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Klimawandel, Armut und Hunger: Die Auswirkungen des Raubtierkapitalismus scheinen übermächtig und unaufhaltsam. Was können wir dem entgegensetzen? Statt auf Gewalt und Gegengewalt setzt Jürgen Bruhn auf zivilen Ungehorsam. Eine Lösung mit Geschichte, denn Streiks, Boykotts und andere Formen des gewaltfreien Widerstands sind keine neuen Reaktionen auf gesellschaftliche Probleme. Der zivile Ungehorsam weist eine historische Tradition auf, die untrennbar mit der Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der Demokratie verbunden ist. Belebt durch viele geschichtliche Beispiele – vom Widerstand gegen die Sklaverei in den USA über Gandhi bis hin zum Widerstand gegen den Bau der Dakota Access Pipeline – skizziert der Autor die Wurzeln des zivilen Widerstandes und beschreibt neue konkrete Wege und Methoden, die uns dazu anleiten sollen, das Steuer gegen Klimawandel und Raubtierkapitalismus herumzureißen.
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Seitenzahl: 266
Veröffentlichungsjahr: 2018
Jürgen Bruhn
Weltweiter ziviler Ungehorsam
Jürgen Bruhn
Weltweiter ziviler Ungehorsam
Die Geschichte einer gewaltfreien Revolution
Tectum Verlag
Jürgen Bruhn
Weltweiter ziviler Ungehorsam
Die Geschichte einer gewaltfreien Revolution
© Tectum – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2018
E-Pub 978-3-8288-7019-2
(Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Werk unter der ISBN 978-3-8288-4118-5 im Tectum Verlag erschienen.)
Umschlaggestaltung: Tectum Verlag, unter Verwendung des Bildes#942325602 von Michael Joven / EyeEm|www.gettyimages.de und des Bildes # 622320728 von Mima88|www.istockphoto.com
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Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeAngaben sind imInternet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Joan Baez gewidmet
Inhalt
Einführung
Kapitel 1
Henry David Thoreau – „Dann, sage ich, brich das Gesetz!“
Gewaltfreier Widerstand gegen den amerikanischen Annexionskrieg gegen Mexiko und die Sklaverei in den USA
Kapitel 2
Mahatma Gandhi – Vom Salzmarsch zum Generalstreik
Ziviler Ungehorsam der Inder gegen britisches „Law and Order“ in Südafrika und Indien
Kapitel 3
Bertrand Russell – Der lange Weg zum Frieden
Gewaltfreier Aufstand gegen die Weltkriege und die Atomwaffenversuche
Kapitel 4
Albert „Chief“ Luthuli – „Let My People Go“
Ziviler Ungehorsam für die Befreiung der schwarzen Menschen in Südafrika
Kapitel 5
Martin Luther King jr. – „I have a dream“
Ziviler Ungehorsam für die Bürgerrechte der Afroamerikaner in den USA
Kapitel 6
Die Friedensbewegung
Gewaltfreier Widerstand gegen den Völkermord in Vietnam und gegen die Aufstellung atomarer Erstschlagswaffen in den USA und in der Bundesrepublik Deutschland
Kapitel 7
Nichtregierungsorganisationen (NRO) von Greenpeace über die Friends of the Earth und die Weltsozialforen bis zu ATTAC, Oxfam, W.E.E.D., Third World Network, Fair Trade, Occupy, Blockupy etc.
Weltweiter ziviler Ungehorsam gegen Umweltzerstörung, gegen Armut und Hunger und gegen den Raubtierkapitalismus
Kapitel 8
Donald Trump, Standing Rock und die Dakota Access Oil Pipeline
Indigener gewaltfreier Widerstand gegen Klimawandel, gegen Umweltzerstörung und für Stammesrechte
Kapitel 9
Eine Strategie des weltweiten zivilen Ungehorsams
Zukünftige Formen eines gewaltfreien Widerstands gegen Raubtierkapitalismus und Klimawandel
Nachtrag
Anmerkungen
Literatur
Einführung
Der gewaltfreie Widerstand, der als Begriff und Aktion den zivilen Ungehorsam einschließt, ist nicht erst in unseren Tagen mit den Aktionen der Nichtregierungsorganisationen gegen Umweltzerstörung, Klimawandel, Hunger und Armut sowie Raubtierkapitalismus entstanden. Vielmehr hat er eine historische Tradition, die untrennbar mit der Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der Demokratie und des Rechtsstaates verbunden ist. Allerdings versuchen noch heute demokratische Staaten, die rechtsstaatliche Legitimität des zivilen Ungehorsams zu untergraben oder ihn gar in die Verfassungsfeindlichkeit abzudrängen.
