HULDA - Ragnar Jónasson - E-Book

HULDA E-Book

Ragnar Jónasson

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Beschreibung

Wie die Geschichte um Kommissarin Hulda beginnt ... Island, November 1980: Die junge, unerschrockene Polizistin Hulda Hermannsdóttir erhält eines Abends einen Anruf von ihrem Vorgesetzten. In einer abgelegenen Jagdhütte im Norden des Landes wurde ein Teddybär gefunden - möglicherweise ein Hinweis auf einen seit langer Zeit ungelösten Fall eines vermissten Kindes. Hulda macht sich mit einer Kollegin sofort auf den Weg in das abgelegenene und dünn besiedelten Tal. Doch dort empfängt man sie alles andere als freundlich. Außerdem merkt Hulda, dass ihre neue Kollegin sehr ehrgeizig ist und sich zu einer direkten Konkurrentin entwickelt ...

HULDA ist der neue Band der legendären und weltweit gefeierten Thriller-Serie mit der originellen Ermittlerin Hulda Hermannsdóttir, deren Vergangenheit von einem Geheimnis geprägt ist, das ihr ganzes weiteres Leben bestimmen wird.

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Seitenzahl: 252

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Zum Buch

Wie die Geschichte um Kommissarin Hulda beginnt … Island, November 1980: Die junge, unerschrockene Polizistin Hulda Hermannsdóttir erhält eines Abends einen Anruf von ihrem Vorgesetzten. In einer abgelegenen Anglerhütte im Norden des Landes wurde ein Teddybär gefunden – möglichweise ein Hinweis auf einen seit langer Zeit ungelösten Fall eines vermissten Kindes. Hulda macht sich sofort auf den Weg in das dünn besiedelte Tal. Doch dort empfängt man sie alles andere als freundlich, und sie muss sich bei der Lösung des Falls so schnell wie möglich auf die Suche nach Mitstreitern machen … HULDA ist der neue Band der legendären und weltweit gefeierten Thriller-Serie mit der originellen Ermittlerin Hulda Hermannsdóttir, deren Vergangenheit von einem Geheimnis geprägt ist, das ihr ganzes weiteres Leben bestimmen wird.

Zum Autor

Ragnar Jónasson, 1976 in Reykjavík geboren, ist Mitglied der britischen Crime Writers’ Association und Mitbegründer von »Iceland Noir«, dem internationalen isländischen Krimifestival. Seine Bücher, darunter die preisgekrönte »Hulda-Serie« sowie die »Dark-Iceland-Serie«, werden weltweit gefeiert und erscheinen in 36 Ländern mit einer Gesamtauflage von 5 Millionen Büchern. Er lebt und arbeitet als Schriftsteller und Investmentbanker in der isländischen Hauptstadt und unterrichtet an der Universität außerdem Rechtswissenschaften.

Ragnar Jónasson

HULDA

Thriller

Aus dem Isländischen von Anika Wolff Die isländische Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel HULDA bei Veröld, Reykjavík.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © der Originalausgabe © 2024 Ragnar Jónasson

Published by Agreement with Copenhagen Literary Agency ApS, Copenhagen

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2025 btb Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: plainpicture / Virginie Plauchut,

Shutterstock / THALERNGSAKMONGKOLSIN, VALERONE, Tartila, Milano M, Katvic, DniproDD

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-33218-1V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/penguinbuecher

Für Lena und Lasse

Karte

Prolog

Weihnachten 1960

Heiligabend und überall glitzernder Schnee.

Atli trat aus dem Haus, hörte das Knirschen unter den Sohlen und ließ seinen Blick über das Viertel schweifen, spürte die Weihnachtsstimmung.

Er stellte das Türschloss so ein, dass es nicht verriegelte, zog die Tür zu und prüfte kurz, ob sie sich tatsächlich wieder öffnen ließ. Der Schlüssel lag an seinem Platz auf der Kommode in der Diele.

Im Nachbarhaus wurde offenbar groß gefeiert, die kleine Sackgasse im Reykjavíker Wohnviertel Háagerði war komplett zugeparkt, und das bei dem Schnee. Geschneit hatte es viel in den letzten Tagen, und es war kein Vergnügen, mit dem Cortina um die Schneehaufen manövrieren zu müssen. Atli war mittags mit dem Jungen zum Einkaufen gefahren, und als sie zurückkamen, war die Straße so zugeschneit, dass er ein Stück vom Haus entfernt in der Nähe der Hauptstraße parken musste.

