Schneeblind - Ragnar Jónasson - E-Book
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Schneeblind E-Book

Ragnar Jónasson

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Beschreibung

Winter in einem abgelegenen Fischerdörfchen im Norden von Island. Eine junge Frau liegt blutend und bewusstlos im Schnee. Dann kommt ein alter Schriftsteller durch einen Sturz im Theater ums Leben. Ari, der neue Polizist im Ort, erkennt schnell, dass er erst die Verbrechen der Vergangenheit aufklären muss, um die Fälle der Gegenwart lösen zu können. Doch niemand will ihm helfen – und er kann niemandem trauen ...

»Schneeblind« ist der erste Band der Dark-Iceland-Serie von SPIEGEL-Bestsellerautor Ragnar Jónasson.

Dieses Buch ist erstmals auf Deutsch unter dem Titel »Schneebraut« erschienen.

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Seitenzahl: 343

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Zum Buch

Winter in einem abgelegenen Fischerdörfchen im Norden von Island. Eine junge Frau liegt blutend und bewusstlos im Schnee. Dann kommt ein alter Schriftsteller durch einen Sturz im Theater ums Leben. Ari,

der neue Polizist im Ort, erkennt schnell, dass er erst die Verbrechen

der Vergangenheit aufklären muss, um die Fälle der Gegenwart lösen

zu können. Doch niemand will ihm helfen – und er kann

niemandem trauen …

»Schneeblind« ist der erste Band der Dark-Iceland-Serie von SPIEGEL-Bestsellerautor Ragnar Jónasson.

Zum Autor

Ragnar Jónasson, 1976 in Reykjavík geboren, ist Mitglied der britischen Crime Writers‘ Association und Mitbegründer des

»Iceland Noir«, dem Reykjavík International Crime Writing Festival. Seine Bücher werden in über 30 Ländern veröffentlicht und von Zeitungen wie der New York Times und Washington Post gefeiert.

Die preisgekrönte »Hulda-Trilogie« erschien bei btb erstmals

auf Deutsch und stand viele Monate auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Mit »Frost« folgte eine unabhängige Fortsetzung. »Schneeblind« ist der erste Band der »Dark-Iceland-Serie« um den jungen Polizisten

Ari Þór Arason, die bei btb wiederveröffentlicht wird.

Ragnar Jónasson lebt und arbeitet als Schriftsteller und Investmentbanker in der isländischen Hauptstadt. An der Universität Reykjavík lehrt er außerdem Rechtswissenschaften.

Ragnar Jónasson

SCHNEEBLIND

Thriller

Aus dem Isländischen von Ursula Giger

Die isländische Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel »Snjóblinda« bei Veröld, Reykjavík, und 2011 unter dem Titel »Schneebraut« erstmals auf Deutsch bei S. Fischer, Frankfurt am Main.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Wiederveröffentlichung März 2022

btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Copyright © der Originalausgabe 2010 by Ragnar Jónasson

Published by agreement with Copenhagen Literary Agency ApS, Copenhagen.

Copyright © der deutschen Übersetzung 2011 by

S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 2021

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotive:© Shutterstock/railway fx; Anton27;

© Arcangel Images/Christy Berry; Getty Images/Gern E Piper

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

mb ∙ Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-28536-4V002

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

Der Autor dankt den Einwohnern von Siglufjörður, dass er ihr Dorf als Kulisse für seine Erzählung benutzen durfte. Er möchte betonen, dass die Handlung in jeder Hinsicht frei erfunden ist und die Protagonisten der Erzählung keinen lebenden Personen nachempfunden sind.

Für Kira von Papa

Prolog

Siglufjörður, Mittwoch, 14. Januar 2009

Die rote Farbe wirkte wie ein gellender Schrei in der Stille.

Die Erde war von Schnee bedeckt, der Schnee so weiß, dass er im Kampf mit der Dunkelheit an diesem Winterabend beinahe den Sieg davongetragen hätte. Himmlisch in seiner Reinheit. Es hatte seit dem Morgen geschneit, die Schneeflocken waren groß und mächtig, fielen majestätisch zur Erde. Zur Abendbrotzeit gab es eine Pause, und seitdem hatte es nicht mehr geschneit.

Es waren nur wenige unterwegs, die meisten Dorfbewohner saßen zu Hause und gaben sich damit zufrieden, das Wetter vom Fenster aus zu genießen. Zudem war es denkbar, dass einige beschlossen hatten, sich nach dem Todesfall beim Theaterverein draußen nicht blicken zu lassen. Die Gerüchte hatten sich wie ein Lauffeuer verbreitet, und es lag eine beklemmende Stimmung über dem Dorf, das eigentlich so friedlich wirkte. Ein vorbeifliegender Vogel hätte nichts Außergewöhnliches bemerkt – er hätte die Spannung in der Luft nicht wahrgenommen, die Ungewissheit, die Angst gar –, nicht bis zu jenem Augenblick, in dem er über den kleinen Garten hinter dem Haus im Zentrum des Dorfes geflogen wäre.

Die gewaltigen Bäume, die den Garten umsäumten, trugen ihr schönstes Winterkleid; sie konnten sich in der Dunkelheit in düstere Schatten verwandeln. Dann erinnerten sie eher an Clowns als an Trolle, ganz weiß von der Spitze bis zu den Wurzeln, das Äußere spielerisch leicht – obwohl der schwere Schnee die Äste unter sich bog.

Ein angenehmes Licht ging von den lieblichen Häusern aus, und die Straßenlaternen erleuchteten die wichtigsten Straßen. Der Garten war alles andere als in Dunkelheit getaucht, auch wenn der Abend schon etwas fortgeschritten war.

Die Berge, die das Dorf beschützen sollten, waren fast schneeweiß an diesem Abend. Trotzdem hatten sie ihre Aufgabe in den vergangenen Tagen nicht richtig erfüllt: Etwas Fremdes, Bedrohliches hatte sich in das Dorf geschlichen. Etwas, das mehr oder weniger unsichtbar gewesen war – bis zu diesem Abend.

Sie lag in der Mitte des Gartens, wie ein Schneeengel.

Aus der Ferne sah sie friedlich aus.

Die Arme waren ausgestreckt, sie trug abgewetzte blaue Jeans, und ihr Oberkörper war nackt. Das lange Haar lag wie eine Krone im Schnee.

Nur der Schnee hätte nicht so rot sein dürfen.

Neben ihrem Körper hatte sich eine kleine Blutlache gebildet.

