Reykjavík - Ragnar Jónasson - E-Book

Reykjavík E-Book

Ragnar Jónasson

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Beschreibung

Im August 1956 verschwindet die fünfzehnjährige Lára. Sie hat in ihren Sommerferien als Haushaltshilfe auf einer beschaulichen Insel südlich von Reykjavík gearbeitet ― bis sie eines Tages wie vom Erdboden verschluckt ist. Das tragische Ereignis wird zu Islands berühmtestem ungelösten Fall. Dreißig Jahre später geht der Journalist Valur kurz vor dem brisanten Gipfel zwischen Ronald Reagan und Michail Gorbatschow in Reykjavík einer neuen Spur im Fall Lára nach und riskiert damit sein Leben. Denn wenn Lára vor 30 Jahren Opfer eines Gewaltverbrechens wurde, dann hätte der Mörder gerade jetzt genug Gründe, erneut zuzuschlagen …

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Buch

Im August 1956 verschwindet die fünfzehnjährige Lára. Sie hat in ihren Sommerferien als Haushaltshilfe auf einer beschaulichen Insel vor Reykjavík gearbeitet  – bis sie eines Tages wie vom Erdboden verschluckt ist. Das tragische Ereignis wird zu Islands berühmtestem ungelösten Fall. Dreißig Jahre später geht der Journalist Valur kurz vor dem brisanten Gipfel zwischen Ronald Reagan und Michail Gorbatschow in Reykjavík einer neuen Spur im Fall Lára nach und riskiert damit sein Leben. Denn wenn Lára vor 30 Jahren Opfer eines Gewaltverbrechens wurde, dann hätte der Mörder gerade jetzt, wo der Cold Case neu aufgerollt wird, genug Gründe, noch mal zuzuschlagen …

Autoren

Ragnar Jónasson, 1976 in Reykjavík geboren, ist Mitglied der britischen Crime Writers‘ Association und Mitbegründer des »Iceland Noir«, Reykjavíks internationalem Krimifestival. Seine Bücher, darunter die preisgekrönte »Hulda-Trilogie«, werden in 21 Sprachen in über 30 Ländern veröffentlicht. Er lebt und arbeitet als Schriftsteller und Investmentbanker in Reykjavík und unterrichtet dort an der Universität außerdem Rechtswissenschaften.

Katrín Jakobsdóttir, 1976 geboren, ist seit 2017 Premierministerin Islands und war zuvor mehrere Jahre Bildungsministerin. Sie hat Isländische Literatur studiert und ihre Masterarbeit über den Krimiautor Arnaldur Indriðason geschrieben. Ragnar Jónasson und Katrín Jakobsdóttir sind seit langem befreundet und saßen vor fast 10 Jahren gemeinsam in einer Jury für einen Krimipreis. »Reykjavík« ist ihr erster gemeinsamer Roman, der zum Nr.-1-Bestseller in Island wurde.

Ragnar Jónasson Katrín Jakobsdóttir

Reykjavík

Thriller

Aus dem Englischen von Andreas Jäger

Die isländische Originalausgabe erschien 2022 unter dem

Titel Reykjavík im Verlag Veröld, Reykjavík.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung.Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oderöffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright der Originalausgabe © Ragnar Jónasson & Katrín Jakobsdóttir 2022

Published by agreement with Copenhagen Literary Agency ApS, Copenhagen

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2023 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Based on the English translation Reykjavík, Copyright © Victoria Cribb, published in Great Britain by Michael Joseph 2023

Covergestaltung: semper smile, München, nach einem Entwurf von Ragnar Helgi Ólafsson unter Verwendung von Motiven © Trevillion Images /Silas Manhood

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-30751-6V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/penguinbuecher

Dieses Buch ist Agatha Christie gewidmet, die in uns beiden die Begeisterung für Kriminalromane weckte.

Die wichtigsten Personen

Lára Marteinsdóttir

1941–?

Valur Róbertsson

Journalist bei der Zeitung Vikublaðið

Sunna Róbertsdóttir

Literaturstudentin, Valurs Schwester

Margrét Thorarensen

Politikstudentin, Valurs Freundin

Jökull Thorarensen

Rechtsanwalt, Margréts Vater, ehemaliger Justizminister

Nanna Thorarensen

Rechtsanwältin, Margréts Mutter

Gunnar Gunnarsson

Theologiestudent, Freund von Valur und Sunna

Katrín Guðjónsdóttir

Margréts Freundin, arbeitet beim Statistikamt

Kamilla Einarsdóttir

Sunnas Vermieterin

Kristján Kristjánsson

Polizist

Guðrún Reykdal

Kristjáns Frau

Snorri Egilsson

Polizist

Dagbjartur Steinsson

Herausgeber und Chefredakteur des Vikublaðið

Laufey Karlsdóttir

Dagbjarturs Ehefrau

Baldur Matthíasson

Journalist beim Vikublaðið

Sverrir und Kiddi

Mitarbeiter des Vikublaðið

Óttar Óskarsson

einflussreicher Rechtsanwalt, der Lára als Haushaltshilfe einstellte

Ólöf Blöndal

Óttars Ehefrau

Þórdís Alexandersdóttir

Schauspielerin

Finnur Stephensen

Großhändler, Þórdís’ Ehemann

Páll Jóhannesson

Stadtrat

Gunnlaug Haraldsdóttir

Pálls Ehefrau

Elísabet Eyjólfsdóttir

Pálls Sekretärin

Högni Eyfjörð

Bauunternehmer

Marteinn und Emma

Lára Marteinsdóttirs Eltern

Hinweise zur Aussprache der isländischen Namen auf Seite  350/351.

Erster Teil

1956

6. August

Der graue Hut flog aufs Meer hinaus.

Kristján war aus der kleinen Kabine ins Freie getreten, um den Blick über die Faxaflói-Bucht zu genießen und die Insel näher kommen zu sehen, eine kleine grüne Erhebung vor dem Hintergrund der Berge. Als die Windbö den kleinen Fischkutter traf, hatte er schnell reagiert, aber nicht schnell genug, sodass er anstatt seines Huts nur Luft zu fassen bekam. Obwohl er es nie offen ausgesprochen hätte, fand er, dass es Schlimmeres gab als diesen Verlust – der Hut, ein Weihnachtsgeschenk von seiner Verlobten, hatte eigentlich nicht so richtig zu ihm gepasst. Jetzt hatte er einen Vorwand, sich einen neuen zu kaufen.

Zwar würde er nun seinen Besuch auf Viðey, der Insel direkt vor der Küste bei Reykjavík, ohne Kopfbedeckung absolvieren müssen. Aber was machte das schon, wenn das Ganze ohnehin wahrscheinlich reine Zeitverschwendung war? Kristján war noch keine dreißig und wurde normalerweise nicht mit irgendwelchen wichtigen Aufgaben betraut, aber an diesem langen Augustwochenende – am Montag war Kaufmannstag, ein Feiertag – war sein Vorgesetzter verreist.

Hier auf dem Boot allerdings, unter dem bedeckten Himmel und ohne Schutz vor dem böigen Wind, hatte man das Gefühl, dass der kurze isländische Sommer schon vorbei war. Da es keine regelmäßige Fährverbindung zur Insel gab, hatte Kristján improvisieren und einen Bekannten, einen alten Fischer, bitten müssen, ihn überzusetzen.

»Wir sind schon fast da«, rief der Bootsführer jetzt mit heiserer Stimme vom Ruderhaus.

Kristján nickte, obwohl es niemand sehen konnte, und schloss noch einen weiteren Knopf an seiner Jacke, um sich vor der Kälte zu schützen. Immerhin brachte der Ausflug einen Tapetenwechsel, dachte er, bemüht, die Sache positiv zu sehen – auch wenn sonst nichts dabei herauskommen würde.

Eine Frau von schätzungsweise Anfang dreißig erwartete ihn am Anleger. Kristján hatte den Fischer gebeten, ihn in anderthalb Stunden wieder abzuholen. Nach der Rückkehr nach Reykjavík wäre dann der ganze Vormittag für diesen Besuch draufgegangen.

