Schneetod - Ragnar Jónasson - E-Book

Schneetod E-Book

Ragnar Jónasson

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

"Schneetod" ist der fünfte Band der Dark-Iceland-Serie von SPIEGEL-Bestseller-Autor Ragnar Jónasson.

Ein verlassenes Haus am Ortsrand von Siglufjörður: Einer der beiden örtlichen Polizisten wird mitten in der Nacht kaltblütig ermordet. Warum war er um diese Uhrzeit dort draußen? Seinen Kollegen Ari trifft dieser Fall besonders. Und mit seinen Ermittlungen scheint er schlafende Hunde zu wecken, haben in diesem kleinen Ort dort mehr Leute etwas zu verbergen, als Ari geahnt hat. Nach und nach eröffnet sich ihm die ganze Tragödie eines menschlichen Lebens …

»Schneetod« ist der fünfte Band der Dark-Iceland-Serie von SPIEGEL-Bestseller-Autor Ragnar Jónasson.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 287

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Zum Buch

Ein verlassenes Haus am Ortsrand von Siglufjörður. Kaltblütig wird einer der beiden örtlichen Polizisten in der Nacht erschossen. ­Warum war er hier draußen? Für seinen Kollegen Ari Þór Arason gestaltet sich die Spurensuche schwierig, denn die Ermittlungen scheuchen alle die auf, die etwas zu verbergen haben. Und das sind in dem kleinen Ort doch mehr, als Ari geahnt hat. Als er schließlich der Wahrheit ins Gesicht blickt, erkennt er die ganze Tragödie eines menschlichen Lebens.

Die Dark-Iceland-Serie von Ragnar Jónasson spielt in Siglufjörður, einem idyllischen Fischerort im Norden von Island, der nur durch einen schmalen Bergtunnel zu erreichen ist. Auf meisterliche Weise verbindet der Autor die eindrucksvolle Schönheit der subarktischen Landschaft mit einem außergewöhnlichen Mordfall.

»Schneetod« ist der fünfte Band der Dark-Iceland-Serie von ­SPIEGEL-Bestseller-Autor Ragnar Jónasson.

Zum Autor

Ragnar Jónasson, 1976 in Reykjavík geboren, ist Mitglied der ­britischen Crime Writers’ Association und Mitbegründer des »Iceland Noir«, dem Reykjavík International Crime Writing Festival. Seine Bücher werden in über 30 Ländern veröffentlicht und von Zeitungen wie der »New York Times« und »Washington Post« gefeiert. Die preisgekrönte »Hulda-Trilogie« erschien bei btb erstmals auf Deutsch und stand viele Monate auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Mit »Frost« folgte eine unabhängige Fortsetzung der Reihe.

Nach »Schneeblind«, »Todesnacht«, »Blindes Eis« und »Totenklippe« ist »Schneetod« der fünfte Band der Dark-Iceland-Serie um den jungen Polizisten Ari Þór Arason.

Ragnar Jónasson lebt und arbeitet als Schriftsteller und Investmentbanker in der isländischen Hauptstadt. An der Universität Reykjavík lehrt er außerdem Rechtswissenschaften.

Ragnar Jónasson

SCHNEETOD

Thriller

Aus dem Englischen von Helga Augustin

Die isländische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Náttblinda« bei Veröld, Reykjavík, und 2020 unter dem Titel »Schneetod« erstmals auf Deutsch bei S. Fischer, Frankfurt am Main.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Wiederveröffentlichung Mai 2023

Copyright © by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Copyright © der Originalausgabe 2014 by Ragnar Jónasson

Published by agreement with Copenhagen Literary Agency, ApS, Copenhagen

Copyright © der deutschen Übersetzung 2019 by

S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 2021

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: © getty images/Nina Marsiglio/Eye Em; Feifei Cui-Paoluzzo;

imageBROKER/Olaf Krueger © shutterstock/railway fx; brickrena; Anton27

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

MA · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-28829-7V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

Für Natalía, von Dad

Karte

Etwas gerät auf AbwegeBei Mensch und Wetter,Mensch und Wort …

Aus dem Gedicht »Broken«von Þorsteinn frá Hamri

(in dem Gedichtband Skessukatlar)

1. Kapitel

Unheimlich.

Ja, das Wort traf es. Das heruntergekommene alte Haus sah unheimlich aus. Im strömenden Regen wirkte die bleigraue Fassade noch schauerlicher als sonst. Herbst in Siglufjörður war eher ein Gemütszustand als eine richtige Jahreszeit, denn der Winter folgte dem Sommer schon Ende September dicht auf den Fersen. Der Herbst war auf dem Weg nach Norden einfach verlorengegangen. Dabei vermisste Polizeihauptkommissar Herjólfur ihn nicht einmal besonders, zumindest nicht in Reykjavík, wo er aufgewachsen war. Im Gegenteil, er hatte das strahlend helle Sommerlicht hier in Siglufjörður schätzen gelernt. Und der Winter gefiel ihm auch, die alles verhüllende Dunkelheit, die sich wie eine gigantische Katze um einen legte.

Das Haus stand unweit der Einfahrt zum Strákagöng-Tunnel und somit in einiger Entfernung zum Ortszentrum an der Küste. Soweit Herjólfur in Erfahrung bringen konnte, hatte seit Jahren niemand mehr in diesem Haus gewohnt. Es war offensichtlich den Naturgewalten überlassen worden, die seither ihr zerstörerisches Werk verrichteten.