Das Haus hatten Emma und er vor der Geburt ihres Sohnes gebaut. In dem neuen Wohnviertel hatten viele kleine Grundstücke zum Verkauf gestanden, und da war es naheliegend gewesen, dass sie versuchten, eins zu ergattern. Mit Erfolg: Der Alte – Atlis Schwiegervater – hatte seine Kontakte zur Stadtverwaltung spielen lassen und ihnen das beste freie Grundstück zugespielt. Daraufhin hatte Atli sich an den Hausbau gemacht. Die meiste Zeit seines Lebens hatte er hart gearbeitet, eine Zeit lang auf See, später an Land, daher war der Bau eines kleinen Einfamilienhauses keine unlösbare Aufgabe für ihn gewesen. Er war bei seiner alleinerziehenden Mutter in einer kleinen Wohnung aufgewachsen, in einem furchtbaren Haus im Stadtzentrum, und er hatte sich nie träumen lassen, dass er einmal ein eigenes Haus besitzen würde. Das war immer etwas für die Reichen gewesen – bis das Wohnviertel in Háagerði entstand. Die Häuser hier waren aus den unterschiedlichsten Materialien gebaut, jeder, wie er wollte, und genau das machte für Atli den Charme des Viertels aus. Er fühlte sich wohl hier. Und Weihnachten war schon immer eine wichtige Zeit für ihn gewesen. Obwohl seine Mutter sich mit ihrem knappen Arbeiterinnenlohn durchschlagen musste, hatte sie immer großen Wert auf ein schönes Weihnachtsfest gelegt und an nichts gespart. Es gab ein festliches Essen, Obst und etwas Süßes, und ein schönes Weihnachtsgeschenk für ihren Sohn. Als Atli dann selbst Vater geworden war, hielt er es genauso. Ein paar hübsche Geschenke für den Jungen unter dem Baum – dafür hatte Atli im Dezember einige Extraschichten übernommen, und zum Fest sollte es Lammrücken, Schokolade und natürlich Weihnachtsäpfel geben. Wegen der Äpfel waren sie heute extra noch mal losgefahren. Schon lange vor Weihnachten waren die Äpfel in der Hauptstadt ausverkauft gewesen, aber am Morgen vor Heiligabend hieß es plötzlich, dass einige Geschäfte doch noch eine Lieferung bekommen hätten. Da musste man schnell sein. Auch Emma hatte sich Äpfel gewünscht, und er wollte sie nicht enttäuschen, hoffte, dass das süße Obst sie etwas aufmunterte.

Im ersten Laden gab es bereits keine Äpfel mehr, aber im zweiten hatten sie Glück, und Atli hatte gleich ein paar mehr mitgenommen. Nach den Zusatzschichten konnten sie sich das leisten. Mit dem Jungen auf dem Arm hatte er die Einkaufstüten ins Haus geschleppt, nur die Äpfel hatte er vergessen. Die guten Weihnachtsäpfel, rot und knackig, die so wunderbar dufteten und Weihnachten ebenso einläuteten wie die Radiomesse am Heiligen Abend.

Die Messe hatte schon begonnen. Das hörte Atli, als er am Nachbarhaus vorbeilief, dazu Stimmen und Tellerklappern. Die Häuser waren festlich beleuchtet, in den Fenstern brannten Kerzen, und die Welt war schön, hell und freundlich. An einem Abend wie diesem, wenn sich der Weihnachtsfrieden über die Stadt legte, konnte nichts Schlimmes passieren, war alles so friedlich und still, und Atli erfreute sich am glitzernden Schnee, der unter seinen Sohlen knirschte, während er zügigen Schrittes noch einmal zum Wagen zurücklief.

Er atmete die Winterluft ein, genoss das knackig kalte Weihnachtswetter. Kaum etwas liebte Atli mehr als weiße Weihnachten.

Ihr Haus war nicht groß, aber es hatte zwei Etagen. Unten nahm das Wohnzimmer den meisten Raum ein, die Küche war klein, aber gemütlich. Im Wohnzimmer stand jetzt der Weihnachtsbaum. Über die Jahre hatte sich einiges an Schmuck angesammelt, manches von ihm, manches von Emma. Am wichtigsten war ihm das kleine beleuchtete Weihnachtshaus seiner Mutter. Wenn man das Licht einschaltete, sah es wie ein Märchenhaus aus.

In der oberen Etage ihres Hauses befanden sich das Elternschlafzimmer und noch zwei weitere Zimmer. Das eine hatten sie auf dem Grundriss auf Emmas Wunsch Nähzimmer genannt, und das andere war natürlich das Kinderzimmer. Sie hatten reichlich Platz, und das Haus war von Liebe erfüllt.

Aus dem letzten Haus in der Straße drang Musik, ein moderner Weihnachtssong. Dieses junge, ziemlich unkonventionelle Paar hörte natürlich nicht die Messe. Atli schnaubte, obwohl er nicht viel älter war, denn er war von Haus aus eher konservativ, auch wenn seine Mutter immer so links wie möglich gewählt hatte, so wie er jetzt auch. Aber trotzdem gehörte die Messe zum Heiligen Abend. Emmas Eltern wählten konservativ, das wusste er; dennoch hatte er eine sehr gute Beziehung zu den beiden.