In diesem Buch soll der Versuch unternommen werden, die geschichtlichen Wurzeln des zivilen Ungehorsams, aber auch seine heutige Notwendigkeit darzustellen. Dass auf dem langen Weg des zivilen Ungehorsams, der hier nachgezeichnet wird, zumeist nur jene sichtbar werden, die aus der großen Zahl, die diesen Weg beschritten haben, hervorgetreten sind, ist ein grundlegendes Manko der Geschichte, das in diesem Buch nicht behoben werden kann. Alle, die sich dem zivilen Ungehorsam verschrieben haben, ob namenlos oder prominent wie Henry David Thoreau, Mahatma Gandhi, Bertrand Russell, Albert „Chief“ Luthuli, Martin Luther King jr. oder die Berrigan-Brüder, konnten sich in ihrem gewaltfreien Aufstand nur auf die Menschlichkeit ihrer Mitstreiter und das eigene Gewissen berufen. Dabei war für diese Akteure und ihre namenlosen Mitkämpfer nicht nur das Ziel, sondern auch der steinige Weg dorthin von großer Bedeutung.
Henry David Thoreau lehnte sich gegen den amerikanischen Staat auf, indem er ihm die Steuern verweigerte, weil er den Annexionskrieg der USA gegen Mexiko nicht unterstützen wollte und die Institution der Sklaverei ablehnte. Für seinen zivilen Ungehorsam warf der Staat ihn ins Gefängnis. Mahatma Gandhi praktizierte den zivilen Ungehorsam mit Zehntausenden seiner Anhänger zuerst während seines Aufenthalts in Südafrika und später in seinem Heimatland Indien gegen die Rassendiskriminierung seiner Landsleute durch die britische Kolonialherrschaft. Dabei entwickelte er neue Methoden des zivilen Ungehorsams wie Boykotts, Massendemonstrationen, Missachtung der Gesetze bis hin zum „Hartal“, zum Generalstreik. Dafür musste er mehrere Jahre seines Lebens im Gefängnis verbringen. Der englische Philosoph und Mathematiker Lord Bertrand Russell versuchte sein Leben lang, Kriege und Kriegsvorbereitungen, später dann auch die Atomtests sowie die atomare Rüstung durch Sit-ins, Aufklärung und Aufforderung zur Kriegsdienstverweigerung zu verhindern. Als er 1914, vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, die Jugend Großbritanniens dazu aufrief, den Dienst an der Waffe zu verweigern, wurde er von seiner Regierung inhaftiert. Albert „Chief“ Luthuli, einer der Führer des Zulu-Volkes in Südafrika und Mitstreiter Nelson Mandelas im African National Congress, der Befreiungsbewegung der Schwarzen, lehnte sich gegen das britisch-burische Law-and-Order-System auf, indem er Pass- und Ausgeh-Gesetze missachtete und Massendemonstrationen, Protestmärsche und Arbeitsniederlegungen organisierte. Dafür verurteilte ihn der weiße Staat zu lebenslänglichem Hausarrest. Martin Luther King jr. kämpfte für gleiche Bürgerrechte und gegen die Ghettoisierung der Schwarzen in den USA. Wie Gandhi und Luthuli schuf er Trainingszentren, um die Afroamerikaner zum zivilen Ungehorsam zu erziehen. Mit seinen Anhängern ließ er sich auf Protestmärschen und Blockaden zusammenschlagen, häufig musste er Südstaaten-Gefängnisse aufsuchen. Im April 1968 wurde er von einem weißen Rassisten in Memphis, Tennessee, erschossen. Gegen den Völkermord in Vietnam und gegen die Aufstellung atomarer Erstschlagswaffen in den USA und der Bundesrepublik Deutschland protestierten nicht nur die Jesuitenpater Daniel und Philip Berrigan in den USA und deutsche Schriftsteller wie Heinrich Böll, Günther Grass und Walter Jens, sondern Hunderttausende durch Blockaden, Verbrennen von Einberufungsbefehlen, Ostermärsche, Protestketten etc.