Die Frau streckte die Hand aus. »Ich bin Ólöf Blöndal. Willkommen auf Viðey.« Ihre Miene war ernst, und sie lächelte nicht.

»Freut mich, Sie kennenzulernen. Ich heiße Kristján«, erwiderte er. Etwas an Ólöfs Art war ein bisschen seltsam, dachte er. Sie wirkte, als ob sie etwas zu verbergen hätte, und zugleich hätte er schwören können, dass sie erleichtert war, ihn zu sehen.

»Hier entlang«, sagte sie zaghaft und ging voran über den grasbewachsenen Hang hinter dem Anleger. Er folgte ihr, schaute auf ihre kurzen roten Haare und ihren dicken Wollpullover.

Zwei auffällige weiße Gebäude mit roten Dächern tauchten zwischen den beiden grünen Hügeln der Insel auf: das alte Gutshaus aus der dänischen Kolonialzeit und daneben die kleine Kirche. Als sie näher kamen, fiel Kristján auf, wie verfallen sie wirkten – die Farbe blätterte von Wänden und Fensterrahmen ab. Dahinter sah er ein paar baufällige Nebengebäude, eines davon wohl ein ehemaliger Kuhstall, Überbleibsel aus der Zeit, als hier noch ein Bauernhof gewesen war. Auf halbem Weg blieb Ólöf stehen, drehte sich um und sagte: »Dort gehen wir allerdings nicht hin. Mein Mann ist zu Hause – wir wohnen ganz in der Nähe.«

Kristján nickte. »Ist es denn nicht …«

Sie unterbrach ihn. »Wir haben die Schlüssel zum Gutshaus, aber dort wohnt niemand. Es ist ein bisschen verwahrlost, aber eigentlich noch relativ gut in Schuss für so ein altes Haus. Wussten Sie, dass es zweihundert Jahre alt ist? Das älteste Steingebäude in Island.«

»Dieses Mädchen – Lára …«

Wieder fiel sie ihm ins Wort. »Sie sprechen am besten mit meinem Mann.«

Kristján stapfte neben ihr her, und eine Weile schwiegen beide. Auf der Insel wehte ein böiger Wind, doch es war hier wärmer als während der Überfahrt. Nachdem sie ein paar Minuten gegangen waren, fragte er: »Entschuldigen Sie, aber Sie sagten, dass Sie hier wohnen, Sie und Ihr Mann?«

»Wir sind im Frühling hergezogen, in ein Haus, das meiner Familie gehört. Den letzten Sommer haben wir auch hier verbracht. Es ist …« Sie hielt inne. »Es ist einfach einmalig.«

Kristján bezweifelte es nicht. Die Insel war gewiss ein idyllisches Fleckchen, die grünen Wiesen eingefasst vom blauen Wasser der Bucht, mit dem Bergmassiv des Esja im Hintergrund. Und doch fehlte es Ólöfs Worten in seinen Ohren an Überzeugung.

Ein wenig verlegen fuhr sie fort: »Es ist nicht mehr weit bis zu unserem Haus. Es liegt ungefähr auf halbem Weg zwischen dem Gutshaus und der alten Schule.«

Während sie weitergingen, ließ er seinen Gedanken freien Lauf. Er war gerne an der frischen Luft, und er hätte diesen Spätsommertag eigentlich lieber ganz anders verbracht. Vor ein paar Jahren hatten er und ein paar alte Freunde das Bergsteigen entdeckt, inspiriert durch die Nachricht von der Erstbesteigung des Mount Everest durch Edmund Hillary und Tenzing Norgay im Jahr 1953. Zwar wagte Kristján nicht zu hoffen, jemals selbst solche Höhen zu erklimmen, doch er machte gute Fortschritte. Erst vor wenigen Tagen gab es die Meldung, dass der Hraundrangi im nordisländischen Öxnadalur zum ersten Mal bestiegen worden war. Kristján kannte die beiden Isländer, die den Gipfel zusammen mit einem Amerikaner erreicht hatten. Was hätte er darum gegeben, jetzt dort zu sein statt auf den sanften Hügeln von Viðey.

Aber so leicht das Terrain auch zu begehen war, er gab auf der unebenen Wiese dennoch acht, wohin er trat. Er dachte an seine Mutter, die sich oft darüber lustig machte, dass isländische Männer immer so gingen, als müssten sie über Grasbüschel steigen, auch wenn der Boden bretteben war. Sein Hauptaugenmerk lag darauf, die Insel ohne verrenkten oder verstauchten Knöchel zu verlassen – und auch nicht mit einem verdreckten Anzug. Er besaß drei Anzüge: Der hellgraue, den er heute trug, war der neueste; der Nadelstreifenanzug wirkte inzwischen schon leicht verschlissen, und den schwarzen hob er sich hauptsächlich für feierliche Anlässe wie Beerdigungen auf.

Ein altes Holzhaus tauchte vor ihnen auf. Es hatte offensichtlich seine besten Zeiten hinter sich, und die schwarze Farbe blätterte an mehreren Stellen ab. In diesem Moment schoss eine Küstenseeschwalbe zu ihm herunter, und Kristján wollte nach seinem Hut greifen, um den Vogel abzuwehren – ehe ihm mit Verspätung einfiel, dass der ja nun irgendwo in der Faxaflói-Bucht umhertrieb.

»Keine Sorge«, sagte Ólöf. »Die Brutsaison ist vorbei, sie wird Sie nicht angreifen.« Ihr Tonfall war jetzt ein wenig unbeschwerter, als ob sie in diesem Moment ganz vergessen hätte, dass ihr Begleiter ein Polizist im Dienst war.

Ihr Mann kam nicht heraus, um sie zu begrüßen. Das fiel Kristján auf, und er fragte sich, warum Ólöf geschickt worden war, um ihn vom Boot abzuholen. Hatten die beiden das einfach so unter sich geregelt, oder steckte vielleicht mehr dahinter?

»Kommen Sie rein«, sagte Ólöf ein wenig schroff, als sie das Haus erreichten.

Kristján betrat einen Hausflur, der sich als Teil des Wohnzimmers herausstellte. Es war warm im Haus, fast unangenehm heiß für die Jahreszeit.

»Óttar?«, rief Ólöf. »Óttar, er ist da.«

Kristján hörte ein Geräusch im Obergeschoss, dann hallten schwere Schritte durch das alte Holzhaus. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, ging Ólöf weiter ins Zimmer hinein, rückte einen Stuhl an einem großen Eichentisch zurecht und bedeutete Kristján, Platz zu nehmen.

Er folgte der Aufforderung und wartete. Sie setzte sich ebenfalls.

»Guten Morgen«, sagte der Mann, der die Treppe heruntergekommen war. »Ich bin Óttar. Sie sind Kristján, nehme ich an?«

»Ja, richtig. Vielen Dank, dass Sie sich zu dem Treffen bereit erklärt haben. Ich konnte es am Telefon nur kurz erklären, aber die Sache ist die: Wir machen uns Sorgen um Lára.«

»Sie hat beschlossen zu gehen«, antwortete Óttar tonlos. »Sie hat ihre Stellung hier aufgegeben. Ich weiß nicht, warum. Wir waren zu Beginn des Sommers so zufrieden mit ihr – sie machte einen fleißigen und gewissenhaften Eindruck. Nun ja, die Jugend von heute …« Sein Gesicht verriet während seiner Rede keine Regung. Kristján schaute zu Ólöf, die den Blick gesenkt hatte.

»Wie alt ist sie noch mal?«, fragte Kristján, obwohl er die Antwort bereits kannte.

»Fünfzehn«, sagte Ólöf leise.

»Fünfzehn«, wiederholte Kristján. »Und sie hat beschlossen, nach Reykjavík zurückzugehen, sagen Sie? Zu ihren Eltern?«

»Ja«, antwortete Óttar.

