltkulturerbe gehörten. Gemeinsam mit afghanischen Steinmetzen schuf Rakowitz aus den Überbleibseln der Statuen wiederum Kunstwerke.

»What dust will rise«. Handschrift in Stein gemeißelt von Rakowitz

Aus dem Bamiyan-Stein wurden Bücher aus Stein gemeißelt, naturgetreue Nachbildungen wertvoller deutscher Handschriften wie etwa des Hildebrandslieds aus dem 9. Jahrhundert. Diese Schriften waren 1941 bei einem Bombenangriff auf die Hessische Landesbibliothek in Kassel verbrannt oder durch Feuer und Wasser beschädigt worden, manche waren aufgequollen oder wie Halskrausen gekringelt. Nun ließ Rakowitz mithilfe des Bamyian-Steines ausgerechnet diese verlorenen und verwüsteten Bücher wieder auferstehen – ein wunderbares Beispiel dafür, wie sich zerstörte Kunst in neue Kunst verwandelt, wie aus einem Vernichtungswerk ein schöpferischer Impuls entspringt.

Solche Erzählungen von collaps and recovery trafen damals bei mir einen Nerv. Denn in den Wochen zuvor hatte ich selbst erlebt, wie schnell das gewohnte Leben kollabieren kann. Ein Unfall hatte mich plötzlich aus der Bahn geworfen und wochenlang lahmgelegt, und nahezu zeitgleich kam es in meinem Familien- und Bekanntenkreis zu einer ganzen Serie von schweren Krankheits- und Unglücksfällen – ein Kind starb, jemand erkrankte an Krebs, dort brachen plötzlich lang verdrängte Traumata aus der Kindheit auf … All das führte dazu, dass ich in eher gedämpfter Stimmung zur Documenta reiste; doch dann erlebte ich die Kunst als buchstäblich heilsam.

Tagelang schlenderte ich durch Ausstellungshallen und -parks und öffnete meine Sinne für die teils großartigen, teils bizarren Ideen von Künstlern aus aller Welt, die auf sehr unterschiedliche Weise von der Verletzlichkeit der menschlichen Existenz erzählten – und vom Versuch, diese Verletzlichkeit zu transzendieren. Da waren etwa die Kreidezeichnungen der britischen Künstlerin Tacita Dean, die in Kassel eigentlich einen Film über Afghanistan hatte zeigen wollen. Dann aber wurde ein Großteil ihres Filmmaterials zerstört, und ihr blieben nur wenige Bilder mit teils angesengten, teils überbelichteten Naturaufnahmen. Statt zu resignieren, griff Dean zum Kreidestift und zeichnete nach der Vorlage dieser Bilder filigrane Landschaften auf meterlange Schiefertafeln – ebenso tiefenscharfe wie verletzliche Kunstwerke aus Kreide, die mit zum Schönsten gehörten, was auf der Documenta zu sehen war.2

Ein ähnlich berührendes Dokument des produktiv gewendeten Scheiterns war ein Brief des Kölner Künstlers Kai Althoff, den dieser einige Wochen vor Eröffnung der Ausstellung an die Documenta-Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev geschickt hatte. Auf fünf handgeschriebenen Seiten erklärte Althoff voller Bedauern, dass er seine Teilnahme an der Ausstellung leider absagen müsse. Er habe Zweifel, den hohen Anforderungen der Documenta gerecht zu werden, denn er habe für 2012 schon zu viele andere Anfragen zugesagt und wisse nun nicht, wie er all dem gerecht werden solle.

Eine solche Situation kennen wir wohl alle: Man fühlt sich von Sachzwängen gefangen, und die Verpflichtungen wachsen einem über den Kopf. Andere Künstler hätten sich vermutlich durchgewurstelt und eben irgendein Exponat nach Kassel geschickt, das zumindest dafür gesorgt hätte, dass der eigene Name im Ausstellungskatalog auftaucht. Althoff dagegen zeigte sich konsequent. Als ihm klar wurde, dass ihm die Muße und Inspiration für einen großen Wurf fehlten, bat er die Documenta-Leiterin, ihn von der Teilnahme zu entbinden; zum Glück wisse noch kaum jemand, dass er eingeladen worden sei, schrieb Althoff.