Seit den 70er- und 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts bis heute sind es Nichtregierungsorganisationen (NRO), die sich durch zivilen Ungehorsam gegen Umweltzerstörung, Atomversuche, Hunger und Armut in der Dritten Welt und gegen den Raubtierkapitalismus auflehnen. Sie haben vieles bewirkt. Auch indigene Völker wie die Sioux-Indianer im US-Bundesstaat Nord-Dakota beweisen heute mit ihren NRO, dass man gegen übermächtige, rücksichtslose Regierungen wie die Trump-Administration durch zivilen Ungehorsam vorgehen kann, um Klimawandel und Umweltzerstörung zu verhindern und Stammesrechte zu verteidigen.
Doch die alten Methoden des zivilen Ungehorsams reichen heute nicht mehr aus, um das Steuer herumzureißen, um ein nachhaltiges, überlebensfähiges Wirtschaftssystem ohne unbegrenztes Wachstum, ohne Wettbewerbsfähigkeits-Besessenheit, ohne Klimawandel zu schaffen. Der heutige finanzmarktgetriebene Raubtierkapitalismus – einhergehend mit einem von Menschen verursachten Klimawandel, der die Lebensgrundlagen irreversibel zu schädigen droht – ist so übermächtig, so zerstörerisch, so undemokratisch, so menschenfeindlich, dass er nur durch besondere Methoden des gewaltfreien Widerstands in die Schranken verwiesen werden kann: durch einen weltweiten zivilen Ungehorsam, durch eine weltweite Revolution ohne Gewalt, durchgeführt von der Zivilgesellschaft auf Massenbasis. Die auf uns zukommende Klimakatastrophe und die Umweltzerstörungen legitimieren nicht nur den zivilen Ungehorsam, sondern machen ihn unerlässlich. Schließlich geht es ihm darum, unser Überleben und das Leben der nachkommenden Generationen auf unserem Planeten zu gewährleisten. Und das ist immerhin das höchste Gut, das Menschen verteidigen können. Was wir heute brauchen, ist daher eine neue Kultur des gewaltfreien Widerstands, aber auch eine neue Kultur des Mutes, des Mutes zu neuen Formen eines weltweiten gewaltfreien Aufstands, des Mutes zum Erfolg dieses Widerstands – so, wie ihn die Väter des zivilen Ungehorsams vorgelebt haben. Wenn wir überleben wollen, brauchen wir zusätzlich zu den alten Methoden neue, stärker gebündelte Instrumente des zivilen Ungehorsams. Nur durch eine solche Bündelung wird es uns gelingen, dem Raubtierkapitalismus und dem mit ihm einhergehenden Klimawandel Einhalt zu gebieten.
Kapitel 1
Henry David Thoreau – „Dann, sage ich, brich das Gesetz!“
Gewaltfreier Widerstand gegen den amerikanischen Annexionskrieg gegen Mexiko und die Sklaverei in den USA
Henry David Thoreau wurde am 12. Juli 1817 in Concord, Massachusetts, geboren. Er wuchs in einer streng puritanischen Gemeinde auf, von der er sich schon früh geistig trennte, um sich mit Naturphilosophie zu beschäftigen. Das moralische Problem, vor dem Thoreau als junger Mann stand und das er schließlich durch zivilen Ungehorsam zu lösen versuchte, waren seine Auseinandersetzungen mit dem Raubkrieg der USA gegen Mexiko – zwischen 1846 und 1848 entrissen die Vereinigten Staaten mit militärischer Gewalt dem Nachbarn Mexiko die Gebiete Texas, New Mexico, Arizona und Kalifornien – und mit der amerikanischen Institution der Sklaverei. Auch sein Heimatsstaat Massachusetts war damals ein Sklavenstaat.