Die Haut schien bedenklich schnell zu erblassen und nahm eine schneeweiße Farbe an, als ob sie einen Gegensatz zur roten Farbe bilden wollte, die so grell ins Auge stach.

Ihre Lippen wurden immer bläulicher. Sie atmete schnell.

Die Augen waren noch immer geöffnet.

Sie schienen in den düsteren Himmel zu starren.

Und dann, auf einmal, schlossen sich die Augen.

1. Kapitel

Reykjavík, Frühling 2008

Es war noch immer hell draußen, obwohl es bereits auf Mitternacht zuging. Die Tage wurden länger und länger. Zu dieser Jahreszeit gab es nichts Besseres, als dass jeder Tag, heller als der Tag zuvor, die Hoffnung auf bessere Zeiten mit sich brachte. Und es war auch im Leben von Ari Þór Arason hell geworden. Kristín, seine Freundin, war endlich zu ihm in seine kleine Wohnung in der Öldugata gezogen. Das war nichts anderes als eine logische Folge davon, was sich vorher abgespielt hatte. Sie hatte ohnehin die meisten Nächte bei ihm verbracht, außer wenn Prüfungen bevorstanden, dann saß sie oft bei ihren Eltern und lernte in Ruhe bis spät in die Nacht, so dass es sich nicht mehr lohnte, zu ihm herüberzukommen.

Kristín kam ins Schlafzimmer, frisch geduscht, das Handtuch um die Hüften gewickelt. »Ach du lieber Himmel, bin ich müde – ich verstehe manchmal nicht, warum ich mich für dieses verdammte Medizinstudium entschieden habe.«

Ari saß an seinem kleinen Schreibtisch im Schlafzimmer und blickte zu ihr hoch. »Du wirst eine phantastische Ärztin werden.«

Sie legte sich mitten aufs Bett, auf die Decke, und räkelte sich. Auf der weißen Bettdecke sah ihr blondes Haar wie eine Krone aus. Wie ein Engel, dachte Ari und betrachtete sie, wie sie die Arme ausstreckte und sie in weichen Bewegungen wieder heranzog.

Wie ein Schneeengel.

»Danke, Liebling. Und du wirst ein phantastischer Polizist.« Und fügte dann hinzu: »Du hättest aber trotzdem das Theologiestudium vorher abschließen sollen.«

Das wusste er selber auch; brauchte es nicht auch noch von ihr zu hören. Zuerst war es die Philosophie – auch dieses Studium hatte er abgebrochen –, dann die Theologie. Auch die hatte er aufgegeben, um sich anschließend an der Polizeischule anzumelden. Ari hatte es nie geschafft, wirklich Wurzeln zu schlagen, war stets auf der Suche nach etwas Originellem, etwas Spannendem. Für Theologie hatte er sich nur aus einem inneren Konflikt heraus entschieden, denn an die Existenz eines Gottes glaubte er definitiv nicht. Dieser Gott, der ihn um eine unbeschwerte Jugend gebracht hatte, als er dreizehn war – als seine Mutter starb und sein Vater spurlos verschwand. Erst als er Kristín kennengelernt und es schließlich vor zwei Jahren geschafft hatte, das Rätsel um das Verschwinden seines Vaters zu lösen, hatte er ein gewisses inneres Gleichgewicht gefunden. Und da hatte sich auch die Idee in seinem Kopf festgesetzt, eine Bewerbung bei der Polizeischule abzugeben. Er würde mit Sicherheit einen besseren Polizisten als Pfarrer abgeben. Denn während dieser Ausbildung musste man auch eine bessere körperliche Verfassung vorweisen. Um die Schultern war er jetzt viel kräftiger als zuvor; er stemmte Gewichte, schwamm und lief – so gut in Form war er bei der Lektüre der dicken theologischen Schwarten, in denen er Tag und Nacht gelesen hatte, nicht gewesen.

»Ja, ich weiß«, antwortete er ein wenig irritiert. »Ich habe die Theologie nicht aufgegeben – habe nur eine Pause eingelegt.«

»Du solltest einfach das Studium schnell zu Ende bringen, solange du alles noch frisch in Erinnerung hast – es ist schwierig, nach ein oder zwei Jahren den Faden wieder aufzunehmen«, meinte sie. Ari wusste allerdings, dass sie in diesem Moment nicht aus eigener Erfahrung sprach. Sie hatte stets alles zu Ende gebracht, was sie begonnen hatte. Sie absolvierte eine Prüfung nach der anderen, nichts konnte sie aufhalten, und nun würde sie ihr Studium bereits nach fünf statt nach sechs Jahren abschließen. Er empfand aber keinen Neid, sondern nur Stolz. Er war sich bewusst darüber, auch wenn sie es nie besprochen hatten, dass sie früher oder später ins Ausland ziehen müssten, damit sie dort ihr weiteres Studium absolvieren konnte.

Sie schob sich ein dickes Kissen unter den Kopf und schaute in Aris Richtung. »Stört es dich nicht, den Schreibtisch im Schlafzimmer stehen zu haben? Ist diese Wohnung nicht allmählich zu klein für uns?«

»Zu klein? Nein, ich finde sie toll – ich will auf keinen Fall aus der Innenstadt wegziehen.«

»Nein, schon gut, hat ja auch keine Eile.« Sie lehnte sich zurück, der Kopf verschwand im Kissen.

»Die Wohnung ist nun wirklich groß genug für uns beide.« Ari erhob sich. »Wir müssen uns einfach nur noch enger zusammenkuscheln.« Er kroch aufs Bett, schälte sie aus ihrem Handtuch, legte sich vorsichtig auf sie und küsste sie zärtlich. Sie erwiderte den Kuss, umschlang seine Schultern und zog ihn noch enger zu sich.

2. Kapitel

Wie konnten sie nur den Reis vergessen?

Sie nahm wütend das Telefon und rief das kleine, indische Restaurant an, das in der kleinen Seitenstraße ungefähr fünf Gehminuten von ihrem Haus entfernt lag. Das große Einfamilienhaus verfügte über zwei Stockwerke, ein charmantes rotes Backsteinhaus mit orangefarbenem Dach, einer großen Garage und einer gemütlichen Sonnenterrasse oben auf der Garage, ein Traumhaus für eine große Familie. Das Ehepaar fühlte sich dort noch immer sehr wohl, auch wenn sie kurz vor der Rente standen und die Kinder schon lange aus dem Haus waren.

