Weltmeister im Schatten Hitlers - Franz-Josef Brüggemeier - E-Book

Weltmeister im Schatten Hitlers E-Book

Franz-Josef Brüggemeier

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Beschreibung

Auf dem Weg zur Fußball-WM in der Schweiz schenkte kaum jemand der deutschen Nationalmannschaft Beachtung. Doch als die Spieler am 5. Juli als Weltmeister zurückkehrten, stand Deutschland Kopf. Der Titelgewinn löste ungeheure Begeisterung aus, warf aber auch die Frage auf, wie diese zu bewerten war. Dazu waren die Schreckenstaten des Nationalsozialismus und die Erlebnisse des Krieges noch zu frisch. Das Buch behandelt Vorgeschichte, Verlauf und Nachwirkungen der Ereignisse und zeigt, wie eng politische, sportliche, gesellschaftliche und wirtschaftliche Aspekte zusammenhingen. Es schildert die Spiele in der Schweiz, die eine immer größere Spannung aufbauten, und beschreibt die Bundesrepublik im Frühsommer vor 60 Jahren, geprägt durch Armut und Wirtschaftswunder, Unsicherheit und Triumph, die Suche nach Vermissten, Prozesse gegen Kriegsverbrecher und mühsame Schritte zurück in die internationale Gemeinschaft. Überall war zu spüren, wie sehr der Nationalsozialismus nachwirkte und wie schwer es fiel, zur "Normalität" zurückzukehren. Die Erlebnisse im Frühsommer 1954 faszinieren bis heute. Doch sie bewirkten weniger Veränderungen, als ihnen zugeschrieben werden. Der Titelgewinn bedeutete nicht die eigentliche Geburtsstunde der Bundesrepublik und schuf auch keine neue Nation. Doch zumindest für einen Moment ermöglichte er intensive Erfahrungen von Gemeinschaft, die über den traditionellen Nationalismus hinauswiesen und das Sommermärchen von 2006 vorwegnahmen.

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Franz-Josef BrüggemeierWeltmeister im Schatten Hitlers

 

Franz-Josef Brüggemeier

Weltmeister im Schatten Hitlers

Deutschland und die Fußball-Weltmeisterschaft 1954

Mit einem Vorwort vonChristoph Biermann

Titelabbildung:Wolfgang Fuhr (Hg.): Rahn schießt … Tor, Tor, Tor!Die besten Bilder der Fußball WM 1954, Agon Verlag

1. Auflage Juni 2014

Satz und Gestaltung:Klartext Medienwerkstatt GmbH, Essen

Umschlaggestaltung:Volker Pecher, Essen

ISBN 978-3-8375-1212-0eISBN 978-3-8375-1311-0Alle Rechte vorbehalten© Klartext Verlag, Essen 2014

www.klartext-verlag.de

Inhalt

Vorwort

Einleitung

1. Ein Wunder?

2. Der (Wieder-)Aufbau des Fußballs nach dem Krieg

3. Bauwens, der DFB und die FIFA

4. Herberger und der Aufbau der Nationalmannschaft

5. Eine ganz normale Nation? Fahne, Hymne, Feiertag

6. Auf dem Wege zur Weltmeisterschaft

7. Wirtschaft und Gesellschaft im Frühsommer 1954

8. Flüchtlinge, Vermisste und Kriegsgefangene

9. Der Umgang mit Vergehen und Verbrechen während des Krieges

10. Wiederbewaffnung, Wiedervereinigung und die Anbindung an den Westen

11. Begegnungen mit dem Ausland

12. Massengesellschaft, Fußball und das eigene Volk

13. Die Vorrunde

14. Die Zwischenrunde

15. Am Vorabend des Endspiels

16. 4. Juli 1954: Das Endspiel

17. Die Heimfahrt und der Empfang in Deutschland

18. Die Weltmeisterschaft in der DDR – und in Ungarn

19. Reaktionen auf den Titelgewinn und die öffentliche Begeisterung

20. Nach dem Spiel

21. Eine virtuelle Gemeinschaft

Nachwort

Dank

Abkürzungsverzeichnis

Archive

Bibliographie

Abbildungsverzeichnis

Vorwort

Am Nachmittag des 7. Juli 1974 wand ich mich auf dem Teppich unseres Wohnzimmers, dann wieder hockte ich auf den Knien, trommelte kurz auf den Boden und sprang zurück aufs Sofa. Ich hielt es kaum noch aus: Deutschland war nach nicht einmal einer Minute des WM-Endspiels gegen Holland in Rückstand geraten, hatte das Spiel dann gedreht, und nun zog sich der Rest endlos hin. In der Halbzeit war ich aufgeregt in mein Zimmer gelaufen und hatte die Kassette in meinem Rekorder umgedreht, um die zweite Halbzeit der Hörfunkreportage des Spiels aufzunehmen. Ich sollte sie mir noch oft anhören, damals war ich 13 Jahre alt und ohne Zweifel dafür, dass Deutschland gewann. Mir waren die Holländer und ihr schöner Fußball so egal wie irgendwelche komplexeren Überlegungen zum deutschen Nationalgefühl. An meiner Wand hing ein Foto von Günter Netzer, aber für den Sieg war ich bereit gewesen, ihn zu opfern. Dass wir ohne ihn Weltmeister wurden, mir war auch das recht.

Es war eine gute Zeit für den Fußball in der Bundesrepublik Deutschland und solch kindliche Schlichtheit. Ich saß vor dem Fernseher, als wir 1972 erstmals in England gewannen und wenige Monate später die Europameisterschaft, leichten Fußes gegen die Mannschaft der UdSSR mit ihren rätselhaften CCCP-Trikots. Die Familie versammelte sich zu diesen Spielen gemeinsam um den Fernseher, mein Vater schrie, wenn was Aufregendes passierte. Ich hielt es vor Spannung kaum aus, mein kleiner Bruder war ebenfalls ganz aufgeregt, und natürlich schaute meine Mutter auch zu. Deutschland, das war ein Familienereignis wie die Kuhlenkampff, die Kämpfe von Muhammad Ali oder die Mondlandung.

Doch zwei Jahre nachdem ich im Anschluss an den Finalsieg gegen die Niederlande aufs Fahrrad gesprungen war, um etwas von der aufgestauten Spannung wegzuradeln, begann die Liebe zu Deutschland brüchig zu werden. Uli Hoeneß schoss den Elfmeter in den Nachthimmel von Belgrad, Antonin Panenka löffelte ihn ins Tor, und wir hatten das Finale der Europameisterschaft gegen die Tschechoslowakei verloren. Trainer war nicht mehr der komisch steife, aber dadurch auch sympathische Helmut Schön, sondern Jupp Derwall, der aussah wie jene Lehrer, die man am wenigsten mochte.

Männer wie er machten mir den Umgang mit der deutschen Nationalmannschaft immer schwerer. Sie stand für all das, was mir auch jenseits des Fußballs zunehmend mehr Probleme bereitete: die ganze muffige Spießigkeit der alten BRD. Natürlich gab es auch das ganz offen Widerliche, schon 1974, als die Frauen der Weltmeister nicht mit ihren Männern den Titel feiern durften. Alte Männer, die kalten Zigarrenrauch ausdünsteten, verwehrten ihnen den Zutritt. Dafür holten sie 1978 den Alt-Nazi Rudel ins Trainingslager der deutschen Mannschaft bei der WM in Argentinien, während zur gleichen Zeit im Land Oppositionelle ermordet wurden.

Unter Derwall spielte Deutschland meist grauenhaften Fußball, auch wenn die Mannschaft 1980 Europameister wurde. Die Spieler waren nicht minder unsympathisch, wenn man nur Toni Schumacher denkt und die brutale Kaltschnäuzigkeit, mit der er 1982 den Franzosen Battiston ummähte. Nichts in jener Zeit hatte Charme und Esprit, oder zumindest kam es bei mir nicht mehr. Als es unter Franz Beckenbauer etwas besser wurde, begleiteten nun grauenhafte Fans die deutsche Mannschaft. Sicherlich waren nicht alle Rechtsradikale, aber es riss 1995 beim Länderspiel in Polen auch keiner das Transparent herunter, auf dem stand »Schindler-Juden wir grüßen euch«. Und nie werde ich die Stimmung von Blutrausch vergessen, als ich 1998 durch die nordfranzösische Kleinstadt Lens lief, wo Deutschland bei der WM gegen Jugoslawien spielte. Der Polizist Daniel Nivel sollte dafür mit seiner Gesundheit bezahlen.

Ich will nicht sagen, dass ich das deutsche Team in all diesen Jahren hasste. Ich suchte mir auch keine andere Nationalmannschaft, wie andere das taten, die für die lustigen Schotten oder Iren schwärmten, die liberalen Holländer oder die aufregenden Afrikaner. Ich will auch nicht behaupten, dass in jener Zeit alle so empfanden, aber es war eine beachtliche Minderheit. Manchmal freute ich mich, wenn die deutsche Mannschaft, wie bei der WM 1990 ein paar gute Spiele machten oder bei der EM 1996. Ich mochte auch Rudi Völler als Bundestrainer, denn wie konnte man ihn nicht mögen, stets zwinkernd und zugleich so leicht reizbar.

Aber in der Rückschau, das wurde mir später klar, hatte ich all die Jahre auf etwas gewartet: Ich wollte mich nicht mehr schämen müssen. Für unsympathische Spieler und Trainer, für zynischen Ergebnisfußball, für widerliche Fans und für einen Fußballverband voller Muff und Spießigkeit.

Ich bin mit Jürgen Klinsmann nie warm geworden, zu distanziert und vielleicht auch kalkulierend erschien mir seine Freundlichkeit. Auch Theo Zwanziger ist sicherlich ein Mann, den man nicht uneingeschränkt loben kann, zu sehr ist er von seiner Eitelkeit und einem unstillbaren Hunger nach Bedeutung geplagt. Trotzdem bin ich beiden Männern dankbar, denn sie holten mich aus meinem Exil zurück. Klinsmann wollte eine moderne Nationalmannschaft, die den modernen Fußball spielte, von dem auch ich träumte. Und er hatte die Kraft, das gegen viele Widerstände auch durchzusetzen. Theo Zwanziger gab ihm die Rückendeckung und verwandelte den Deutschen Fußball-Bund zugleich in einen modernen Verband, der sich ernsthaft seiner Geschichte stellte, in dem Minderheiten Platz hatten und Frauen gleichwertige Mitglieder sein konnten.