Doch die Kuratorin zeigte sich ebenso mutig wie der Künstler und inszenierte Althoffs Brief im größtmöglichen Rahmen: Statt ihn schamhaft zu verschweigen, stellte Christov-Bakargiev ihn in einer Vitrine in einem der Hauptausstellungsorte aus, in einem riesigen, ansonsten leeren Raum des sogenannten Fridericianum. Hier hatte 1955 die erste Documenta begonnen. Und hier begannen 2012 die meisten Besucher ihren Rundgang durch die Kunsthalle. Nun war das Erste, was sie zu sehen bekamen: ein leerer Raum und das Eingeständnis einer Überforderung – der perfekte Kommentar zu einer Leistungsgesellschaft, in der sich heute alle unter Druck fühlen und viele die Angst spüren, den Anforderungen der Zeit nicht zu genügen. So wurde die Inszenierung von Althoffs Brief zur Hommage an die erschöpften Helden unseres Alltags, die eines Tages beschließen, zu all den Ansprüchen einfach »Nein« zu sagen.

Die unsichtbare Diktatur

Je länger ich auf der Documenta unterwegs war und je mehr solcher Exponate mir begegneten, umso deutlicher wurde, wie zutiefst menschlich das Scheitern ist und wie oft wir alle immer wieder vor Zusammenbrüchen stehen, die uns zwingen, unsere bisherige Sicht zu ändern. Und all die künstlerischen Versuche, mit solch einem Kollaps kreativ umzugehen und ihn in etwas Positives zu verwandeln, vermittelten etwas Hoffnungsvolles, Heiteres, ja geradezu Befreiendes.

Doch so sehr ich meine geistigen Batterien dabei auflud, so erschöpft waren nach einigen Tagen die Energiereserven meines Fotoapparates. Ich brauchte dringend neue Batterien. Notgedrungen verließ ich die Sphäre der Kunst und tauchte ein in die »normale« Welt eines großen Mediengeschäfts in der Kasseler Fußgängerzone. Dort empfing mich schlechte Luft und das übliche Kaufhausgedudel; Reklametafeln brüllten mir Sonderangebote entgegen, und Menschen schoben sich mit ausdruckslosen Gesichtern an Regalen und Vitrinen entlang, in denen hunderte von elektronischen Geräten standen. Und durch mein – seit Tagen auf Kunstbetrachtung eingestelltes – Gehirn zuckte der Gedanke: Was für eine irre Inszenierung!

Auch hier waren Exponate aufgebaut, die zur genauen Betrachtung einluden und ein emotionales Echo in mir auslösen sollten. Nur ging es nicht um den künstlerischen Ausdruck elementarer Erfahrungen, sondern um meinen Geldbeutel. »Kauf mich!«, schienen die ausgestellten Geräte lautlos zu rufen; die ganze aufwändige Inszenierung diente vor allem dazu, die Kunden zum Geldausgeben zu verleiten und in ihnen das Gefühl zu wecken, ihr Glück hänge essenziell am Erwerb dieser Waren.

Auch das Verhalten der Menschen und ihr Umgang miteinander war deutlich anders als in den Documenta-Hallen. Dort war es friedlich und entspannt zugegangen, man fühlte sich den anderen Besuchern insgeheim verbunden im Interesse an der Kunst und an der Vision eines anderen Miteinanders. In dem Mediengeschäft dagegen war eine Stimmung angespannter Konkurrenz zu spüren, alle schienen hinter etwas herzujagen und zugleich Angst zu haben, etwas zu verpassen oder übers Ohr gehauen zu werden. Diese Mischung aus Angst und Berechnung, die so typisch für unsere Welt des Kommerzes ist, hatte ich in der Ausstellung völlig vergessen.

Nun kam mir umso deutlicher zu Bewusstsein, in welcher emotionalen Umgebung wir üblicherweise leben. Nicht nur, dass wir ständig neuen Karotten hinterher rennen, die uns die unerschöpfliche Warenwelt vor die Nase hält. Zugleich durchdringt die Logik des Konsums all unser Erleben. Eine ganze Gesellschaft fühlt sich unter Druck, für immer neues Wachstum sorgen zu müssen, weil in der Welt des globalisierten Kapitalismus sonst der Absturz droht. Und nicht nur in der Ökonomie folgen wir dem Wachstums-Mantra, sondern häufig auch im Privaten.3 Wir sind ständig um die Optimierung unseres Wohlbefindens bemüht und sind geradezu süchtig nach dem Gefühl, dass es irgendwie aufwärts gehe, wohin auch immer.