Sie versuchte, sich etwas zu beruhigen, während sie darauf wartete, dass jemand abhob. Sie hatte sich darauf gefreut, es sich vor dem Fernseher gemütlich zu machen, am Freitagabend eine seichte Serie zu schauen und dazu ein dampfend heißes Hähnchen mit Reis zu essen. Sie war heute Abend allein zu Hause, ihr Mann war noch geschäftlich im Ausland und würde den Nachtflug nehmen und nicht vor dem nächsten Morgen zu Hause sein.

Das Schlimmste an der Geschichte war, dass das indische Restaurant keinen Lieferservice hatte, sie würde also nochmals raus müssen, um den Reis zu holen, währenddessen das Hähnchen kalt wurde. Verdammter Mist. Aber es war ja noch mild draußen, da wäre der Spaziergang wahrscheinlich ganz angenehm. Sie antworteten schließlich, nach einer Ewigkeit –sie hatten wohl alle Hände voll zu tun. Sie kam sofort zur Sache und beschwerte sich, dass der Reis vergessen worden war. Der Angestellte zögerte und bat dann um Entschuldigung, meinte, dass sie selbstverständlich ihren Reis bekäme und fragte, wann sie ihn denn abholen wolle, morgen vielleicht? Sie versuchte, ihre Wut zu zügeln und sagte, dass sie den Reis unverzüglich holen komme, legte auf und brach sofort in die Abenddämmerung auf.

Sie brauchte ungewöhnlich lange, um die Schlüssel in ihrer Handtasche zu finden, als sie zehn Minuten später wieder zurück war – mitsamt dem Reis, um den gemütlichen Abend mit einem leckeren Essen abzurunden. Erst in dem Moment, als sie den Schlüssel ins Schloss steckte, bemerkte sie, dass jemand in der Nähe war; irgendetwas war nicht so, wie es sein sollte.

Doch da war es bereits zu spät.

3. Kapitel

Reykjavík, Sommer 2008

Ari trat aus dem Regen in die Wohnung. Es hatte ihm schon immer ein behagliches Gefühl bereitet, in seine Wohnung in der Öldugata zurückzukehren, diesen Sommer aber war das Gefühl besser denn je.

»Hi, da bist du ja!«, rief Kristín aus dem Schlafzimmer, wo sie oft mit ihren Büchern an dem kleinen Schreibtisch saß und lernte, wenn sie nicht gerade im Krankenhaus am Arbeiten war.

Er fand, dass seine Wohnung aufgeblüht war, seit sie hier lebte – die weißen Wände, die vorher einen trüben Eindruck vermittelt hatten, schienen plötzlich hell zu sein. Kristín verfügte über irgendeine unbändige Kraft, sogar wenn sie bloß ruhig am Tisch saß, lernte und kein Wort sagte – genau diese Kraft aber hatte es Ari so sehr angetan. Manchmal jedoch schlich sich bei ihm das dumpfe Gefühl ein, dass er nicht mehr wirklich über sein eigenes Leben bestimmen konnte. Gerade mal vierundzwanzig Jahre alt, doch die Zukunft lag nicht mehr weit ausgebreitet vor ihm. Das erwähnte er ihr gegenüber aber nie; es war nicht gerade seine Stärke, über seine Gefühle zu reden.

Er spähte ins Schlafzimmer. Sie saß dort und lernte.

Warum musste sie eigentlich während des ganzen Sommers hinter ihren Büchern sitzen?

Die Sonne schien auf sie keine Anziehungskraft zu haben, wenn sie sich etwas anderes vorgenommen hatte. »Es genügt mir vollständig, zur Arbeit und wieder nach Hause zu flanieren – das reicht mir als Outdoor-Aktivität«, hatte sie schelmisch gesagt, als er sie einmal mehr dazu überreden wollte, mit ihm an einem sonnigen freien Tag in die Stadt zu schlendern. Diesen Sommer absolvierte er ein Praktikum bei der Polizei auf dem Flughafen Keflavík, doch schon bald würde das letzte Semester in der Polizeischule beginnen.

Manchmal fragte er sich, was ihn in aller Welt dazu bewogen hatte, vor knapp einem Jahr das Theologiestudium aufzugeben – wenn vielleicht auch nur auf Zeit – und seine Fähigkeiten auf einem ganz anderen Gebiet zu beweisen. Er hatte es in die Polizeischule geschafft, obwohl das Semester bereits begonnen hatte. Irgendetwas faszinierte ihn am Beruf des Polizisten – der Nervenkitzel, die Aufregung. Auf keinen Fall das Gehalt. Er war noch nie der Typ gewesen, der tagelang über Büchern brütete, er brauchte mehr Bewegung, mehr Abwechslung.

Er genoss die Arbeit bei der Polizei – genoss die Verantwortung, das Adrenalin.

Noch ein Semester, dann das Diplom. Es war noch nicht abzusehen, wo es ihn nach der Ausbildung hin verschlagen sollte – er hatte sich auf etliche Stellen innerhalb der Polizei beworben, hatte einige Rückmeldungen bekommen, aber kein festes Angebot, noch nicht.

»Ja – ich bin da. Wie läuft’s?«, rief er Kristín zu und hängte seine blaue Jacke an den Haken. Er ging zu ihr, sie war ganz in ihre Bücher vertieft, und küsste sie auf den Hals.

»Hi.« Sagte sie mit warmer Stimme. Las aber weiter.

»Hi. Wie läuft’s?«

Sie schloss das Buch, passte aber auf, die Stelle sorgfältig mit einem Lesezeichen zu markieren, und drehte sich um.

»Ganz gut. Warst du im Krafttraining?«

»Ja – das tut so gut.«

In diesem Moment klingelte sein Handy.

Ari holte das Handy aus seiner Jackentasche, sprach mit dem Anrufer und kam wenige Minuten später wieder zurück. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck von Zufriedenheit.

Kristín war bereits wieder in ihre Bücher vertieft.

»Mir ist gerade eine Stelle angeboten worden«, sagte er ohne irgendeine Einleitung. Kristín drehte sich um. Ari schmunzelte.

»Was? Echt?« Sie schlug das Buch zu, drehte sich rasch um, und dieses Mal vergaß sie, die Stelle im Buch zu markieren. »Phantastisch!«

Die Freude kam von Herzen. Kristín wirkte eigentlich immer freundlich, als ob sie nichts aus der Ruhe bringen könnte, aber Ari wusste ihre Mimik mittlerweile besser zu lesen. Diese dunkelblauen Augen, die einen so scharfen Kontrast zu ihrem kurzen, blonden Haar bildeten, machten auf viele bei der ersten Begegnung einen verträumten Eindruck, doch darunter war sie unglaublich entschlossen und wusste genau, was sie wollte.