So hatte ich spätestens mit der WM 2006 in Deutschland meinen Frieden geschlossen mit der Nationalmannschaft und darüber auch mit unserem Land. Denn ich merkte, wie wohl sich meine Freunde aus aller Welt bei uns fühlten. Ich winde mich seither bei deutschen Spielen zwar immer noch nicht wie als 13-Jähriger, weil ich die Spannung nicht aushalte, aber ich wünsche ihr alles Gute. Selbst wenn ich nicht mit allem einverstanden bin, es stößt mich auch nichts mehr ab.

Ich weiß nicht, wie es bei der Weltmeisterschaft 1954 war, denn damals war ich noch nicht geboren. Ich weiß auch nicht, ob die deutsche Nationalmannschaft schon damals ein Peilstab für die Befindlichkeit des Landes ist, für seine Schwächen und Abgründe, für seine Stärken und seinen Zauber. Sicher ist aber, dass die deutsche Nationalmannschaft seit 1954 eine besondere Bedeutung für die Befindlichkeit des Landes besitzt. Damals, so kurz nach dem Krieg, fiel es schwer, über diese Befindlichkeit zu sprechen oder auch nur genau sagen zu können, was Deutsche dachten, was sie anstrebten und wie sie mit dem umgingen, was sie während des Nationalsozialismus erlebt und angerichtet hatten.

Warum das so schwierig war und warum der Titelgewinn eine solche Begeisterung auslöste, davon erzählt dieses Buch. Es zeichnet die ungewöhnliche Spannung einer Weltmeisterschaft nach, die mit dem sensationellen Sieg eines Außenseiters endete. Deutschland jubelte, doch noch war die Zeit noch nicht gekommen, sich ganz unbefangen über solche Erfolge zu freuen. Das wussten die Deutschen, und ihre europäischen Nachbarn wussten es auch. Bis zur unbeschwerten Stimmung des »Sommermärchens« 2006 war es noch ein weiter Weg.

Christoph Biermann

Einleitung

Die Fußball-Weltmeisterschaft im Sommer 1954 begann für die deutsche Mannschaft ganz unspektakulär. Am 11. Juni, sechs Tage vor dem ersten Spiel gegen die Türkei, reiste sie mit dem Zug von Karlsruhe in die Schweiz. Auf den Bahnhöfen, so in Freiburg, versammelten sich einige Fans, die alles Gute wünschten, und in Basel fand ein herzlicher Empfang statt. Doch von einem Weltmeisterschaftsfieber, einer allgemeinen Begeisterung oder einer ausufernden Berichterstattung in den Medien kann keine Rede sein. Das gilt auch für die Schweiz, wo das Interesse an dem bevorstehenden Turnier erst allmählich zunahm. Andere Ereignisse fanden größere Aufmerksamkeit, so der gerade stattfindende Giro d’Italia, den der Schweizer Carlo Clerici anführte und zwei Tage später gewinnen sollte, die Debatte um das Frauenstimmrecht oder der am 20. Juni bevorstehende Volksentscheid über den Befähigungsnachweis im Handwerk.

Entsprechend ruhig setzte die deutsche Delegation, zu der gerade einmal zweiundzwanzig Spieler, ihr Trainer Sepp Herberger und weitere sechs Begleiter gehörten, die Reise fort. Per Bus ging es nach Bern, um das Wankdorfstadion in Augenschein zu nehmen, da dort das Spiel gegen die Türkei angesetzt war. Anschließend fuhr die Mannschaft weiter und traf spät am Abend im Hotel Belvedere in Spiez ein, einem kleinen Ort am Thuner See im Berner Oberland. Das Hotel, das Reporter als ›behaglich eingerichtet‹ beschrieben, gehörte dem Verband der Schweizer Metzgermeister.

Im Souterrain befand sich eine Fachschule, gleich nebenan ein Schulgarten mit feinen Gemüsen und Salaten. Ansonsten gab es wenig Aufregendes zu vermerken. Das Hotel lag in einem großen Park, umgeben von weiten Wiesen und einige Schritte vom See entfernt. Dort befand sich ein Badestrand und – wichtiger für Herberger – ein stiller Uferweg für das Konditionstraining. Die Mannschaft war in einem Idyll angekommen. Genau deshalb hatte Albert Sing, ein ehemaliger Nationalspieler, das Hotel in Absprache mit dem Bundestrainer ausgesucht. Für die drei Wochen der Weltmeisterschaft sollte die Mannschaft von allem Trubel ferngehalten werden, sich in Ruhe auf die Spiele vorbereiten und vor der ersten Begegnung noch ein hartes Training absolvieren, um den Strapazen des bevorstehenden Turniers gewachsen zu sein.

Diese Erwartung ging weitgehend auf, wenngleich sich bereits am Samstag erste Reisebusse mit deutschen Touristen vor dem Hotel einfanden, um die Mannschaft zu sehen und Autogramme zu erhalten. Ihre Zahl hielt sich jedoch in Grenzen, ebenso wie die der begleitenden Journalisten. Auch Fan-Post ging kaum ein. Einer der wenigen Briefe, die Herberger in den ersten Tagen erhielt, kam aus Templin in der DDR, ein kleiner Ort im Landkreis Uckermark, nordöstlich von Berlin. Abgeschickt hatte ihn ein fünfzehnjähriger Jugendlicher, der ebenso wie sein Vater ein begeisterter Fußballanhänger war. Der Vater verbüßte eine langjährige Freiheitsstrafe in der berüchtigten Haftanstalt Bautzen und hatte beim letzten Besuch »sehnsüchtig nach den Aussichten unserer N.-Elf in der Schweiz gefragt«. Auch in seinem Namen äußerte der Sohn eine große Bitte: »Können Sie mir, Herr Herberger, von der Weltmeisterschaft eine Karte von Ihnen und den Spielern unterschrieben senden.« Er wisse bestimmt nicht, »welche Freude damit viele Kilometer entfernt, nicht weit von der Oder entfacht wird«.1 Als die Karte einige Wochen später eintraf, war die Freude kaum noch zu bremsen, denn in der Zwischenzeit war etwas ganz Unerwartetes passiert: Die deutsche Mannschaft war Weltmeister geworden.

 

Hotel Belvedere in Spiez

Die geringe Fanpost und die große Ruhe in Spiez dürfen keinen falschen Eindruck erwecken. Fußball war zur Zeit der Weltmeisterschaft die bei weitem populärste Sportart in Deutschland, und nicht nur der Verfasser des gerade genannten Briefes fieberte der Weltmeisterschaft entgegen. Das tat vielmehr ein beträchtlicher Teil der männlichen Bevölkerung, die vielfach selbst Fußball spielte, als Zuschauer Woche für Woche in die Stadien strömte, die Sportseiten las und sich bei jeder passenden – wie auch unpassenden – Gelegenheit über den Fußball, seine Stars, die letzten Spiele und die bevorstehenden Begegnungen unterhielt. Doch daneben gab es zahlreiche andere Personen, vielleicht sogar eine Mehrheit – nicht nur unter Frauen –, die sich dafür überhaupt nicht interessierten oder Fußball sogar entschieden ablehnten.

Das sollte sich im Verlaufe der Weltmeisterschaft grundlegend ändern. Mit den Erfolgen der Mannschaft nahm das Interesse in Deutschland sprunghaft zu und erreichte beim Endspiel ein Ausmaß, das es bis dahin noch nicht gegeben hatte, weder im Sport noch bei einem anderen Anlass. Am Nachmittag des Endspiels waren beide Teile Deutschlands wie ausgestorben, nahezu die gesamte Bevölkerung hatte sich um Radioapparate geschart, um die Übertragung zu hören, einige Privilegierte auch um die etwa 30–40.000 Fernsehapparate, die damals vorwiegend in Wirtshäusern und Schaufenstern standen.2 Gebannt lauschten nicht nur die Fußball-Begeisterten, die ansonsten die Stadien bevölkerten. Ebenso angespannt waren auch die Personen, die sich bis dahin für diesen Sport nicht interessiert hatten und kaum wussten, worum es dabei eigentlich ging. An diesem Tag wussten sie es: Es ging um das Endspiel der Weltmeisterschaft, um Ungarn gegen Deutschland, um einen haushohen Favoriten gegen einen krassen Außenseiter.

Das Ergebnis kam völlig überraschend. Deutschland gewann 3 : 2. Nicht nur hatte der Außenseiter gewonnen; er hatte zudem einen 2 : 0 Rückstand wettgemacht. Das war bis dahin bei keinem Endspiel einer Weltmeisterschaft geschehen und sollte auch später keiner anderen Mannschaft wieder gelingen. Entsprechend groß waren die Dramatik des Spiels und die Begeisterung, die unmittelbar nach dem Schlusspfiff und in den nächsten Tagen herrschte. Am Montag nach dem Spiel kehrte die Mannschaft – erneut mit dem Zug – aus der Schweiz nach Deutschland zurück. Als sie die Grenze überquerte, schien die Welt Kopf zu stehen: Die Bahnhöfe waren völlig überfüllt, an den Wegstrecken standen Hunderttausende, bloß um die Spieler zu sehen, ihnen zuzuwinken oder Geschenke zu überreichen, darunter Kuchen und frisch geschmierte Brote. In München, wo die offizielle Begrüßung stattfand, säumten etwa 300.000 die Straßen.

Ebenso groß war die Begeisterung, als die Spieler in den kommenden Tagen in ihre Heimatorte zurückkehrten und Ende des Monats zuerst in Berlin vom Bundespräsidenten sowie anschließend in Bonn von der Regierung geehrt wurden. Schon den Zeitgenossen war klar, dass etwas Außergewöhnliches geschehen war und dass es hierbei nicht nur um ein Fußballspiel ging. Dieses war in Bern überaus dramatisch verlaufen und hatte ein überraschendes Ergebnis gefunden. Es ist deshalb leicht zu erklären, warum die Anhänger dieses Sports so begeistert waren und mit ihrer Begeisterung auch andere ansteckten. Doch warum ließen sich so viele, ja fast alle mitreißen? Warum haben Hunderttausende die Spieler begrüßt, und dies ganz aus eigenem Antrieb, ohne dass jemand dazu aufgerufen oder den Empfang organisiert hatte? Was hatte das Endspiel ausgelöst, warum konnte es derartige Emotionen freisetzen? Fand Anfang Juli 1954, wie es später hieß, die dritte Gründung der Bundesrepublik statt, nach der Währungsreform 1948 und der Verabschiedung des Grundgesetzes im Mai 1949? Vielleicht waren die Tage nach dem Titelgewinn für viele Deutsche sogar die eigentliche Gründung des neuen Staates. Denn die Währungsreform hatte zu vollen Schaufenstern geführt, war aber von oben auf Anregung der westlichen Alliierten verkündet worden und ging der Gründung des neuen Staates voraus, während die Verabschiedung des Grundgesetzes ein wichtiges Ereignis markierte und als feierlicher Staatsakt begangen wurde, aber keine Emotionen auslöste. Die Ereignisse im Juli 1954 hingegen sprachen die Gefühle an. Sie lösten ein Gemeinschaftsgefühl aus und gelten als »Gründungsakt einer nationalen Identität«3, als »mentaler Gründungsmoment«4 der noch jungen Bundesrepublik.

