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Von rätselhaften Weihnachtsbriefen, eingeschneiten Berghütten und mörderischen Geständnissen – eiskalte Krimigeschichten, erstmals auf Deutsch.
»Ist Jónasson der beste Krimiautor der Welt?« (The Times) - Verschollene Wunschzettel, verschneite Berghütten und mörderische Geständnisse an Heiligabend ― Bestsellerautor Ragnar Jónasson mit beschaulich-schaurigen Weihnachtsgeschichten aus Island. Gekonnt wechselt er zwischen behaglicher Idylle und eiskalten Gänsehaut-Momenten. Da ist der unerwartete Einsatz des Polizisten Ari Arason, der ganz harmlos beginnt; da steht ein verängstigter Mann an Heiligabend vor der Haustür und hat eine ungewöhnliche Bitte; und da ist die junge Frau, deren lang ersehnte Einsamkeit in den Bergen dramatisch gestört wird. Mit faszinierenden Beschreibungen des winterlichen Islands und fulminanten Wendungen bringt Ragnar Jónasson seine Leserinnen und Leser zum Staunen.
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Seitenzahl: 160
Veröffentlichungsjahr: 2025
»Ist Jónasson der beste Krimiautor der Welt?« (The Times) – Verschollene Wunschzettel, verschneite Berghütten und mörderische Geständnisse an Heiligabend – Bestsellerautor Ragnar Jónasson mit beschaulich-schaurigen Weihnachtsgeschichten aus Island. Gekonnt wechselt er zwischen behaglicher Idylle und eiskalten Gänsehautmomenten. Da ist der unerwartete Einsatz des Polizisten Ari Arason, der ganz harmlos beginnt; da steht ein verängstigter Mann an Heiligabend vor der Haustür und hat eine ungewöhnliche Bitte; und da ist die junge Frau, deren lang ersehnte Einsamkeit in den Bergen dramatisch gestört wird. Mit faszinierenden Beschreibungen des winterlichen Islands und fulminanten Wendungen bringt Ragnar Jónasson seine Leserinnen und Leser zum Staunen.
Ragnar Jónasson, 1976 in Reykjavík geboren, ist Mitglied der britischen Crime Writers’ Association und Mitbegründer des »Iceland Noir«, dem internationalen isländischen Krimifestival. Seine Bücher, darunter die preisgekrönte »Hulda-Serie« sowie die »Dark-Iceland-Serie«, werden weltweit gefeiert und erscheinen in 36 Ländern mit einer Gesamtauflage von 5 Millionen Büchern. Er lebt und arbeitet als Schriftsteller und Investmentbanker in der isländischen Hauptstadt und unterrichtet an der Universität außerdem Rechtswissenschaften.
RAGNAR JÓNASSON
Kriminelle Weihnachtsgeschichten aus Island
Übersetzt von Andreas Jäger und Anika Wolff
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Copyright © Ragnar Jónasson
Published by Agreement with Copenhagen Literary Agency
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2025 btb Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich
Pflichtinformationen nach GPSR.)
Umschlaggestaltung: semper smile, München
Umschlagmotive: Shutterstock.com (Claire McAdams, PawelG Photo)
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-33818-3V001
www.btb-verlag.de
www.facebook.com/penguinbuecher
Ein Brief an den Weihnachtsmann
Weich fällt der Schnee
Das Weihnachtsrätsel
Keine Panik
Urlaubspost aus Island
Eine Weihnachtsgeschichte
Dinner for Two
Für diejenigen, die er nie in den Armen halten durfte
Die Truhe
Es wird schön, wenn die Sonne aufgeht
4 mal 3,3
Tod einer Sommerblume
Die Tochter
Chet Baker in Reykjavík 1955, fast ausverkauft
Ein Augenblick am Meer
Meinen Agenten umbringen
Veröffentlichungs- und Übersetzungsnachweis
Heiligabend in Siglufjörður, hoch im Norden von Island. Eine geschichtsträchtige Stadt, früher einmal das florierende Zentrum der isländischen Heringsfischerei, heute ein ruhigerer Ort mit deutlich weniger Einwohnern. Im Sommer ist es hier hell, wenn auch etwas kühl, mit vierundzwanzig Stunden Tageslicht um die Sommersonnwende, aber bitterkalt und dunkel im Winter, wenn die Sonne Ende November hinter den mächtigen Bergen verschwindet und erst zwei Monate später wieder auftaucht.