»Ja, das ist ja unglaublich … ich habe mir ehrlich gesagt keine Hoffnung gemacht, so schnell irgendeine Zusage zu bekommen – im Dezember werden so viele die Ausbildung abschließen, und es gibt nur sehr wenige offene Stellen.«

»Wo ist es? Hier in der Stadt? Machst du eine Stellvertretung?«

»Nein, eine feste Stelle, für mindestens zwei Jahre.«

»Hier in der Stadt?«, wiederholte Kristín, und es war deutlich aus ihrem Gesicht zu lesen, dass sie bereits vermutete, dass das nicht der Fall sein würde.

»Nein, das allerdings nicht …«

Er zögerte und fuhr dann fort: »Es ist im Norden … in Siglufjörður.«

Sie schwieg einen Moment; die paar Sekunden schienen Minuten zu dauern.

»In Siglufjörður?« Sie erhob instinktiv die Stimme. Der Ton sagte alles, was es zu sagen gab.

»Ja. Das ist eine einmalige Gelegenheit.« Die Stimme fest, das Lächeln verschwunden.

»Und hast du bereits zugesagt? Ist es dir nicht mal in den Sinn gekommen, das zuerst mit mir zu besprechen?« Sie kniff die Augen zusammen; es lag Bitterkeit in ihrer Stimme, beinahe Wut.

Hatte er es vielleicht unterlassen, diese Sache mit ihr zu diskutieren, um ihr zu zeigen, dass er selbständige Entscheidungen treffen, auf eigenen Füßen stehen konnte?

»Ich brauch dir nicht alles mitzuteilen«, sagte er und fügte hinzu: »Manchmal muss man einfach die Gelegenheit beim Schopf packen. Hätte ich nicht sofort geantwortet, hätten sie einfach jemand anderen angerufen.«

Er schwieg, fügte dann hinzu: »Sie haben mich ausgewählt.«

Ari hatte seinerzeit das Philosophiestudium aufgegeben. Hatte dann das Theologiestudium aufgegeben. Er hatte seine Eltern viel zu jung verloren, war praktisch seit der Kindheit auf sich allein gestellt gewesen. Dann hatte Kristín ihn auserwählt. Damals hatte er dasselbe Gefühl empfunden.

Sie hat mich ausgewählt.

Die erste ernsthafte Anstellung – eine verantwortungsvolle Position. Er hatte während seiner Ausbildung in der Polizeischule vollen Einsatz gezeigt. Warum konnte Kristín sich nicht einfach mit ihm freuen?

»Du kannst nicht einfach beschließen, nach Siglufjörður zu ziehen, ohne das vorher mit mir zu besprechen, zum Teufel noch mal. Sag ihnen, dass du dir die Sache erst noch überlegen musst«, sagte sie mit kühler Stimme.

»Ganz bestimmt nicht. Ich habe zugesagt, und damit hat sich’s! Ich gehe Mitte November, kann die letzten Prüfungen von Siglufjörður aus absolvieren und komme an Weihnachten natürlich nach Hause. Du musst einfach schauen, ob du nicht mitkommen kannst.«

»Ich muss neben dem Studium auch nächsten Sommer hier in der Stadt arbeiten, das weißt du genau, Ari. Ich verstehe dich einfach nicht.« Sie stand auf. »Das ist doch totaler Unsinn. Ich dachte, wir seien Verbündete, würden all das zusammen entscheiden.« Sie senkte den Blick, als ob sie die Tränen verbergen müsse. »Ich gehe mal eine Runde spazieren.«

Mit schnellen Schritten lief sie aus dem Zimmer.

Ari stand da wie angewurzelt, hatte jegliche Kontrolle über die Situation verloren.

Er wollte ihr noch etwas nachrufen, als die Wohnungstür auch schon ins Schloss knallte.

4. Kapitel

Siglufjörður, November 2008

Ugla saß in der Mansarde.

Das hatte Ágúst immer gesagt, als sie zu Hause bei ihren Eltern in Patreksfjörður zusammen oben in der Mansarde gesessen und auf die Straße hinuntergeschaut hatten.

Sie lächelte beim Gedanken daran. Sie konnte nun wieder lächeln, wenn sie an ihn dachte. Es waren vier Jahre vergangen, seit sie nach Siglufjörður gezogen war – allein.

Und es waren vier Jahre vergangen, seit sie Patreksfjörður das letzte Mal gesehen hatte.

Ihre Eltern besuchten sie regelmäßig, zuletzt Ende Oktober; sie waren zwei Wochen lang bei ihr gewesen.

Sie waren am Morgen nach Westen zurückgefahren.

Und wieder war sie allein.

Sie hatte hier zwar ein paar gute Freundinnen gefunden, aber keine stand ihr besonders nahe. Sie redete nie über die Vergangenheit. In den Augen der anderen war sie einfach eine Zugezogene aus den Westfjorden.

Sie wusste, dass die Jungs im Dorf sich Klatschgeschichten über sie erzählten, die allesamt von Grund auf erlogen waren. Aber das machte nichts. Sie hatte mittlerweile eine harte Schale. Als ob es ihr nicht egal wäre, was irgendwelche Jungs in Siglufjörður sich über sie erzählten? Es gab nur einen Jungen, der ihr irgendetwas bedeutet hatte.

Ágúst.

Der schönste Junge von ganz Patreksfjörður.

Zumindest ihrer Meinung nach.

Sie waren seit ihrem siebten Lebensjahr zusammen – das zumindest hatten sie immer behauptet, nachdem ihre Beziehung im Teenageralter offiziell begonnen hatte. Und das entsprach wohl der Wahrheit, denn sie waren bereits seit der Grundschule unzertrennlich gewesen.

Ugla und Ágúst.

Die Namen waren unwiderruflich miteinander verknüpft.

Zumindest in Patreksfjörður.

Aber nicht hier, in Siglufjörður. Hier wusste keiner etwas davon.

Und so wollte sie es auch haben. Sie fühlte sich ganz wohl in der Rolle des geheimnisvollen Mädchens aus dem Westen. Das Mädchen, über das getratscht wurde. Ja – und dennoch –, es stimmte vielleicht nicht ganz, dass die Klatschgeschichten ihr gar nichts anhaben konnten. Eine Geschichte hatte sie schon verletzt. Irgendwie war das Gerücht aufgekommen, dass sie leicht zu haben sei. Sie verstand nicht, woher das kam.

Sie hatte von den Westfjorden wegziehen wollen – kurz nach der Begebenheit, die alles verändert hatte. Ihre Eltern nahmen das anfangs nicht hin. Sie hatte das Abitur noch nicht gemacht, war im zweitletzten Jahr im Gymnasium in Ísafjörður.