 

Empfang der Mannschaft nach dem Endspiel auf dem Marienplatz in München, 6. Juli 1954

Diese Bezeichnungen klingen plausibel, sind jedoch zu sehr aus der Distanz formuliert. Die ungewöhnlichen Ereignisse vom Juli 1954, die damals freigesetzten Gefühle und die Mischung von Freude und Unsicherheit erfassen sie nur teilweise. Denn die Begeisterung und das Gemeinschaftsgefühl wirkten nicht nur ansteckend, sondern auch beunruhigend und warfen viele Fragen auf: Welche nationale Identität wurde hier deutlich? War in der allgemeinen Begeisterung ein neuer Nationalismus zu erkennen, der sich nach dem Krieg aus vielen Gründen öffentlich nicht äußern konnte und hier das lange ersehnte Ventil fand? Der dänischen Zeitung Information zufolge überlief es »überall in Europa … Tausende von Radiohörern und Fernsehern kalt bei der Auswirkung, die der Sieg hatte.« Es sei nicht nur Sportfreude, »die heute aus den Deutschen herausleuchtet, es ist ein Nationalgefühl, das gefährlich ist, weil es an gefährliche Instinkte appelliert.«5

Diese Befürchtung lag auf der Hand, hatten doch nach dem Endspiel deutsche Zuschauer die erste Strophe der Nationalhymne angestimmt und ›Deutschland, Deutschland über alles‹ gesungen. Und was war mit den deutschen Fahnen, die sie schwenkten? Wie waren die Menschenmengen zu deuten, die sich so zahlreich versam melten? Vergleichbare Ansammlungen von begeisterten Deutschen hatte es zuletzt unter dem Nationalsozialismus gegeben, ein Grund mehr, sich Sorgen zu machen. Auch im Kaiserreich und der Weimarer Republik waren derartige Versammlungen politisch aufgeladen gewesen, während der Sport und andere eher unpolitische Bereiche so massenhafte Emotionen bis dahin noch nicht ausgelöst hatten. Es lag deshalb nahe, auch hier mehr zu vermuten als lediglich sportliche Begeisterung.

Dabei beschränkten sich die Befürchtungen nicht auf eindeutig politische Zielsetzungen. Kaum geringer war die Sorge, dass sich hier ein neues Selbstbewusstsein der Deutschen ausdrückte, ein Gefühl des ›Wir sind wieder wer‹. Ein derartiges Gefühl war neun Jahre nach dem Krieg nicht gerade beruhigend, solange nicht sicher war, was diese selbstbewussten Deutschen wollten und ob man ihnen schon wieder trauen konnte. Hatten sie sich grundlegend geändert oder waren nicht viele ihrer Charaktereigenschaften weiterhin anzutreffen, wie Disziplin, Fleiß und Willensstärke, deren negative Auswirkungen unter dem Nationalsozialismus so deutlich geworden waren? Zeigte nicht gerade die Art und Weise, wie die deutsche Mannschaft die Ungarn besiegt hatte, dass diese Eigenschaften weiterbestanden und erneut abrufbar waren? Hatten in Bern deutsche Panzer die ungarischen Ballkünstler besiegt, wie es noch Jahre später in einem Beitrag hieß?

Die Fußball-Weltmeisterschaft von 1954 und ihre Auswirkungen verdienen es also, sich ernsthaft mit ihnen zu befassen. Das ist bis vor kurzem nicht geschehen. Bei weitem vorherrschend waren Gedenk-und Erinnerungsbücher, vielfach von Journalisten verfasst, die die sportlichen Ereignisse und die unmittelbaren Reaktionen ausführlich beschreiben, über den engen Bereich der Sports jedoch kaum hinausgehen. Daneben sind in den letzten Jahren einige Veröffentlichungen erschienen, die sorgfältig recherchiert und thematisch bedeutend breiter angelegt sind.6 Sie behandeln Themen wie Werbung und Propaganda, die Rolle der Medien, die Heimkehr der Mannschaft und nicht zuletzt das Verhältnis von Politik und Sport. Hierzu sind zahlreiche Beiträge erschienen, die vielfach eine »nahtlose Übereinstimmung von Fußball und Politik«7 feststellen und diese durch mehr oder minder geistvolle Ausführungen belegen wollen. Die entsprechenden Texte sind meist flüssig formuliert und wirken auf den ersten Blick anregend. Tatsächlich sind die Ergebnisse und Argumentationen jedoch enttäuschend. Sie sind geprägt von Klischees über nationale Charaktere, beruhen auf einer schwachen empirischen Basis und kommen über abgenutzte Argumentationsmuster kaum hinaus, indem sie etwa den Titelgewinn als Symbol »unzerstörbarer deutscher Tugenden« bezeichnen.8 Diese Formulierung bedient ein verbreitetes Klischee, das Zeitgenossen erstaunlicher Weise jedoch kaum vorbrachten. Es setzte sich erst später durch – was allein schon ein interessanter Befund ist.

Ungeachtet solcher Einwände haben diese Veröffentlichungen wichtige Beiträge geleistet, um die Weltmeisterschaft und ihre Auswirkungen zu behandeln und Erklärungen zu entwickeln. Das lässt sich von der etablierten Geschichtswissenschaft nicht sagen. Wer die großen Darstellungen zur Geschichte der Bundesrepublik zur Hand nimmt, die in den letzten Jahren erschienen sind, kann den Eindruck erhalten, die Weltmeisterschaft und die mit ihr verbundene Begeisterung hätten gar nicht stattgefunden. Keine dieser Darstellungen geht näher darauf ein, sie werden nicht einmal erwähnt.9 Das ist ein erstaunlicher Befund, da die Autoren ansonsten sehr unterschiedliche Aspekte von Politik, Gesellschaft und Kultur behandeln – allerdings ausgerechnet nicht diejenigen, die wohl die größte Breitenwirkung hatten und haben.

Ein anderer Befund ist ebenso erstaunlich: die überaus geringe Beachtung, die der Gewinn der Weltmeisterschaft damals in der Politik, den ›seriösen‹ Medien, bei den kulturellen und wissenschaftlichen Eliten oder den offiziellen Institutionen gefunden hat. Wir wissen, dass der Fußball bei weitem nicht den Stellenwert besaß wie heute, so dass eine im Vergleich geringere Resonanz verständlich ist. Allerdings wäre zu erwarten, dass allein schon die große öffentliche Begeisterung Politiker, Journalisten oder Soziologen zu Stellungnahmen, Analysen und Untersuchungen herausforderte. Das ist unter der Hand, in Gesprächen untereinander oder auf informeller Ebene vermutlich mehrfach geschehen, hat jedoch nur wenige Spuren hinterlassen. Die unmittelbaren sportlichen Ereignisse haben Zeitungen, Illustrierten, Zeitschriften und Radiosendungen intensiv dargestellt. Ebenso gibt es zahlreiche Berichte über den Empfang der Mannschaft. Diese beschränkten sich jedoch auf die Beschreibung der Ereignisse, während zusammenfassende, kommentierende oder gar analytische Darstellungen äußerst rar sind.

Auch die Überlieferung in den Archiven des Bundes, der Länder und Gemeinden sowie der deutschen und internationalen Fußball- verbände fällt mager aus. Immer wieder finden sich vereinzelte Hinweise, doch insgesamt drängt sich die Frage auf, warum diese Ereignisse keine größere Beachtung fanden. Dafür lassen sich mehrere Gründe vermuten. Zum einen kam der Titelgewinn so überraschend, dass nicht genug Zeit blieb, sich darauf einzustellen und ausführlich zu berichten. Hinzu kam die große Kluft zwischen diesem weitgehend ›proletarischen‹ Sport und den bildungsbürgerlichen Eliten in Medien und Politik. Und schließlich scheint es, dass ›man‹ über diese Ereignisse nicht berichten wollte bzw. nicht genau wusste, wie dies geschehen sollte, was tatsächlich ablief oder was sich hinter den Ereignissen verbarg. Angesichts des nationalen Überschwanges und der damit verbundenen Befürchtungen war es vielleicht besser, die Ereignisse herunterzuspielen und ihnen nicht durch umfangreiche Berichte weiteren Auftrieb zu geben.

Vor diesem Hintergrund sind die folgenden Kapitel verfasst. Sie werden Vorgeschichte, Verlauf und Nachwirkungen der Weltmeisterschaft beschreiben und aufzeigen, wie eng sportliche Ereignisse mit politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aspekten zusammenhingen. In all diesen Bereichen bestanden ähnliche Herausforderungen, Belastungen und Konflikte, die im Fußball lediglich eine besondere Ausprägung erfuhren. Dazu gehörten die Bemühungen, nach den Schreckenstaten des Nationalsozialismus und den Erlebnissen des Krieges wieder zur ›Normalität‹ zurückzufinden, den Spielbetrieb in Gang zu setzen und neue Strukturen zu schaffen oder die alten beizubehalten. Welche Personen sollten diese Aufgaben übernehmen, Entscheidungen fällen und wieder Einfluss ausüben? Wie eng hatten die Verantwortlichen des DFB, zu denen Herberger gehörte, mit den Nationalsozialisten zusammengearbeitet und deren Ziele geteilt? Darauf schauten nicht zuletzt die Mitglieder der FIFA, deren Unterstützung erforderlich war, um wieder in die internationale Gemeinschaft aufgenommen zu werden und Länderspiele austragen sowie an Weltmeisterschaften teilnehmen zu können.