Da stand der Wagen, der rote Cortina. Er hatte ihn vor einem Jahr gebraucht gekauft, mit Unterstützung seines Schwiegervaters, und er machte sich gut, sommers wie winters.

Der Wagen war wie immer offen, und die Äpfel lagen im Kofferraum, eine große Kiste, die hoffentlich bis zum Jahreswechsel reichen würde. Er widerstand der Versuchung, sich sofort einen der Äpfel zu nehmen und hineinzubeißen, Weihnachten zu schmecken. Das wäre schon in Ordnung gewesen, an Heiligabend – wann, wenn nicht jetzt? Aber nein, er ging lieber schnell zurück und hob sich den ersten Weihnachtsapfel für den Nachtisch auf.

Emma und er hatten sich bei einem Ball kennengelernt – natürlich –, und es war Liebe auf den ersten Blick gewesen. Zumindest, was ihn anging. Er hatte sie den ganzen Abend angesehen und beim allerletzten Stück endlich den Mut gefunden, sie zum Tanzen aufzufordern. Dieser eine Tanz hatte gereicht, sie hatten einander gefunden. Dennoch wollte Emma sich umwerben lassen, wie es üblich war, und Atli hatte sich gern auf dieses Spiel eingelassen, hatte immer wieder in ihrem Elternhaus angerufen und sie ausgeführt. Im nächsten Januar lag der schicksalsträchtige Tanzabend fünf Jahre zurück, und im Februar feierte der Kleine seinen ersten Geburtstag.

Atli erinnerte sich noch genau an ihren Einzug, an einem strahlend schönen Sommertag, das Haus hatte bezaubernd ausgesehen. Das eine oder andere musste noch gemacht werden, aber sie hatten von der ersten Nacht an gut darin geschlafen, Emma war inzwischen schwanger und Atli voller Vorfreude auf seine Vaterrolle. Er hatte sich beim Bau ordentlich ins Zeug gelegt, aber er musste zugeben, dass sie dieses Projekt nur dank der finanziellen Unterstützung der Schwiegereltern bewerkstelligt hatten. Hier und da ließ sich etwas sparen, indem man selbst Hand anlegte, aber dennoch war es ein teures Unterfangen, ein ganzes Haus zu bauen und einzurichten.

Und dann die Geburt des Jungen, vom ersten Moment an war er kräftig und gesund gewesen, ein wahres Goldstück, das Wertvollste, was sie hatten.

Bevor er Emma kennenlernte, war Atli in einer längeren Beziehung mit einem Mädchen aus dem Norden gewesen, die gut begonnen und schlimm geendet hatte. Sie wohnten zusammen auf dem Land, aber sie ertrug die lange Trennung während Atlis Seefahrten nur schlecht. Die Beziehung war mehrmals um ein Haar daran zerbrochen, doch sie hatten einander immer wieder eine Chance gegeben, beide Besserung gelobt, aber irgendwie schien das Band, das sie zusammenhielt, vergiftet zu sein, und schließlich hatte es den großen Knall gegeben. Zu dem Zeitpunkt hatten sie schon über das Thema Kinder und einen Umzug nach Reykjavík gesprochen, und als Atli einmal in der Stadt zu tun hatte, traf er auf besagtem Ball Emma. Seine ehemalige Freundin behauptete, Emma hätte ihr Atli gestohlen, und sie prophezeite ihm, dass sie zusammen nicht glücklich werden würden. Mit aller Macht hatte sie versucht, ihn zu halten, erst mit Schmeicheleien, dann mit Drohungen, aber es hatte nichts bewirkt. Er hatte sich endgültig von ihr getrennt, sie war im Norden geblieben, er nach Reykjavík gegangen. Kurz darauf zog er mit Emma zusammen, zunächst in eine große Kellerwohnung in Emmas Elternhaus. Hin und wieder dachte Atli natürlich an seine Ex-Freundin, doch sie hatten keinen Kontakt mehr und waren sich nie wieder begegnet. Damals arbeitete sie im Kühlhaus, aber sie hatte immer davon gesprochen, dass sie sich weiterbilden wollte. Er hatte keine Ahnung, was aus ihr geworden war. Emma hatte einen Abschluss von der Mädchenschule in der Tasche und arbeitete als Sekretärin im Ministerium, als sie sich kennenlernten. Sie war fünf Jahre jünger als Atli und deutlich belesener als er. Ihre Freundinnen waren erstaunt über ihre Partnerwahl gewesen, und auch seine Freunde verstanden nicht, wie dieses wohlhabende, schöne Mädchen sich in den armen Arbeitersohn verlieben konnte.