»Wann war das?«

»Am Freitag. Freitagmorgen. Ich habe natürlich Einspruch erhoben. Wir hatten eine Vereinbarung, dass sie den ganzen Sommer als Haushaltshilfe bei uns bleiben würde, aber es war nicht möglich, sie zur Vernunft zu bringen.«

Kristján sah wieder zu Ólöf. Sie saß regungslos da und fixierte ihre Hände.

»Wie ich bereits am Telefon erwähnte, hat sie in Reykjavík niemand gesehen oder von ihr gehört …« Kristján ließ die Worte in der Luft hängen, während er die Reaktionen des Paares beobachtete. Ólöf sah nicht auf, Óttars Miene blieb unbewegt.

»Vielleicht hätte ich es anders ausdrücken sollen: Haben Sie Lára am Freitag abreisen sehen?«

»Wir können den Anleger von hier aus nicht sehen«, antwortete Óttar. »Und es war ja wohl kaum meine Aufgabe, das Mädchen dorthin zu bringen. Wenn jemand gehen will, ist das seine eigene Angelegenheit, wenn Sie mich fragen.«

»Was ist mit Ihnen, Ólöf? Haben Sie Lára abreisen sehen?«

Ólöf schüttelte den Kopf. »Ich habe nichts gesehen.« Ihr Worte klangen ein wenig hohl.

»Wie wollte sie zurück in die Stadt kommen?«

»Ich habe absolut keine Ahnung. Sie sagte, jemand würde sie abholen – irgendein Bekannter oder Verwandter, nehme ich an. Ich behalte den Bootsverkehr nicht ständig im Auge.«

»Haben Sie ein eigenes Boot?«, fragte Kristján.

»Ja, selbstverständlich«, antwortete Óttar. »Aber das Mädchen hat nicht darum gebeten, übergesetzt zu werden, und ich war offen gestanden nicht geneigt, es ihr anzubieten, nachdem sie uns solche Unannehmlichkeiten bereitet hatte. Und im Übrigen hatte sie mir, wie bereits erwähnt, erklärt, sie habe schon ihre eigenen Vorkehrungen getroffen.«

»Sind Sie sicher, dass sie abgereist ist?«

»Was ist denn das für eine Frage?«, brauste Óttar auf. »Natürlich sind wir sicher. Sie hat sich verabschiedet, und wir haben sie seitdem nicht mehr gesehen.«

Kristján sah Ólöf an und wartete darauf, dass sie antwortete. Sie schwieg zunächst, dann sagte sie: »Ja, sie ist ganz bestimmt weg. Sie hat ihre Sachen mitgenommen.«

»Ihre Eltern haben regelmäßig von ihr gehört«, sagte Kristján, »und als sie am Wochenende nicht anrief, begannen sie sich Sorgen zu machen. Haben sie sich nicht bei Ihnen gemeldet?«

»Doch, das haben sie«, erwiderte Óttar. »Und ich habe ihnen das Gleiche gesagt wie jetzt Ihnen. Ich verstehe einfach nicht, warum Sie sich die Mühe gemacht haben, eigens hier rauszufahren. Wir hätten Ihre Fragen alle am Telefon beantworten können. Sie sehen doch selbst, dass das Mädchen nicht mehr da ist.«

»Ich muss noch einen Rundgang über die Insel machen, um mir in dem Punkt Gewissheit zu verschaffen. Viðey ist recht groß, nicht wahr?«

»Drei Kilometer lang«, sagte Óttar.

»Die größte Insel in der Bucht«, ergänzte Ólöf.

»Und ich nehme an, dass es viele Stellen gibt, wo man sich verstecken kann?«

»Nun ja«, sagte Ólöf, »da wären natürlich unser Haus und das Gutshaus. Und die Kirche. Und auch die alte Schule. Und …«

»Ich glaube, es ist nicht nötig, dass wir sämtliche Gebäude auf der Insel aufzählen, Ólöf«, ging Óttar dazwischen. »Lass doch dem Mann seinen Willen, wenn er sich verpflichtet fühlt, auf Nummer sicher zu gehen. Obwohl ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann, wieso er denkt, dass Lára sich das ganze Wochenende lang auf der Insel versteckt haben könnte.«

»Wie hat sie gewirkt?«, fragte Kristján.

»Wie meinen Sie das?«, gab Óttar zurück.

»War sie niedergeschlagen? Gibt es irgendeinen Grund zu der Annahme, dass sie etwas zu verbergen hatte? Dass sie Ihnen etwas verschwieg?«

Óttar machte den Mund auf, um zu antworten, dann schien er es sich anders zu überlegen. Nach einer längeren Pause sagte er: »Dem Mädchen fehlte nichts. Es war ihr einfach langweilig geworden mit uns hier. Wir können froh sein, sie los zu sein, sage ich. Nächsten Sommer werden wir unsere Haushaltshilfe sorgfältiger auswählen.«

»Ich verstehe. Aber sie ist jedenfalls nicht bei ihren Eltern angekommen. Und das wirft nun einmal Fragen auf. Natürlich ist es durchaus möglich, dass sie am Freitag dieses Haus verlassen hat und …«

»Möglich?«, unterbrach ihn Óttar. »Ich sage Ihnen, sie ist gegangen, und was immer danach passiert sein mag, hat nichts mit uns zu tun. Es hat keine Meldungen über ein gesunkenes Boot gegeben, also liegt es auf der Hand, dass sie irgendwo sein muss.«

»Genau, ich bin mir sicher, dass wir davon gehört hätten, wenn etwas Derartiges passiert wäre«, sagte Kristján. »Das Problem ist, dass auch keine Meldungen über irgendwelche Boote vorliegen, die am Freitag nach Viðey rausgefahren sind, obwohl das nicht ausschließt, dass jemand gekommen sein könnte, um sie abzuholen. Hat sie hier bei Ihnen im Haus gewohnt?«

»Wo hätte sie denn sonst wohnen sollen?«, fragte Óttar ungehalten.

»Könnte ich ihr Zimmer sehen?«

Óttar zuckte mit den Schultern. »Es ist oben. Aber da gibt es nichts zu sehen.« Er machte keine Anstalten, sich von der Stelle zu rühren, aber Ólöf stand auf.

»Ich bringe Sie rauf«, sagte sie in etwas freundlicherem Ton als ihr Mann.

In dem alten Holzhaus knarrte jede einzelne Stufe. Das Gästezimmer war klein, aber recht gemütlich, mit schräger Decke, einem Bücherregal und einer Dachgaube mit Blick aufs Meer.

»Hat sie die Bücher mitgebracht?«, fragte Kristján.

»O nein, das sind unsere. Wir stellen in alle Zimmer Bücher. Das schafft eine angenehme Atmosphäre. Mein Mann sammelt sie. Er ist Rechtsanwalt, wie Sie wahrscheinlich wissen. Ein recht bekannter sogar.«

Kristján war der Name tatsächlich vertraut. Er nickte.

»Óttar wollte seine Anwaltstätigkeit etwas reduzieren und sich eine Weile der wissenschaftlichen Arbeit widmen. Wir möchten versuchen, künftig jeden Sommer mehr oder weniger hier zu leben. Es ist gut, in der Nähe von …« Sie verstummte und wandte den Blick ab.

»Hat sie alle ihre Habseligkeiten mitgenommen?«, fragte Kristján.

»Ja, alle«, antwortete Ólöf. »Hier ist nichts mehr.«

»Hat sie irgendetwas zu Ihnen gesagt?«

»Bitte?«

»Ich meine Lára. Vor ihrer Abreise?«

»Was meinen Sie?«

»Wie hat sie ihre Entscheidung erklärt?«

Ólöf zögerte. »Sie hat nichts erklärt«, sagte sie schließlich. »Sie … äh … sie ist einfach gegangen.«

»Sie muss doch irgendetwas gesagt haben, bevor sie ging. Ihr Mann sagte, sie habe verkündet, dass sie aufhören will.«

»Ach so, ja, entschuldigen Sie. So habe ich das nicht gemeint. Sie sagte lediglich, dass sie ihre Stellung vorzeitig aufgeben wollte. Sie hat uns um Erlaubnis gebeten. Wir haben sie ihr natürlich erteilt, aber wir waren nicht glücklich darüber.«

»Machen Sie sich denn keine Sorgen um sie?«

»Sorgen? Äh … nein, wir haben ja gerade erst erfahren, dass sie nicht zu Hause angekommen ist. Aber ich bin sicher, dass sie wohlauf ist.«

»Wollen wir es hoffen.«

»Gehen wir wieder nach unten?«

Kristján nickte und folgte Ólöf die schmale, knarrende Treppe hinunter.