Gunnar erwartete keinen Besuch an diesem Abend des 24. Dezember. Nach dem Tod seiner Frau vor zwei Monaten lebte er allein. Über zwölf Jahre waren vergangen seit dem Tag damals im Sommer, als ihre Tochter Jódís, gerade sechzehn Jahre alt, spurlos verschwunden war.
Anfangs hatte er nur Verzweiflung empfunden, dann vielleicht einen Funken Hoffnung und Zuversicht, dann wieder Verzweiflung. Nichts war mehr so wie zuvor, Jódís’ Abwesenheit überschattete alles. Sein Kummer überwältigte ihn, bis kaum noch ein Lichtstrahl die Dunkelheit durchdrang.
Jódís war wie immer in ihr Zimmer im Erdgeschoss gegangen, um sich schlafen zu legen, und am nächsten Morgen war sie nicht mehr da. Es gab keinerlei Hinweise darauf, was passiert war. War sie vielleicht schlafgewandelt? So etwas hatte sie noch nie gemacht, aber die Möglichkeit wurde nicht ausgeschlossen. Sie hatten sofort die Polizei alarmiert, und eine umfangreiche Suchaktion wurde gestartet. Es gab keinerlei Anzeichen für eine Entführung, nirgendwo war Blut, ihr Zimmer so sauber und aufgeräumt wie immer. Sie war einfach wie vom Erdboden verschluckt. Gunnar machte sich selbst auf die Suche, Tag für Tag, Woche für Woche, stets vergebens. Er wusste, dass die Polizei die Umgebung gründlich durchkämmt hatte, doch er hatte das dringende Bedürfnis, irgendetwas zu tun.
Die Polizei deutete an, dass Jódís wahrscheinlich davongelaufen war. Sie sagten, das sei der häufigste Grund für das Verschwinden von Teenagern. War sie in schlechte Gesellschaft geraten? Hatte sie Drogen genommen? Zu viel getrunken? Nein. Die Antwort lautete immer Nein.
Tage vergingen, dann Wochen und Monate. Das Medieninteresse ließ nach. Doch die Menschen in dem kleinen Städtchen Siglufjörður vergaßen natürlich nicht, und jedes Mal, wenn Gunnar das Haus verließ, begegnete er Blicken, in denen Mitgefühl lag, aber auch eine Spur Argwohn. Hatten er und seine Frau etwas mit dem Verschwinden ihrer Tochter zu tun?
Und jetzt waren zwölf Jahre vergangen. Er dachte jeden Tag an sie. Und es tat immer noch weh, auch nur an sie zu denken. Es tat sogar weh, wenn er versuchte, nicht an sie zu denken. Sie hatte ihn nie kontaktiert, aber dennoch wusste er, dass sie noch lebte. Er spürte es einfach, ganz intensiv. Es war ein solcher Schock gewesen, als sie verschwand, und er hatte Jahre gebraucht, um sich damit … zu arrangieren. Natürlich würde er es niemals akzeptieren, aber er hatte sich irgendwie arrangiert. Er machte einfach weiter, ließ die Tage verstreichen, während er auf ihre Rückkehr wartete.
Und jetzt war er allein in dem großen Haus.
An Weihnachten las er immer ihren Brief. Den Brief, den Jódís vor so vielen Jahren an den Weihnachtsmann geschrieben hatte, als sie gerade mal sechs Jahre alt war. Sie hatte ihn so gut versteckt, dass er ihn erst nach ihrem Verschwinden entdeckt hatte. Der Brief hatte ihm zwar schlaflose Nächte bereitet, doch jedes Jahr an Weihnachten las er ihn wieder, um sich daran zu erinnern, dass all das hätte verhindert werden können, wenn er vor Jahren seinem Verdacht nachgegangen wäre. Wobei »Verdacht« kaum das richtige Wort war. Er hatte es natürlich gewusst.