Dabei hat die Logik des Konsums und des ökonomischen Wachstums durchaus etwas Diktatorisches, auch wenn diese Diktatur nicht sichtbar und martialisch auftritt, wie die sowjetischen Unterdrücker in der Tschechoslowakei, sondern oft subtil und unsichtbar. Sie zeigt sich etwa in der Gehirnwäsche durch die allgegenwärtige Werbung, in der Verführungskraft der modernen Warenwelt, im Stellenwert von Arbeit und Leistung ebenso wie in unseren gesellschaftlichen Vorstellungen von Glück und Liebe. Als mir das in dem Medienkaufhaus bewusst wurde und ich die damit einhergehende emotionale Stimmung geradezu körperlich spürte, reifte der Entschluss zu diesem Buch.

Die Macht unserer Emotionen

In meinem Buch Muße hatte ich das weitverbreitete Gefühl des Gehetztseins thematisiert und Wege beschrieben, wie man der zwanghaften Rastlosigkeit entkommen kann.4 Die Resonanz darauf war enorm: Ich wurde von Managern, Kirchengemeinden und Schulen eingeladen, von Ärzten, Aussteigern und Therapeuten, die alle ein Unwohlsein an der modernen Beschleunigungsgesellschaft zum Ausdruck brachten. Dabei wurde in zahlreichen Gesprächen deutlich, dass selbst die schönsten Mußestrategien wirkungslos bleiben, wenn sie nicht die Schicht der tief verankerten Emotionen erreichen. Vielen Menschen ist zwar auf der Verstandesebene klar, was sie gerne ändern würden; dennoch schaffen es nur die wenigsten, weil ihnen ihre Gefühle und Gewohnheiten im Wege stehen.

Denn unsere Präferenzen und unser Verhalten werden weit mehr von Emotionen gesteuert, als wir uns in der Regel eingestehen. Sie sind es, die unsere Wahrnehmung prägen und über intuitive Bewertungen entscheiden. Gefühle agieren als eine Art innerer Kompass, der dem Verstand sagt, was wichtig ist und worauf er sich konzentrieren soll. Das geschieht oft so automatisch, dass wir die subtile Macht der Emotionen gar nicht bemerken; wir meinen, uns ganz bewusst und rational für diese oder jene Handlung – etwa den Kauf eines neuen Elektrogeräts oder die Beziehung zu einem bestimmten Partner – entschieden zu haben. Dabei liefert unsere Ratio meist nur im Nachhinein jene Argumente, die den zuvor intuitiv getroffenen Entschluss rechtfertigen.

Auch im Umgang mit Hektik und Stress ist die Macht dieser emotionalen Steuerung gut zu beobachten: Oft fühlen wir uns nicht nur deshalb gehetzt, weil uns Arbeitgeber oder andere unter Druck setzen, sondern auch, weil wir selbst hohe Ansprüche an uns stellen. Wir haben den äußeren Druck schon so sehr verinnerlicht, dass er uns auch in der Freizeit emotional nicht zur Ruhe kommen lässt.

Es sind eben nie allein die äußeren Umstände, die uns glücklich oder unglücklich machen, sondern stets die damit verknüpften Emotionen. Den Gefühlen kommt aber nicht nur im privaten, sondern auch im globalen Geschehen eine ungeheure Macht zu. Viele politische Konflikte – etwa der Dauerzwist zwischen Israel und Palästina – sind auch deshalb so schwer lösbar, weil es nicht allein um faktische Streitfragen, sondern um tief verletzte Gefühle geht und alle besonnenen Appelle immer wieder an einer verheerenden emotionalen Dynamik scheitern.5

Selbst in den nüchternsten Auseinandersetzungen pulsiert ein emotionales Herz. Hinter der Fassade der Politik verbergen sich zum Beispiel Eitelkeit, Beschämung oder Machtgier, die Ökonomie lebt von Ehrgeiz, Angst oder Erfolgssucht und selbst die scheinbar trockene Wissenschaft wird von Emotionen angetrieben – etwa vom Wunsch nach Anerkennung, dem Neid auf Kollegen oder dem Stolz, als Erster eine neue Entdeckung zu präsentieren.

Dennoch wurde die Bedeutung der Gefühle lange Zeit grotesk unterschätzt. In Politik, Geschäftsleben und Wissenschaft wurden sie kaum thematisiert; sie galten als eine Art persönliche Schwäche oder als Luxus, der im »Ernst des Lebens« nichts verloren hatte. Das idealtypische Menschenbild war der Homo oeconomicus, der seine Entscheidungen rational und mit »kühlem Kopf« zu treffen hatte – ohne sich von wankelmütigen Gefühlen beeinflussen zu lassen. Nur Frauen und Kinder durften ihre Emotionen ungebremst zum Ausdruck bringen, Männer dagegen durften ihnen allenfalls in gewissen, sentimentalen Momenten nachgeben, um sich bald darauf wieder zur Nüchternheit zu ermannen.