Aber nicht allein die Ablehnung von Raubkrieg und Sklaverei, sondern vielmehr die Unfähigkeit, diese Dinge vor dem eigenen Gewissen und den ungeschriebenen Gesetzen der Menschlichkeit zu rechtfertigen, machten aus Thoreau einen der ersten Streiter für „civil disobedience“ (zivilen Ungehorsam). Vor über 160 Jahren sagte Thoreau in seiner berühmten Schrift „On the Duty of Civil Disobedience“ (Über die Pflicht zum zivilen Ungehorsam) zu den ungerechten Gewaltanwendungen der USA gegen Mexiko und gegen die schwarzen Sklaven: „Wenn aber die Gesetze des Staates so beschaffen sind, dass sie notwendigerweise aus dir den Arm des Unrechts an einem anderen machen, dann, sage ich, brich das Gesetz. Mach dein Leben zu einem Gegengewicht, um die Maschine aufzuhalten.“1 Was konnte man gegen diese Gewaltanwendungen „seines Staates“ und dessen Gesetze unternehmen, fragte Thoreau auch in seinem Essay „Slavery in Massachusetts“. Sollte man Gegengewalt anwenden, oder gab es andere Mittel, den eigenen Staat in seiner Rechtsprechung zu verändern? Das war die entscheidende Frage für diesen im puritanischen Sklavenstaat Massachusetts aufgewachsenen Naturphilosophen, der sich aus Enttäuschung über die materielle Gier seiner Mitmenschen und aus Missachtung seines gewalttätigen Staates zunächst in die Wälder zurückzog. Dort entschied er sich dann, wie er es in seinem Werk Walden or Life in the Woods beschreibt, für das Prinzip des gewaltlosen Widerstands oder, wie er es nannte, für den „zivilen Ungehorsam“.2
Diese beiden Gewaltakte des amerikanischen Rechtsstaates musste ein „rechtschaffener Mensch bekämpfen, um sich nicht selbst zu verleugnen“. Thoreau beantwortete alsbald die Machenschaften seines Staates, indem er diesem unter anderem die Steuern verweigerte, um so den Annexionskrieg gegen Mexiko nicht mitzufinanzieren. Auf öffentlichen Veranstaltungen forderte er auch seine Mitbürger auf, die Steuerzahlungen an den Staat einzustellen. Dafür wurde er ins Gefängnis geworfen. Zudem schrieb er Essays gegen die Sklaven-Gesetzgebung und die ungerechte Behandlung der indianischen Urbevölkerung wie „Life Without Principle“, „Slavery in Massachusetts“, „The Last Days of John Brown“ und andere.
Nach seiner Rückkehr aus den Wäldern am Waldensee im Herbst 1847, wo er sich eine Blockhütte gebaut hatte, um eine Zeit lang in der Wildnis zu leben und „diesem Staat und seiner menschlichen Gemeinschaft zu entfliehen“, arbeitete er in seiner Heimatstadt Concord in mehreren Berufen, unter anderem in der väterlichen Bleistiftfabrik, wobei er eine neue Grafitmine erfand. Die Berührung mit dem ausschließlich kommerziellen Leben der Neuengländer veranlasste ihn zu der Streitschrift „Leben ohne Prinzipien“. In ihr wandte er sich gegen die repressive, alles andere einschnürende Wirtschaftsreligion der Puritaner, die seiner Meinung nach den Menschen zu einem reinen Wirtschaftsobjekt degradierte und nicht fähig war, über das Wirtschaftsleben hinaus eine lebendige Philosophie und Lebensform oder wirkliche Ideale zu schaffen, die den Menschen als Ganzes, als Kultur- und Naturwesen betrachtete. Nur eine Wirtschaftsreligion, die den Menschen ausschließlich danach beurteilte, was er an wirtschaftlichen Produkten hervorbrachte und wie er sein Geld anlegte und verwaltete, konnte nach Thoreaus Meinung per Verfassung eine Institution wie die moderne Sklaverei hervorbringen und die indianische Bevölkerung vernichten, weil diese nicht willens war, die puritanischen Lebensformen anzunehmen.3 (Zu ähnlichen Schlussfolgerungen war 1915 auch der deutsche Soziologe Max Weber in seinem berühmten Essay „Asketischer Protestantismus und kapitalistischer Geist“ gekommen).