Das Abendessen war im Ofen. Er konnte sich Weihnachten nicht ohne ein selbst gekochtes Essen vorstellen, auch wenn er jetzt nur für eine Person kochte. Es gab auch einen Weihnachtsbaum im Wohnzimmer, eine hübsche Tanne, mit ein wenig bescheidenem Schmuck. Und zwei Geschenke unter dem Baum, eines von Gunnar für sich selbst – ein Buch, das er über die Feiertage lesen wollte. Das Leben geht weiter, man passt sich an, man arrangiert sich, so sagte er sich immer wieder.
Das andere Geschenk war ein altes, von Gunnar und seiner Frau für ihre Tochter. Gekauft vor zwölf Jahren, als sie noch gehofft, noch gewartet hatten. Als erst ein paar Monate vergangen waren – die sich aber wie eine Ewigkeit anfühlten.
Es war wirklich ein Tag wie aus dem Bilderbuch. Gunnar genoss den Bergblick von seinem Wohnzimmer aus, und er war für eine Weile hinaus in den Garten gegangen. Schnee im Tal, Schnee auf den Bergen, der Himmel sternenklar. Kalt, aber nicht zu kalt.
Jetzt war es kurz nach sechs, und er war im Begriff, sich zum Essen hinzusetzen, als es an der Tür klopfte. Er verharrte einen Moment lang reglos – er konnte nicht glauben, dass er an Heiligabend Besuch bekam. Niemand würde an Heiligabend unangemeldet zu Besuch kommen. Ich muss mich verhört haben, dachte er. Mit langsamen Schritten ging er zur Tür. Wartete. Und dann klopfte es erneut. Nicht allzu laut, aber energisch. Sein Herz setzte einen Schlag aus. Er glaubte zu wissen, wer es war.
Sie dort stehen zu sehen, war ein Schock, gelinde gesagt. Er spürte die Tränen – er konnte nicht verhindern, dass sie flossen, und er wollte es auch gar nicht. Eine ganze Weile stand er da, unfähig, sich zu rühren. Zwölf Jahre lang hatte er auf diesen Tag gewartet, und jetzt kam ihm der Moment unwirklich vor.
»Papa«, sagte Jódís nur. Sie hatte den Kopf gesenkt, er hörte sie stoßweise atmen. »Hallo«, fügte sie hinzu, fast so, als wäre sie zu aufgeregt, um längere Sätze zu bilden. An ihren Augen war deutlich zu sehen, dass sie geweint hatte.
Er wusste nicht, was er sagen sollte, und so trat er nur einen Schritt vor und schloss sie in die Arme. Endlich sagte er: »Ich habe immer gewusst, dass du wiederkommen würdest.«
»Ich nicht«, erwiderte sie.
»Wie geht es dir, mein Goldschatz?«
»Es geht mir gut, danke, Papa.«
Sie folgte ihm ins Haus, und sie setzten sich an den Esstisch. Wie in alten Zeiten. »Hast du Hunger?«
Sie nickte. »Ich bin stundenlang gefahren.«
Sie aßen schweigend. Gunnar stand immer noch unter Schock, aber er bemühte sich, die Fassung zu bewahren. Seine Tochter war zurückgekehrt … Er konnte es kaum glauben.
»Du hast mich sicher erwartet«, sagte sie schließlich.
»In gewisser Weise, vielleicht«, gab er zu. Dann fügte er hinzu: »Das ist für dich.« Er deutete auf das Geschenk. »Es ist allerdings schon Jahre hier und wartet auf dich.«
»Danke.« Zum ersten Mal lächelte sie.
»Hast du vor zu bleiben?«, fragte er vorsichtig und fürchtete sich ein wenig vor der Antwort.
»Für eine Weile, ja. Aber ich habe einen Freund in Reykjavík. Wir wohnen zusammen. Ich bleibe aber auf jeden Fall über die Feiertage.«
Sein Herz schlug zu schnell. Das alles kam ihm vor wie ein Traum. »Wohin bist du gegangen?« So eine einfache Frage, beladen mit so vielen Jahren der Sorge und der Angst.