Herjólfur hatte ein besonderes Interesse an diesem verlassenen Gebäude, und genau das machte ihm Angst. Es gab wenig, was ihn ängstigte, denn er hatte sich selbst dazu erzogen, ungute Gefühle zu ignorieren. Dass ihm das diesmal nicht ­gelang, gefiel ihm gar nicht. Er hatte den Streifenwagen am Straßenrand geparkt, zögerte jedoch auszusteigen. Eigentlich hätte er gar keinen Dienst gehabt, aber Ari Þór Arason, der zweite Polizist der hiesigen Wache, lag mit Grippe im Bett.

Während kalter Regen aufs Auto trommelte, saß Herjólfur einen Moment lang einfach ruhig da. Seine Gedanken wanderten nach Hause, zum warmen Wohnzimmer. Hier hinauf in den Norden zu ziehen war ein Kulturschock gewesen, aber er und seine Frau hatten es geschafft, sich gut einzuleben und aus dem schlichten Haus ein Zuhause zu machen. Ihre Tochter ging auf die Universität in Reykjavík, ihr Sohn lebte noch bei ihnen, wohnte im Souterrain und besuchte das örtliche College.

Herjólfur würde bald ein paar Tage Urlaub haben – vorausgesetzt, Ari war wieder gesund. Er plante, seine Frau mit einer Reise nach Reykjavík zu überraschen, hatte schon Flüge ab Akureyri gebucht und mehrere Tickets fürs Theater besorgt. Solche kurzen Trips wollte er in Zukunft regelmäßig machen, um aus der täglichen Routine auszubrechen, wann immer es ging. Doch dass er jetzt, mitten in der Nacht und noch im Dienst, seine Gedanken auf den bevorstehenden Urlaub konzentrierte, war, als bräuchte er diese Ablenkung gegen die Angst beim Betreten des Hauses.

Er dachte wieder an seine Frau. Sie waren seit über zweiundzwanzig Jahren zusammen und hatten früh geheiratet, da sie gleich am Anfang ihrer Beziehung schwanger geworden war. Damals hatte er keinen Moment gezögert, er hatte im Grunde auch keine andere Wahl. Und das nicht, weil er besonders religiös war, sondern aus Anstand. Seine Eltern hatten ihn dazu erzogen, stets mit gutem Beispiel voranzugehen. Natürlich waren sie auch verliebt gewesen. Er hätte nie eine Frau geheiratet, die er nicht liebte. Dann kam ihre Tochter zur Welt, die er wie seinen Augapfel hütete. Sie war jetzt Anfang zwanzig und studierte Psychologie. Er hatte vergeblich versucht, sie zum Jurastudium zu überreden, denn als Juristin hätte sie mit der Polizei zusammenarbeiten können und eine Verbindung zu der Welt aus Recht und Ordnung gehabt – zu seiner Welt.

Der Junge wurde drei Jahre später geboren. Er war jetzt neunzehn, ein eigensinniger und fleißiger Bursche, der gerade das letzte Jahr im College absolvierte. Vielleicht hatte er ja Interesse an Jura, oder er bewarb sich direkt für die Polizeischule.

Herjólfur hatte alles getan, um seinen Kindern das Leben zu erleichtern. Er besaß reichlich Einfluss bei der Polizei und könnte seine Beziehungen spielen lassen, falls sie sich für so eine Laufbahn entschieden. Wobei er sich schuldbewusst eingestand, sie ein bisschen zu sehr in diese Richtung zu drängen. Aber er war stolz auf seine Kinder und hoffte, dass sie auch stolz auf ihn waren. Er hatte hart gearbeitet, damit er und seine Familie in einem schwierigen Umfeld ein angenehmes Leben hatten. Und ihm war stets bewusst, dass seine Arbeit auch reichlich Belastung mit sich brachte.

Die Finanzkrise war für die Familie ein Desaster gewesen, bei dem sich praktisch alle Ersparnisse über Nacht in Luft aufgelöst hatten. Es folgten schlimme Zeiten mit schlaflosen Nächten, in denen die Angst alles überschattete und seine Nerven blanklagen. Doch jetzt endlich schien es, als hätte sich alles stabilisiert; er hatte eine gute Stelle an diesem neuen Ort gefunden, an dem sie sich nicht nur wohl fühlten, sondern auch sicher. Ari hatte sich damals auf die gleiche Position als Polizeihauptkommissar beworben, worüber sie beide aber nie gesprochen hatten. Und er wusste, dass Ari in Tómas – seinem Vorgänger hier in Siglufjörður, der nach Reykjavík gewechselt war – einen einflussreichen Verbündeten gehabt hatte. Auch Herjólfur hatte seine Beziehungen spielen lassen, sich aber ­wegen Tómas’ Lob und Unterstützung für Ari kaum Chancen ausgerechnet. Doch dann hatte er und nicht Ari die Stelle bekommen. Was natürlich mit ein Grund dafür war, dass Herjólfur seinen jungen Kollegen nicht so richtig einschätzen konnte. Und da Ari überaus wortkarg war und nicht mit dem herauskam, was er dachte, wusste Herjólfur auch nicht, ob Ari einen Groll gegen ihn hegte. Allerdings arbeiteten sie auch noch nicht lange zusammen. Ari war Ende letzten Jahres, an Heiligabend, Vater eines Sohnes geworden und hatte vier Monate Elternzeit und einen Monat Urlaub genommen. Sie waren keine Freunde und nicht einmal besonders freundlich im Umgang miteinander, aber noch war ja auch nicht aller Tage Abend.