Die Apfelkiste war schwerer, als Atli es in Erinnerung hatte, und ein paarmal wäre er auf dem glatten Weg zurück zum Haus beinahe ausgerutscht. Dennoch hatte dieser Marsch mit den Äpfeln durch den Schnee etwas unglaublich Weihnachtliches. Beim Haus der Nachbarn hörte er den Chorgesang der Messe, wunderschöne, weihnachtliche Klänge. Seine Mutter war eine gute Sängerin gewesen, hatte ihr Talent aber nie ausleben können. Sie hatte von morgens bis abends geschuftet und keine Zeit für Hobbys gefunden. Der einzige Luxus, den sie sich erlaubte, war ein guter Liebesroman mit einer Zigarette am Abend. Und dann war sie gestorben, viel zu jung, immer hustend und zuletzt erschöpft, körperlich am Ende, aber im Kopf noch ganz klar. Sie hatte Atli eingeschärft, dass er seine Träume verwirklichen und es zu etwas bringen solle, damit er niemals Geldsorgen haben müsse. Emma hatte sie noch kennengelernt, aber den Kleinen nicht mehr, und auch nicht das schöne Einfamilienhaus. Dennoch glaubte er, dass sie von irgendwo alles beobachtete und stolz auf ihren Enkelsohn war.

Seinen Vater kannte Atli nicht, und er wusste kaum etwas über ihn. Seine Mutter hatte nie darüber reden wollen, es sei nur eine kurze Bekanntschaft gewesen, und sie wisse nicht, was aus ihm geworden sei. Noch nicht einmal seinen Vornamen hatte sie Atli genannt, als wäre selbst das ein Geheimnis. Ein Geheimnis, das sie mit ins Grab genommen hatte. Atli war 1925 auf die Welt gekommen. Vermutlich war sein Vater um die Jahrhundertwende geboren und heute um die sechzig Jahre alt, vielleicht auch älter. Manchmal sah er einen wohlhabenden Herrn vor sich, vielleicht einen dänischen Beamten, der kurz in Island gewesen war, oder auch eine bekannte isländische Persönlichkeit. Wusste er von Atli? Beobachtete er ihn vielleicht aus der Ferne, oder war ihm gar nicht bewusst, dass er einen Sohn hatte? Und einen Enkel? Manchmal vermutete oder vielmehr befürchtete Atli, dass sein Vater ein Pechvogel gewesen war, der schon nicht mehr lebte und für den seine Mutter sich schämte. Nach der Geburt seines Sohnes hatte Atli besonders viel darüber nachgegrübelt, denn er wollte natürlich wissen, welche positiven und negativen Eigenschaften sein Vater dem Jungen vererbt haben konnte. Er wollte weitersuchen, hatte nach dem Tod seiner Mutter schon hier und da unauffällig nachgefragt. Noch wusste er nichts, aber manche Dinge klärten sich ja auch ganz plötzlich, wenn man gar nicht mehr damit rechnete. Seine Mutter kam vom Land, stammte aus einer Arbeiterfamilie, und irgendwann würde Atli sich auf die Spuren ihrer Familie begeben, auf eine Art Forschungsreise. Irgendwo musste doch jemand Bescheid wissen. In den alten Kirchenbüchern hatte Atli schon nachgeschaut, aber dort stand nur: Vater unbekannt.

In seiner Erinnerung waren sie an Weihnachten immer zu zweit gewesen, er und seine Mutter, und sie hatten es immer schön gehabt. Sie hatte ihm beigebracht, herzlich und respektvoll mit anderen Menschen umzugehen, zu lieben. Und er liebte seinen Sohn über alles und wollte alles dafür tun, dass sein erstes Weihnachtsfest und alle, die danach kamen, wunderbar und zauberhaft sein würden, mit überraschenden Geschenken unter dem Baum, sorgfältig ausgewählt, köstlichem Weihnachtsbratenduft in der Luft, schönen Klängen aus dem Radio, gehüllt in bedingungslose Liebe. Und natürlich mit Weihnachtsäpfeln, die der Kleine bestimmt genauso schätzen lernen würde wie sein Vater.

Emmas Weihnachtsfeiern waren ganz anders gewesen. Sie war ein Einzelkind, und ihre Familie wohnte seit Jahrzehnten in einer großen Villa in Þingholt, im Zentrum von Reykjavík. Dort hatte es sicher nie an Äpfeln gemangelt. Es fiel ihm schwer, Geld von seinen Schwiegereltern anzunehmen, doch manchmal überwand er sich. Für ihr Kind waren ein solides Haus und ein sicheres Auto wichtig. Kein Luxus, aber auch keine Armut. Atli hatte miterlebt, wie seine Mutter um jeden Bissen gekämpft hatte, und er wollte in dieser Hinsicht nicht in ihre Fußstapfen treten, wenn es sich vermeiden ließ. Aber Atli war erfinderisch und kerngesund, außerdem ziemlich klug – wenn man das von sich selbst behaupten durfte. Er würde sich durchschlagen, wenn Schwierigkeiten auf sie zukämen, und vor allem würde er seinen Jungen beschützen, den kleinen Sonnenschein, der jetzt in seinem Bettchen lag und schlafen durfte, bis sie die Geschenke auspackten.