Die Auseinandersetzung um die Sklavenfrage in den USA trieb schließlich Ende der l850er-Jahre nicht zuletzt wegen der aktiven Aufklärungsarbeit und des Einsatzes von Denkern und Menschenfreunden wie Henry David Thoreau, Ralph Waldo Emerson, William Lloyd Garrison, Carl Schurz, John Brown und der von ihnen unterstützten „Abolitionisten-Bewegung“ (Bewegung zur totalen Abschaffung der Sklaverei in den USA) dem Höhepunkt zu. Thoreau engagierte sich in den letzten Jahren seines Lebens immer stärker für diese Bewegung. Am 4. Juli 1854, am amerikanischen Unabhängigkeitstag, hielt er auf einer öffentlichen Versammlung in Boston den Vortrag „Sklaverei in Massachusetts“. In ihm verdammte er die Sklaverei insgesamt, bezichtigte den Staat Massachusetts als menschenfeindlich und seine Gesetze als ungerecht und schloss mit den Worten: „Ich weiß, meine Worte sind Mord an diesem Staat.“ Nachdem er diesen Vortrag Thoreaus gehört hatte, verbrannte der Philosoph und Abolitionist William Lloyd Garrison ein Exemplar der amerikanischen Verfassung als Protest gegen die darin enthaltenen Gummi-Paragraphen, die die Sklaverei „in dieser Demokratie legalisierten“.4
Drei Jahre später lernte Thoreau John Brown (1800–1859) kennen, einen tiefreligiösen Philosophen und aktiven Abolitionisten aus Kansas. Brown führte mit einer kleinen bewaffneten Truppe von gleichgesinnten Weißen und Schwarzen regelrecht Krieg gegen die Sklavenbesitzer, indem er häufig vom Norden aus in die sklavenhaltenden Südstaaten einbrach, schwarze Sklaven bei öffentlichen Auktionen und der Zwangsarbeit auf den Plantagen befreite und sie zu Tausenden über die von ihm geschaffene und geleitete Fluchthelferorganisation mit dem Decknamen „Underground Railroad“ in sklavenfreie Nordstaaten transportierte.5 Während Thoreau nicht willens war, wegen der Sklaverei seine sich selbst auferlegte Forderung nach gewaltfreiem Widerstand gegen den Staat in aktivere, gewaltbereite Formen umzuwandeln, hatte sich John Brown zu gewalttätigen Aktionen gegen die sklavenhaltenden Staaten entschieden.
Dabei hatte Brown es sich nicht leicht gemacht und schon damals das Dilemma des zivilen Ungehorsams in einem demokratischen Rechtsstaat deutlich erkannt, nämlich die Frage, ob Gewalt gegen Sachen und Gewalt gegen Personen vertretbar und mit den Gesetzen des Staates und dem individuellen Gewissen zu vereinbaren sei. Die erste Frage konnte Brown für sich lösen: Gewalt gegen Sachen war für ihn rechtens, „solange der Staat durch Gesetzgebung Gewaltinstitutionen wie die Sklaverei unterstützte und rechtlich deckte“. Das war für John Brown mit der Lebensweise eines freien Menschen und seinen Vorstellungen von einem gerechten Staat auf Erden unvereinbar. Die Frage der Gewalt gegen Menschen blieb dagegen schwierig und ließ sich nicht abschließend beantworten. Brown glaubte persönlich, dass Gott ihn für sein Tun richten würde, und er predigte seinen Leuten, niemals unnütz Blut zu vergießen, den Gegner, wenn irgend möglich, durch Überzeugung für die eigenen Ideen zu gewinnen und zu jeder Zeit willens zu sein, für die eigenen Ideen zu sterben oder durch das Gesetz bestraft zu werden.66
1857 versuchte John Brown, seinen Freund Henry David Thoreau für eine aktivere Mitarbeit und eine gewisse Verschwörungstätigkeit in der Abolitionisten-Bewegung zu gewinnen, und er wandte seine ganze Überzeugungskraft auf, Thoreau zumindest für die Gewalt gegen Sachen zu überreden. Vergeblich – Thoreau konnte sich dazu nicht durchringen. Er fühle sich „zur Gewalt nicht befähigt“, antwortete er Brown. Im Herbst 1859 besetzte John Brown mit einer Gruppe von schwarzen und weißen Antisklaverei-Kämpfern das staatliche Waffenarsenal „Harpers Ferry“ im Sklavenstaat Virginia, um sich Waffen für seine zukünftigen Aktionen zu beschaffen. Die Gruppe fiel einem Verrat zum Opfer und wurde im Waffenarsenal von regulären Truppen umstellt, niedergemacht oder gefangen genommen. Brown selbst stellte man vor Gericht; er akzeptierte protestlos den Richterspruch und wurde am 2. Dezember 1859 gehenkt.7