»Mein Freund hat mir geholfen, für eine Weile … na ja, zu verschwinden. Erst mal nur fort von Siglufjörður, und dann habe ich ein Schiff genommen. Ich habe ziemlich lange im Ausland gelebt. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mir das alles damals gründlich überlegt hatte, aber ich musste weg. Das weißt du. Ich musste weg.« Sie hielt inne. »Und dann war ich schon zu lange weg, und ich konnte mir einfach nicht vorstellen, jemals wieder heimzukommen. Erst jetzt … Es tut mir leid.«
»Nein, mir tut es leid«, entgegnete er sofort. »Ich hätte etwas unternehmen sollen. Weißt du, ich habe deinen Brief behalten. Ich habe ihn immer wieder gelesen …«
Sie stutzte. »Meinen Brief?«
»Du weißt schon – deinen Brief an den Weihnachtsmann.«
Einen Moment lang wirkte sie überrascht, doch dann schien sie zu begreifen, wovon er redete. »Wirklich? Wow … den hatte ich völlig vergessen. Ich war da doch gerade mal wie alt – fünf oder sechs?«
»Sechs«, sagte er leise.
»Ich wusste nicht, wohin ich ihn schicken sollte, also habe ich ihn einfach versteckt, glaube ich … Es ist so lange her.«
»Weißt du noch, was du geschrieben hast?«
»Natürlich. Und du hast ihn gelesen, also weißt du es jetzt auch.«
»Ich glaube, ich habe es immer schon gewusst. Anfangs war es natürlich nur ein Verdacht. Ich habe mich so lange wie möglich an der Illusion festzuklammern versucht, dass alles in Ordnung sei. Es tut mir leid, dass ich nicht mehr getan habe …« Er zögerte, dann korrigierte er sich: »Es tut mir leid, dass ich nichts getan habe. Ich war zu schwach.« Und plötzlich fing er wieder an zu weinen.
Jódís erwiderte nichts. Sie stand auch nicht auf, um ihn zu trösten.
»Ich habe euch beide gehasst«, sagte sie ruhig. »Ich habe sie für das gehasst, was sie getan hat, und dich für das, was du nicht getan hast. Für deine Untätigkeit.« Die Sätze hörten sich an wie eingeübt. »Ihr konnte ich nie verzeihen, aber nach und nach habe ich es fertiggebracht, dir zu verzeihen. Deswegen bin ich hier. Deswegen bin ich zurückgekommen.«
»Wann hat es angefangen? Offenbar schon vor deinem sechsten Lebensjahr, nach deinem Brief zu urteilen.«
»Ich weiß es nicht genau. Soweit ich mich erinnern kann, war sie schon immer gewalttätig. Auf sehr subtile Art und Weise natürlich, ohne dass du etwas mitbekamst. Körperliche Gewalt, verbale Gewalt … Ich verstehe nicht, wie du es so lange mit ihr ausgehalten hast.«
Seine einzige Entgegnung war: »Ich bin so froh, dass du wieder da bist.«
Er wollte nicht an all die Jahre denken, die er in einer lieblosen Ehe verbracht hatte, wollte nicht darüber nachdenken, warum er nie seine Koffer gepackt und sie verlassen hatte. Warum er so lange gebraucht hatte, um endlich zu handeln …
»Kann ich mein altes Zimmer haben?«
»Natürlich.« Er lächelte und wischte die Tränen weg. »Es ist mehr oder weniger unverändert. Wir haben immer darauf gewartet, dass du nach Hause kommst.«
»Ich werde morgen wahrscheinlich lange ausschlafen. Ich bin so müde.«
»Nun ja, du warst lange weg …«
Sie stand auf und griff nach dem Geschenk, das unter dem Tannenbaum lag. »Darf ich es aufmachen?«
»Aber sicher doch.«
Sie packte das Geschenk behutsam aus. »Ein Buch«, sagte sie. Sie schien sich zu freuen.