Kurz vor dem Haus blieb er stehen, atmete tief ein, schloss für einen Moment die Augen und versuchte, sich diesen schönen Abend in allen Details einzuprägen, das erste Weihnachtsfest mit dem Jungen. Die Apfelkiste wurde ihm langsam schwer; was freute er sich auf den ersten Bissen. Auch in dieser Straße, die Emma und er ausgesucht hatten, fühlte er sich wohl, das Viertel war lebendig, mit vielen spielenden Kindern und freundlichen Nachbarn.

Die Lichterkette, die Atli am Dachfirst befestigt hatte, brannte hell und erleuchtete das Haus, Frieden lag über ihrem schönen Heim. Im Ofen brutzelte der Braten, ein bisschen später als geplant, aber das machte nichts.

Er lief weiter über den gefrorenen Schnee, auf dem seine Schuhe keine Abdrücke machten, sein Gang zum Auto hinterließ keine sichtbaren Spuren, nur die Erinnerung daran blieb. An der Eingangstreppe musste er besonders aufpassen, dass er nicht ausrutschte. Er versuchte, die Haustür mit dem Ellbogen zu öffnen, um die Kiste nicht abstellen zu müssen.

Beim ersten Versuch klappte es nicht, und auch nicht beim zweiten.

Atli zögerte, dann stellte er die Kiste doch ab. Auch mit der Hand ließ sich die Tür nicht öffnen. Sie war abgeschlossen.

Er überlegte in aller Ruhe.

Hatte er die Tür wirklich entriegelt?

Natürlich hatte er das, er erinnerte sich genau daran, hatte ja sogar noch einmal überprüft, ob sie offen war.

Und das war sie gewesen, vorhin, aber während er zum Wagen gegangen war, hatte sie jemand verriegelt. Hin und zurück hatte er nur wenige Minuten gebraucht. Er blickte sich um, sah niemanden, dann spähte er ins Haus, aber im Erdgeschoss waren die Gardinen zugezogen. Jetzt schlug sein Herz schneller. Noch nicht einmal seine Jacke hatte er vorhin übergezogen. Er klopfte seine Hosentaschen nach dem Schlüssel ab, aber er hatte ihn nicht mitgenommen, genau deshalb hatte er ja die Tür entriegelt.

Er klingelte und klopfte gleichzeitig fest an die Tür, wartete in der Kälte, die Sekunden krochen dahin, und währenddessen wurde ihm klar, dass jemand das Haus betreten haben musste.

Und diese Person hatte die Tür abgeschlossen – und Atli ausgesperrt.

Auf einmal empfand er die Kälte als beißend, und Panik erfasste ihn.

Er klopfte wieder, schlug mit aller Kraft an die Tür, aber aus irgendeinem Grund schrie er nicht, sondern stand da und versuchte, in sein Haus zu gelangen, das er für Emma und den Jungen gebaut hatte. Von den Nachbarn war nichts zu sehen, die feierten schon Weihnachten. Niemand bekam etwas mit.

Noch einmal versuchte er, die Tür zu öffnen, in der schwachen Hoffnung, dass er sich geirrt hatte, dass er mit ausreichend Willensstärke schon ins Warme kommen würde.

Gleichzeitig hoffte er, dass alles in Ordnung war, dass nichts passiert, dass niemand ins Haus eingedrungen war. Doch der Weihnachtsfrieden war gestört, das war ganz deutlich zu spüren.

Er dachte an Emma, an seinen kleinen Jungen, dann an das Essen im Ofen, die brennende Kerze auf dem Tisch, die Geschenke unter dem Baum, die Messe im Radio …

Da stand er, als wäre er selbst der Eindringling, kam am Heiligen Abend nicht in sein eigenes Haus, stand draußen im Dunkeln, spürte die Angst.

Unvermittelt hörte er auf zu klopfen, stand hilflos und wie erstarrt vor der Tür, hoffnungslos, in rasender Sorge, dass etwas Furchtbares passiert war.

Diese verdammten Äpfel …

Dann besann er sich, nahm alle Kraft zusammen, spürte die Kälte nicht mehr, das Blut rauschte durch seine Adern, er nahm einen kurzen Anlauf – so weit es die Treppe zuließ – und warf sich gegen die Tür, die er vor Kurzem in die Angeln gehängt hatte. Sie wackelte leicht, und in ihm flackerte die Hoffnung auf, dass er mit Gewalt ins Haus gelangen könnte.

Er versuchte es noch einmal.

November 1980

I

Schweißgebadet fuhr Hulda Hermannsdóttir aus den Kissen hoch.