Es gelang ihr, die Prüfungen im Frühjahr noch zu absolvieren, als ihr ein Job in Siglufjörður angeboten wurde. In der Fischindustrie – das war genau die Art von Arbeit, in der sie sich auskannte. Und ihr war gesagt worden, dass vielleicht auch eine Teilzeitstelle im Büro frei werden würde. Das traf dann auch tatsächlich ein. Nun hatte sie ihre Arbeit in der Fischverarbeitung reduziert und jobbte noch halbtags im Büro. Hoffentlich hatte diese verfluchte Krise, die nun mit voller Wucht so richtig zuschlug, keinen Einfluss auf sie – sie brauchte den Job, konnte sich auf keinen Fall vorstellen, wieder zu ihren Eltern nach Patreksfjörður zurückzukehren.

Sie hatte anfangs eine kleine Wohnung im Souterrain gemietet. Dort herrschten eine angenehme Atmosphäre und ein guter Geist. Der Personalleiter hatte sie auf die Wohnung hingewiesen, als Notlösung, bis sie sich entschieden habe, wie lange sie denn in Siglufjörður bleiben wolle.

Sie hatte nicht sofort erkannt, wer der alte Herr war, der ihr die Wohnung gezeigt hatte. Es sah aus, als wenn er schon über achtzig sei, und sie erfuhr erst später, dass er bereits auf die neunzig zuging. Und sie kam natürlich schnell dahinter, dass es sich bei dem alten Herrn, dem alten Hrólfur, um den Schriftsteller Hrólfur Kristjánsson handelte. Sie konnte sich noch sehr gut an sein Buch Nördlich der Heide erinnern, das sie damals in der Schule gelesen hatte. Sie hatte sogar noch vor Augen, wie ihnen aufgetragen wurde, einen Roman aus dem Jahre 1941 zu lesen – zweifelsohne ein schon längst veralteter Roman, irgendwelche unerträgliche Landromantik, wie sie dachte. Doch da hatte sie sich getäuscht. Sie hatte das Buch an einem einzigen Abend verschlungen und bei sich gedacht, dass das Buch genauso gut eine Neuerscheinung hätte sein können, so gut wie es dem Zahn der Zeit standgehalten hatte. Das Buch hatte in der Klasse dennoch kaum für Aufsehen gesorgt, kaum mehr als andere Bücher, die auf der Leseliste standen. Doch es hatte etwas an sich, das Ugla faszinierte – zweifelsohne dasselbe, das auch die Ursache dafür war, dass das Buch in den fünfziger Jahren in rauen Mengen verkauft, es regelrecht verschlungen wurde und sich zudem auch im Ausland gut verkaufte. Der alte Herr musste ein Genie sein und war zu seiner Zeit bestimmt sehr berühmt gewesen.

Und an einem klaren, aber kalten Frühlingstag im Jahre 2004 hatte sie dem Autor persönlich gegenübergestanden. Er hatte ein sympathisches Äußeres, ging leicht gebeugt, war aber in jungen Jahren zweifelsohne groß gewachsen und von stattlicher Statur gewesen. Er verfügte über ein kräftiges Stimmorgan und ein väterliches Auftreten, obwohl er selbst nie Kinder gehabt hatte.

Er wohnte in einem eleganten alten Haus am Hólavegur mit Aussicht über den Fjord. Das Haus war in einem guten Zustand, und an der Seite befand sich eine große Garage, wo sein alter roter Benz stand. Die Souterrainwohnung war, so wie Ugla es verstanden hatte, hin und wieder vermietet worden, entweder an zugezogene Arbeitskräfte oder manchmal auch an Künstler, die in Ruhe und Frieden, von den Bergen eingeschlossen, arbeiten wollten. Hrólfur hatte nicht jeden aufgenommen; er traf sich mit allen möglichen Mietern persönlich, bevor der Vertrag unterzeichnet wurde, und es war schon vorgekommen, dass er Menschen abgelehnt hatte, wenn sie ihm nicht gefielen.

»Du wirst also in der Fischindustrie arbeiten, hast du gesagt?«, hatte er mit warmer und kräftiger, aber etwas heiserer Stimme gefragt, die durch die gesamte Wohnung hallte. Er betrachtete sie mit klugen und wachen Augen; den Augen eines Mannes, der sowohl Freude wie auch Leid erfahren hatte.

»Ja, erst mal für den Anfang«, sagte sie leise, sprach eher den Boden der Wohnung an als ihn selbst.

»Wie bitte? Du musst schon etwas lauter sprechen, mein Kind«, sagte er mit Nachdruck.

Sie hob die Stimme.

»Ja, erst mal für den Anfang.«

»Und wissen deine Eltern denn davon? Du bist so unglaublich jung.«

Er kniff die Augen zusammen und spannte seine Lippen auf eine seltsame Art, als ob er zu lächeln versuchte, ohne aber wirklich zu lächeln.

»Ja, natürlich. Aber ich bestimme dennoch über mich selbst.« Sie sprach deutlicher als zuvor, war entschlossener in ihrem Auftreten.

»Gut. Ich bin zufrieden mit Leuten, die für sich selbst einstehen können. Trinkst du Kaffee?«

»Ja«, log sie. Sie ging davon aus, dass sie sich an Kaffee genauso gut gewöhnen könnte wie an anderes auch.

Er hatte offensichtlich einen guten Eindruck von ihr. Sie zog umgehend in die Souterrainwohnung ein und ließ sich dort nieder – zog erst in eine größere Wohnung um, nachdem eineinhalb Jahre vergangen waren.

Sie hatten sich während dieser Zeit ungefähr einmal in der Woche am Abend zusammengesetzt und Kaffee getrunken. Das war an und für sich keine Pflicht, und sie hatte es auch in keiner Weise als Pflichtübung empfunden. Sie hatte es sehr genossen, mit ihm über vergangene Zeiten zu plaudern, die Heringsjahre, die Kriegsjahre, die Auslandsreisen und Konferenzen, die er als berühmter Autor besucht hatte.

Wenn man so will, hatte er damit seinen Anteil dazu beigetragen, sie aus ihrem Kokon zu befreien. Ihre Augen erneut für das Leben zu öffnen.