Diese Sichtweise hat sich in den vergangenen Jahren radikal geändert. Auch Forscher und Ökonomen haben zunehmend erkannt, wie sehr unser Handeln von Emotionen geprägt wird. Erst die Gefühle geben unseren Erfahrungen Gewicht, erst sie sagen uns, worauf wir unser Augenmerk zu richten haben und geben so dem Verstand eine Richtung vor. Emotionen gleichen daher Navigationsinstrumenten, mit deren Hilfe wir durchs Leben steuern und die es uns ermöglichen, unser Tun als sinnvoll zu erfahren.

Natürlich sind diese Navigationsinstrumente nicht unfehlbar. Sie können uns auch in eine falsche Richtung lenken, wenn wir ihre eigentliche Botschaft nicht verstehen. Wer sich etwa von einer Werbung angesprochen fühlt, in der sich fröhliche Menschen gemeinsam über ein neues Getränk freuen, hat wahrscheinlich eine tiefe Sehnsucht nach Freundschaft und Zugehörigkeit. Dummerweise lässt sich gerade das nicht kaufen, und wer sich dennoch zum Kauf verleiten lässt, merkt bald, dass er mit dem neuen Getränk so alleine ist wie zuvor.

Wohin die Reise geht

Worauf es also ankommt, ist der kluge Umgang mit unseren Gefühlen. Wir dürfen sie nicht ignorieren, weil sie uns von den tiefen Triebkräften unseres Lebens erzählen, sollten ihnen aber auch nicht blind vertrauen, weil sie sich nur allzu leicht manipulieren lassen. Wie findet man da den richtigen Mittelweg?

Schon das Stellen dieser Frage ist der erste Schritt zu ihrer Beantwortung: Indem wir uns der verschiedenen Aspekte unseres Gefühlslebens bewusst werden, sind wir ihnen weniger hilflos ausgesetzt. Und das ist in unserer hoch technisierten und medialisierten Gesellschaft vielleicht entscheidender denn je.

Denn zum einen vermitteln uns die Gefühle wertvolle Informationen und helfen uns bei vielen Entscheidungen.6 Zum anderen sind unsere Emotionen in der modernen Mediengesellschaft ein umkämpftes Objekt, an dem vielfältige Einflüsse und Interessen zerren. Wer immer uns ein neues Produkt oder ein Parteiprogramm verkaufen möchte, wer uns für die Mitgliedschaft bei Facebook, für Hilfsaktionen oder den Terrorkampf gewinnen will, spricht primär unsere Gefühle an, appelliert an unseren Wunsch nach Liebe und Zugehörigkeit oder an unsere Angst und Wut. Denn auf der emotionalen Ebene sind wir besonders ansprechbar und verletzlich, ebenso verführ- wie beeinflussbar.

Dieses Buch will Sie daher dabei unterstützen, die Diskrepanz zwischen scheinbarer Stabilität der eigenen Gefühle einerseits und deren Manipulierbarkeit andererseits aufzuklären. Es lädt Sie ein zu einer Reise in unser eigenes Gefühlsleben, den »letzten dunklen Kontinent, den es noch zu entdecken gibt«, wie die Emotionsforscherin Ute Frevert sagt.7 Dabei geht es nicht nur darum, die Geheimnisse dieses unbekannten Kontinents zu entdecken, sondern auch zu lernen, mit jenen Kräften umzugehen, die tagtäglich unser Leben bestimmen. Schließlich können wir Gefühle nicht einfach an- oder abstellen, wir können nicht entscheiden, ob wir sie haben wollen oder nicht – wir können nur versuchen, uns dazu möglichst klug und sinnvoll zu verhalten.

Dazu ist es natürlich hilfreich, die Biologie und Psychologie der Gefühle zu verstehen; ebenso wichtig ist aber auch die Betrachtung des gesellschaftlichen Umfelds. Denn schon die Kultur, in die wir hineingeboren werden, beeinflusst unsere emotionalen Reaktionen. Die Märchen, die wir als Kinder hören, die Werte unserer Freunde und Bekannten, Filme, Werbung und Medien prägen unser Gefühlsleben mehr, als wir häufig ahnen. Noch unsere scheinbar individuellsten Emotionen sind eng verwoben mit der jeweiligen Gefühlskultur, in der wir leben.