Sie hatte von ihrem Vater geträumt, mal wieder, obwohl sie keine Ahnung hatte, wie er aussah, nur wusste, dass er als amerikanischer Soldat kurz auf Island stationiert gewesen war. In ihren Träumen war er ein schöner Mann, oft in Uniform, wie einem amerikanischen Kinofilm entsprungen. So hatte sie ihn sich immer vorgestellt, seit sie von ihrer Mutter erfahren hatte, dass er beim Militär gewesen war.

Bald hatte Hulda Geburtstag. Sie wurde dreiunddreißig Jahre alt. Immer, wenn sie Geburtstag feierte – meist in kleinem Rahmen –, überlegte sie, was ihr Vater ihr wohl schenken würde, wenn er von ihr wüsste.

Vielleicht wusste er tatsächlich, dass er eine Tochter hatte, wollte aber nichts mit ihr zu tun haben? Das war der bitterste Gedanke von allen.

Sie hörte Kinderweinen, vielleicht hatte nicht der Traum sie geweckt, sondern Dimma. Das gedämpfte Weinen kam aus dem Nachbarzimmer, wo ihre Tochter schlief. Mit ihren sechs Jahren wachte sie nachts nicht mehr oft auf, aber dann und wann kamen diese Albträume. Ich habe schlecht geträumt, Mama, sagte sie dann.

Hulda tastete nach Jón, doch dann fiel ihr ein, dass er an diesem Morgen eine Sitzung hatte. Hulda hatte frei. Die letzten Wochen bei der Polizei waren anstrengend gewesen, aber jetzt lag endlich ein Wochenende mit der Familie vor ihr, vor allem mit Dimma.

Hulda stand auf, rieb sich den Schlaf aus den Augen und ging zu ihrer Tochter. Sie schlummerte friedlich, vielleicht war der Albtraum nur kurz gewesen und schon wieder vergessen. Es war Sonntagmorgen, und Dimma musste nicht in die Schule.

Hulda schlich zurück ins Schlafzimmer und warf einen Blick auf die Uhr auf dem Nachttisch. Schon nach zehn, sie hatten beide wunderbar lang geschlafen.

Es war nicht ungewöhnlich, dass Jón an einem Sonntagmorgen arbeitete, auch wenn er meist versuchte, alles auf den Samstag zu legen und sich den Sonntag frei zu halten. Er war ständig unterwegs, rackerte sich ab, alles im Einvernehmen mit der Familie, wie er sagte, doch Hulda hatte das Gefühl, dass er sich gern viel und sogar zu viel Arbeit auflud, dass er den Stress und den Nervenkitzel suchte und mit jedem neuen Projekt immer wieder alles riskierte – sie konnte nur hoffen, dass er zumindest die Familie nicht in finanzielle Schwierigkeiten brachte. Ihr Gehalt bei der Polizei war zwar nicht schlecht, aber den Lebensunterhalt für die ganze Familie plus die Raten für die Wohnung konnte sie damit nicht stemmen.

Hulda musste sich eingestehen, dass Jón und sie sich in den letzten Monaten entfremdet hatten. Sie arbeiteten beide viel, und Dimma war nicht mehr – wie in den ersten Jahren – das verbindende Element zwischen ihnen, der Kitt, der ihre Beziehung zusammenhielt. Zuerst hatte Jón die Familie sogar vergrößern wollen, es sich dann aber anders überlegt, obwohl Hulda gern wollte und ihn immer mal wieder darauf ansprach. So ist es angemessen, für den Moment, wir haben beide so wenig Zeit, sagte er dann, hatte immer irgendwelche Ausreden, das nervte Hulda. Manchmal kam er erst spätabends nach Hause. Nicht dass sie glaubte, dass er irgendetwas Verbotenes tat, es ärgerte sie einfach, dass ihm die Geschäfte – Immobilienspekulationen und solche Dinge – wichtiger waren als die Familie, als Hulda und Dimma. Vielleicht würde ihre Beziehung irgendwann auseinanderbrechen, auch wenn sie hoffte, dass es nicht so weit kam. Jón war ein guter Vater, aber irgendwie verhielt er sich Dimma gegenüber distanzierter als in den ersten Jahren. Vielleicht war das ganz normal, vielleicht auch nicht – sie hatte keine Ahnung.