Sie sprach mit Hrólfur nur wenig über die Vergangenheit. Und Ágúst erwähnte sie nie. Sie redeten über Literatur und Musik. Sie hatte in jungen Jahren in Patreksfjörður Klavier gespielt. Er erlaubte ihr jedes Mal, wenn sie kam, für ihn zu spielen und schlug dann vor, dass sie versuchen sollte, Schüler anzuwerben, bot ihr den Gebrauch seines Klaviers in seinem Wohnzimmer an. Sie meinte, dass sie sich die Sache überlegen wolle, und eines Tages, als sie mit dem Leben gerade zufrieden war, hatte sie eine kleine Anzeige im Lebensmittelladen aufgehängt; ein DIN-A4-Blatt, auf dem sie vermerkt hatte: »Gebe Klavierstunden. Preis nach Absprache.« Ihre Telefonnummer und ihren Namen schrieb sie unten fünfmal auf das eingeschnittene Blatt, damit ihre Schüler in spe die einzelnen Zettelchen abreißen konnten. Hrólfur war über ihre Initiative äußerst erfreut gewesen – es hatte sich bis jetzt aber noch niemand gemeldet.

Sie sprachen aber nicht nur über Musik, denn es war ihr herausgerutscht, dass sie sich in Patreksfjörður und später im Gymnasium in Ísafjörður auch für das Theaterspielen interessiert hatte und bei der Aufführung eines Laientheaters mitgespielt hatte. Es war an einem Juniabend, als dieses Thema zur Sprache kam. Hrólfur und sie saßen beim Fenster, tranken Kaffee und aßen Schmalzgebäck. Der Fjord war spiegelglatt und das Dorf hell erleuchtet, obwohl die Sonne bereits hinter den Bergen verschwunden war und ihre Strahlen sich lediglich an den Bergspitzen östlich des Fjords widerspiegelten.

Da erzählte er ihr, dass er der Präsident des Theatervereins von Siglufjörður sei. Es sei gewiss ein kleiner Verein, und es würden nur wenige Stücke aufgeführt, meist nur eines im Jahr – aber er versprach, sie dem Regisseur zu empfehlen. Er hielt sein Wort, obwohl sie noch versucht hatte, Einwände zu erheben, und im Herbst darauf war sie bereits für eine Rolle in einer Komödie besetzt worden.

Es war wirklich unglaublich, wie sie sich auf der Bühne vergessen konnte.

Es war, wie in eine andere Welt einzutauchen. Sie schaute den Scheinwerfern, welche die Bühne erleuchteten, ins Auge, die Zuschauer spielten keine Rolle. Einer, zwei oder fünfzig, sie alle verschwammen im Licht. Auf der Bühne war sie weder in Patreksfjörður noch in Siglufjörður. Sie konzentrierte sich auf den Text, darauf, den Theaterbesuchern Gefühle zu zeigen, die nicht ihre eigenen waren. Ihre Konzentration war dermaßen groß, dass sie sogar für eine Weile nicht an Ágúst dachte.

Der Applaus am Ende der Vorstellung erfüllte sie mit neuer Lebenskraft, und es war, als ob sie von der Bühne schwebe. Sie setzte sich nach der Aufführung für einen Augenblick hin, um wieder auf den Boden zurückzukehren. Und da erst überkam sie erneut die Trauer. Die Erinnerungen an Ágúst. Und doch wurde das alles mit jeder einzelnen Vorstellung irgendwie erträglicher. Es dauerte immer länger, bis die Schwere wieder Besitz von ihr ergriff.

Es war, als ob das Theater ihr einen Weg aus der Dunkelheit weisen würde.

Es freute sie sehr, dass sie den alten Herrn kennengelernt hatte. Sie hätte von sich aus niemals Kontakt mit dem Theaterverein aufgenommen.

Sie hatte es kaum übers Herz gebracht, ihm zu sagen, dass sie ausziehen werde. Eine größere und angenehmere Wohnung in der Norðurgata war frei geworden; dass eine Wohnung möbliert vermietet wurde, mitsamt einem Klavier, hatte ihr die Entscheidung abgenommen. Sie war fest entschlossen, dort einzuziehen – es war an der Zeit, sich im Dorf besser einzurichten. Die Souterrainwohnung, so gemütlich sie auch war, konnte niemals eine feste Bleibe für die Zukunft sein. Es war auch nicht gesagt, dass die Mietwohnung in der Norðurgata eine Wohnung für die längerfristige Zukunft sein würde, aber es war zumindest ein Schritt in die richtige Richtung. Größer und geräumiger – und mit einem kleinen Garten.

Sie war noch immer allein. Selbstverständlich gab es ein paar Männer im Dorf, die sie ganz in Ordnung fand. Und doch war es, als ob sie etwas zurückhalte. Vielleicht die Erinnerung an Ágúst – um anzufangen, zumindest –, aber vielleicht war sie sich auch einfach noch nicht sicher genug, ob sie Siglufjörður wirklich zu ihrem zukünftigen Zuhause machen wollte. Wollte dort keine Wurzeln schlagen, zumindest nicht sofort.

Ihren Kontakt mit Hrólfur hatte sie keineswegs aufgegeben, nachdem sie umgezogen war, sie schlenderte noch immer jeden Mittwochnachmittag zum Hólavegur und genehmigte sich einen Kaffee. Es war nach wie vor so, als ob sie im Souterrain wohnen würde, als ob sich nichts verändert hätte. Sie plauderten über dieses und jenes, seine Vergangenheit und seine Reisen und ihre Zukunft. Der gute Kerl. Hoffentlich verblieben ihm noch viele gute Jahre.

Sie hatte sich sehr gefreut, als Úlfur, der Regisseur des Theatervereins, sie im Herbst angerufen und ihr die Hauptrolle im neuen Stück angeboten hatte. Die Proben hatten bereits begonnen – das Theaterstück sollte nach Weihnachten, im Januar, Premiere feiern. Beim Gedanken daran verspürte sie Schmetterlinge im Bauch.

Die Hauptrolle – wer hätte vor einigen Jahren gedacht, dass sie eine Hauptrolle besetzen würde? Natürlich war es nur ein Laientheater, aber trotzdem … Eine Hauptrolle blieb immer eine Hauptrolle.

Zudem war es eine ziemlich gute Rolle, trotz allem. Das Theaterstück war von einem Einheimischen geschrieben worden, und man konnte nie wissen, ob es nicht noch weiter aufgeführt werden würde – in Akureyri vielleicht oder im Süden.

Sie schaute zum Fenster hinaus. Es hatte am Wochenende geschneit. Der Schnee war liegen geblieben, schön, schneeweiß. Es breitete sich eine Ruhe in ihr aus.