»Ich habe es für ein sechzehnjähriges Mädchen gekauft, also dürfte es für dich heute wohl nicht mehr interessant sein. So eine Art Teenager-Liebesgeschichte. War damals ziemlich populär, glaube ich.«
»Es ist perfekt.« Eine Pause, und dann: »Danke, Papa.«
Sie verließ das Wohnzimmer, kam aber noch einmal zurück und blieb in der Tür stehen. »Wie ist sie gestorben?«
»Deine Mutter?«
»Ja.«
»Sie ist im Schlaf gestorben. Eine Überdosis Schlaftabletten. Die Polizei sagte, dass es wahrscheinlich ein Suizid war, aber die offizielle Version war Unfalltod. Sie hatten Mitleid mit uns, verstehst du … Die Leute haben uns immer bemitleidet, seit deinem Verschwinden.«
Sie nickte. »Kann ich mir vorstellen.«
»Die Sache ist die«, sagte er, »ich habe immer gewusst, dass du zurückkommen würdest, wenn sie tot ist. Ich wusste, dass du noch lebst, aber dass du niemals zu ihr zurückkehren würdest.«
»Du hattest recht.«
Er seufzte. »Ich hoffte nur, dass es nicht zu spät war. Dass ich es noch erleben würde, dich wiederzusehen, und sei es nur noch ein einziges Mal.«
»Siehst du, und jetzt ist es tatsächlich so gekommen. Wir haben uns sicher eine Menge zu erzählen.«
In diesem Moment war Gunnar einfach nur froh, dass er endlich den Mut aufgebracht hatte zu handeln. Nach all den Jahren. Die Liebe war nach und nach in Hass umgeschlagen, und so war es ihm am Ende nicht besonders schwergefallen, seine Frau umzubringen.
Die Schneeflocken rieselten auf die Erde herab, eine nach der anderen. Ein majestätischer Anblick – doch außer Ari Þór Arason war niemand da, der sich daran erfreute. Er stand am Wohnzimmerfenster und hörte eine alte Schallplatte mit klassischer Weihnachtsmusik. Bis zur Christmette im Radio war es noch etwa eine Stunde, und er wollte sich nicht vor Punkt achtzehn Uhr am Heiligabend zu Tisch setzen. So war es immer schon gewesen, seit er als kleiner Junge mit seinen Eltern Weihnachten gefeiert hatte.
Es gab geräucherten Weihnachtsschinken – auch dies eine Tradition, die er von seinen Eltern übernommen hatte. Es war schwierig gewesen, einen Schinken zu finden, der klein genug für eine Person war, aber wenn etwas übrig blieb, hätte er auch noch über die Feiertage etwas davon. Dass er sich an Weihnachten freinehmen konnte, gehörte zu den Privilegien, die ihm zustanden, nachdem er nun endlich einen Stellvertreter hatte – einen jungen Polizisten namens Ögmundur. Dabei waren die Feiertage ohnehin meist ziemlich ruhig, und außerdem hatte er auch niemanden, mit dem er die freie Zeit hätte genießen können.
Kristín war mit ihrem gemeinsamen Sohn Stefnir nach Schweden gezogen. Heute war übrigens Stefnirs dritter Geburtstag, und da schmerzte es Ari ganz besonders, ihn nicht in der Nähe zu haben. Er hatte Kristín sogar vorgeschlagen, dass er Weihnachten mit den beiden in Schweden verbringen könnte, und sie hatte gründlich darüber nachgedacht, sich aber am Ende dagegen entschieden. »Wir sind noch dabei, uns einzugewöhnen – es könnte zu viel für ihn sein. Er ist ja noch so klein. Wir verbringen Ostern in Siglufjörður, und nächstes Jahr kannst du dann an Weihnachten zu uns kommen, versprochen. Lass es uns einfach langsam angehen, wenn das für dich okay ist?« Er hatte sagen wollen, dass es nicht okay war, doch er hatte am Telefon keinen Streit anfangen wollen.
Die Weihnachtsmusik wurde vom Läuten seines Handys gestört. Er ging zum Klavier, wo er es abgelegt hatte. Es war Ögmundur, sein Stellvertreter.
»Ja?«, meldete sich Ari Þór einigermaßen ungehalten. Er konnte sich nicht vorstellen, was so wichtig wäre, dass Ögmundur ihn dafür am Heiligabend stören musste.