Gerade die Länderspiele sollten besondere Probleme aufwerfen, die angesichts der jüngeren deutschen Geschichte unvermeidbar waren. Üblicherweise werden vor Beginn dieser Begegnungen die Nationalfahnen aufgezogen und die Hymnen der beteiligten Länder gespielt. Beide gab es zu Beginn der Bundesrepublik nicht. Als nach langen und kontroversen Bemühungen hierfür Lösungen gefunden waren, stellte sich die Frage, ob es klug war, Fahne und Hymne bei Länderspielen – etwa in Frankreich – offen zu präsentieren, oder ob nicht so wenige Jahre nach Krieg und Besatzung eine gewisse Zurückhaltung vorzuziehen war. Eine ungewöhnliche Komplikation ergab sich zudem, als die Mannschaft des DFB 1953 und 1954 in den Qualifikationsspielen zur Weltmeisterschaft gegen das Saarland antrat. Dieses Gebiet stand unter französischer Verwaltung, die großen Wert darauf legte, den autonomen Status des Saarlandes gegenüber der Bundesrepublik auszudrücken. Erneut musste eine Lösung gefunden werden, die auf der einen Seite den Anspruch der Bundesrepublik auf das Saarland wahrte, auf der anderen aber die ohnehin schwierige Aussöhnung mit Frankreich nicht gefährdete.

Schon diese Beispiele zeigen einen engen Zusammenhang von Sport und Politik, der gerade die Weltmeisterschaft von 1954 prägte. Das werden die folgenden Kapitel zeigen. Die ersten behandeln die Entwicklung des Fußballs nach 1945, gehen auf die Zeit des Nationalsozialismus ein und schildern die Vorgeschichte der Weltmeisterschaft. Um die damaligen Erwartungen und vor allem die Reaktionen verstehen zu können, die der Titelgewinn hervorgerufen hat, werden anschließend Politik, Wirtschaft und Gesellschaft dieser Zeit genauer betrachtet: Wie lässt sich die Bundesrepublik im Frühsommer 1954 charakterisieren, die den Gewinn der Weltmeisterschaft so überschwänglich feierte? Was verband oder trennte ihre Bewohner zu diesem Zeitpunkt? Was prägte ihren Alltag, wie wählten sie, welche Sorgen herrschten vor und welche Hoffnungen? Wie gingen sie mit den Schrecken des Krieges und den Verbrechen des Nationalsozialismus um? Wie reagierten ihre Nachbarn? Und nicht zuletzt: Warum haben sie so überschwänglich gefeiert und was hat sich dadurch geändert? Es liegt auf der Hand, dass diese Fragen nicht umfassend beantwortet werden können. Sie müssen jedoch zumindest angerissen werden, um die ungewöhnlichen Ereignisse des Juni und Juli 1954 zu verstehen.

Ungewöhnlich waren die Ereignisse auch wegen der Dramatik der Spiele. Es ist deshalb wichtig, deren Verlauf ausführlich zu behandeln und zu beschreiben, welches Interesse sie fanden und welche Spannung sie erzeugten, wann diese überhaupt aufkamen und wie sie sich ausbreiteten. Heute wissen wir, dass die deutsche Mannschaft das Endspiel in Bern gewann. Wir kennen den Verlauf des Turniers, die zwischenzeitlichen Enttäuschungen und vor allem die Erfolge. Es liegt nahe, diese in einen engen Zusammenhang zu stellen und eine Ent wicklung zu beschreiben, die fast zwangsläufig auf das Endspiel zulief. Das ist verständlich, denn der Sieg wäre ohne eine lange Vorbereitung nicht möglich gewesen. Doch zugleich ist diese Betrachtung irreführend. Denn zum einen übersieht sie die Bedeutung des Zufalls, der gerade im Fußball eine große Rolle spielt, wo Spiele anders ausgehen und Titel oftmals durch Glück gewonnen werden können. Zum anderen verfälscht sie die damalige Wahrnehmung und unterschlägt, wie überraschend der Titelgewinn kam. Bei Beginn der Weltmeisterschaft hat selbst in Deutschland fast keiner damit gerechnet, auch unter den Anhängern der Nationalmannschaft waren nur wenige so vermessen. Diese Einstellung änderte sich innerhalb weniger Tage, und eine der Aufgaben dieses Buches besteht darin zu erklären, wann diese Veränderung erfolgte, warum der Titelgewinn solche Begeisterung auslöste und warum viele Deutsche sich plötzlich verhielten »wie Kinder im Sandkasten«.10

Im Mittelpunkt der folgenden Kapitel stehen Ereignisse und Entwicklungen in der Bundesrepublik, während diejenigen in der DDR auch behandelt werden, aber einen geringeren Stellenwert besitzen. Das liegt vor allem an mangelnden Quellen und Überlieferungen. In der DDR haben die offiziellen Stellen noch weniger zur Weltmeisterschaft und deren Auswirkungen hinterlassen als in der Bundesrepublik. Da zusätzlich die Zeitungen und generell die öffentliche Meinung unter strenger Zensur standen, fällt es schwer, hierauf ausführlich einzugehen. Das ist bedauerlich. Denn die Begeisterung über den Titelgewinn hat sich in der Bundesrepublik zwar am deutlichsten geäußert, doch in der DDR – und im Saarland – war sie ebenfalls vorhanden, konnte hier aber nicht so offen zutage treten. Den Titel in Bern, so die allgemeine Auffassung, hat die deutsche Nationalmannschaft gewonnen, nicht die der Bundesrepublik. Auch die FIFA und die für das Turnier Verantwortlichen sprachen von Deutschland, wenngleich alle Spieler, die den Titel gewannen, aus Vereinen der Bundesrepublik kamen und der DFB nur dessen Gebiet vertrat. Doch der Titelgewinn war ein gesamtdeutsches Ereignis, das zugleich die Zerrissenheit aufzeigte, die Deutschland im Frühsommer 1954 prägte. Gesamtdeutsch hieran war vor allem die Freude über den Sieg und das Gefühl, zu einer Gemeinschaft zu gehören, die sich über die Zonengrenzen erstreckte. Doch die politische Zuordnung war eindeutig: Gewonnen hatte die Bundesrepublik. Nicht die Regierung Adenauers oder seine konkrete Politik, aber doch der westliche deutsche Staat, und es ist deshalb gerechtfertigt, hierauf den Schwerpunkt zu setzen.

Eine letzte Vorbemerkung. Den Sieg in Bern und die dadurch ausgelöste Begeisterung haben die europäischen Nachbarn sorgfältig beobachtet. Darauf gehen die folgenden Kapitel ebenfalls ein, müssen sich aber auf Westeuropa beschränken, denn für die osteuropäischen Länder ist – zusätzlich zu Sprachproblemen – die Überlieferung noch schlechter als für die DDR. Das gilt leider auch für Ungarn. Es wäre äußerst interessant gewesen, Deutschland und Ungarn zu vergleichen: die Vorbereitungen auf das Turnier in der Schweiz, deren Verlauf und die anschließenden Entwicklungen. Wie reagierte die Bevölkerung, wie die offiziellen Stellen und wie die Spieler? Dazu liegen Informationen vor, die jedoch nur begrenzte Aussagen erlauben.11 Es gibt also noch Einiges zu tun. Die Weltmeisterschaft von 1954 bietet eine große Fülle ungewöhnlicher Geschichten und verweist auf faszinierende Zusammenhänge. Die folgenden Kapitel können nur einige davon aufgreifen.

1Nachlass Herberger, Akten-Ordner 331, unpaginiert, Brief vom 11.6.1954.

2Anfang 1954 gab es ca. 11.000 Fernseher, Ende des Jahres etwa 90.000, von denen 25,3 % im Besitz von Gastwirten und 21,6 % von Rundfunkhändlern waren; vgl. Zielinski, Telewischen, 350.

3Schümer, Gott, 195.

4Frei, Finale Grande.

5Zit. Nach Südkurier vom 10.7.1954.

6Hervorzuheben sind Heinrich, Tor; Frei, Finale Grande; Jessen u. a., Fußballweltmeisterschaft; Geschichtswerkstatt, Elf Freunde; Eggers, Stimme; Kasza, Wunder.

7So der Untertitel bei Seitz, Bananenrepublik.

8Seitz, Fußball, 112.

9Winkler, Westen; Görtemaker, Bundesrepublik; Kielmannsegg, Katastrophe.

10Interview mit Frau M., Merzhausen bei Freiburg am 30.8.2003.

11Ein guter Überblick bei Kasza, Wunder.

1.Ein Wunder?

Als Schiedsrichter Bill Ling aus England am 4. Juli kurz vor 17 Uhr das Endspiel der Weltmeisterschaft in Bern anpfiff, stand der Sieger eigentlich schon fest. Es konnte nur die ungarische Mannschaft sein, zu überlegen hatte diese in den letzten Jahren gespielt. Gerüchten zufolge hatten deren Spieler die Uhren, die der siegreichen Mannschaft zustanden, bereits vorher erhalten, damit im Trubel nach dem Abpfiff nichts verloren ging. Das wäre etwas voreilig gewesen, denn immerhin hatte die deutsche Mannschaft das Endspiel erreicht und auf dem Weg dorthin gute Leistungen gezeigt. Das wichtigste Spiel der Vorrunde allerdings hatte sie deutlich verloren. Am 21. Juni war sie bereits auf Ungarn gestoßen und hatte mit 3 : 8 eine mehr als deutliche Niederlage erlitten.

Zu diesem Spiel waren zehntausende Zuschauer aus Deutschland angereist, darunter Hans Albers und andere Prominente. Sie hatten sich große Hoffnungen gemacht, mussten dann jedoch tief enttäuscht heimkehren, erhoben gegen Mannschaft und Trainer heftige Vorwürfe und fühlten sich geradezu betrogen. Unparteiische Beobachter hingegen hatten dieses Ergebnis erwartet, wenn auch vielleicht nicht in dieser Höhe. Denn die Ungarn stellten seit Jahren die mit Abstand beste Mannschaft und hatten vor der Weltmeisterschaft seit sechs Jahren in 48 Spielen nicht mehr verloren. Sie hatten es sogar als erste ausländische Mannschaft vermocht, die englische Nationalmannschaft in deren ›Heiligtum‹, im Wembley-Stadion, zu besiegen. Nicht nur das Ergebnis von 6 : 3 traf die englischen Zuschauer wie ein Schock. Die Ungarn waren zudem in Technik, Taktik und Schnelligkeit den Engländern weit überlegen. Sie spielten, wie deren späterer Nationaltrainer Ron Greenwood es ausdrückte, »ganz einfach einen anderen Fußball« und ließen der englischen Mannschaft keine Chance.1 Sechs Monate später trat diese zum Rückspiel in Budapest an und verlor noch deutlicher mit 7 : 1.