Thoreau, der bei seinem Prinzip der Gewaltlosigkeit verblieben war, konnte den Tod seines Freundes John Brown nur schwer verkraften. Als er von dem Richterspruch hörte, verkrampfte sich sein ganzer Körper, und er wurde teilweise gelähmt und war lange Zeit bettlägerig. Die Abolitionisten und viele der ehemaligen, von ihm geretteten Sklaven erhoben John Brown zum Märtyrer. Noch heute singen die Afroamerikaner in den USA die „Schlachthymne der Republik“: „Glory Hallelujah, John Brown’s Truth Keeps Marching On“ statt wie es richtig heißt: „God’s Truth Keeps Marching On“. Thoreau schrieb umgehend eine Laudatio auf seinen toten Freund mit dem Titel „Die Letzten Tage des John Brown“, in der er diesen als „die helle Lichtspur in der Dunkelheit der Sklaverei, in der wir leben“, beschrieb. Und an anderer Stelle: „Ich hatte das Gefühl, wenn man ihn – einen Gefangenen inmitten seiner Feinde in Virginia, einem zum Tode Verurteilten – nach seinem nächsten Vorhaben fragen würde, so könnte er klüger antworten als alle seine Landsleute … Mit ihm verglichen, waren alle andern Menschen im Norden und im Süden nicht bei Sinnen … Der, den dieses Land nun hängen will, ist sein bester Mann.“8
Vielleicht wollte Thoreau Brown auch Abbitte leisten, weil er sich den gewaltbereiten Aktionen der Abolitionisten verweigert hatte. Jedenfalls schreibt er in den „Letzten Tagen des John Brown“: „Viele Menschen aus dem Norden, und auch einige aus dem Süden, wurden von Browns Verhalten und von seinen Worten wunderbar ergriffen, sie sahen und fühlten, dass es heldenhaft und edel war und dass es in diesem Land nichts Vergleichbares gegeben hatte. Die große Zahl jedoch war ungerührt … Sie sahen, dass Brown tapfer war, und sie meinten, er habe schon das Richtige getan, aber ansonsten konnten sie nichts Besonderes an ihm finden. Da sie nicht gewohnt waren, feine Unterschiede zu machen oder Großzügigkeit zu würdigen, lasen sie seine Reden, als ob sie nicht läsen … Sie fühlten nicht die Kraft seiner Reden, und also dachten sie nur daran, dass die Gesetze des Staates gegen Brown ausgeführt werden müssen. Sie dachten an die alte Formel und hörten nicht die neue Verkündigung.“9 Der Mensch, der in Browns Taten nicht Weisheit und Menschlichkeit entdecken konnte, war für Thoreau der „Untertan“, Er sei „nicht willentlich, sondern verfassungsmäßig blind auf einem Auge.“
Thoreau glaubte an die Fähigkeit einer zielbewussten, denkenden, moralischen Minderheit, durch zivilen Ungehorsam das Übel, nämlich das Mitheulen und Mitmachen einer kaum reflektierenden, gesetzeshörigen Mehrheit korrigieren zu können. „Eines weiß ich genau“, schrieb er in „Über die Pflicht zum zivilen Ungehorsam“, „wenn eintausend, wenn einhundert, wenn zehn Menschen, ja, wenn nur ein Mensch im Staate Massachusetts aufhören würden, Sklaven zu halten und sich von der Zusammenarbeit mit den Sklaven-Gesetzen des Staates zurückzögen und sich für ihre Überzeugung ins Gefängnis werfen ließen, das würde schließlich das Ende der Sklaverei in Amerika bedeuten. Denn es ist nicht wichtig, wie klein die Anfänge sind; worauf es ankommt ist: Was einmal wohlgetan ist, ist für immer und für alle wohlgetan.“10