Sie öffnete die Hintertür in den Garten hinaus, um die kühle Winterluft einzuatmen, doch es schlug ihr ein klammer Nordwind entgegen, so dass sie die Tür schnell wieder schloss.

Und wieder musste sie an Ágúst denken.

Wie groß standen eigentlich die Chancen, dass so etwas jemals vorübergehen würde?

Ein ganz gewöhnlicher Abend in Patreksfjörður, übers Wochenende zu Hause.

Warum ausgerechnet er? Warum musste es ausgerechnet ihm geschehen, so jung?

Sie schloss die Augen und dachte an die Mansarde zu Hause in Patreksfjörður.

Ugla saß in der Mansarde.

Wie groß standen die Chancen …?

Eins, zwei, drei …

… und das warst du.

5. Kapitel

Angst war nicht das erste Gefühl, das sie verspürte, sondern die Wut darüber, nicht bemerkt zu haben, dass etwas Seltsames in der Luft lag, dass jemand hinter ihr in der Dunkelheit stand. Doch dann wurde sie vom Schrecken übermannt.

Sie fuhr zusammen, als er sie plötzlich an die Tür drückte und mit der rechten Hand von hinten ihren Mund umfasste. Die linke benutzte er, um den Schlüssel im Schloss umzudrehen.

Sie verlor beinahe das Gleichgewicht, als er die Tür öffnete und sie hineinstieß; er hielt ihren Mund immer noch fest umschlossen. Sie war sich nicht sicher, ob sie überhaupt die Kraft gehabt hätte zu schreien, um Hilfe zu rufen, selbst wenn er den Griff gelockert hätte. Der Schock saß zu tief. Er schloss die Tür behutsam. Die nächsten Sekunden lagen in tiefem Nebel, als ob sie sich in einer anderen Welt befände, sie hatte keine Energie, sich zu wehren.

Es war ihr bisher nicht gelungen, ihn anzuschauen, sie hatte keine Chance gehabt, sich umzudrehen.

Plötzlich blieb er stehen. Nichts geschah. Es schien eine Ewigkeit zu vergehen. Sie hatte das Gefühl, etwas unternehmen zu müssen, er hielt sie lediglich mit der rechten Hand, aber nicht mit der linken – sie ging im Kopf alle Möglichkeiten durch. Sie konnte ihn mit einem einzigen Schlag überraschen, einem Beintritt – sich loslösen, davonrennen, Hilfe rufen …

Doch plötzlich war alles zu spät. Sie hatte gezögert. Und in der Zwischenzeit hatte er so viel Spielraum gehabt, um ein scharfes Jagdmesser hervorzuholen.

6. Kapitel

Siglufjörður, November 2008

Der kleine, alte Tunnel war der einzige Weg in den Fjord hinein, es sei denn, die Besucher wollten den Seeweg nehmen oder über den Bergpass fahren, der im Winter ohnehin unbefahrbar war. Oder man hatte so viel Glück, jemanden zu kennen, der einen nach Siglufjörður fliegen und auf dem kleinen Flughafen landen konnte, denn es hatte seit langem keine regelmäßigen Flüge nach Reykjavík mehr gegeben.

Ari wusste, dass er in einem kleinen Dorf mit einem Auto nichts anfangen konnte, also hatte er seinen gelben Kleinwagen zu Hause bei Kristín gelassen. Sie hatte ihn nicht nach Norden begleiten können. Die Arbeit und die Schule waren schuld. Er hatte alles versucht, um sie zu überreden, sich das Wochenende freizunehmen und mit ihm nach Norden zu kommen. Es wäre ein schöner Wochenendausflug gewesen und eine gute Gelegenheit für sie beide, eine kurze Zeit in Ruhe miteinander verbringen zu können.

Kristín hatte sich noch immer nicht wirklich damit abgefunden, dass er wegzog. Auch wenn sie kaum darüber sprach, konnte er es an ihren Reaktionen spüren, wenn Siglufjörður ins Gespräch kam. Ihr Studium und seine Ausbildung waren für sie beide sehr zeitraubend, und sie arbeitete neben dem Studium ja obendrein auch noch im Krankenhaus. Es irritierte Ari, dass sie sich nicht die Zeit nahm, um mit ihm nach Norden zu fahren. Sie würden einen Monat lang getrennt sein, bis Weihnachten. Er versuchte, an etwas anderes zu denken, kam aber immer wieder zu derselben Überlegung: Welchen Platz belegte er eigentlich auf ihrer Hitliste? Den ersten Platz? Oder den zweiten, nach dem Medizinstudium? Oder vielleicht den dritten, nach Studium und Arbeit? Sie hatte ihn herzlich an sich gedrückt und ihm einen Abschiedskuss gegeben. »Mach’s gut, Liebling.« Und doch war es, als ob eine hauchdünne Wand zwischen ihnen stünde, eine unsichtbare Wand, die er spüren konnte – und sie vielleicht auch.

Tómas, der Polizeichef in Siglufjörður, hatte sich angeboten, Ari am Flughafen von Sauðarkrókur abzuholen. »Von da dauert es normalerweise eineinhalb Stunden bis nach Siglufjörður, doch die Fahrerei ist im Moment schrecklich, so dass es für uns wohl etwas länger dauern wird; falls wir überhaupt den ganzen Weg fahren können!« Er lachte herzlich ob des eigenen Galgenhumors. Ari antwortete nichts – er konnte diesen Mann nicht wirklich einschätzen.

Tómas war offensichtlich weit über fünfzig. Sein Äußeres wirkte sehr sympathisch, seine Haare waren bereits schlohweiß – oder das, was davon noch übrig war auf der Mitte des Hauptes. Er redete unterwegs nur wenig, saß konzentriert am Steuer, obwohl er diese Straße sicher schon unzählige Male gefahren war.

»Bist du hier im Norden geboren?«, fragte Ari.

»Geboren, aufgewachsen – und ich werde niemals irgendwo anders hingehen«, antwortete Tómas.

»Wie nehmen die Leute neu Hinzugezogene auf?«

»Tja … ganz gut, wie es halt so ist, du musst dich einfach beweisen – einige werden dich gut aufnehmen, andere nicht. Ich kann dir aber bereits verraten, dass die meisten im Dorf über dich Bescheid wissen und sehr gespannt sind, dich kennenzulernen.« Er zögerte und fügte dann hinzu: »Der alte Eiki, der jetzt aufhört und von dem du den Posten übernimmst, ist 1964 in den Norden gekommen, wenn ich mich richtig erinnere, und wohnt seitdem hier. Aber für uns ist er immer noch ein Zugezogener!«

Er lachte. Ari nicht.