Als sie wieder das Wohnzimmer betraten, war Óttar nirgends zu sehen. Kristján sah sich um und zuckte zusammen, als Óttar plötzlich hinter ihm hustete. Er fuhr herum, und sein Herz schlug unangenehm schnell.

»Sie werden am Telefon verlangt.«

»Was?«, fragte Kristján erstaunt.

»Telefon. Für Sie«, wiederholte Óttar, als ob es die normalste Sache der Welt wäre. »Hier drüben – in meinem Arbeitszimmer.«

»Oh.« Verdutzt folgte Kristján Óttar in das mit Büchern vollgestellte Zimmer. Sein Blick fiel auf ein Regal mit gebundenen Ausgaben von Urteilen des Obersten Gerichtshofs. Auf dem Schreibtisch sah er ein schwarzes Telefon, der Hörer lag daneben. Es roch hier merklich nach Schimmel. Anscheinend war das Haus innen genauso marode, wie es von außen gewirkt hatte.

»Wer will mich sprechen?«, fragte Kristján.

»Jemand von der Polizei natürlich«, antwortete Óttar.

Kristján nahm den Hörer ans Ohr. Nervös trat er von einem Fuß auf den anderen, wobei ihm auffiel, dass die Bodendielen ein hohles Dröhnen von sich gaben. Darunter musste ein feuchter Keller sein. In so einer alten Holzhütte würde ich nicht wohnen wollen, dachte er.

»Kristján Kristjánsson am Apparat«, sagte er in den Hörer.

»Kristján, hallo. Hier ist Eiríkur.« Eiríkur stand in der Polizeihierarchie zwei Stufen über ihm und war der Chef seines Chefs.

»Hallo …«, erwiderte er zögerlich.

»Óttar hat mich angerufen. Er hätte gerne eine Erklärung für die ziemlich merkwürdigen Fragen, die Sie ihm und seiner Frau gestellt haben.«

»Das waren reine Routinefragen. Ich untersuche einen Vermisstenfall – es geht um ein fünfzehnjähriges Mädchen, das seit Tagen spurlos verschwunden ist …«

»Mit anderen Worten: ein Mädchen, das von zu Hause weggelaufen ist?«

»Nun ja, das können wir nicht mit Sicherheit sagen. Sie hat hier auf Viðey als Haushaltshilfe gearbeitet. Ihre Eltern machen sich Sor…« Er konnte den Satz nicht zu Ende bringen.

»Es gibt keinen Grund, Óttar und Ólöf wegen dieser Sache Unannehmlichkeiten zu bereiten. Sie sind extra deswegen auf die Insel gefahren?«

Kristján hätte gerne protestiert und Erklärungen geliefert, doch er dachte sich, dass es vermutlich nichts bringen würde. »Ich wollte ohnehin gerade wieder aufbrechen. Ich bin schon mit allem fertig.«

»Sehr gut. Grüßen Sie Óttar von mir, ja? Und auch Ólöf Blöndal, seien Sie so nett.« Eiríkur hängte auf.

Kristján legte den Hörer behutsam auf die Gabel und versuchte den Anschein zu erwecken, dass alles in Ordnung sei.

»Nichts Dringendes«, sagte er zu Óttar.

Ólöf stand im Wohnzimmer, als sie aus dem Arbeitszimmer kamen.

»Nun, ich denke, das war vorläufig alles. Es sei denn, Ihnen ist noch etwas eingefallen.« Kristján sah die beiden abwechselnd an.

»Nein, nichts weiter.«

»Dann können wir nur hoffen, dass das Mädchen wieder auftaucht«, sagte Kristján.

Erneut antwortete Óttar für beide: »Das wird sie bestimmt. Und ich gehe davon aus, dass wir keine weiteren Besuche dieser Art bekommen werden.«

»Nur eine Sache noch«, sagte Kristján: »Das Boot, das mich abholt, wird noch eine Weile auf sich warten lassen. Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich bis dahin noch einen Spaziergang über die Insel mache?«

»Tun Sie sich keinen Zwang an«, sagte Óttar, »die Insel gehört uns nicht.«

»Dann werde ich mir jetzt ein wenig die Beine vertreten. Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben.«

Kristján machte sich auf den Weg zum alten Schulhaus, das Ólöf erwähnt hatte. Es stand am Ostende der Insel und war das einzige Überbleibsel eines Dorfs, das während des Zweiten Weltkriegs verlassen worden war. Während er den grasbewachsenen Weg entlangging, wurde ihm bewusst, wie einsam es hier war. Im Mittelalter war Viðey der Sitz eines reichen Klosters gewesen, später hatten hier Statthalter residiert, aber heutzutage waren die einzigen Bewohner neben Óttar und Ólöf die Seevögel, deren Kreischen vom Strand herüberwehte.

Kristján war länger unterwegs, als er gedacht hatte. Als er das Schulhaus, einen zweistöckigen Holzbau, endlich erreichte, fand er es natürlich leer, und nichts deutete darauf hin, dass Lára je dort gewesen war. Er lief zurück zu der Stelle, wo er an Land gesetzt worden war, und machte nur einmal kurz halt, um an der Tür des Steinhauses aus dem achtzehnten Jahrhundert zu rütteln, die jedoch verschlossen war. Er erinnerte sich, dass Ólöf gesagt hatte, sie besäßen einen Schlüssel, doch es widerstrebte ihm, das Paar noch einmal zu stören und zu fragen, ob er ihn sich ausleihen könne.

Er überlegte, was er als Nächstes tun sollte. Viðey wurde durch eine kleine Landenge zweigeteilt, und Kristján spielte mit dem Gedanken, sie zu überqueren, um den Nordteil zu erkunden, doch ihm wurde schnell klar, dass die Zeit dafür nicht reichte.

Um das Boot nicht warten zu lassen, marschierte er mit zügigen Schritten zum Anleger zurück. Über den schmalen Sund hinweg hatte man einen prächtigen Blick auf Reykjavík, das sich unaufhaltsam zur Großstadt entwickelte. Überall schossen neue Siedlungen wie Pilze aus dem Boden, und oben auf dem Hügel begann das ehrgeizige Projekt der modernen Kirche Gestalt anzunehmen.

Letztendlich kam er dann doch zu früh am Landungssteg an. Das Boot war noch nicht da, was ihm die Gelegenheit gab, noch einmal zurückzugehen und einen kurzen Blick in die kleine Kirche der Insel zu werfen, von der er vermutete, dass sie nicht verschlossen war. Obwohl er sich ziemlich sicher war, dass er das vermisste Mädchen dort nicht finden würde, wollte er sich dennoch mit eigenen Augen davon überzeugen.

Die Kirche war wirklich sehr klein, und die Luft roch abgestanden, doch das Interieur war überraschend reizvoll, mit einer ungewöhnlich hohen, blau und grün gestrichenen Kanzel und ebenso farbenfrohen Bänken. Kristján kam der Gedanke, dass dies kein schlechter Ort wäre, um Guðrún zu heiraten, auch wenn es bestimmt recht umständlich sein würde, die Hochzeitsgäste mit Booten hin- und zurückzubringen. Er würde es als Möglichkeit im Kopf behalten. Er und Guðrún waren jetzt ein halbes Jahr verlobt und fingen allmählich an, sich über ihre Zukunft Gedanken zu machen, übers Heiraten und Kinderkriegen. Sie wohnten im Westen von Reykjavík, wo Guðrún seit Kurzem in einem Lebensmittelgeschäft arbeitete. Ja, eines schönen Tages würden sie vielleicht wirklich hier vor dem Altar stehen …

In der kleinen Kirche gab es nicht viele Stellen, wo man sich hätte verstecken können, und aus dem muffigen Geruch schloss er, dass die Tür schon länger nicht mehr geöffnet worden war. Nachdem er hinter der Kanzel und unter den Bänken nachgesehen hatte, trat er wieder ins Freie und atmete dankbar die frische Luft ein. Sein Blick schweifte zum Friedhof. In diesem Moment wurden seine Gedanken durch das ferne Tuckern eines Motors unterbrochen. Er blickte aufs Wasser hinaus und entdeckte in der Ferne das Boot, das sich stetig auf die Insel zubewegte.