Deshalb wird in mehreren größeren Kapiteln jeweils die aktuelle »Gefühlslandschaft« kartografiert, durch die wir täglich navigieren: Es geht um das Phänomen der »emotionalen Ansteckung« und den enormen Einfluss unserer Mitmenschen auf unser eigenes Gefühlsleben (Kapitel 1); um den Umgang mit der erschöpfenden Informations- und Emotionsflut, die uns in der medialen Gesellschaft täglich zu überrollen drohen (Kapitel 2); um unsere Vorstellungen von Glück und Unglück und deren Zusammenspiel (Kapitel 3), um Lust und Leiden an der Liebe (Kapitel 7) und die Gefühlsarbeit, die wir tagtäglich im Job erledigen, ohne es zu bemerken (Kapitel 8).

Dazwischen wird die Frage behandelt, was Gefühle eigentlich sind und wozu sie dienen (Kapitel 4), wie sie sich bei uns allen schon im Babyalter entwickeln und wodurch sie geprägt werden (Kapitel 5), und warum im Lichte aktueller Forschungen die althergebrachte Trennung zwischen Gefühl und Verstand, emotio und ratio, gar nicht mehr haltbar ist (Kapitel 6).

Zwischen diesen, zum Teil eher analytischen, großen Kapiteln finden sich kürzere Betrachtungen, Gespräche oder Berichte, in denen es um den konkreten Umgang mit einzelnen Fragen geht – etwa darum, wie man der modernen Angst und Überforderung begegnen kann, wie man eine Liebesbeziehung dauerhaft gestaltet oder wie man sich mehr im Einklang mit sich selbst erlebt. Besser fühlen nennt sich diese Kategorie, die sowohl dazu beitragen soll, eine bessere Fähigkeit zum Fühlen zu entwickeln als auch dazu, sich ganz praktisch besser zu fühlen.

Aber keine Sorge: Dieses Buch will niemandem vorschreiben, wie er oder sie zu fühlen hat, sondern dazu ermuntern, eine Sensibilität für das jeweils eigene Gefühlsleben zu entwickeln und sich dem emotionalen Imperativ unserer Zeit auch einmal zu verweigern. Denn im dunklen Kontinent unserer Gefühle liegen nicht nur wunderbare Einsichten verborgen, sondern auch der Schlüssel zur Frage, was Menschsein bedeutet.

BESSER FÜHLEN (1): TESTEN SIE SICH SELBST!

Selbsttests sind beliebt. Wer würde nicht gern verborgene Wahrheiten über sich erfahren? Wer möchte nicht wissen, welcher Liebes-Typ er oder sie ist, wie angenehm (oder nervtötend) man auf seine Mitmenschen wirkt und ob man denn nun tatsächlich glücklich ist?

Leider halten die wenigsten Psychotests, die man in Zeitschriften findet, das, was sie versprechen. Dazu sind sie oft viel zu simpel gestrickt. Meist läuft es darauf hinaus, dass man suggestive Fragen beantworten muss (»Sind Sie ein gefühlvoller Mensch?«, »Mögen Sie heiße Liebesspiele?«), die dann zu recht vorhersehbaren Antworten führen (»Sie sind ein gefühlvoller Mensch, der heiße Liebesspiele mag«). Der Erkenntniswert solcher Selbsteinschätzungen tendiert in der Regel gen null.

Denn was heißt schon »gefühlvoll«? Der Immobilienhai, der tagsüber eiskalt Mieter vor die Tür setzt, hält sich vielleicht für extrem mitfühlend, weil er abends bei einem kitschigen Spielfilm weinen muss; die Chirurgin, die tagtäglich im OP-Saal Leben rettet, beschreibt sich möglicherweise selbst als gefühllos, weil sie möglichst gut und nüchtern ihren Job macht und nicht mit jedem ihrer Patienten mitleidet. Und was gilt als »heißes« Liebesspiel? Für den einen beginnt das bei Fesselspielen in Lack und Leder, der andere versteht darunter das Anwärmen des Bettes mit einem Heizkissen.

Ein wirklich aussagekräftiger Test müsste daher einerseits sehr viel spezifischer fragen; andererseits dürfte er sein Ergebnis nicht nur auf die Selbsteinschätzung der Befragten gründen. Denn wer beschreibt sich, wenn er danach gefragt wird, nicht gerne selbst als großherzig, tolerant und liebevoll? Und wer hat wirklich einen unbestechlichen Blick für all die kleinen Schwächen, die wir vor anderen so gerne verbergen?