»Ari, da war diese Frau, die dich sprechen wollte«, kam Ögmundur ohne Umschweife zur Sache.
»Welche Frau?«
»Eine ältere Dame, sie wohnt in der Hólavergur.«
»Kenne ich sie?«
»Nein, nicht dass ich wüsste. Sie heißt Halla und ist so um die achtzig.«
»Und wo brennt es?«, fragte Ari Þór, immer noch ziemlich verärgert.
»Ich weiß nicht genau. Sie sagte nur, dass sie mit dir persönlich sprechen will.«
»Und du bist nicht auf die Idee gekommen, dass du dich selbst darum kümmern könntest?«
Es war einen Moment still.
»Nein. Ich wusste ja, dass du sowieso allein bist und nichts zu tun hast. Also, soll ich dir nun ihre Nummer geben?«
Ari Þór seufzte. »Na schön …«
Zehn Minuten später saß er in Hallas großem Wohnzimmer. Er hatte den Schinken im Ofen gelassen und sich ausgerechnet, dass er sich eine halbe Stunde für die alte Dame Zeit nehmen könnte und trotzdem noch rechtzeitig zur Messe zurück wäre. Der kurze Spaziergang im Schnee war auch erfrischend gewesen. Es war fast vollkommen still im Dorf, und oben am Berghang konnte er die traditionelle Neujahrsdekoration sehen, wo die Lichter das laufende Jahr anzeigten. Am 31. Dezember um Mitternacht würden sie von 2015 auf 2016 umspringen.
Er war Halla noch nie zuvor begegnet, doch sie wusste offenbar, wer er war. Sie war nicht sehr groß, aber dennoch eine recht stattliche Erscheinung. In ihrem eleganten Weihnachtskostüm wirkte sie jung für ihr Alter, und ihre Augen blitzten klug.
»Das ist wirklich nett von Ihnen, dass Sie sich die Zeit nehmen«, sagte sie mit freundlicher Stimme. »Ich weiß nicht, warum ich das Bedürfnis hatte, Sie gerade jetzt zu kontaktieren, aber es war einfach so ein merkwürdiger Brief.« Dann fügte sie hinzu: »Und ich weiß, dass Sie mal Theologie studiert haben, deshalb denke ich mir, dass Sie etwas von diesen Dingen verstehen.«
Er fragte nicht, was sie mit »diesen Dingen« meinte. Stattdessen sagte er: »Erzählen Sie mir etwas über diesen Brief.« Sie hatte ihn am Telefon schon kurz erwähnt.
Jetzt stand sie auf und ging langsam aus dem Zimmer. Kurz darauf kam sie mit einem Brief in der Hand zurück.
»Das ist nicht der einzige, müssen Sie wissen. Es ist nur der letzte.« Sie reichte Ari Þór den Brief.
Er war nicht sehr lang – eine Seite, handgeschrieben, in einer ziemlich unleserlichen Handschrift. Die Anrede lautete »Liebe Halla«, unterschrieben war er von einem Mann namens Einar. Der Inhalt war in keiner Weise verdächtig oder verstörend – nur ein paar Erinnerungen an frühere Tage und am Schluss die besten Wünsche für ein frohes Weihnachtsfest.
»Kennen Sie diesen Mann? Diesen Einar?«
Sie nickte.
»Und es ist nicht der erste Brief von ihm?«
»Nein. Ich bekomme jedes Jahr einen zu Weihnachten. Soll ich sie Ihnen zeigen?« Und ohne auf eine Antwort zu warten, verschwand sie wieder im Nebenzimmer. Als sie wiederkam, hatte sie ein kleines Holzkästchen in der Hand, das sie auf den Tisch stellte und öffnete. Es war voll mit Briefen. Ari Þór sah den Stapel durch. Die Handschrift war immer die gleiche, und alle Briefe, die er überflog, waren an Halla gerichtet und von Einar unterschrieben.
»Es tut mir leid«, sagte er. »Ich verstehe das Problem nicht recht. Dieser Mann …« Er wählte seine Worte mit Bedacht. »Belästigt er sie vielleicht auf irgendeine Weise?«