Die ungarische Mannschaft war also der haushohe Favorit und stützte sich nicht nur auf berühmte Individualisten, darunter Ferenc Puskás, der vor kurzem unter die zehn besten Spieler des 20. Jahrhunderts gewählt wurde. Es war vielmehr gelungen, aus den herausragenden Einzelkönnern eine gut eingespielte Mannschaft zu formen, die in diesen Jahren den modernsten Fußball spielte und 1952 in beeindruckender Weise die Goldmedaille bei den Olympischen Spielen gewonnen hatte. Als internationale Sportjournalisten vor Beginn der Weltmeisterschaft gefragt wurden, wer den Titel gewinnen werde, erhielten die Ungarn 111 Punkte, Brasilien 75, Österreich 18 und Deutschland lediglich 2.2 Diese Mannschaft ging beim Endspiel in Bern nach wenigen Minuten durch Puskás in Führung und erzielte in der neunten Minute sogar das 2 : 0. Das Spiel schien gelaufen, die Erwartungen hatten sich bestätigt – allerdings nicht ganz. Denn den Deutschen gelang bereits in der 10. Minute der Anschlusstreffer, nach achtzehn Minuten stand es 2 : 2, und wenige Minuten vor Schluss erzielte Helmut Rahn in der 84. Minute den Siegestreffer.

Die enorme Dramatik des Spielverlaufs und dessen unerwarteter Ausgang riefen nicht nur große Begeisterung hervor, sie verlangten auch nach Erklärungen. Wie konnte es geschehen, dass die großen Favoriten trotz der klaren Führung verloren und die krassen Außenseiter den Sieg errungen hatten? Wie konnten die weithin unbekannten deutschen Spieler gegen die ungarischen Stars die Oberhand behalten? Das schien kaum erklärlich zu sein, und entsprechend war bald vom ›Wunder von Bern‹ die Rede. Nur der Begriff des Wunders schien – und scheint bis heute – eine einigermaßen überzeugende Erklärung der Ereignisse zu erlauben. Dabei ist in dieser Wortwahl die Anspielung auf das ›Wirtschaftswunder‹ nicht zu übersehen, worauf mehrere Berichte verwiesen. Auch hier hatten die Westdeutschen es gegen alle Erwartungen vermocht, in wenigen Jahren nicht nur die zerstörten Städte wieder aufzubauen, sondern auch ein beeindruckendes Wachstum der Wirtschaft zu erreichen. Da zudem am Tage des Endspiels Mercedes beim Großen Preis von Frankreich in Le Mans einen Doppelsieg errang und kurz zuvor eine Deutsche den Titel der Miss Europa gewonnen hatte, gab es gleich mehrere Anlässe, von Wundern zu sprechen, die für die einen Grund zur Freude, für die anderen Ausdruck einer geradezu beängstigenden Leistungsstärke waren.

Nun stammt der Begriff des Wunders aus der Religion und erlaubt eine erste Annäherung an ungewöhnliche Ereignisse, er bietet jedoch keine Erklärung. Dafür standen nach und nach andere Ansätze zur Verfügung, die beim Fußball vor allem auf die berüchtigten deutschen Tugenden wie Disziplin, Kampfkraft, unbedingter Siegeswille und Gemeinschaftsgeist verwiesen. Nimmt man noch die Person Herbergers hinzu, der als äußerst durchsetzungsfähiger, wenn nicht autoritärer Trainer galt, ergibt sich ein Erklärungsmuster, das sich bald allgemein durchsetzte: Beschrieben wird eine Gruppe von biederen, aber sehr einsatzwilligen und durch keine Rückschläge zu entmutigenden Spielern, die – angeführt von einer autoritären Vaterfigur – eine brillante, technisch hoch überlegene, jedoch etwas verspielte ungarische Mannschaft niederrangen.3

Dieses Erklärungsmuster enthält unverkennbare Parallelen zu einer verbreiteten Beschreibung der frühen Bundesrepublik, wonach deren Bewohner unter der Obhut der dominierenden Persönlichkeit Adenauers standen und vor allem durch Fleiß und Einsatz den überraschenden Aufschwung erreichten. Diese Beschreibung klingt plausibel, zeigt bei näherer Betrachtung jedoch große Schwächen, denn sie beruht auf simplen Analogien, ist grob gestrickt und zu pauschal, um den Sieg im Endspiel zu erklären: Wie konnte eine Mannschaft von elf Spielern auf höchstem sportlichen Niveau nicht nur bestehen, sondern sich durchsetzen? Dazu sind fraglos Kampfkraft und Disziplin erforderlich. Doch um gegen die besten Mannschaften der Welt bestehen zu können, waren andere Merkmale nicht weniger wichtig. Die Spieler mussten über eine solide Technik und gute Kondition verfügen; sie mussten taktisch richtig aufgestellt sein und sich auf ihre Gegenspieler einstellen können; und sie mussten es verstehen, mannschaftliche Geschlossenheit mit individuellen Fähigkeiten, ja mit Eigensinn zu verbinden. Das war bei der deutschen Mannschaft der Fall. Sie war nicht nur gut aufeinander eingespielt, sondern besaß mit Fritz Walter einen der technisch und taktisch besten Spieler der damaligen Zeit. Und zu ihr zählten ganz unterschiedliche Persönlichkeiten wie Horst Eckel, der enormen Einsatz für die Mannschaft zeigte, oder Helmut Rahn, ein notorisch unberechenbarer, nicht unbedingt mannschaftsdienlicher Stürmer, der umstritten war, aber an guten Tagen ein Spiel allein entscheiden konnte. Es war diese Mischung, die die Mannschaft auszeichnete, und die vielleicht – um auf der Ebene der Analogien zu bleiben – die frühe Bundesrepublik besser charakterisiert als das Klischee der braven und leistungsstarken Biedermänner oder der verkappten Militaristen.

 

Ferenc Puskás

Diese Mannschaft ist weder vom Himmel gefallen, noch entstand sie wie von selbst. Sie war vielmehr das Ergebnis einer Vielzahl von Faktoren, zu denen eine sorgfältige Auswahl der Spieler, jahrelange Vorbereitungen und ein planvolles Vorgehen ebenso gehörten wie abrupte Veränderungen, Zufälle oder Faktoren, die keiner der Beteiligten beeinflussen konnte. Hinzu kam der Faktor Glück. Gerade Fußballspiele gewinnt nicht immer die Mannschaft, die am besten gespielt oder den Sieg ›verdient‹ hat. Bälle können abgefälscht, wichtige Spieler verletzt oder Tore ohne jedes eigene Zutun erzielt werden. Bei etwas anderem Verlauf des Turniers wäre nicht Deutschland, sondern Ungarn Weltmeister geworden, und das ›Wunder von Bern‹ hätte es nicht gegeben. Es wäre also falsch, den Gewinn der Weltmeisterschaft als das zwangsläufige Ergebnis jahrelanger Planungen und systematischer Vorbereitungen zu sehen. Aber es wäre ebenso falsch, diese Faktoren zu übersehen, selbst wenn die tatsächlichen Entwicklungen viel komplizierter, unübersichtlicher und zufälliger verliefen als eine auch noch so gute Planung erwarten konnte. Das zeigten schon die Bemühungen, den Spielbetrieb nach dem Krieg wieder in Gang zu bringen, die Nationalmannschaft aufzubauen und wieder in die internationale Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Nahezu bei jedem Schritt waren hierbei die Folgen der Niederlage, der Kalte Krieg und nicht zuletzt die Zeit des Nationalsozialismus zu bemerken, der bei den Deutschen und ihren Nachbarn tiefe Spuren hinterlassen hatte.

1Zit. Nach Downing, Enemies, 68.

2Die Welt 2.6.1954.

3Diese Argumente haben sich in den folgenden Jahren so sehr verfestigt, dass sie bis heute zur Charakterisierung der deutschen Nationalmannschaft dienen und weiterhin als Merkmale eines deutschen Nationalcharakters gelten.

2.Der (Wieder-)Aufbau des Fußballs nach dem Krieg

Wie in anderen Bereichen, hat das nationalsozialistische Regime auch im Fußball versucht, den Anschein der Normalität möglichst lange aufrecht zu erhalten. So fand das letzte Spiel um die Deutsche Meisterschaft am 18. Juni 1944 im Berliner Olympia-Stadion statt, als der Dresdner SC den Luftwaffensportverein Groß-Hamburg mit 4 : 1 besiegte. Tatsächlich war der offizielle Spielbetrieb zu diesem Zeitpunkt bereits erheblich eingeschränkt und kam in den kommenden Monaten wegen des Krieges ganz zum Erliegen. Das hatte dem Interesse am Fußball jedoch keinen Abbruch getan, denn schon bald nach der Kapitulation gab es erste Bemühungen, diesen Sport wieder auszuüben und dazu Ligen sowie Verbände zu errichten. Das fiel allerdings nicht leicht, nicht nur wegen der Zerstörungen und der großen materiellen Not. Vielmehr hatten die Alliierten alle nationalsozialistischen Organisationen und damit auch die Sportvereine und den ›Nationalsozialistischen Reichsausschuss für Leibesübungen‹ verboten, der für den gesamten Sport zuständig gewesen war. Sie sahen hierin wichtige Bestandteile der nationalsozialistischen Herrschaft und betrachteten die Organisationen des Sports anfangs mit großem Misstrauen. Dafür hatten sie gute Gründe.