Sie hatten ein Haus auf der Halbinsel Álftanes ins Auge gefasst und sprachen immer mal wieder darüber, meist auf ihre Initiative. Das Haus gehörte Freunden von Jóns Familie, ältere Eheleute, die nach dem Auszug der Kinder überlegten, sich zu verkleinern. Genaueres stand noch nicht fest, aber es war klar, dass das Haus ein Vermögen kosten würde, denn es stand auf einem tollen Grundstück direkt am Meer. Sie hatten es sich schon zweimal ansehen dürfen, das erste Mal im Hochsommer. Sie hatten bei schönstem Wetter im Garten gesessen, umgeben von Vogelgesang und Meeresrauschen, und Hulda hatte gedacht: Hier bin ich zu Hause. Die Ausstattung war etwas in die Jahre gekommen, aber mit einer guten Finanzierung ließ sich das richten. Wie immer ging es ums Geld, denn Jón wollte, dass sie ein besseres Leben führen würden als die Durchschnittsfamilie. Hulda hielt sich zurück, was seine Geschäfte anging, bis auf ihre regelmäßige Ermahnung, dass er sich an die Gesetze halten sollte, auch wenn sie nicht glaubte, dass er die Grenzen des Legalen jemals überschreiten würde. Sie hielt ihn für einen knallharten und geschickten, aber grundehrlichen Geschäftsmann.

Auch wegen Dimma war das Geld wichtig. Hulda wollte dem Mädchen ein schönes, möglichst sorgenfreies Leben ermöglichen. Die Kleine war süß und wirklich reizend, und auch wenn ihr Name Dunkelheit bedeutete, war sie ein zufriedener blonder Engel.

Wenn es mit dem Haus auf Álftanes nichts würde, wollte Hulda am liebsten ganz rausziehen, in irgendein Dorf am Meer. Darüber hatte sie noch nicht mit Jón gesprochen, weil sie bezweifelte, dass er sich ein Leben jenseits des Hauptstadtgebiets vorstellen konnte. Jedenfalls musste sie für dieses Gespräch den richtigen Moment abpassen. Für sie war es wichtig, ein Fenster öffnen und die Meeresluft atmen, bis zum Horizont blicken zu können und zu spüren, dass sie frei war, dass nichts sie aufhalten konnte. Die Aussicht aus ihrer jetzigen Wohnung konnte ihr das nicht bieten, und auf den Meerblick musste sie wohl noch eine Weile warten. In der Zwischenzeit würde sie sich mit Bergsteigen begnügen, um diese Freiheit zu spüren, wenn auch vielleicht nicht gerade jetzt im tiefsten Winter. Sie dachte daran, dass ihre letzte Wanderung schon einige Zeit zurücklag, und die letzte gemeinsame mit Jón noch länger. Das alles ging ihr durch den Kopf, während sie sich einen ersten Kaffee kochte. Den würde sie trinken und ein gutes Buch dazu lesen, bis Dimma aufwachte.

Mutter und Tochter hatten einen schönen Sonntag miteinander verbracht. Das Wetter war wunderbar gewesen, und sie waren zum Spielplatz spaziert, die frische Luft tat Hulda gut und Dimma anscheinend auch, jedenfalls hatte sie sich nicht beklagt. Gegen Mittag hatte Jón sich gemeldet, die Sitzung ziehe sich hin, er sei mit seinem Geschäftspartner an einem Grundstück dran, eine tolle Chance – wie die meisten seiner Projekte. Inzwischen war es Abend, und Jón war immer noch nicht zurück.

Dimma schlief schon, hatte sich gemütlich ins Bett gekuschelt und von Hulda in den Schlaf singen lassen. Die Lieder hatte Hulda aus dem Liederbuch, nicht von früher, denn ihre Mutter hatte ihr nie Schlaflieder gesungen. An ihre ersten Lebensjahre, die sie im Heim verbracht hatte, konnte sie sich nicht erinnern, und später bei ihrer Mutter war sie immer allein und im Dunkeln eingeschlafen. Die Dunkelheit machte ihr inzwischen keine Angst mehr, aber das Eingesperrtsein. Und genau aus diesem Grund war es ihr so wichtig, immer hinausgehen zu können, deshalb brauchte sie den freien Blick aufs Meer.

Eigentlich hatte es heute Lamm geben sollen, ein richtiges Sonntagsessen, aber da Jón nichts von sich hören ließ, hatte sie stattdessen bloß Suppe aufgewärmt. Jetzt saß sie auf dem Sofa, mit demselben Buch wie am Morgen. Die Nachrichten waren vorbei, und sie wartete darauf, dass die neue Serie mit Richard Chamberlain anfing, in den sie ein wenig verknallt war, seit er Dr. Kildare gespielt hatte. Sie wollte die Zeit nicht damit vergeuden, auf Jón zu warten, sondern das Beste aus dem Abend machen, mit ihrem Buch und der Serie. Um Viertel nach neun, als die Serie gerade angekündigt wurde, klingelte das Telefon. Hulda seufzte, hatte keine Lust aufzustehen. Wozu auch? Um sich noch weitere Ausflüchte von Jón anzuhören? Er hatte ihr schon gesagt, dass er bis zum Hals in Arbeit steckte, das musste sie sich nicht noch mal anhören. Sie ärgerte sich schon genug darüber, dass er so lange wegblieb, und darüber, dass das Lammfleisch aufgetaut im Kühlschrank lag. Jetzt mussten sie es Anfang der Woche essen, denn bis zum nächsten Sonntag würde es sich nicht halten. Dabei war so ein Festmahl unter der Woche völlig überzogen. Keiner würde es richtig genießen können, abgesehen davon, dass Hulda gar keine Zeit hatte, es richtig zuzubereiten, denn ihr Dienst dauerte in den nächsten beiden Tagen bis neunzehn Uhr. Ihre Mutter würde Dimma von der Schule abholen. Eines musste man ihr lassen, sie versuchte, ihre Lieblosigkeit und Abwesenheit in Huldas Kindheit wiedergutzumachen, indem sie für Dimma da war. Ihre ganze Liebe galt der Enkelin, auch die, die sie Hulda damals vorenthalten hatte.