Herjólfur zwang sich zurück ins Hier und Jetzt. Er schärfte die Sinne, verbannte alle Gedanken an seinen Kollegen, stieg aus dem Wagen und machte sich langsam auf den Weg zum Haus. Doch sofort war da wieder dieses Gefühl, dass hier etwas nicht stimmte. Wenn es darauf ankam, konnte er es mit einem Mann aufnehmen. Zwei wären zu viel, denn er war nicht mehr so fit wie in jungen Jahren. Er schüttelte den Kopf, als wolle er seinen Argwohn vertreiben. Gut möglich, dass das alte Haus leer stand. Umso mehr wunderte er sich über sein Unbehagen.

Es herrschte kein Verkehr auf der Straße, denn nur wenige Leute fanden einen Grund, um diese Jahreszeit nach Siglufjörður zu reisen, schon gar nicht mitten in der Nacht und bei so miesem Wetter. Nach dem uralten Island-Kalender war der offizielle Winteranfang nächstes Wochenende, was aber lediglich bestätigte, was hier im Norden sowieso alle wussten – dass der Winter schon da war.

Herjólfur blieb abrupt stehen. In dem ansonsten dunklen Haus schien gerade ein Licht auf – der Schein einer Taschenlampe? Es war also tatsächlich jemand dort, vielleicht sogar mehr als eine Person. Der Anruf, der ihn hierhergeführt hatte, kam ihm zunehmend suspekt vor, was seinem dünnen Nervenkostüm nicht guttat.

Sollte er laut rufen und auf sich aufmerksam machen? Oder sollte er versuchen, unbemerkt ins Haus zu gelangen und die Lage zu ergründen?

Wieder schüttelte er den Kopf, riss sich zusammen und setzte beinahe wütend seinen Weg fort. Sei nicht so schwach. Sei nicht so verdammt schwach! Er wusste, wie man kämpfte, und die Eindringlinge waren vermutlich unbewaffnet.

Oder doch nicht?

Plötzlich schien der tanzende Lichtstrahl Herjólfur direkt ins Gesicht. Erschrocken blieb er stehen, hatte mehr Angst, als er sich einzugestehen wagte, und blickte mit zusammengekniffenen Augen in das helle Licht.

»Hier ist die Polizei«, rief er mit so viel Autorität wie möglich, wobei seine zittrige Stimme die Tapferkeit Lügen strafte. Zudem wurde ein Großteil des Gewichts, das er in seine Worte gelegt hatte, vom Wind verschluckt. Aber im Haus, hinter den klaffenden Fensteröffnungen, waren sie sicher trotzdem zu hören gewesen.

»Hier ist die Polizei«, wiederholte er. »Wer ist da im Haus?«

Der Lichtstrahl traf ihn ein zweites Mal, sein Gefühl sagte ihm, dass er sofort in Deckung gehen müsse. Doch er zögerte, folgte seinem Instinkt nicht und war sich dessen völlig bewusst. Ein Polizist ist eine Autorität, mahnte er sich selbst. Er sollte unter keinen Umständen nervös werden oder das Bedürfnis verspüren, sich zu verstecken.

Vorsichtig machte er einen Schritt nach vorn, auf das Haus zu.

In dem Moment erschallte der ohrenbetäubende, tödliche Schuss.

2. Kapitel

Nicht zum ersten Mal in dieser Nacht wurde Ari durch das Weinen des Kindes geweckt. Er blickte auf den Wecker: fünf Uhr dreißig. Zum Aufstehen war es viel zu früh, obwohl er gestern Abend wegen seiner Grippe zeitig zu Bett gegangen war.

Kristín würde heute zu Hause bleiben. Sie arbeitete seit kurzem wieder im Krankenhaus in Akureyri, aber nur Teilzeit.

Rund um den Jungen war alles bis ins Kleinste geregelt, was Ari zuweilen übertrieben fand: Gemüse musste biologisch sein, in seiner Gegenwart durften sie sich nicht streiten, und am besten ließ man ihn nur dann krabbeln, wenn der Boden gerade frisch gewischt und makellos sauber war.

Der Kleine war jetzt zehn Monate alt, also fast ein Jahr. Ari hatte Kristín vorgeschlagen, wieder Vollzeit zu arbeiten. Das Krankenhaus litt unter akutem Ärztemangel und wartete auf ihre Rückkehr. Du kannst das Kind nicht ewig in Watte packen.

Und wenn Ari seine Auszeit verlängerte, bestand die Gefahr, dass er seinen Job verlor. Es hatte zwar Überlegungen gegeben, einen weiteren Polizisten für die Wache in Siglufjörður einzustellen, aber daraus war nichts geworden. Überall wurde gekürzt und eingespart. Während der Elternzeit hatte ein anderer Polizist ihn vertreten, aber der war inzwischen nach Reykjavík zurückgekehrt.

Er nahm seine Rolle als Vater ernst, es hielt ihn auf Trab und war sicher auch der Grund für gelegentliche Spannungen zwischen ihm und Kristín. Er selbst war ein Einzelkind gewesen, weshalb er wenig Erfahrung mit Kindern hatte und sich anfangs ziemlich schwertat, zumindest die elementarsten Dinge in den Griff zu bekommen. Dann war da noch das Problem mit der Namensgebung des Jungen gewesen. Ari hatte bis einige Tage nach der Geburt gewartet, um darauf zu sprechen zu kommen, denn dass der Name zum Zankapfel werden würde, stand außer Zweifel. Die Frage war lediglich, wie ernst die Auseinandersetzung würde. Zunächst war er einfach nur glückselig über die Geburt seines ersten Kindes gewesen und hatte gedacht, der Name wäre ihm nicht so wichtig. Er hatte sogar versucht, sich einzureden, dass es vielleicht besser wäre, nachzugeben und die wunderbare Harmonie nicht zu stören, die sie alle drei umgab. Doch dann gewannen seine wahren Gefühle wieder die Oberhand. Der Name war ihm wichtig. Sein Kind sollte Ari Þór Arason getauft werden, nach seinem viel zu früh verstorbenen Vater.