Er schlenderte langsam zum Anleger hinunter. Dabei versuchte er, sich zu entspannen und den Augenblick zu genießen, trotz der Zurechtweisung, die er von seinem Vorgesetzten Eiríkur kassiert hatte. Völlig zu Unrecht natürlich. Kristján wollte nur seine Arbeit machen, aber Leute wie Óttar und Ólöf hatten einflussreiche Freunde. Er sagte sich, dass es sinnlos war, sich deswegen zu grämen.

Er erreichte den Anleger noch vor dem Boot und wartete. Die Sonne brach jetzt zwischen den Wolken hervor, und der böige Wind, der ihn begrüßt hatte, schwächte sich zu einem lauen Lüftchen ab. Kristján blickte über die Bucht und verspürte einen Anflug von Bedauern wegen des Huts, der ihm entrissen worden war.

Seine Gedanken kehrten zu dem vermissten Mädchen zurück. Wahrscheinlich war sie wohlauf, hatte sich nur irgendwo verkrochen, und ihre Eltern regten sich ganz umsonst auf. Ihm fiel ein, dass er ja gar nicht wusste, wie sie aussah. Er würde um ein Foto von ihr bitten müssen, falls sie nicht bald auftauchte.

Insgesamt war es aber mehr als wahrscheinlich, dass sie bald wohlbehalten gefunden und dies auf absehbare Zeit sein letzter Ausflug nach Viðey bleiben würde.

Als der alte Fischkutter am Steg anlegte, hatte Kristján jedoch auf einmal das deutliche Gefühl, dass der Fall alles andere als abgeschlossen war.

1966

8. August

Die Frau saß an einem der kleinen Tische im Café Mokka und las eine Zeitung, vor sich eine halbe Waffel mit Sahne und Marmelade und eine nicht mehr ganz heiße Tasse Kaffee. An der Wand neben ihr hing ein Poster, auf dem ein Atompilz und verängstigte Kinder abgebildet waren. Aber die Frau beachtete es gar nicht, so vertieft war sie in die heutige Ausgabe der Vísir mit der Meldung über ein ungelöstes Verbrechen.

Ermittler Kristján Kristjánsson: Láras Verschwinden wirft immer noch einen langen Schatten.

Vor zehn Jahren war Kristján Kristjánsson der erste Polizeibeamte vor Ort, als Lára Marteinsdóttir verschwand. Der erfahrene Ermittler erklärte unserem Reporter, dass Láras ungeklärtes Schicksal immer noch einen langen Schatten über das Land wirft. Lára arbeitete als Haushaltshilfe im Haus des Anwalts am Obersten Gerichtshof Óttar Óttarsson und seiner Frau Ólöf Blöndal auf der Insel Viðey, als sie eines Tages spurlos verschwand. Die damals erst fünfzehnjährige Lára wurde als reizendes Mädchen geschildert, von allen gemocht. Zehn Jahre später ist das Rätsel immer noch ungelöst. Wie Kristján Kristjánsson gegenüber Vísir ausführte, ging die Polizei damals verschiedenen Hinweisen nach, die jedoch alle ins Leere liefen. Es wurde nie geklärt, wer Lára mit seinem Boot nach Reykjavík gebracht haben könnte, und es wurden weder eine Leiche noch irgendwelche Spuren gefunden. Eine Zeit lang war die Rede davon, ausländische Polizeibehörden um Hilfe zu bitten, doch in den letzten Jahren gab es diesbezüglich keine neuen Entwicklungen. Es ist, als wäre Lára vom Erdboden verschwunden.

Dem Artikel beigefügt war ein unscharfes Foto eines hübschen jungen Mädchens mit dunklen Haaren und ebensolchen Augenbrauen, das ein Samtkleid mit hohem Kragen trug. Es gab auch ein Foto von Kristján Kristjánsson, mit Hornbrille und hoher Stirn. Sein Gesichtsausdruck war zugleich freundlich und verhärmt, als ob ihn die Suche nach Lára ausgelaugt hätte. Die Frau betrachtete die beiden Fotos eine Weile eingehend, ehe sie die Zeitung zusammenfaltete und aufstand, ohne ihren Kaffee ausgetrunken oder ihre Waffel aufgegessen zu haben. Ein Gefühl der Unruhe beschlich sie, wie jedes Mal, wenn sie Láras Namen hörte, und sie hatte gänzlich den Appetit verloren. Um sich abzulenken, müsste sie über etwas anderes nachdenken. Sie ließ die Zeitung auf dem Tisch liegen und trat eilig aus dem Café auf die Skólavörðustígur, wo ein kalter Wind über den Gehsteig fegte und die im Bau befindliche imposante Hallgrímskirkja oben auf dem Hügel das Straßenbild dominierte.

Kristján Kristjánsson saß unterdessen in der alten Polizeiwache in der Pósthússtræti, mitten im Zentrum von Reykjavík, und las ebenfalls die Vísir.

Er war noch nicht in das nagelneue Polizeipräsidium in der Hverfisgata umgezogen, freute sich aber schon darauf, in einem Neubau mit allen modernen Annehmlichkeiten zu arbeiten. Und das Beste war, dass das Präsidium nur einen Steinwurf von seinem Haus in Stangarholt entfernt war und er in Zukunft zu Fuß zur Arbeit gehen konnte. Wahrscheinlich würde er auch sein eigenes Büro bekommen. Einen Moment lang hing er noch diesen angenehmen Gedanken nach, ehe er sich wieder seiner Lektüre widmete.

Was ist mit Lára passiert? Könnte eine unbekannte Person sie mit einem Boot von Viðey nach Reykjavík gebracht haben? Ist sie mitsamt ihrem ganzen Gepäck vom Meer verschlungen worden? Oder hat sie Reykjavík noch erreicht, nur um dort einem skrupellosen Verbrecher zum Opfer zu fallen? Oder hat sie womöglich ihr Verschwinden selbst inszeniert und ist noch am Leben, vielleicht irgendwo am anderen Ende der Welt, unter neuem Namen und mit neuer Familie? Oder könnte es gar sein, dass jemand von unseren Lesern etwas über das Schicksal des Mädchens auf dem Foto weiß?

Kristján seufzte. Die Spekulationen des Reporters gingen ihm auf die Nerven. Er fand, dass sie dem Ernst der Sache nicht gerecht wurden – ein junges Mädchen, das nie einer Seele etwas zuleide getan hatte, war verschwunden und hatte, wie er fürchtete, ein schreckliches Schicksal erlitten. Aber was konnte man in einem solchen Interview schon sagen, außer dass man sein Bestes getan hatte?

Aber stimmte das auch? Hatte er wirklich sein Bestes getan?

Er sprang auf und trat ans Fenster. Es war ein ungemütlicher Tag, eine Vorahnung, dass der Herbst dieses Jahr früher einsetzen würde. Ein ominöser Wind wehte durch die Austurstræti, und die Gesichter der Passanten, die Besorgungen machten oder in die nahe gelegene Bank gingen, waren verkniffen vom Ankämpfen gegen die Böen. Der August hatte ungewöhnlich kalt und stürmisch begonnen, und unter dem wolkenverhangenen Himmel wirkten die grauen Gebäude und die Straße düster und trostlos.