Nach dem dritten Klingeln stand Hulda auf. Es schrillte durch die ganze Wohnung, dieses grüne ausländische Telefon war deutlich lauter als das alte.

Beim vierten oder fünften Klingeln ging sie ran. »Hallo?«, sagte sie unnötig scharf, aber sie war nun mal genervt, und noch dazu verpasste sie den Beginn der Serie, auf die sie sich so gefreut hatte. Erst machte Jón ihr den Tag kaputt und mit seinem Anruf jetzt auch noch den Abend.

»Hulda, bist du das? Bitte entschuldige, dass ich so spät anrufe, zu dieser unchristlichen Zeit.«

Hulda erkannte sofort Sölvis Stimme. Er war ihr Abteilungsleiter bei der Kriminalpolizei. Seit diesem Herbst hatte sie endlich einen Chef, den sie mochte. Sölvi war in ihrem Alter, ein bisschen jünger sogar, und hatte einen steilen Aufstieg bei der Polizei hingelegt. Er stammte aus einer angesehenen Familie, sein Vater war früher Minister gewesen, jetzt Botschafter, und seinem Sohn standen alle Türen offen. Er war ein ausgezeichneter Polizist und ein noch besserer Chef. Er hatte sogar noch eine weitere Frau eingestellt, sodass Hulda nicht mehr die einzige Frau im Büro war.

Es war ein hartes Stück Arbeit gewesen, als Frau Teil der frisch gegründeten Kriminalpolizei zu werden. Die ganze Zeit über hatte Hulda das Gefühl, dass sie bei der Polizei nicht wirklich willkommen war, sowohl in der Hverfisgata als auch später bei der Kriminalpolizei – bis Sölvi auf den Plan trat. Er interessierte sich für sie und sprach von sich aus an, dass sie nicht richtig gefördert wurde. Du leistest herausragende Arbeit in dieser Abteilung, Hulda, hatte er gesagt, und sie hatte abends mit seinem Lob vor Jón geprahlt.

»Alles gut«, antwortete Hulda auf Sölvis Entschuldigung.

»Ich wollte fragen, ob du morgen etwas früher kommen kannst, schon vor neun? Eigentlich würdest du ja erst mittags kommen, oder?«

»Ja, genau, ähm …« Auch wenn sie früher zur Arbeit ging, konnte sie Dimma zur Schule bringen. Obwohl sie sich schon auf einen ruhigen Vormittag gefreut hatte. »Kein Problem, ich kann früher kommen. Um kurz vor neun?«

»Das wäre toll, ja.« Er schwieg einen Moment, als überlege er, wie viel er schon verraten sollte. Sie wartete ab und lauschte währenddessen in Richtung Fernseher. Es war so ärgerlich, den Anfang einer Serie zu verpassen.

»Sagt dir der Háagerði-Fall etwas?«, hörte sie Sölvi sagen.

Háagerði, ja, irgendetwas war da, aber sie konnte sich an keine Details erinnern.

»Warte mal, das ist schon ziemlich lange her, oder?«, fragte sie.

»Zwanzig Jahre. Furchtbar. Wir waren ja damals ungefähr im selben Alter, ich hatte nur noch vage Erinnerungen daran, habe aber heute einiges darüber gelesen.«

Hulda sagte nichts, wollte Sölvi reden lassen. Er erzählte gern. Sie sah ihn vor sich, das dunkle gewellte Haar, das Funkeln in den Augen, mit dem er die Menschen immer sofort auf seine Seite zog. Hulda ahnte, dass diese Stelle nur eine kurze Zwischenstation für ihn sein würde, vielleicht für ein Jahr, vermutlich nicht viel länger. Dann ging es für ihn mit Sicherheit eine oder gleich mehrere Stufen weiter nach oben, und dann hätte sie in ihm einen mächtigen Verbündeten. Sie hatten etwa einen Monat zusammengearbeitet, da hatte er sie in der Kaffeeküche beiseitegenommen, in den höchsten Tönen gelobt und gesagt, dass sie unterschätzt werde: Du musst den nächsten Schritt machen, Personalverantwortung übernehmen.