Die Vereine und Funktionäre des größten Fußballverbandes, des DFB, hatten sich 1933 zum größten Teil bereitwillig gezeigt, mit den neuen Machthabern zusammen zu arbeiten, während kommunistische bzw. sozialistische Arbeitersportvereine verboten und Juden aus den nunmehr gleichgeschalteten Vereinen ausgeschlossen wurden. Diese Haltung haben die Beteiligten später mit dem auch aus anderen Zusammenhängen bekannten Argument gerechtfertigt, sie wollten dadurch dem Fußball eine gewisse Eigenständigkeit und Unabhängigkeit sichern.1 Dieses Argument ist nicht ganz von der Hand zu weisen, blendet andere Aspekte aber aus. Dazu gehört, dass die Zusammenarbeit weitgehend freiwillig erfolgte und mit einem vorauseilenden Gehorsam verbunden war, der sich u. a. beim Ausschluss von Juden aus den Vereinen des DFB zeigte.2 Diese gingen dabei nicht ganz so eifrig vor wie die Turner, und vereinzelt erfuhren jüdische Mitglieder eine gewisse Unterstützung. Diese blieb jedoch begrenzt, von nennenswertem Einspruch oder gar Widerstand gegen die Anordnungen der Nationalsozialisten kann keine Rede sein. Das gilt auch für die Gleichschaltung der Vereine und Verbände und deren Eingliederung in die neuen Organisationen des Sportes. Davon abgesehen verlief die Entwicklung des Fußballs eher unspektakulär. Das ist insofern verständlich, als dieser Sport sich gut für Zwecke der Propaganda eignete und – zumal während des Krieges – Ablenkung bot, doch er gehörte nicht zu den zentralen Themen der nationalsozialistischen Ideologie und Politik. Das hat später zu der Behauptung geführt, der Fußball sei ›unpolitisch‹ gewesen und habe sich vom Nationalsozialismus fernhalten können, eine Argumentation, welche die tatsächlichen Entwicklungen und Verhaltensweisen unterschlägt und zu den Rechtfertigungen gehört, die in der Nachkriegszeit weit über den Fußball hinaus verbreitet waren.

Auch andere Merkmale der Nachkriegsgesellschaft lassen sich beim Fußball finden, darunter ein ausgeprägtes Maß an Kontinuität. Diese war bei einer derart populären Sportart nahezu unvermeidlich, da die Niederlage die Vereine mit ihren Mitgliedern, Funktionären und Zuschauern kaum berührte. Die Personen und Institutionen blieben dieselben, und es ist deshalb verständlich, dass die Alliierten eine so verbreitete Bewegung und ihre einflussreichen Organisationen anfangs skeptisch betrachteten und sie verboten. Dieses Misstrauen richtete sich insbesondere gegen die hohen Funktionäre, die in den westlichen Zonen jedoch nach und nach in ihre Positionen zurückkehrten. Eine gravierende Veränderung gab es vor allem durch die Auflösung des ›Nationalsozialistischen Reichsausschuss für Leibesübungen, der nationalsozialistischen Dachorganisation für den Sport. Diesem angeschlossen war das ›Fachamt Fußball‹, das nach 1933 den DFB ersetzte, mit diesem aber weitgehend identisch war und jetzt ebenfalls verboten wurde. Vorerst gab es also keine gemeinsame Dachorganisation des Fußballs, doch davon abgesehen gelangten weitgehend wieder die Personen in Amt und Würde, die schon während des Nationalsozialismus aktiv gewesen waren. Die Entnazifizierungsverfahren hatten sie überstanden, verfügten über reichhaltige Erfahrungen in Vereinen und Verbänden und waren untereinander vertraut, so dass die alten Verbindungen und Strukturen wieder entstanden.

Vorübergehend sah es allerdings so aus, als sollte eine einheitliche Organisation des gesamten Sportes die alten, nach Sportarten geglie derten Fachverbände ablösen. Insbesondere die englischen Militärbehörden favorisierten diese Bestrebungen. Sie standen jedoch unter dem Ruch des Zentralismus, der als Merkmal des Nationalsozialismus galt, drohten vertraute Traditionen zu zerschlagen und sind in den westlichen Zonen am Widerstand der Sportverbände, ihrer Funktionäre und der Mitglieder gescheitert. Ebenso gescheitert sind hier die Bemühungen, die politisch ausgerichteten Vereine aus der Weimarer Republik wieder aufleben zu lassen. Entsprechende Forderungen gab es vor allem auf dem linken Flügel der Arbeiterbewegung. Sie betrafen nicht nur den Sport, sondern den gesamten politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Neuaufbau nach dem Krieg, fanden in den westlichen Zonen jedoch wenig Unterstützung. Hier wurde die politische Ausrichtung der Vereine und Verbände in der Weimarer Republik als Zeichen der Zersplitterung gesehen und als ein Grund für deren Scheitern. Eine vergleichbare Entwicklung galt es jetzt zu verhindern, so dass sich westlich der Elbe politisch und weltanschaulich neutrale und weitgehend bürgerlich geprägte Vereine durchsetzten.

In der Sowjetzone fand eine andere Entwicklung statt. Hier befand sich der Fußball nach Ende des Krieges in einer ähnlichen Situation wie in den anderen Zonen; die Vereine waren ebenfalls verboten, und es fehlte an Plätzen, Bällen, Trikots und Geld. Doch daneben gab es einen großen Unterschied: die politischen Ziele der sowjetischen Besatzungsbehörden und der SED. Wie in anderen Bereichen wollten sie auch im Fußball vermeiden, dass die alten Strukturen neu entstanden und dieselben Personen wieder in Amt und Würden gelangten. Stattdessen strebten sie eine einheitliche Sportbewegung an, die »unter Führung klassenbewusster Arbeiter mit klarer antifaschistisch-demokratischer Zielsetzung« stehen und den gesamten Sport unter Einschluss des Fußballs neu organisieren sollte.3

Diese Unterschiede zwischen den verschiedenen Zonen waren in den ersten Wochen und Monaten nach Ende des Krieges noch nicht zu erkennen. Die weitere Entwicklung war vielmehr unklar, und der allmähliche Wiederaufbau erfolgte in kleinen Schritten. Dabei herrschte das Bemühen vor, möglichst schnell zur ›Normalität‹ zurückzukehren und – einfacher formuliert – wieder Fußball zu spielen und Spiele als Zuschauer zu verfolgen. Die ersten Begegnungen fanden kurz nach Ende des Krieges statt, so in Stuttgart bereits am 10. Mai (Himmelfahrt), wo zudem wenige Tage später, am 15. Mai, ein ›Arbeitsausschuss für Sport- und Körperpflege‹ entstand, der etwa einhundert sogenannte ›Sportleiter‹ umfasste.4 Bereits im Spätsommer 1945 erlaubten die westlichen Alliierten die Neu- bzw. Wiedergründung von Sportvereinen, die sie allerdings unter strenger Kontrolle hielten. Die meisten Fußballvereine konnten im Herbst ihren Betrieb wiederaufnehmen, obwohl viele Stadien weiterhin zerstört, Spieler noch nicht aus der Gefangenschaft zurückgekehrt oder gefallen und Trikots sowie Bälle Mangelware waren. Gerade in dieser schwierigen Situation bot der Fußball Ablenkung und zugleich für Spieler ein zusätzliches Einkommen, das sie oftmals nicht in Geld, sondern in Naturalien erhielten. In Essen erlaubte die Militärregierung bereits Anfang August die sofortige Aufnahme des Sportbetriebes. Am 22. August meldete die dortige Ruhrzeitung: »Im Essener Fußballsport herrschte am vergangenen Sonntag ziemlich reger Betrieb. … Helle Freude strahlte aus den Augen der Spieler und Zuschauer, Freude darüber, dass endlich wieder eine Gelegenheit vorhanden ist, sich dem geliebten Sport ungestört widmen zu können.«5

Die Saison 1945/46 bestritten in Essen 47 Vereine und trugen eine Stadtmeisterschaft aus, bis eine Lockerung alliierter Beschränkungen die Bildung der Ruhrbezirksliga erlaubte. Der Spielbetrieb kam so nach kurzer Zeit wieder in Gang, doch angesichts der vier Besatzungszonen war eine gemeinsame Deutsche Meisterschaft vorerst nicht zu erwarten. Das Interesse an diesem Sport hat darunter nicht gelitten. Vielmehr zählten wichtige Spiele bereits 1946 teilweise mehr als 60.000 Zuschauer, und das Sport-Echo formulierte im Sommer dieses Jahres die Schlagzeile: »Volkssport Fußball mächtiger als je zuvor«.6 Angesichts dieser Nachfrage entstanden regionale Ligen, so bereits am 13. Oktober 1945 die Süddeutsche Oberliga, 1947 die Oberliga West und bald weitere, bis deren Vertreter am 10. Juli 1949 den Deutschen Fußballbund gründeten. Damit waren sie vorgeprescht und hatten die westlichen Alliierten vor den Kopf gestoßen, so dass sie die Gründung im Jahr darauf wiederholen mussten. Außerdem war der DFB nur für die mittlerweile ebenfalls gegründete Bundesrepublik zuständig, wenngleich er den Anspruch erhob, ganz Deutschland zu vertreten.

Eine andere wichtige Entscheidung war zuvor im September 1948 gefallen, als die Süddeutsche Oberliga den Status des ›Vertragsspielers‹ einführte, der ein Gehalt von 150–320 DM im Monat verdienen konnte. In West- und Norddeutschland gab es weitergehende Forderungen nach Einführung des Berufsspielers, die jedoch keine Mehrheit fanden und erst mit der Bundesliga sowie dem Bestechungsskandal 1972 in vollem Umfang verwirklicht wurden. Auch als Vertragsspieler konnten gute Spieler damals ein attraktives zusätzliches Einkommen erzielen, vom Fußball alleine allerdings nicht leben. Das war auch deshalb nicht möglich, weil die fünf Oberligen insgesamt 74 Vereine zählten, von denen nicht alle genügend Zuschauer fanden, um entsprechend hohe Gehälter zu zahlen.