»Dann nennst du dein Kind auch nach dir selbst«, hatte Kristín bemerkt, als das Gespräch wieder einmal darauf kam. »Und was ist mit meinem Vater? Ist es richtig, einen von beiden außen vor zu lassen?«

Ari hatte darauf verzichtet, das Offensichtliche auszusprechen, nämlich dass sein Vater nicht mehr lebte und es ein wohlverdientes Zeichen der Wertschätzung wäre, seinem Enkelkind seinen Namen zu geben. Es war ihm wirklich wichtig, doch er wollte die Diskussion nicht weiter anheizen.

Am Ende hatte Kristín vorgeschlagen, den Jungen Stefnir zu nennen: einer, der die Richtung weist. Ein starker, kraftvoller Name, den es weder in Kristíns noch in seiner Familie gab. Ari dachte einen Tag und eine Nacht lang darüber nach – was als Protest gemeint war, aber wahrscheinlich nicht so rüberkam.

Schließlich stimmte er zu. Der Name gefiel ihm ganz gut, zumal er davon ausging, dass er die Schlacht um die Namensgebung des Kindes so gut wie verloren hatte.

Als Ari sich im Bett umdrehte, wachte Kristín auf. Inzwischen schrie der Junge aus vollem Hals. Er schlief in ihrem Schlafzimmer in einem alten Gitterbett, das er gebraucht gekauft hatte. Den Aushang dafür hatte er zwischen vielen anderen am schwarzen Brett des örtlichen Co-ops entdeckt. Hier oben wurden Geschäfte noch traditionell getätigt. Da es weit und breit kein Ikea gab, landeten Möbel selten auf dem Müll. Und das Bett sah so gut wie neu aus, weshalb er Kristín nicht erzählt hatte, dass es gebraucht war. Sie wäre vermutlich dagegen gewesen, ihren Neugeborenen darin schlafen zu lassen.

Kristín stand auf. »Bleib im Bett«, sagte sie. »Ich will nicht, dass du Stefnir ansteckst.«

Er war dankbar, noch ein bisschen liegen bleiben zu können. Wahrscheinlich brauchte er noch einen Tag, um wieder richtig gesund und fit für die Arbeit zu sein. Was für Herjólfur eine weitere Extraschicht bedeutete.

Bis jetzt hatte er ausgesprochen wenig Kontakt mit Herjólfur, seinem neuen Vorgesetzten, gehabt. Bestimmt war er ein freundlicher, höflicher Mensch und ein guter Polizist, aber er schien auch sehr reserviert. Zudem musste Ari zugeben, dass er sich nicht besonders angestrengt hatte, seinem neuen Kollegen das Gefühl zu geben, willkommen zu sein. Das hatte natür­lich mit der Enttäuschung zu tun, nicht selbst die Stelle bekommen zu haben, was sich fraglos auch auf ihre Beziehung auswirkte. Ari war sicher, dass er mit Herjólfur nie so freundschaftlich verbunden sein würde wie mit Tómas, seinem Vorgänger, der befördert worden und jetzt bei der Polizei in Reykjavík war. Tómas hatte mehr als einmal gesagt, dass Ari eines Tages vielleicht auch in den Süden ziehen und sich auf eine Stelle bewerben wollte. Was unausgesprochen hieß, dass er dort jederzeit einen Job bekäme, sollte er sich zu einem Ortswechsel entschließen.

Inzwischen war Ari fest entschlossen, den Schritt tatsächlich zu tun, und hatte es auch schon Kristín gesagt. Obwohl sie die Vorstellung ganz reizvoll fand, erinnerte sie ihn an das Versprechen, das sie ihrem Chef gegeben hatte, noch mindestens ein weiteres Jahr im Krankenhaus in Akureyri zu arbeiten.

»Lass uns nächstes Jahr noch mal darüber reden«, hatte sie lächelnd gesagt. »Das Kleinstadtleben hier ist gar nicht so übel, und die frische Meerluft tut Stefnir gut.«

Ari stieß einen Seufzer aus. Warum musste sie immer das Gegenteil von dem wollen, was er wollte – zuerst wollte sie nicht nach Siglufjörður ziehen, und jetzt wollte sie nicht weg von hier.

In letzter Zeit war sie ungewöhnlich kühl ihm gegenüber, was er nicht verstand. Es konnte unmöglich Babyblues sein, denn ihr distanziertes Verhalten war neu und der Junge schon fast ein Jahr alt.

* * *

Ari war wieder eingenickt und wurde nun von seinem Handy geweckt. Kristín war mit Stefnir schon nach unten gegangen, und das unablässige Klingeln zerstörte die fragile Stille. Er tastete nach dem Telefon, die Augen noch immer geschlossen. Es lag auf dem Nachttisch, war rund um die Uhr an, ob er Dienst hatte oder nicht. In einem so kleinen Ort mit unterbesetzter Polizeiwache ging es gar nicht anders.

Wahrscheinlich war es Herjólfur, der wissen wollte, ob er wieder gesund sei und zur Arbeit komme. Obwohl Herjólfur nicht besonders gesprächig war, wusste Ari, dass er und seine Frau Helena einen Trip gen Süden nach Reykjavík planten. Einmal hatte Herjólfur ihm sogar erzählt, dass sie keine großen Outdoor-Fans seien und noch nie Ski laufen waren, trotz der hervorragenden Skipisten direkt vor Ort. Diese Reise in den Süden, mit Theaterbesuchen, sei wichtig, hatte Herjólfur gesagt. Ari wusste, dass er von ihm erwartete, schnell wieder gesund zu werden, damit sie wegkonnten.