Die folgende kleine Fragensammlung soll daher die Möglichkeit eröffnen, einmal mehr über sich zu erfahren als die eigenen Vorurteile. Sehen Sie dies bitte als spielerischen Versuch der Selbsterkundung an, der keinen Anspruch auf wissenschaftliche Allgemeingültigkeit erhebt. Wer sich allerdings von den Fragen anregen lässt, gründlich in sich hineinzuhorchen, dem bieten sich möglicherweise überraschende Einsichten ins eigene Gefühlsleben.

Am besten nehmen Sie Papier und Stift und notieren, ohne groß nachzudenken, was Ihnen spontan zu den jeweiligen Fragen einfällt. Vielleicht bewahren Sie die Antworten auf und vergleichen sie mit Ihren Ansichten nach Lektüre dieses Buches. Für die Folgen übernehme ich ausdrücklich keine Verantwortung. Testen Sie sich auf eigene Gefahr!

Hand aufs Herz:

1.   Wenn Sie der Grundstimmung Ihres Lebens eine Farbe (oder mehrere Farben) zuschreiben müssten – welche würde(n) dazu am besten passen?

2.   Mit welchem Gefühl verbinden Sie diese Farbe(n) am ehesten?

3.   Gibt es auch »Gefühlsfarben«, die in Ihrem Leben fehlen?

4.   Können wir heutzutage in unserer Gesellschaft offen über Gefühle sprechen?

5.   Mit welchen Menschen reden Sie selbst offen und ehrlich über Ihre Gefühle?

6.   Für wie glaubhaft halten Sie öffentliche Aussagen von Prominenten über Gefühle?

7.   Stellen Sie sich vor, Sie seien selbst prominent. Ihre Ehe ist zerrüttet, und Sie sind deprimiert. Nun interviewt Sie die Journalistin einer großen Lifestyle-Illustrierten und fragt Sie nach Ihrer Liebe. Was antworten Sie?

8.   Zur Selbsteinschätzung, prüfen Sie sich einmal im Hinblick auf zwei exemplarische Eigenschaften: Sind Sie im Grunde ein liebevoller und großherziger Mensch?

9.   Wenn Sie an den heutigen Tag denken: Wie oft haben Sie sich liebevoll und großherzig verhalten? Und wie viel Prozent der Zeit waren Sie eher genervt, ärgerlich oder ängstlich?

10.   Stellen Sie sich vor, Sie würden Ihre Freunde und/oder Arbeitskollegen nach deren Einschätzung Ihres Verhaltens fragen. Was würden diese wohl antworten?

11.   Für wie ehrlich hielten Sie die Antworten?

12.   Was würden Sie selbst antworten, wenn Sie von einer Freundin/einem Freund um eine solche Einschätzung gebeten würden?

13.   Beantworten Sie bitte nochmals die Fragen 4 und 5. Fällt Ihre Antwort immer noch gleich aus?

In der Achterbahn der Gefühle

In diesem Teil wird die moderne »Gefühlslandschaft« kartografiert, durch die wir täglich navigieren: eine Landschaft, in der wir zwischen der Sehnsucht nach stabilen Beziehungen und dem Wunsch nach Freiheit und Selbstverwirklichung hin- und hergerissen werden, in der wir dem Glück hinterherrennen und uns doch oft emotional erschöpft fühlen. Denn unsere Gefühle, so zeigt sich in diesem Teil, werden längst nicht nur von uns selbst, sondern von vielen äußeren Faktoren gesteuert. Mitunter werden wir von den Emotionen unserer Mitmenschen sogar gegen unseren Willen angesteckt.

1     DIE EMOTIONALE ANSTECKUNG

Im Grunde reist man am besten, indem man fühlt.

Fernando Pessoa

Eines der merkwürdigsten Erlebnisse meines Lebens hatte ich vor Jahren in einem trostlosen Hotelzimmer im verschlafenen Bonn. Ich nahm dort an irgendeiner wissenschaftlichen Konferenz teil, die ich längst vergessen habe. Bis heute ist mir dagegen im Gedächtnis geblieben, was mir abends vor dem Fernseher widerfuhr. Ich hatte mir gerade die – wie üblich unerfreulichen – Nachrichten angesehen und danach noch ein wenig gelangweilt durch die Kanäle gezappt, als ich in eine Sendung über die Olympischen Spiele geriet, die damals, im Jahr 2000, in Australien stattfanden.