Damit ist ein anderes Problem angesprochen, das schon in der Weimarer Republik viel diskutiert wurde. Wegen der Zersplitterung des deutschen Fußballs in mehrere Ligen bestanden nur wenige leistungsstarke Vereine, die zudem nur selten aufeinander trafen und in vielen Spielen kaum gefordert wurden. Das hatte schon in den zwanziger Jahren Sepp Herberger beklagt und deshalb die Einführung von Berufsspielern und einer nationalen Liga gefordert, um die Leistungsstärke der Spieler zu fördern und eine Nationalmannschaft aufzubauen, die mit den Profi-Spielern der anderen Länder mithalten konnte. Dieser Wunsch war nicht in Erfüllung gegangen, da viele Verbände und Funktionäre im bezahlten Fußball einen Tanz um das goldene Kalb und eine »Entartungserscheinung unserer Zeit« gesehen hatten.7 Doch der Fußball war zu populär, zog bei wichtigen Spielen Zehntausende an und erzielte so hohe Einnahmen, dass der Amateurgedanke zunehmend unrealistisch wurde, unter der Hand Zahlungen erfolgten und Ende 1932 der Bundestag des DFB die Einführung des Berufs-Fußballsports vorbereitete. Dazu kam es nicht, denn kurz darauf übernahmen die Nationalsozialisten die Macht, die bezahlten Fußball als Ausdruck verwerflicher Profitgier und jüdischer Einflussnahme sahen, so dass der bezahlte Fußball offiziell verboten blieb, inoffiziell aber weiter bestand und auch jetzt nicht eingeführt wurde.8

In der sowjetischen Zone waren inzwischen an die Stelle der Vereine Sportgemeinschaften (SG) getreten, die auf lokaler Basis beruhten und einzelne Stadtteile oder Städte zusammenfassten. Vielfach führte das allerdings zu einem Etikettenschwindel und zur bloßen Umbenennung von Vereinen, bei denen sich faktisch nicht viel änderte. Deshalb forderte die SED zunehmend die Gründung von Betriebssportgemeinschaften (BSG), um eine neue Organisationsform zu schaffen, die politische Kontrolle zu erhöhen, und – wie es hieß – auch im Fußball »das Kräfteverhältnis zwischen den reaktionären und den fortschrittlichen Kräften … zugunsten der Antifaschisten« zu ändern.9 Diese Veränderungen erfolgten allmählich, waren Ende der 1940er Jahre jedoch weit fortgeschritten und wurden mit Nachdruck von den neuen Machthabern unterstützt, wie das Endspiel um die erste Fußballmeisterschaft der DDR zeigte.

Hier standen sich am 16. April 1950 im entscheidenden Spiel die Zentrale Sportgemeinschaft (ZSG) Horch Zwickau und die SG Dresden-Friedrichstadt gegenüber. Die Horch-Werke in Zwickau hatten sich nach dem Krieg zu einem sozialistischen Musterbetrieb entwickelt, der auf zahlreichen Gebieten neue Zeichen setzte, auch bei der Errichtung von Betriebssportgruppen. Die Dresdner Sportgemeinschaft hingegen war faktisch der Nachfolger des traditionellen Sportclubs Dresden, ein bürgerlicher Verein, der unter den Nationalsozialisten Förderung genossen und die letzte Meisterschaft gewonnen hatte, als belastet galt und mit Helmut Schön einen ehemaligen Nationalspieler zählte, der seit 1949 auch die Auswahl der Ostzone trainierte. 60.000 Zuschauer wollten das Spiel sehen, einige von ihnen übernachteten auf dem Platz. Auf dem Schwarzmarkt kosteten Karten bis zu einhundert Mark, doch die Anhänger von Dresden werden diese Ausgabe bedauert haben. Denn ihre Mannschaft verlor deutlich mit 6 : 1, wobei nicht so sehr die Höhe des Ergebnisses für Aufregung sorgte, sondern der Auftritt des Schiedsrichters.10

Dem Neuen Deutschland zufolge zeigte er »eine sehr schlechte Leistung« und war »seinem Amt in keiner Weise gewachsen«,11 denn er bevorteilte die Mannschaft von Zwickau, deren hartes Spiel er nicht unterband und selbst grobe Fouls übersah. Er pfiff, so Helmut Schön in seinen Erinnerungen, als hätte er Weisung, »die Zwickauer um jeden Preis zum Meister zu machen. Einige Male mussten die Zuschauer vom Platz gewiesen werden, weil sie so empört waren … Ich erinnere mich daran, dass ich mit erhobenem Arm Tausende von Menschen bat, den Rasen wieder zu verlassen«.12 Nach dem Abpfiff fühlten sich die Anhänger der Dresdner Mannschaft betrogen und waren so erbost, dass es zu Auseinandersetzungen kam, Spieler geschlagen wurden und berittene Polizei eingriff. Die eigentliche Siegerfeier fand im kleinen Kreis statt, und Walter Ulbricht, damals Stellvertretender Ministerpräsident, ließ es sich nicht nehmen, diese persönlich vorzunehmen. Er gratulierte »seinen Arbeitersportlern«, die er schon deshalb als sympathisch bezeichnete, weil sie rote Trikots trugen. Vor allem aber freute ihn, dass es »gerade die Mannschaft eines volkseigenen Betriebes ist, die die ersten Meisterehren der DDR erwarb, womit die Richtigkeit des Weges der demokratischen Sportbewegung erwiesen ist«.13

Auch im Fußball hatten sich somit die beiden deutschen Staaten auseinander entwickelt. In der DDR hatten die Machthaber einen Neuanfang von oben durchgesetzt, während im Bereich des DFB in etwa die Strukturen, aber auch die Probleme, wieder anzutreffen waren, die bereits die Weimarer Republik gekennzeichnet hatten. Dazu gehörten die Vielzahl der Ligen und der (leicht veränderte) Amateurstatus der Spieler, worüber nicht zuletzt Herberger klagte, denn beides erschwerte sein Vorhaben, eine leistungsstarke Nationalmannschaft aufzubauen. Nicht weniger schwierig war es für ihn, überhaupt erst die Stelle des Nationaltrainers zu erhalten und gegenüber den Funktionären durchzusetzen, dass er nicht an ihre Anweisungen gebunden war, sondern die alleinige Zuständigkeit für die Mannschaft besaß. Um jedoch überhaupt Länderspiele bestreiten zu können, musste der DFB wieder in die FIFA aufgenommen werden. Nach dem Krieg war der deutsche Fußball aus diesem Verband ausgeschlossen worden und konnte offiziell keine internationalen Begegnungen austragen, nicht einmal auf der Ebene von Vereinen. Diese Situation zu verändern, war allerdings nicht Herbergers Aufgabe. Das hatte vielmehr Peco Bauwens unternommen, ein erfahrener Funktionär und späterer Präsident des DFB, der seit der Weimarer Republik exzellente Verbindungen zur FIFA besaß und auch während des Krieges in diesem Verband intensiv mitgearbeitet hatte.

Aufgrund dieser guten Kontakte erwartete Bauwens anfangs, dass sich hieran nichts geändert hatte und er sowie der DFB wichtige Mitglieder der FIFA bleiben würden. Das war nicht der Fall, und es sollte Jahre dauern, wieder aufgenommen zu werden, weil in der FIFA ebenfalls unterschiedliche Auffassungen darüber bestanden, wie mit Deutschland umzugehen sei. Hinzu kam, dass im Falle des Fußballs nicht nur zwei, sondern sogar drei deutsche Gebiete mit je eigenen Verbänden bestanden. Denn zusätzlich zur DDR und BRD war hier noch das Saarland zu berücksichtigen, das die französische Regierung als eigenständige politische Einheit ansah, die über einen eigenen Fußballverband verfügte. In der FIFA durfte jedoch jedes Land nur mit einer Stimme vertreten sein, und es kam darauf an, eine Lösung zu finden, die der komplizierten deutschen Situation angepasst war.

1Heinrich, Fußballbund; Fischer/Lindner, Stürmer; Schulze-Marmeling, Fußball.

2Schulze-Marmeling, Davidstern.

3Skorning, Fußball, Bd. 2, 7.

4Klaus Grundgeiger, Stuttgart, in Deutscher Sportbund, Gründerjahre, Bd. 2. 50–55, 50.

5Zit, nach Siegfried Gehrmann, Das Wiederentstehen des Fußball-Spielbetriebs in Essen 1945, in Deutscher Sportbund, Gründerjahre, Bd. 1, 169–72, 170.

6Sport-Echo, Saarbrücken, 9.7.1946.

7Günther Riebow, Unser Kampf gegen den Berufssport, in Deutscher Fußball-Bund, Jahrbuch 1930, 39–41, 41, zit. nach Heinrich, Fußballbund, 89.

8Heinrich, Fußballbund, 75 ff.; Fischer/Lindner, Stürmer, 47 ff.

9Skorning, Fußball, Bd. 2, 15; Grüne, Fußball, 191 ff.

10Grüne, Liga-Fußball, 218 f.; U. Prüger/J. Meyer, ZSG Horch Zwickau: erster DDR-Meister 1949–50, in Friedemann, Sparwasser, 13–18.

11Zit. nach Prüger/Meyer, Zwickau, 15.

12Schön, Fußball, 141.

13Zit. nach Prüger/Meyer, Zwickau, 17 f.

3.Bauwens, der DFB und die FIFA

Die Zeit unter dem Nationalsozialismus

Direkt nach Kriegsende schienen zwischen Bauwens, dem DFB und der FIFA keine Probleme zu bestehen, von einem Ausschluss aus dem Weltfußball war keine Rede. Vielmehr erhielt Bauwens am 28. Juni 1945 ein Schreiben von Ivo Schricker, den Generalsekretär der FIFA, der ihn bat, an einer Besprechung teilzunehmen, die aus Anlass des 50. Geburtstages des Schweizer Fußball- und Athletikverbandes stattfinden sollte. Bauwens war zu diesem Zeitpunkt Mitglied des Exekutivkomitees der FIFA und erhielt kurz darauf eine weitere Einladung zu einer Sitzung dieses Komitees, die im Oktober stattfinden sollte. Diese erfolgte im Auftrag des Franzosen Jules Rimet, dem Präsidenten der FIFA, der ihn »für dieses Treffen um seine Unterstützung« bat.1 Aus diesen Schreiben spricht eine Anerkennung der Person Bauwens, für die es gute Gründe gab.

Bauwens war vor dem Ersten Weltkrieg Nationalspieler gewesen und hatte anschließend eine Karriere als Schiedsrichter begonnen, die schon 1925 einen ersten Höhepunkt erlebte, als er in die Regelkommission der FIFA berufen wurde. Im Jahr darauf folgte die Mitgliedschaft im ›International Board‹, dem Regelausschuss, dem vier Briten und zwei Vertreter anderer Länder angehörten. Der Fußball erlebte in diesen Jahren weltweit einen rasanten Aufstieg und erreichte immer mehr Länder, so dass ein großer Bedarf an einheitlichen Regeln und verbindlichen Auslegungen bestand. Hier engagierte sich Bauwens mit großem Einsatz, wobei ihm seine Fremdsprachenkenntnisse und seine unabhängige finanzielle Situation sehr halfen. Als Sohn aus gutbürgerlichem Haus hatte er eine gute Erziehung genossen und leitete mit zwei Brüdern ein ertragreiches Bauunternehmen in Köln. Sein Einsatz für die FIFA führte bald zu einer weiteren Auszeichnung, als er 1932 in das bereits genannte Exekutivkomitee, das entscheidende Organ des Weltverbandes, gewählt wurde. Dort zeigte er auch in den kommenden Jahren großen Einsatz und wurde in den letzten Jahren des Krieges offensichtlich zu einem wichtigen Vertrauten von Schricker.