Er nahm ab, ohne aufs Display zu sehen, und war überrascht, eine weibliche Stimme zu hören. Nicht Herjólfur.

»Hallo? Ari?« Ein Zittern lag in der Stimme, die er nicht kannte. »Ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt.«

Einen Moment lang herrschte Stille.

»Hallo?«, sagte er schließlich. »Wer spricht da?«

»Hier ist Helena, Herjólfurs Frau.«

Ari setzte sich auf.

»Hallo«, sagte er noch einmal, mehr als überrascht.

»Ich …« Sie zögerte. »Ich suche Herjólfur.«

»Du suchst ihn?«

»Er ist gestern Abend noch einmal weggefahren und nicht wieder nach Hause gekommen. Mehr weiß ich nicht. Ich hatte schon halb geschlafen. Aber er ist immer noch nicht zurück und geht auch nicht an sein Handy.«

»Ist er nicht auf der Wache?«, fragte Ari. »Er geht sicher davon aus, dass er mich heute noch einmal vertreten muss. Ich hatte ja diese schlimme Grippe.«

»Da hab ich auch angerufen«, sagte Helena. »Da ist niemand.«

Das war wirklich merkwürdig.

»Ich versuche ihn anzurufen, und wenn ich ihn nicht erreiche, fahre ich durch den Ort und sehe nach, ob sein Streifenwagen irgendwo steht.«

»Du hast auch nichts von ihm gehört?«, fragte Helena ungeachtet der offensichtlichen Antwort.

»Nein, tut mir leid. Ich kümmere mich drum und melde mich dann bei dir«, sagte Ari entschieden und legte auf. Er tippte Herjólfurs Nummer ein und hörte es am anderen Ende klingeln, doch niemand antwortete. In seinem Zustand aufzustehen und rauszumüssen war echt hart, aber er hatte keine Wahl.

Er entschied sich gegen die Uniform, zog die Sachen an, die er hinter dem Bett aufgehängt hatte, und ging nach unten. Kristín fütterte Stefnir mit Brei oder gab sich zumindest große Mühe, denn das meiste schien in seinem Gesicht zu hängen.

»Ich muss kurz weg und brauche dein Auto.«

Sie hatten nur ein Auto, Kristíns, und auch das benutzte sie nur zum Pendeln zwischen Siglufjörður und Akureyri.

»Weg?«, fragte sie, sichtlich überrascht. »Du bist doch krank, oder?«

»Ja, aber Herjólfur ist …« Ari wusste nicht so richtig, wie er es ausdrücken sollte. »Er scheint verschwunden zu sein«, sagte er schließlich.

»Verschwunden?« Kristín lächelte. Ari wurde bewusst, dass es komisch klang, sein Krankenbett zu verlassen, um einen erwachsenen Mann zu suchen. »Heißt das, ein ganzer Polizist ist verlorengegangen?«

Der kleine Junge schenkte ihm ein Lächeln. Alle außer Ari schienen das lustig zu finden.

»Es dauert nicht lange, Schatz.«

* * *

Die Nacht ging langsam in den Tag über.

Ari fuhr zur Wache, um nachzusehen, ob Herjólfur nicht vielleicht doch dort war. Er ging sogar hinein, um ganz sicher zu sein, aber sein Chef war nicht hier.

Sicher gab es eine vernünftige Erklärung, aber in seinem angeschlagenen Zustand fiel Ari trotz intensiven Nachdenkens nichts ein. Er fuhr langsam durchs Ortszentrum, dann suchte er weiträumig die Seitenstraßen ab, doch der Streifenwagen war nirgends zu sehen. Bevor er hier weitermachte, sollte er vielleicht besser die beiden einzigen Ausfallstraßen kontrollieren – die eine führte zum alten Bergtunnel, den Strákagöng, und die andere zum neuen Héðinsfjörður-Tunnel.

In seinem Zustand – noch halb im Schlaf, krank und schwach – sollte er nicht Auto fahren. Deshalb musste er auch zweimal hinsehen, als er den Streifenwagen bei der Einfahrt zum Strákagöng-Tunnel am Straßenrand entdeckte. In der Nähe des alten Hauses, das schon leer stand, als er hierhergezogen war, und das immer weiter verfiel.

Das ungute Gefühl, das Ari im Laufe seiner Suche beschlichen hatte, wuchs sich zu einer düsteren Vorahnung aus. Mehr noch, nun war er sicher, dass Herjólfur etwas passiert war. Die Energie, die der Adrenalinstoß beim Anblick des Streifenwagens freigesetzt hatte, ließ ihn seine Grippe vergessen und ermöglichte es ihm, klar zu denken. Er hielt hinter dem Streifenwagen und stieg aus.

Nur zögerlich dämmerte der Morgen herauf. Während sich seine Augen langsam an die Dunkelheit gewöhnten, stand er im eiskalten Regen und blickte durch das Fenster des Streifenwagens.

Leer.

Seine Beunruhigung wuchs. Er ließ den Blick in die Umgebung wandern, zu dem hohen Berg, aus dem die Straße wortwörtlich herausgeschnitten war, und zum Meer auf der gegenüberliegenden Seite. Das alleinstehende Haus stand nahe der Straße auf einem kleinen aufgeschütteten Grundstück, hinter dem ein tiefer Steilhang direkt ins Nordmeer abfiel. Im Haus war kein Licht zu sehen, und von seinem Kollegen fehlte jede Spur. Mit schnellen Schritten, die Jacke fest um sich geschlungen, ging er im windgepeitschten Regen zum Haus. Ob ihn hier jemand hören würde, wenn er rief? Doch die Frage blieb unbeantwortet.