Kristjáns Gedanken wanderten zehn Jahre zurück zum August 1956. Zu den Tagen, als ihn, damals noch ein »Frischling« bei der Polizei, erstmals die Ahnung beschlichen hatte, dass es mächtige Kreise gab, die darauf aus waren, die Ermittlung zu beeinflussen. Zurück zu dem Moment, als das Telefon in Óttars Arbeitszimmer klingelte und Eiríkur, einer der ranghöchsten Polizeibeamten von Reykjavík, ihm zu verstehen gab, dass der Fall keine besondere Beachtung verdiene. Kristján war in die Stadt zurückgekehrt, gedemütigt und ernüchtert durch die Zurechtweisung. Denn er war damals überzeugt, nur seine Pflicht zu tun, wie es sich für einen gewissenhaften Polizisten gehörte. Aber was konnte man in einer solchen Situation seinem Vorgesetzten erwidern? Das war die Frage, die sich Kristján in den vergangenen zehn Jahren immer wieder gestellt hatte, obwohl er mit niemandem darüber sprach, außer mit seiner Frau, die nur mit den Schultern zuckte und sagte, er solle sich nicht damit aufhalten und nach vorne schauen.

Und dann war da noch Högni. Kristján war nur allzu bewusst, dass er diesem Hinweis ebenso wenig nachgegangen war … Aber damals hatte niemand die Neigung verspürt, prominente isländische Persönlichkeiten mit unangenehmen Fragen zu behelligen.

Natürlich war der Fall an jenem Augusttag auf Viðey nicht zu den Akten gelegt worden, im Gegenteil.

Nachdem Lára nicht nach Hause gekommen war, hatte man sie im Radio und in den Zeitungen als vermisst gemeldet. Das Verschwinden des Mädchens sorgte für Aufsehen, denn auf Island kam es nicht alle Tage vor, dass ein junges Mädchen verschwand. Ihre großen dunklen Augen auf dem Foto, das in der Presse zirkulierte, schien an die Öffentlichkeit zu appellieren, fast so, als ob Lára im Besitz irgendeines schrecklichen Geheimnisses wäre. Der Druck auf die Polizei war enorm, und die Verantwortung dafür lag bei Kristján, doch er war seiner Pflicht nicht nachgekommen.

Kristján hatte mit einigen anderen Beamten die Ermittlungen durchgeführt. Zusammen mit einem Kollegen hatte er Láras Eltern in Grjótathorp aufgesucht, einem Labyrinth schmaler Gassen mit alten Holzhäusern, das sich von der Stadtmitte den Hang hinauf erstreckte. Sie hatten begonnen, sich Sorgen zu machen, nachdem sie am Wochenende von Láras Verschwinden nicht den üblichen Anruf von ihrer Tochter erhielten.

»Sie hat uns immer angerufen«, hatte Láras Mutter gesagt. Mutter und Tochter sahen einander ausgesprochen ähnlich, nach dem Foto von Lára in den Zeitungen zu urteilen. »Sie ist ein häuslicher Mensch und hat uns immer alles anvertraut. Und dann hatte sie auf einmal die Idee, den Sommer über als Haushaltshilfe zu arbeiten, also hat sie sich bei dem Paar auf Viðey um eine Anstellung beworben und wurde genommen. Überrascht hat es mich nicht, so fleißig und wohlgeraten, wie sie ist.«

Láras Vater war etwas älter als ihre Mutter. Beide waren Lehrer, und Lára war ihr einziges Kind. Das Zimmer des Mädchens war blitzsauber und aufgeräumt, das Bettgestell aus weiß gestrichenem Metall mit einer bunten Tagesdecke überzogen, die Lára im Handarbeitsunterricht selbst gehäkelt hatte. Sie hatte einen guten Farbgeschmack, dachte Kristján damals. Seltsam, wie ihm diese unbedeutenden Details auch ein Jahrzehnt später noch gegenwärtig waren. Der Schrank war voll mit all den Kleidungsstücken, die sie nicht nach Viðey mitgenommen hatte, hauptsächlich Wintersachen, darunter auch das Samtkleid, das sie auf dem Schwarz-Weiß-Foto trug und das sich als grün herausstellte.

An einer Wand stand ein einfacher Frisiertisch mit Stuhl, beides anscheinend selbst gebaut, und in der Schublade befanden sich einige Postkarten von einer Cousine Láras, die in Kopenhagen lebte. Im Bücherregal standen eine Bibel und mehrere Romane, darunter Werke von Halldór Laxness, dem kürzlich der Literaturnobelpreis verliehen worden war.

Das Zimmer enthielt nichts, was irgendeinen Hinweis auf Láras Schicksal geliefert hätte. Kristján hatte hinter den Romanen im Bücherregal ein Tagebuch gefunden, aber wie sich herausstellte, umfasste es nur das Schuljahr 1954/55. In Láras sorgfältiger Handschrift las er darin Schilderungen der Hauptmahlzeiten, die sie jeden Tag gegessen hatte, sowie Bemerkungen über ihre Klassenkameraden in der Austurbær-Schule, vor allem über die gut aussehenden Jungen.

Kristján fragte Láras Mutter, ob das Mädchen regelmäßig Tagebuch geführt habe, und die Frau bejahte und fügte hinzu, dass sie ihre Tochter ermuntert habe, auch über ihr Leben auf der Insel zu schreiben. »Es sollte ein Abenteuer werden«, fuhr sie fort. »Meine Lára hat bisher kein besonders ereignisreiches Leben gehabt. Sie bereitet sich auf ihre Abschlussprüfungen vor und hat in ihrer Freizeit in einem Milchgeschäft gearbeitet. Die Stelle auf Viðey war ihre Chance, ein Abenteuer zu erleben und vielleicht ein wenig erwachsener zu werden.« Bei diesen letzten Worten hatten sich die Augen der Mutter mit Tränen gefüllt. »Wenn Sie mich fragen, wäre es viel besser gewesen, sie wäre nicht gegangen. Erst fünfzehn, und jetzt …«

Soweit Kristján sich erinnerte, hatte die Frau den Satz nicht vollendet.

Er entsann sich auch, die Eltern gefragt zu haben, ob Lára an jenem fatalen Wochenende mit jemandem in Reykjavík verabredet gewesen sein könnte. Der Vater antwortete, dass seine Tochter keinen Freund habe. »Lára hatte immer ein sehr enges Verhältnis zu uns. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie nach Reykjavík gekommen wäre, ohne uns Bescheid zu sagen.«

Kristján kannte zahlreiche Beispiele von jungen Leuten, die ihre eigenen Gründe hatten, ihren Eltern nicht alles anzuvertrauen. Aber wie sich herausstellte, konnte keine von Láras Freundinnen der Polizei irgendwelche Informationen über einen Freund oder andere Männer liefern, mit denen sie eventuell durchgebrannt sein könnte.

Laut Láras Eltern hatte sie Óttar und Ólöf über ein Mädchen kennengelernt, das im vorigen Sommer dort gearbeitet hatte. Kristján überlegte, dass es sich lohnen könnte, mit dem betreffenden Mädchen zu sprechen, aber das hatte keine Priorität. Was kann sie schon über Láras Schicksal wissen?, dachte er sich.

Lára hatte ihre Eltern jedes Wochenende angerufen, und sie schien mit ihrem Leben zufrieden zu sein. Natürlich hätte sie sich niemals in Hörweite ihrer Arbeitgeber beklagt, doch ihre Eltern waren sich einig, dass sie glücklich klang. Sie hatte Anfang Mai mit einem Boot auf die Insel übergesetzt und wollte bis Ende August bleiben. Und dann hatte sie Óttar und Ólöf zufolge völlig unerwartet erklärt, dass sie das Arbeitsverhältnis vorzeitig beenden wolle. Láras Mutter hatte den Kopf geschüttelt. »Ich kann Ihnen versichern, dass es Lára absolut nicht ähnlich sieht, etwas nicht zu Ende zu bringen. Im Milchladen ist sie immer pünktlich zur Arbeit erschienen, und sie hätte nie gewollt, dass es von ihr heißt, sie sei eine, die schnell aufgibt.«

Kristján riss sich aus seinen Erinnerungen los und merkte, dass er immer noch am Fenster der Polizeiwache stand. Er trank den Rest kalten Kaffee aus seiner Tasse und verzog das Gesicht wegen des bitteren Geschmacks. Láras Geschichte verfolgte ihn immer noch. Er hatte nicht die Absicht, den Fall zu den Akten zu legen, obwohl er schon so lange zurücklag und alle Spuren inzwischen wahrscheinlich längst kalt waren. Aber der Kummer in den Augen ihrer Eltern war ihm so nahegegangen, dass er sich geschworen hatte, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um ihr Leid zu lindern.