Hatte er die richtige Entscheidung getroffen? Aufs Land zu ziehen, in eine kleine Gemeinde, in der er vielleicht nie einer von ihnen sein würde?

Die Strecke, die sie im letzten Abschnitt vor dem Tunnel zurücklegten, war anders als die meisten Wegabschnitte, die Ari je gesehen hatte. Sie fuhren einen Berghang entlang, wobei der Wagen auf der Straße nur wenig bis gar keinen Platz hatte, rechter Hand standen die schneeweißen Berge, prachtvoll und angsteinflößend zugleich, linker Hand ging es beängstigend steil direkt in den aufgewühlten Fjord hinunter. Ein kleiner Fehler oder ein unerwarteter Flecken Glatteis – und man hätte sich das weitere Szenario unschwer vorstellen können. Vielleicht war es Glück im Unglück, dass Kristín nicht mitgefahren war – er hätte sich ganz bestimmt Sorgen um sie gemacht, auf der Rückfahrt und so alleine unterwegs.

Er spürte, wie die Unzufriedenheit in ihm schwärte, sobald er an Kristín dachte. Warum hatte sie sich nicht freigenommen und war mit ihm gekommen? War das zu viel verlangt?

Er atmete auf, als sie schließlich den Tunnel erreichten, sie hatten es also heil bis dorthin geschafft. Es wurde allerdings eine kurze Freude. Er hatte einen modernen, beleuchteten, breiten Tunnel erwartet, aber der Tunnel, der sich vor ihnen auftat, hatte etwas Düsteres an sich. Er war einspurig und schmal, und man sah ihm deutlich an, dass ungefähr vierzig Jahre vergangen waren, seit er gebaut worden war. Von der Decke tropfte hier und dort Wasser, was das Ganze noch schlimmer machte. Ari empfand plötzlich ein Gefühl, von dem er sich nicht erinnern konnte, es jemals verspürt zu haben – Platzangst.

Er schloss die Augen, versuchte, es von sich zu schütteln.

Er wollte seine Bekanntschaft mit dem Dorf nicht auf diese Weise beginnen. Zwei Jahre lang sollte er dort leben, vielleicht sogar länger. Er war schon oft durch Tunnel gefahren, ohne dieses unangenehme Gefühl verspürt zu haben. War es vielleicht der Gedanke an diesen abgelegenen Fjord, der ihn dermaßen beeinflusste, und nicht der Tunnel selbst?

Er öffnete die Augen, und genau in diesem Augenblick fuhren sie im Tunnel aus einer Kurve heraus, und das Ende wurde sichtbar, der Ausgang. Sein Herz schlug wieder ruhiger, als Tómas sagte: »Willkommen in Siglufjörður, Meister.«

Die Dunkelheit lastete über dem Dorf, als sie in den Fjord hineinfuhren.

Die Häuser mit ihren bunten Dächern waren in dieser Dunkelheit wie von einem Schleier überzogen, eine leichte Schneeschicht lag über den Gärten und Grashängen.

Vereinzelt blinzelte ein Halm unter dem Schnee hervor, als weigerte er sich, den Winter willkommen zu heißen.

Die Berge so hoch, so überwältigend.

»Ob es wohl einen harten Winter geben wird?«, fragte Ari scheinbar wie aus dem Nichts, als ob er eine Bestätigung dafür brauchte, dass etwas Erfreuliches vor ihm lag. Aber irgendwie war es ein ungewöhnlich bedrückender Tag.

Tómas lachte über den jungen Neuzugang neben ihm und antwortete mit seiner tiefen Bassstimme: »Der Winter in Siglufjörður ist immer hart.«

Nur wenige Menschen waren unterwegs, und es gab kaum Verkehr. Es war kurz vor zwölf Uhr, und Ari nahm an, dass das Leben erst nach Mittag so richtig in Gang kommen würde.

»Es ist wirklich ruhig hier«, sagte er, um das Schweigen zu brechen. »Der Zusammenbruch der Banken scheint hier noch nicht angekommen zu sein, so wie anderswo.«

»Zusammenbruch der Banken? Sagt mir nichts. Die Bankenkrise bleibt in Reykjavík, sie kommt nicht bis hierher in den Norden – zu weit weg, Meister«, sagte Tómas und fuhr mitten im Dorf auf den Rathausplatz. »Die goldenen Jahre sind hier in Siglufjörður spurlos an uns vorübergezogen, was soll uns also dieser Kollaps angehen.«

»Genauso geht es mir auch«, antwortete Ari. »Bei uns Studenten konnte man in den letzten Jahren wirklich nicht von goldenen Jahren sprechen.«

»Unsere Krisen kommen vom Meer«, fuhr Tómas fort. »Früher boomte es hier geradezu, bevor der Hering im wahrsten Sinne des Wortes verschwand. Heute wohnen hier viel weniger Menschen als damals, gerade mal tausenddreihundert Seelen.«

»Hier wird wohl kaum jemand wegen zu schnellen Fahrens erwischt werden, es ist ja kaum ein einziges Auto auf der Straße«, bemerkte Ari.

»Pass mal auf«, Tómas setzte eine geheimnisvolle Miene auf, »unser Job ist es nicht, so viele wie möglich zu bestrafen. Im Gegenteil – das hier ist eine kleine Gemeinschaft, und wir Polizisten sind so viel mehr als nur die Polizisten vom Ort, ja, es geht hier eigentlich darum, die Leute eben nicht zu bestrafen! Du wirst schnell erkennen, dass wir hier etwas anders arbeiten als die da unten im Süden, hier ist die Nähe viel größer. Du wirst es dann schon lernen, Meister, mach dir keine Sorgen.«

Tómas fuhr die Aðalgata, die Hauptstraße, hinunter, die ihren Namen mit Recht trug, zumal dort ein kleines Restaurant und verschiedene Geschäfte zwischen alten, schmucken Häusern standen, die anscheinend immer noch als Wohnhäuser genutzt wurden. »Dein Haus befindet sich dort hinten, etwas weiter links in der Eyrargata.« Tómas deutete zur Seite, ohne aber selber in diese Richtung zu blicken. »Ich werde gerade mal bei der Wache vorbeifahren, damit du einen kleinen Überblick bekommst.« Tómas bog zuerst nach links und dann nach rechts ab, in die Gránugata, die parallel zur Aðalgata lag. Er verlangsamte die Fahrt.

»Möchtest du jetzt reinschauen oder zuerst nach Hause fahren?« Seine Stimme war freundlich.

Nach Hause?