Nur wenige Meter vor dem finsteren Haus lag ein Mann in Polizeiuniform im Schotter. Er bewegte sich nicht. Ari leuchtete ihn mit der Taschenlampe an, um sicherzugehen, dass es Herjólfur war, obwohl es niemand anderes hätte sein können. Beim Anblick der Blutlache, die sich um den Körper gebildet hatte, stockte ihm der Atem. Er brauchte einen Moment, um sich zu sammeln, dann beugte er sich instinktiv hinab, um nach Lebenszeichen zu suchen. Mit zittrigen Fingern tastete er nach dem Puls. Nichts. Erst dann kam ihm in den Sinn, dass auch er in Gefahr sein könnte. Sollte er besser verschwinden und vom Auto aus einen Krankenwagen rufen?

Doch dann fühlte er ihn – einen schwachen Puls, ganz sicher. Oder war es bloß Einbildung, triumphierte die Hoffnung über die Realität?

Er zog sein Handy aus der Tasche, wischte mit dem Ärmel übers Display und tippte die Notrufnummer ein. Man solle sofort einen Krankenwagen schicken, sagte er mit schriller Stimme, die ihm selbst fremd klang. Das Krankenhaus war nicht weit weg, es konnte also nicht lange dauern. Ari erklärte die Situation mit wenigen Worten und so präzise er konnte.

»Lebt er noch?«

»Ich glaube ja«, erwiderte er leise. Und dann, lauter und bestimmt: »Ja, ich glaube ja.«

Mehr konnte er nicht tun. Er wollte keine Risiken eingehen und konnte die Schwere von Herjólfurs Verletzungen nicht beurteilen.

Instinktiv hatte er das Bedürfnis, wegzulaufen, sich irgendwo in Sicherheit zu bringen. Doch er konnte Herjólfur hier unmöglich alleine zurücklassen. Er setzte sich neben ihn auf den Boden, unkontrolliert zitternd. Kein Mensch weit und breit, und der Fjord lag heute Morgen ungewöhnlich lange im Dunkeln. Es war eine düstere Jahreszeit, in der die Sonne sich nur selten zeigte, und demnächst würde sie für zwei lange Monate ganz hinter den Bergen verschwinden.

In der Ferne schienen Lichter auf, und er strich instinktiv über Herjólfurs Hand. »Sie kommen«, sagte er leise. »Alles wird gut.« Der Wind trug seine Worte fort, und ihm wurde bewusst, dass er wahrscheinlich nur mit sich selbst sprach.

In dem Moment kam ihm ein unangenehmer Gedanke, den er ganz schnell wieder verdrängen wollte, bevor er sich unwiderruflich in seinem Kopf festsetzte. Doch ohne Erfolg. Wenn Herjólfur seinen Dienst nicht wiederaufnehmen konnte, würde zweifellos er die Stelle als Polizeihauptkommissar bekommen.

Juli 1982

Wenigstens haben sie mir einen Bleistift und ein Notizbuch gegeben.

Der gelbe Bleistift ist alt und schlecht gespitzt, und das alte Notizbuch ist auch schon benutzt worden, die ersten Seiten sind unordentlich rausgerissen. Hat schon ein anderer versucht, seine Probleme in Worte zu fassen, seine Hilflosigkeit, genau wie ich jetzt? Vielleicht waren es auch nur ein paar hübsche Kritzeleien gewesen, der immer gleiche Blick auf den schwarzen Garten künstlerisch umgesetzt, wenn so etwas überhaupt möglich ist. Manche Dinge sind so grau und kalt, dass selbst Farben auf einem Blatt sie nicht zum Leben erwecken können.

Ich fühle mich ein bisschen besser, jetzt, wo ich ein paar Worte zu Papier gebracht habe, aber warum, kann ich nicht genau sagen. Schreiben hat mich nie besonders befriedigt. Doch jetzt habe ich das Gefühl, es könnte mein Leben retten.

Wahrscheinlich ist es egal, was ich in das Notizbuch schreibe. Vielleicht etwas zu dem Grund, warum ich hier bin, über meine Gefühle und das monotone Dasein hier. Was auch immer hilft, um nicht verrückt zu werden.

Die letzten zwei Nächte habe ich so gut wie nicht geschlafen. Tag und Nacht scheint hell die Sonne, und die schweren Vorhänge nutzen kaum etwas. Die Sonne schmuggelt sich an ihnen vorbei und hält mich wach. Meinen Zimmergenossen scheint die Helligkeit nicht zu stören, er schläft die ganze Nacht tief und fest. Tagsüber ist er ebenfalls still, sagt kaum etwas – jemand, der mit Worten sparsam ist. Naiv, wie ich bin, dachte ich, das würde mir gefallen. Aber jetzt, wo ich darüber nachdenke, scheint mir doch eine Menge dafür zu sprechen, jemanden zum Reden zu haben.

Vermutlich könnte ich mich mehr mit der Krankenschwester unterhalten, aber das will ich eigentlich nicht. Sie hat mir den Bleistift und das Notizbuch gegeben, das war nett von ihr. Aber etwas an ihr hält mich davon ab, mich mit ihr anzufreunden. Es hat mit ihren Augen zu tun. Die mag ich nicht. Was dafür spricht, ihr nicht zu vertrauen. Wobei ich nicht behaupte, dass mein Urteilsvermögen im Moment besonders gut ist, aber ich muss auf mein Bauchgefühl hören.