Die Aktivitäten der FIFA hatten unter dem Krieg sehr gelitten. Es fanden immer weniger Länderspiele statt, die diesen Dachverband wesentlich finanzierten, da ihm jeweils ein Anteil der Einnahmen zustand. Außerdem wurde es zunehmend schwieriger, Treffen der verschiedenen Gremien durchzuführen. Denn die Kriegshandlungen erschwerten die Reisen, zumal die Schweiz bald ganz von Ländern umgeben war, welche die Nationalsozialisten und deren faschistische Verbündete regierten oder besetzt hielten. Jede Durchreise zur Schweiz erforderte deshalb eine Genehmigung, was politische Probleme aufwarf und mit hohem bürokratischem Aufwand verbunden war, so dass diese Treffen schließlich unterblieben. Dadurch gewann die Position des Generalsekretärs an Bedeutung, der mit Rimet und den anderen Mitgliedern des Exekutivkomitees zwar in Briefkontakt stand, vieles aber weitgehend auf sich gestellt regeln musste. Als wichtiger Partner erwies sich dabei Bauwens, mit dem er einen überaus lebhaften Schriftverkehr unterhielt, der nahezu alle Aktivitäten der FIFA betraf und den Umfang von mehreren Briefen im Laufe einer Woche erreichen konnte. Bauwens hatte sich also um die FIFA verdient gemacht, auch bei finanziellen Problemen. Es ist deshalb verständlich, dass Schricker und Rimet ihn nach dem Krieg einluden und an seiner Mitarbeit interessiert waren. Es schien also alles beim Alten geblieben zu sein. Doch das war nicht der Fall.

Anfang Oktober erhielt Bauwens einen Brief von der FIFA, der für ihn ganz unerwartet kam. Das Treffen des Exekutivkomitees war auf den November verschoben worden und Bauwens Teilnahme nicht länger erwünscht, wie Schricker am 11. Oktober erläuterte: »Ich muss Dir leider heute eine recht unangenehme Mitteilung machen. Es haben sich im Komitee Stimmen erhoben, dahingehend, dass Deine Teilnahme an der Sitzung des 10. November Anlass zu sehr unerwünschten Erörterungen geben könne.«2 Rimet nehme in dieser Frage einen neutralen Standpunkt ein. Er wolle derartige Erörterungen vermeiden, Bauwens aber nicht offiziell ausladen. Es sei wünschenswerter, wenn dieser die Teilnahme »mit einem Dir zusagenden Grund« von sich aus absage. Anschließend könne man die heikle Angelegenheit in Ruhe besprechen und eine Lösung finden. Bauwens war offensichtlich wie vor den Kopf geschlagen. Am 29. Oktober schickte er einen Brief an Rimet, in dem er seine Enttäuschung ausdrückte und sein Verhalten in den zurückliegenden Jahren schilderte.

Das Schreiben Schrickers, so führte er aus, habe ihm die größte Enttäuschung seines Lebens bereitet. Er habe während der letzten zwanzig Jahre großen Einsatz für den internationalen Fußball gezeigt, sei selbst während des Krieges mehrfach nach Zürich gekommen, habe sich für den internationalen Charakter der FIFA eingesetzt und auch als Schiedsrichter fungiert. Im deutschen Sport habe er sich zwar seit 1908 engagiert, sei aber nach 1933 ohne Funktion gewesen und habe seine Anerkennung im Verband des Weltfußballes gesucht. Dort sei er trotz deutlicher Widersprüche aus Deutschland Präsident der Schiedsrichter- und Regel-Kommission geworden, habe sich gegen die Gründung eines eigenständigen flämischen Fußballverbandes unter den Nationalsozialisten ausgesprochen und deutsche Übergriffe auf die FIFA zu verhindern versucht. Zusätzlich verwies Bauwens auf seine jüdische Ehefrau, die 1940 wegen der nationalsozialistischen Rassenpolitik Selbstmord begangen habe. Er selbst habe gegen Ende des Krieges große Angst um seine Kinder gehabt und sie vor einem Konzentrationslager verstecken müssen, denn er habe sich geweigert, sie zu arisieren.

Angesichts dieser Erlebnisse und vor allem wegen seiner Verdienste für die FIFA hätten Rimet und Schricker sich vor ihn stellen müssen, zumal letzterer ihn wegen seines Verhaltens im Kriege sogar als möglichen Nachfolger des Präsidenten des Weltfußballverbandes bezeichnet habe. Generell sei es nur zu verständlich, dass die Deutschen verhasst seien. Doch im Bereich des Sportes müsse man einen Unterschied machen, wie die Amerikaner, Engländer, Franzosen und Belgier, die ihn bereits aufgesucht hätten. Die englischen Militärbehörden hätten ihm sogar zweimal eine Position als Bürgermeister angeboten und ihn gebeten, den Sport wieder aufzubauen. Die FIFA hingegen betrachte ihn als Nazi, obwohl seine eigenen Mitbürger ihn während des Nationalsozialismus bekämpft hätten und er in Verbindung zum Attentat vom 20. Juli gestanden habe. »Wäre ich nicht«, so Bauwens, »der schlechteste Mensch der Welt, wenn ich auch nur die kleinsten Handlangerdienste für diejenigen getätigt habe, die meine Frau auf dem Gewissen haben? Wäre dem so, sollten sie mich mit Schimpf und Schande aus der FIFA herauswerfen«.3

Ganz so eindeutig und ohne Makel, wie von Bauwens geschildert, war sein Verhalten unter dem Nationalsozialismus allerdings nicht. Es trifft zu, dass er sich für die FIFA eingesetzt hatte, doch seine Verbindungen zu den nationalsozialistischen Funktionären waren ebenfalls recht eng gewesen. Das war insofern zwangsläufig, als Bauwens das nationalsozialistische ›Fachamt Fußball‹, die Nachfolgeorganisa tion des DFB, in der FIFA vertrat und dadurch bestens informiert war. Dabei stand er mit zwei hohen Funktionären des nationalsozialistischen Sportes in enger Verbindung: mit Guido von Mengen, Stabsleiter im Nationalsozialistischen Reichsbund für Leibesübungen, und Georg Xandry, Geschäftsführer des ›Fachamts Fußball‹. Im Sommer 1940 erhielten seine Gespräche mit diesen beiden eine neue Stoßrichtung. Zu diesem Zeitpunkt waren die Angriffe auf Polen im Osten sowie die Niederlande, Belgien und Frankreich im Westen abgeschlossen. Die Nationalsozialisten schienen unbesiegbar, und überall entstanden Planungen, um das Nachkriegseuropa zu gestalten. Das betraf auch den internationalen Fußball, zumal die FIFA nur beschränkt handlungsfähig war und geschwächt schien. Die für den 11. Mai 1940 angesetzte Sitzung des Exekutivkomitees musste ausfallen, ebenso wie der für den Herbst geplante FIFA-Kongress. Stattdessen sollte ein Notausschuss mit Jules Rimet und seinen Stellvertretern Giovanni Mauro (Italien) und Rudolphe Seeldrayers (Belgien) die Geschäfte übernehmen. Das gefiel Bauwens überhaupt nicht. Die Mitglieder des Ausschusses seien schwer zu erreichen und dieses Gremium deshalb kaum handlungsfähig. Ohnehin sei angesichts »der ohne Zweifel eintretenden neuen Weltlage … eine Umgestaltung« der internationalen Verbände erforderlich.

Wie genau diese Neuordnung aussehen sollte, ist schwer zu bestimmen. In seinen Schreiben an Schricker beschwerte Bauwens sich mehrfach darüber, dass in der FIFA jeder Landesverband nur eine Stimme besitze, unabhängig von dessen Mitgliederzahl und seinen Zahlungen. So seien »eine Reihe von kleinen Staaten, die alle zusammen noch nicht einmal das aufbrachten, was zum Beispiel Deutschland allein an Beiträgen gab, in der Lage … (gewesen), den ganzen Kongress zu majorisieren«.4 Auch beklagte er eine Mehrheit französisch sprechender Länder in der Leitung der FIFA sowie im Regelausschuss (International Board) ein Übergewicht der britischen Vertreter, die aus historischen Gründen mit Schottland, England, Wales und Nordirland im Weltverband gleich vier der sechs Mitglieder zählten. Demgegenüber wollte er den deutschen Einfluss stärken, da der DFB einer der größten Verbände sei.

Diese Bestrebungen fanden Unterstützung bei den nationalsozialistischen Funktionären, die sich ebenfalls bemühten, dem deutschen Sport größeren Einfluss in internationalen Verbänden zu verschaffen. Inwieweit Bauwens hier aber vor allem eine Stärkung des deutschen Fußballs und seines persönlichen Einflusses anstrebte, oder ob er eine explizit nationalsozialistische Zielsetzung verfolgte, ist schwer zu entscheiden. Dafür sind die Unterlagen nicht aussagekräftig genug, zumal er keine Möglichkeit besaß, seine Pläne voranzutreiben oder sie gar zu verwirklichen. Schricker verwies mehrfach auf die Statuten, denen zufolge keine Beschlüsse gefasst werden konnten, solange der Krieg anhielt. Erst danach sei klar, wie sich die FIFA zusammensetzen werde, und erst danach könne ein Kongress einberufen werden, der alleine die Zuständigkeit besitze, Änderungen zu beschließen. Dies musste Bauwens einsehen, der zugleich die nationalsozialistischen Funktionäre davor warnte, zu großen Druck auf die FIFA auszuüben. Wenn dieser von Deutschland ausgehe, werde die FIFA in kleinere Einheiten zerfallen und dadurch der Einfluss Englands noch größer werden.5 Schricker gegenüber betonte er zudem ausdrücklich die große Bedeutung internationaler Verbände und damit die FIFA, an die in »keiner Weise getastet werde« solle.6