Damals hielt man es für das Wahrscheinlichste, dass Lára von jemandem in einem Boot mitgenommen wurde und entweder noch während der Überfahrt oder später in Reykjavík den Tod gefunden hatte. Er nahm an, dass dies die bequemste Erklärung war – ein unbekannter Täter, ein furchtbares Verbrechen, das nie aufgeklärt würde.

Und doch musste Kristján sich unweigerlich fragen, ob sie ihre Aufmerksamkeit nicht stärker auf Viðey hätten konzentrieren sollen. Natürlich hatten sie damals die Insel abgesucht, ohne irgendeine Spur zu finden. Und Óttar und Ólöf waren bei ihrer Aussage geblieben: dass Lára beschlossen hatte, ihre Stellung aufzugeben und nach Reykjavík zurückzukehren. Aber er wusste nur zu gut, dass die Polizei noch gründlicher hätte suchen und das Paar strenger hätte verhören können.

Mit einem öffentlichen Aufruf suchte man nach einer Person, die Lára an dem besagten Wochenende in ihrem Boot mitgenommen haben könnte, doch es hatte sich niemand gemeldet. Und der Hafenmeister von Reykjavík steuerte auch keine brauchbaren Informationen über Boote bei, die an jenem Freitag zwischen Viðey und der Hauptinsel verkehrten. Da die Insel an ihrem nächstgelegenen Punkt nur etwas über vier Kilometer von der Küste entfernt war, wäre es durchaus möglich gewesen, unbemerkt mit einem kleinen Boot hinüberzufahren, und es musste auf dem Rückweg auch nicht zwangsläufig in Reykjavík angelegt haben. Die Nachforschungen der Polizei waren im Sande verlaufen: Suchtrupps hatten die Strände abgegrast, doch weder eine Leiche noch irgendein Stück von Láras persönlichen Sachen waren je gefunden worden. Das Mädchen war einfach wie vom Erdboden verschluckt.

Kein Wunder, dass der Fall die Fantasie der Menschen angeregt hatte. Man konnte nichts finden, was Láras Ruf in irgendeiner Weise abträglich gewesen wäre; sie hatte keine Geheimnisse und schien ein Mädchen zu sein, mit dem jeder sich identifizieren konnte – ein Mädchen, das sich einfach nur einen Tapetenwechsel gewünscht hatte. Ein Mädchen, das seine Pflichten gewissenhaft erfüllt hatte, bis zu dem Moment, als sie beschloss, ihre Stellung vorzeitig aufzugeben – falls es tatsächlich so gewesen war.

Die Art und Weise ihrer Abreise von Viðey war und blieb ein Rätsel – es sei denn, sie hatte die Insel nie verlassen.

1976

7. August

»Es ist gut für die Abteilung, Kristján, gut für dich und gut für die Polizei«, hatte sein Chef gesagt. Die Worte hallten in Kristjáns Kopf immer noch nach, als er in seiner Wohnung in einem Mietshaus in Kópavogur saß und dem Journalisten eine Tasse Kaffee anbot.

»Tee wäre mir lieber, falls Sie welchen dahaben«, erwiderte sein Besucher höflich.

Gut für dich …

Wie konnte es gut für ihn sein, die ganzen Einzelheiten von Láras Verschwinden noch einmal auszugraben? Er selbst hätte alles darum gegeben, den Fall vergessen zu können, der seit zwanzig Jahren wie ein Bleigewicht an seinem Hals hing. Obwohl er seither die eine oder andere Stufe in der Polizeihierarchie erklommen hatte, war er doch nie das Gefühl losgeworden, dass er vielleicht mehr erreicht hätte, wenn diese Ermittlung nicht gescheitert wäre. Und nun war er gezwungen, aufs Neue das Gesicht dieses Fiaskos zu sein.

»Die werden die Geschichte aufwärmen, ob es uns gefällt oder nicht«, hatte sein Chef hinzugefügt, »also sollten wir besser die Gelegenheit beim Schopf packen, unsere Sicht der Dinge darzulegen.« Auf die Idee, in Kristjáns Namen selbst mit der Presse zu sprechen, war er offenbar nicht gekommen. Nein, es war immer Kristján, der den Löwen zum Fraß vorgeworfen wurde.

Wie es der Zufall wollte, war Láras Schicksal in den letzten Monaten durch ein anderes Ereignis überschattet worden. In diesem Sommer hatte das Verschwinden zweier Männer namens Guðmundur und Geirfinnur die Schlagzeilen beherrscht, und dann die dramatische Geschichte der vier Tatverdächtigen, die zunächst verhaftet und anschließend wieder auf freien Fuß gesetzt worden waren. Kristján hatte mit dieser Ermittlung nichts zu tun gehabt.

Der Journalist, Ólafur, der zugleich der verantwortliche Redakteur der Zeitung war, hatte eine angenehme Art, und Kristján ging davon aus, dass er das Interview zumindest fair führen würde. Als treuer Leser der Vísir war er im Allgemeinen zufrieden mit der Berichterstattung der Tageszeitung. Das Interview sollte auf der Titelseite der Wochenendausgabe erscheinen.

Draußen brach bereits die Dämmerung herein. Die langsame Rückkehr der Dunkelheit im August nach den Wochen der Mitternachtssonne erfüllte Kristján stets mit einem Gefühl der unguten Vorahnung, und das war so, seit er vor zwanzig Jahren die Ermittlungen im Fall Lára aufgenommen hatte. Manchmal fantasierte er, dass sie einfach von der Nacht verschluckt worden war.

»Bevor wir anfangen, möchte ich Ihnen zunächst dafür danken, dass Sie mich in Ihrem Haus empfangen, Kristján«, sagte der Redakteur. »Das ist für mich keine Selbstverständlichkeit. Also, die Idee ist, dass wir die Leser in der Wochenendausgabe an diesen tragischen Fall erinnern wollen, wobei das Interview mit Ihnen das Herzstück unseres Features werden soll.«

Kristján nickte und versuchte, sein Unbehagen zu ignorieren. Er hoffte jedenfalls, dass es nicht länger als eine Stunde dauern würde, da er um halb zehn die neueste Folge von Columbo sehen wollte. Im Moment verpasste er auf Islands einzigem Fernsehsender lediglich einen schwedischen Dokumentarfilm über Waffenproduktion.

»Können Sie für uns noch einmal die Ereignisse jenes schicksalhaften Tages rekapitulieren, an dem Sie Láras Namen zum ersten Mal hörten?«

Kristján schwieg eine Weile. Schließlich begann er: »Damals war es für mich natürlich zunächst ein ganz normaler Arbeitstag. Ich weiß noch, dass es recht kühl war, wie es im August manchmal vorkommt. Und ich weiß auch noch, dass ich annahm, das Mädchen sei einfach von zu Hause weggelaufen – oder vielmehr von ihrem Arbeitsplatz als Haushaltshilfe.«

»Es deutete also nichts darauf hin, dass daraus ein Fall werden könnte, über den Sie zwei Jahrzehnte später noch sprechen würden?«

Kristján schüttelte den Kopf: »Ich war jung und unerfahren, erst vierundzwanzig. Natürlich glaubte ich damals, alles zu wissen, aber dann wurde ich so richtig ins kalte Wasser geworfen.«

»Denken Sie oft an Lára?«

Die Frage klang aufrichtig, aber Kristján konnte sich nicht dazu durchringen, ebenso aufrichtig zu antworten. Der Redakteur hatte es sich in dem gemusterten Sessel bequem gemacht, der zu der dreiteiligen Polstergarnitur gehörte. Auf dem Couchtisch zwischen ihnen standen Teetassen und ein schwarzer Kassettenrekorder. Der Mann war Anfang dreißig, hatte dunkle Haare und trug einen eleganten grauen Anzug. Kristján hatte das Gefühl, ihn zu kennen, aber das lag nur daran, dass er ihn in den ersten Jahren nach der Einführung des isländischen Fernsehens 1966 schon so oft die Nachrichten hatte präsentieren sehen. Damals war er immer schwarz-weiß gewesen, aber jetzt saß er plötzlich in Farbe in Kristjáns Wohnzimmer.