Das Licht wurde schon vor einer ganzen Weile ausgemacht, aber ich sitze immer noch hier und schreibe im Halbdunkel. Den Vorhang habe ich ein Stück aufgezogen, um mehr Helligkeit reinzulassen. Meinen Zimmergenossen scheint das nicht zu stören, genauso wenig wie das Kratzen meines Bleistifts beim Schreiben.

Mit jedem Wort, das ich schreibe, wächst meine Müdigkeit. Endlich. Es ist ein vertrautes, ein herbeigesehntes Gefühl. Vielleicht kann ich die nächtliche Helligkeit überwinden, indem ich sie einfach akzeptiere.

Genug jetzt. Ich ziehe den Vorhang wieder zu und versuche zu schlafen.

3. Kapitel

Gunnar Gunnarsson hatte einige Beziehungen spielen lassen, um den Job zu bekommen.

Vor ein paar Monaten hatte man ihn zum Bürgermeister der zusammengeschlossenen Gemeinden Siglufjörður und Ólafsfjörður gewählt, und bis jetzt waren ihm noch keine groben Schnitzer unterlaufen. Sein von ihm selbst gefördertes Image als zuverlässige, jugendfrische und tatkräftige Amtsperson kam gut rüber, er kleidete sich stets elegant, arbeitete jeden Tag und widmete all seine Energie den Angelegenheiten dieser kleinen Gemeinde. Naturgemäß hatte er einige wichtige Personen im Ort gegen sich aufgebracht, weil er deren eigennützige Interessen nicht unterstützte, aber das war zu erwarten gewesen. Das finanzielle Wohlergehen von einzelnen Personen und Firmen stand nicht immer im Einklang mit dem der Gemeinde, und Planungsfragen gerieten oft zu Streitpunkten.

Durch die unschuldigen Augen seiner Kinder hatte Gunnar gesehen, dass es klare Trennlinien gab zwischen gut und böse, richtig und falsch. Menschen erschienen entweder gut oder schlecht. Doch im Laufe der Zeit waren diese Trennlinien immer verschwommener geworden.

Grundsätzlich war er ein guter Mensch, auch wenn er vermutlich ein oder zwei Leichen in seinem Keller liegen hatte. Aber dieser Anruf eben hatte ihn aus seiner Ruhe aufgeschreckt und ihm vor Augen gehalten, dass er etwas unternehmen musste.

Ein paar mildernde Umstände konnte er geltend machen. Die Zeiten waren schwer. Seine Frau war nach Norwegen gezogen und hatte beide Kinder mitgenommen. Geschieden waren sie nicht. Scheidung war ein Wort, das sie vermieden, doch jeder Tag, der verstrich, brachte sie diesem Schicksal näher. Seine Frau war Ärztin und hatte eine Stelle in einem großen Krankenhaus in Oslo bekommen. Zunächst war Gunnar mitgezogen, doch es war schwierig für ihn gewesen, Arbeit zu finden. Enttäuscht hatte er feststellen müssen, dass sein Abschluss in Politikwissenschaften von einer isländischen Universität in Norwegen kaum Türen öffnete. Obwohl es seiner Frau nichts ausmachte und sie zudem erklärte, dass ihr Gehalt – jene kostbaren Norwegischen Kronen – vollkommen reichen würde, um sie alle über Wasser zu halten, hatte er sich mit der Rolle des Hausmanns nicht abfinden können.

An diesem Morgen war Gunnar sehr früh aufgewacht und noch müde nach einer schwierigen Nacht. In manchen Nächten war Schlaf nur eine flüchtige Angelegenheit, ein gelegentliches, kurzes Abtauchen in die Bewusstlosigkeit und alles andere als erholsam. Zum Glück hatten seine Kollegen in der Gemeindeverwaltung nie etwas davon gemerkt. Bei Elín dagegen war das anders, vor ihr konnte er nur sehr wenig verheimlichen, aber das war kein Problem.

Elín folgte ihm wie ein Schatten. Sie hatten zusammen studiert und ihre ersten Schritte in der Welt des Journalismus gemeinsam getan. Sie waren gute Freunde, aber ihre Freundschaft hatte sich nicht gerade positiv auf seine Ehe ausgewirkt. Das Stirnrunzeln seiner Frau bei jeder Erwähnung von Elín bewies ihr fehlendes Vertrauen, als unterstelle sie ihm, dass er mit ihr schlief. Zugegeben, Elín war großartig, klug und charmant, aber das gestand er nur sich selbst ein und erwähnte es niemals anderen gegenüber. Bis jetzt hatte er jeder Versuchung widerstanden. Aber wenn er Interesse signalisieren würde, hielt er es für ausgeschlossen, dass sie ihn nicht wollte. Im Laufe der Jahre hatte es genügend Hinweise darauf gegeben. Und ein mangelndes Selbstbewusstsein zählte nicht gerade zu seinen Problemen.

Noch nie war seine Ehe in einem so schlechten Zustand gewesen wie jetzt. Eintausendsechshundert Kilometer und ein ganzes Meer trennten ihn von seiner Frau. Ihre Beziehung war schwierig. Sie waren beide unzufrieden und leicht irritierbar, weshalb man nicht von ihm erwarten konnte, dass er restlos treu wäre, zumindest nicht auf körperlicher Ebene. Und dass Elín momentan keine feste Beziehung hatte, war, nun ja, ein weiterer glücklicher Umstand in dieser Angelegenheit.