Zu pathetischer Musik erschienen auf dem Bildschirm die bewegendsten Szenen aus der Eröffnungszeremonie dieser »grünen« Spiele, die sich seinerzeit Umweltschutz und politische Versöhnung auf die Fahnen geschrieben hatten. Man sah etwa, wie die Aborigine-Läuferin Cathy Freeman das olympische Feuer entzündete, eine Vertreterin jener Ureinwohner, die in Australien lange diskriminiert worden waren. (Und wie in einem Märchen sollte Freeman später tatsächlich als erste Aborigine olympisches Gold gewinnen.) Man erlebte fröhlich winkende Sportler aus aller Herren Länder, die sich trotz politischer Differenzen gemeinsam auf die Spiele freuten. Und man sah Bilder von lachenden Kindern, gerührten Promis und bewegten Zuschauern, die für einen kurzen Moment ein friedliches Miteinander erlebten. Und während ich diese Szenen in meinem nüchternen Hotelzimmer mit routinierter Abgebrühtheit betrachtete und kurz davor war, weiterzuschalten, spürte ich mit einem Mal Seltsames: Ohne dass ich es wollte, wurde mir ganz weich zumute, und ich merkte, wie gegen meinen Willen die Rührung in mir hochstieg und mir Tränen in die Augen trieb.

Instinktiv war mir das Ganze höchst peinlich. Auch wenn mich niemand dabei beobachtete, empfand ich mein Verhalten als irgendwie unangemessen und blamabel. Alleine vor dem Fernseher in Tränen auszubrechen – das entspricht sonst nicht meiner Art. Und das auch noch angesichts einer durchschaubaren Inszenierung von olympischer Idylle, an der man ja doch ernste Zweifel hegen konnte! War die heile Welt der Eröffnungsfeier letztlich nicht nur eine Show? Als kritischer Zeitgenosse rief ich mir in Erinnerung, dass ja Olympia im Grunde ein großes Geschäft ist und die Mitglieder des Olympischen Komitees so korrupt sind wie alle Sportfunktionäre. Und doch rührte und übermannte mich da plötzlich noch ein anderes Gefühl, ein Gefühl, das offenbar etwas mit all den Menschen in diesem Stadion zu tun hatte, die – wenigstens einen Augenblick lang – die Vision einer friedlichen Welt teilten.

Heute ist mir klar, was mir vor dem Bildschirm widerfuhr: Ich wurde das Opfer einer emotionalen Ansteckung, bei der die massenhaften Gefühle im Olympiastadion von Sydney unwillkürlich auf mich übersprangen und mich gegen meinen Willen ergriffen – ähnlich wie Grippeviren, die in einer vollen U-Bahn von einem zum anderen springen. Und bevor Sie nun belustigt über diese scheinbar kuriose Erklärung den Kopf schütteln, gönnen Sie sich ein kurzes Innehalten: Kennen Sie nicht Ähnliches aus anderen Zusammenhängen?

Verspüren Sie vielleicht bei bestimmten Liebesfilmen ein seltsames Gefühl der Rührung? Oder steigen Ihnen stets beim Tod von Bambis Mutter im Zeichentrickfilm die Tränen in die Augen? Eventuell sind es auch kleine Kinder, die Ihnen »den Stecker ziehen«, wie der verstorbene Schriftsteller Wolfgang Herrndorf bekannte?1 Oder reißt Sie eher der euphorische Jubel im Fußballstadion mit oder die rauschhafte Begeisterung auf einem Heavy-Metal-Festival?

In all diesen Fällen erleben wir Gefühle, die nicht nur unsere eigenen sind. Wir werden vielmehr von den Emotionen anderer auf eine Weise beeinflusst, die sich unserer bewussten Kontrolle entzieht und uns daher umso fundamentaler ergreift. Von »emotionaler Ansteckung« spricht die Wissenschaft2, um ein Phänomen zu beschreiben, das wesentlich für die Faszination gemeinsam erlebter Massenereignisse verantwortlich ist. Bei solchen Gelegenheiten kommt es häufig zu einer automatischen Synchronisation von Gefühlen und Stimmungen, die nach und nach alle Mitglieder einer Gruppe oder Menge infizieren, bis am Ende ein enorm starkes Kollektivgefühl entsteht.

Eine britische Trauerepidemie

Nehmen wir zum Beispiel die Stimmung am 6. September 1997 in London. In der geschäftigen Metropole ist es an diesem Tag ganz still. Die Geschäfte sind geschlossen, Sportveranstaltungen abgesagt, Flugzeuge dürfen die Stadt nur in extrem großer Höhe überfliegen – denn an diesem Samstag wird Prinzessin Diana, die »Königin der Herzen«, unter beispielloser öffentlicher Anteilnahme zu Grabe getragen. Millionen stehen an den Straßen und geben der Begräbniskutsche das letzte Geleit zur Westminster Abbey. Dort haben in der Nacht schon tausende Schlange gestanden, um sich in das Kondolenzbuch einzutragen. Überall herrscht ein kollektiver Ausnahmezustand der Trauer, Wildfremde umarmen sich oder drücken sich in ergriffenem Schmerz die Hand, manche weinen hemmungslos, und niemand schämt sich seiner Tränen. Die Menschen gebärden sich, als wäre eine nahe Angehörige gestorben und als seien sie alle persönlich mit Lady Di befreundet gewesen.