»Ja, ich denke natürlich oft an sie«, antwortete Kristján nach einer Pause, obwohl die ehrliche Antwort gelautet hätte, dass er jeden Tag an sie dachte.

Denn in Wahrheit hatte er eben nicht sein Bestes getan. Man hatte ihm nicht erlaubt, der vielversprechendsten Spur nachzugehen, da man sie für zu weit hergeholt hielt. Diese verdammten Seilschaften – sie zogen sich durch das gesamte politische Spektrum. Nur ja keinen Staub aufwirbeln, wenn die Gefahr bestand, dass man irgendwelchen »bedeutenden« Persönlichkeiten auf die Füße trat. Und Kristján hatte mitgespielt. Er wollte doch nur seinen Job behalten und seine Vorgesetzten zufriedenstellen. Sind Sie wahnsinnig? Natürlich hat Högni Eyfjörð nichts damit zu tun … Das war damals die Standardantwort.

Er ließ die Jahre Revue passieren, die seither verstrichen waren. Ein Fischer hatte ihn nach Viðey übergesetzt, zu seinem dritten und – wie sich herausstellte – letzten Besuch im Rahmen seiner Ermittlungen. Natürlich hatte der Mann von Láras Verschwinden gehört, und er hatte gefragt, ob sie immer noch nach ihr suchten. Kristján bestätigte es. Er hatte einen neuen Hut getragen. Seiner Erinnerung nach war das Wetter perfekt, nur ein leichter Wind, dazu strahlende Sommersonne.

Ich hab mal diesen Högni auf die Insel gefahren – Sie wissen, wen ich meine?

Kristján war sofort klar, von wem der Fischer sprach.

Högni Eyfjörð?

Bauunternehmer und mehr, aus guter Familie, mit guten Beziehungen, im gleichen Alter wie der Anwalt und seine Frau auf Viðey.

Ja, und er hatte sich richtig in Schale geworfen. Er hätte seine Fähre verpasst, hat er mir erzählt, und er brauchte kurzfristig eine Überfahrt auf die Insel.

War das vor Kurzem?

Nein, es ist ungefähr einen Monat her. Es war ein Freitagabend, wenn ich mich recht erinnere. Es ist wahrscheinlich nicht wichtig, aber ich wollt’s Ihnen trotzdem sagen, weil Sie ja von der Polizei sind.

Aber Kristján war dem Hinweis nicht nachgegangen … Hatte sich dem Druck gebeugt.

Der Redakteur und ehemalige Nachrichtensprecher hüstelte, worauf Kristján aus seinen Erinnerungen ins Wohnzimmer und in die Gegenwart zurückkehrte.

»Wie bitte?«, fragte er, als er merkte, dass er einen Moment lang abwesend gewesen war, so sehr hatte ihn die Vergangenheit in Beschlag genommen.

»Ich habe gefragt: Kristján, was glauben Sie, was mit Lára passiert ist?«

So seltsam es klingen mochte, Kristján war auf diese Frage nicht wirklich vorbereitet, doch er antwortete ohne Zögern: »Ich glaube, dass sie noch am Leben ist.«

»Ist das Ihr Ernst?«, rief der Redakteur erstaunt.

Zweifellos hatte er ihm gerade die Überschrift für seinen Artikel geliefert, dachte Kristján.

»Ja, wirklich. Ich habe so eine Ahnung.«

»Könnten Sie mir sagen, warum Sie das glauben?« Der Redakteur war so freundlich und wirkte so ehrlich interessiert, dass Kristján sich genötigt sah, ihm eine Erklärung zu liefern.

»Also … Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass ihr etwas zugestoßen wäre. Sie war ein junges Mädchen in Diensten einer anständigen Familie, die sie gut behandelte. Dann verschwindet sie plötzlich, zusammen mit ihren Habseligkeiten. Sie kann sich ja kaum mit all ihrem Gepäck ins Meer gestürzt haben. Das ist höchst unwahrscheinlich. Nein, ich glaube, sie ist aus freien Stücken abgereist, aber ich weiß nicht, warum.«

Er blickte auf und sah, dass seine Frau Guðrún ihn von der Küche aus missbilligend beäugte. Er wusste, was das bedeutete. Sie hatten schon über seine Theorie diskutiert, und sie hatte ihn wiederholt davor gewarnt, sie öffentlich zu äußern. Es würde nur alte Wunden aufreißen und Láras Eltern das Leben schwer machen, da er – wenn auch nur indirekt – anzudeuten schien, dass Lára vor irgendetwas in ihrem Elternhaus davongelaufen sein könnte.

Nun, jetzt hatte er es getan. Und er bereute diese spontane Entscheidung nicht. Vielleicht würde das die Ermittlung wieder in Gang bringen – vielleicht irgendjemandem einen Anstoß geben.

»Das ist mir neu«, sagte der Redakteur. »Ist damals in diese Richtung ermittelt worden?«

»Wissen Sie, wir hatten nur wenige Anhaltspunkte. Alles nur Vermutungen. Das Mädchen war einfach verschwunden. Hören Sie, ich möchte Sie um einen Gefallen bitten, wenn ich darf …«

»Selbstverständlich.«

»Ich würde gerne eine Botschaft an Lára senden, für den Fall, dass sie irgendwo unter einem anderen Namen als erwachsene Frau lebt.«

Der Redakteur nickte.

Plötzlich kam sich Kristján vor, als ob er an einem Fernsehinterview teilnähme, als ob das Wohnzimmer ein Studio wäre und er im Scheinwerferlicht säße, in die Kamera blickte und Lára direkt anspräche.

»Was ich sagen will, ist: Lass uns nur wissen, dass es dir gut geht, wo immer du bist … Es würde sehr vielen Menschen ihren Seelenfrieden zurückgeben.«

Nicht zuletzt mir, dachte Kristján.

Er wusste, dass es Wunschdenken war, aber manchmal war es in Ordnung, sich etwas zu wünschen. Er wusste auch tief in seinem Innersten – oder etwa nicht? –, dass Högni Eyfjörð nichts mit dem Verschwinden des jungen Mädchens zu tun hatte. Die Vorstellung war völlig absurd. Warum hätte ein Unternehmer, der an jedem zweiten Bauprojekt in der Stadt beteiligt war, einem harmlosen Teenager etwas antun sollen?

Jetzt ging es Kristján schon ein wenig besser. Es war ihm gelungen, sich selbst aufs Neue davon zu überzeugen, dass Lára am Leben war.

Er unternahm einen Versuch, das Thema zu wechseln. »Wenn ich fragen darf – gibt es einen großen Unterschied zwischen dieser Arbeit und dem Produzieren von Fernsehprogrammen?«

Der Redakteur lächelte. Er hatte wohl nicht damit gerechnet, selbst interviewt zu werden. »Um ehrlich zu sein, das hier macht mir gerade viel mehr Spaß. Es war ein großartiges Abenteuer, bei der Einführung des Fernsehens in diesem Land mitzuwirken, aber wir brauchen alle bisweilen eine Veränderung. In zehn Jahren will ich vielleicht wieder etwas völlig anderes machen. Und Sie?«

»In zehn Jahren?«

»Ja, 1986.«