Sobald ihm mitgeteilt worden war, dass er die Stelle als Bürgermeister antreten könnte, hatte er Elín sofort die Position als stellvertretende Bürgermeisterin angeboten. Allerdings musste er dafür zuerst dem amtierenden Stellvertreter kündigen, was für Gunnar aber kein Problem war. Jemanden loszuwerden, der der alten Mehrheit im Gemeinderat angehörte, kam der neuen Mehrheit sehr gelegen. Er hatte nicht die Absicht, ohne eine Verbündete in den Norden zu ziehen, und Elín war genau die Richtige dafür.

Der Bürgermeister eines so kleinen Ortes zu sein war nicht gerade sein Traumjob, aber erst einmal ganz okay. Er hatte Macht, ein ordentliches Gehalt und machte Erfahrungen, die später einmal nützlich sein würden. Er hatte sich auf die Posi­tion beworben, als ein alter Freund in den Gemeinderat gewählt worden war und so einen Teil der neuen Mehrheit bildete. Gunnar hatte ihn kontaktiert und herausgefunden, dass sie eine erfahrene Führungspersönlichkeit suchten. Und so diente seine Ernennung zum Bürgermeister ihnen beiden: Gunnar bekam einen Job, den viele andere wollten, und sein Freund im Gemeinderat bekam einen Bürgermeister, dem er vertrauen und den er hinter den Kulissen unterstützen konnte.

Erwähnt werden sollte auch das Tüpfelchen auf dem i, das er zu bieten hatte und das sicher dazu beigetragen hatte, dass er den Job dann tatsächlich auch bekam. Während der sechs Monate in Oslo hatte Gunnar sich für ein Praktikum bei einem norwegischen Ministerium beworben. Er war angenommen worden, was nicht unbedingt als großer Erfolg gewertet werden konnte, weil sie vermutlich jeden nahmen, der gewillt war, für lau zu arbeiten. Er bekam einen Arbeitsplatz in einem Ministerium im Zentrum von Oslo, inmitten von Studenten, die alle viel jünger waren als er. Die Arbeit war alles andere als interessant, und die Tatsache, dass sein Norwegisch keineswegs so gut war, wie er es bei der Bewerbung hatte aussehen lassen, machte die Sache nicht einfacher. Aber als er dann seinen Lebenslauf für die Bewerbung auf das Bürgermeisteramt erstellte, mutierte sein Praktikum zum richtigen Job, und aus dem einen Monat wurde ein nicht näher spezifizierter Zeitraum, der unter der schwammigen Bezeichnung: »Konsultationen in parlamentarischer Amtsführung« Eingang in sein Curriculum Vitae fand. Später erfuhr Gunnar, dass seine Erfahrung in Norwegen offensichtlich den gewünschten Eindruck gemacht hatte, als es um die Auswahl des geeignetsten Kandidaten ging.

Hätte man ihm einen ähnlichen Posten in einer größeren Kreisstadt angeboten, wäre er nie nach Siglufjörður gegangen. Seine Familie stammte nicht aus dem Norden, und er hatte keinen persönlichen Bezug zu dieser Gegend. Allerdings wirkte sich die Tatsache, dass er nicht in örtliche Sitten, Tratsch, Kleinstadtpolitik und alte Feindschaften verwickelt war, bei der Wahl zum Bürgermeister sehr zu seinen Gunsten aus.

Er hatte im neueren Teil von Siglufjörður ein geräumiges Haus gemietet, gleich neben den örtlichen Lawinenschutzmauern. Bis jetzt hatte es noch keine großen Schneemengen gegeben, aber diese beeindruckenden Schutzmauern gaben ihm allemal ein Gefühl von Sicherheit. Viele Menschen meinten, das Leben in einer so eng miteinander verwobenen Gemeinde, in unmittelbarer Nachbarschaft zu Bergen und Meer, müsse sehr erholsam sein. Normalerweise lächelte er dann zustimmend, wobei er in Wirklichkeit nicht verstand, was denn so bezaubernd sein sollte an Einsamkeit, Abgeschiedenheit und Kälte.

Er saß nackt am Küchentisch, noch halb im Schlaf, trank schwarzen Kaffee und starrte aus dem Fenster. Nicht enden wollender Wind und strömender Regen: Das war die einzige Beschreibung, die auf dieses Morgenwetter passte. Alles andere wäre eine romantisierende Sichtweise, auch wenn er drinnen in einem warmen, idyllischen Paradies saß. Es war einer jener Tage, an denen er kein Bedürfnis hatte, das Haus zu verlassen. Lange würde er hier nicht bleiben. Die vier Jahre, die zwischen den Gemeinderatswahlen lagen, waren lang genug, um danach einen besseren Job ergattern zu können, vorzugsweise näher an Reykjavík, am liebsten jedoch irgendwo im Ausland. Das aber bedeutete, dass er hier gute Arbeit leisten musste. Doch ehrlich, was konnte er in so einem Ort schon anstellen? Eigentlich nichts, sagte er sich, die Minenfelder lagen ganz woanders. Sein Privatleben musste er in Ordnung halten, das war es. Er durfte keinesfalls den fragilen Erfolg zerstören, den er bis zum heutigen Tage erzielt hatte, denn es gab da ein paar Geheimnisse, die niemals ans Tageslicht kommen durften. Manchmal neigte er dazu, sein eigener schlimmster Feind zu sein.

Dann fiel ihm der Anruf des Polizeihauptkommissars wieder ein. Der Mann gehörte genau zu jener jämmerlichen Sorte, die ihm alles kaputtmachen konnte.

4. Kapitel