Großbritannien ist an diesem Tag Opfer einer großflächigen Gefühlsansteckung geworden, sozusagen einer landesweiten Trauerepidemie. Diese hatte sechs Tage zuvor, direkt nach dem Tod der Princess of Wales, mit einzelnen Bekundungen der Betroffenheit begonnen; diese wiederum wurden von den Medien aufgegriffen, kommentiert und verstärkt, bis das ganze Land in Moll getaucht war. Radiosender stellten von Pop auf Requiem um und hartgesottene Journalisten schrieben so ergriffene Artikel, dass im fernen Hamburg der Spiegel kopfschüttelnd feststellte, die »Rührung über den Tod der Ikone« habe »die Mehrzahl auch der seriösen Kommentatorengehirne in Rührei verwandelt«.3

Selbst die Queen musste sich der allgemeinen Ergriffenheit beugen: Nachdem die Royals zunächst distanziert reagiert hatten – schließlich war die geschiedene Diana nicht mehr offiziell Mitglied des Königshauses –, blieb ihnen schließlich nichts anderes übrig, als der überwältigenden Volkstrauer nachzugeben und entgegen dem Protokoll eine opulente öffentliche Beisetzungszeremonie zu organisieren. Von einem »nationalen Modus der Trauer« schrieben britische Zeitungen, und der Medien- und Kulturwissenschaftler James Thomas stellte fest, ein »dominantes Gefühl habe die öffentliche Szene so sehr monopolisiert«, dass nach und nach auch die anfangs Unentschiedenen »von den anderen und den Medien gelernt haben, was das akzeptable soziale Verhalten war«.4

Der Sog des kollektiven Erlebens

Eine derartige Synchronisation von Gefühlen ist ein typisches Kennzeichen menschlicher Gesellschaften. Denn von kaum etwas anderem ist unser Fühlen und Erleben so sehr abhängig wie von den Emotionen unserer Mitmenschen. Welche Kräfte – auch im Negativen – ein solcher Kollektivmodus entfalten kann, weiß keine Nation besser als die deutsche. Der Wahn des »Dritten Reiches« wäre schließlich ohne die massenpsychologische Verführung der Nationalsozialisten kaum vorstellbar gewesen. Die monumentalen Inszenierungen ihrer »Reichsparteitage«, die aufpeitschenden Reden, die Appelle an das »gesunde Volksempfinden« – alles zielte darauf ab, ein Gemeinschaftsgefühl zu erzeugen, das dann gegen vermeintliche »Volksfeinde« im Inneren und Äußeren in Stellung gebracht wurde.

Seit diesen dunklen Tagen schlägt dem Erleben kollektiver Emotionen hierzulande stets eine besondere Skepsis entgegen. Als etwa 2006 die Fußballweltmeisterschaft in Deutschland stattfand und sich plötzlich schwarz-rot-goldene Fahnen und patriotische Gefühle breitmachten, war das zunächst vielen suspekt. Es scheint, als müssten wir uns erst wieder daran gewöhnen, dass kollektive Gefühle auch positiv besetzt sein können.5

Auf ähnliche Weise hat sich die wissenschaftliche Perspektive gewandelt: Lange Zeit war die Meinung vorherrschend, Menschenmassen seien zwangsläufig dumm und potenziell gefährlich. Als Teil einer Masse steige der Mensch »mehrere Stufen von der Leiter der Kultur hinab« zurück, selbst gebildete Individuen würden zu »Triebwesen« und Barbaren, postulierte 1895 Gustave Le Bon, der Begründer der Massenpsychologie.6 Heute heben Forscher auch das Gegenteil hervor: Menschenmassen können durchaus klug handeln und positive Veränderungen herbeiführen, die ein Einzelner nie zuwege brächte.7 Die schwarze Bürgerrechtsbewegung in den USA, die Montagsdemonstrationen in der ausgehenden DDR (»Wir sind das Volk«), der arabische Frühling. – lauter Beispiele für die gesellschaftsverändernde Kraft großer Menschenmengen.

ENDE DER LESEPROBE