Wegen solcher Sätze ist Thoreau häufig als Elitist verschrien worden. Doch scheint mir aus ihnen eher hervorzugehen, dass er an die Erziehbarkeit der Mehrheit glaubte. Und er lag wohl durchaus richtig, denn seine Ungehorsamsschrift hatte zumindest einen maßgeblichen Einfluss auf viele nordstaatliche Gesetzgeber in Washington. Noch bevor der Amerikanische Bürgerkrieg zwischen Nord- und Südstaaten (1861–1865) begann – der vor allem auch wegen der Sklaverei entstand –, trugen Abgeordnete und Senatoren beider Häuser Thoreaus Schrift über den zivilen Ungehorsam gegen den eigenen Staat bei sich wie die Bibel, zitierten daraus in den Kongress-Debatten und auf öffentlichen Veranstaltungen. Sie wurde der geistige Prüfstein gegen die Sklaverei: Wer sie damals aus den Reihen der Abgeordneten und Senatoren – auch die, die sie ablehnten – nicht gelesen hatte, galt als unwürdig, die Frage der Sklaverei lösen zu helfen. Das war damals im Grunde ein ungeheuerlicher Vorgang bei Politikern, die die puritanische Wirtschaftsreligion repräsentierten und noch bis wenige Jahre vor Bürgerkriegsausbruch selbst in den Neuenglandstaaten Sklavenhalter gewesen waren und kaum etwas gegen die Sklaverei unternommen hatten.11 Als der Bürgerkrieg begann, war es unter anderem der Deutsch-Amerikaner Carl Schurz („Deutschlands beste Gabe an Amerika“), der als General der Nordstaaten seinen Truppen häufig aus Thoreaus Ungehorsamsschrift vorlas. Schurz hatte nach der 1848er-Revolution in Deutschland, an der er auf der Seite der republikanischen Erhebung teilgenommen hatte, 1849 sein Heimatland verlassen müssen, da die preußische Gendarmerie ihn verfolgte. 1877 wurde er Innenminister unter Präsident Hayes und war maßgeblich an der endgültigen Durchsetzung der „Gesetzgebung zur Befreiung der Sklaven“ beteiligt.12
An dieser Stelle möchte ich etwas ausführlicher auf Thoreaus Essay „On the Duty of Civil Disobedience“ eingehen, um den Einfluss, den er mit ihm erregte, besser verständlich zu machen. So schreibt er zu Beginn: „Es ist nicht so wichtig, dass die große Menge ebenso gut ist wie du oder ich, sondern dass es überhaupt irgendwo wirkliche Güte gibt, denn das wird die Masse mitreißen. Es gibt Tausende, die im Prinzip gegen den Krieg gegen Mexiko und gegen die Sklaverei sind, und die doch praktisch nichts unternehmen, um beides zu beseitigen … Sie bleiben ruhig sitzen, die Hände in den Taschen, und sagen, sie wüssten nicht, was zu tun sei, und tun eben auch nichts. Es sind Menschen, für die die Frage der Freiheit hinter der des Freihandels zurücktritt und die nach dem Essen in aller Ruhe die Tagespreise zugleich mit den letzten Nachrichten aus Mexiko lesen und vielleicht über dieser Lektüre einschlafen.“13 An anderer Stelle äußert er sich zu dem in seinen Augen ungerechtfertigten Raubkrieg der USA gegen Mexiko: „Ich verdamme diesen Krieg … und ich muss zusehen, dass ich mich nicht zu dem Unrecht hergebe, dass ich verdamme … Deshalb habe ich sechs Jahre lang keine Heeres- und Wahlsteuern bezahlt … Unter einer Regierung, die irgendjemanden unrechtmäßig einsperrt, ist das Gefängnis der angemessene Platz für einen gerechten Menschen. Der rechte Platz, der einzige, den Massachusetts seinen freieren und weniger kleinmütigen Geistern anzubieten hat, ist eben das Gefängnis, wo sie von Staats wegen ausgesetzt und ausgeschlossen werden, nachdem sie sich durch ihre Grundsätze schon selbst ausgeschlossen haben.“14 Etwas später fährt Thoreau dann fort: „Der entflohene Sklave, der mexikanische Kriegsgefangene auf Parole, der Indianer mit seinen Anklagen gegen das Unrecht, das man seiner Rasse zufügt, der Abolitionist und der Steuerverweigerer: Nur hier sollen sie ihn finden, im Gefängnis, auf diesem abgeschiedenen, aber freien und ehrbaren Boden, wo der Staat jene hinbringt, die nicht mit ihm, sondern gegen ihn sind. Es ist das einzige Haus in einem Kriegs- und Sklavenstaat, das ein freier Mann in Ehren bewohnen kann.“15 Für Thoreau waren die Vereinigten Staaten und der Bundesstaat Massachusetts gewalttätig und ungerecht – mit den entsprechenden Konsequenzen: „Was ich will, ist, dem Staat die Gefolgschaft verweigern, mich von dieser Pflicht zurückziehen und über ihr stehen. Mich interessiert es nicht, wo mein Dollar hingeht, solange er nicht einen Mann und ein Gewehr kauft, um Krieg gegen Mexiko zu führen oder um Sklaverei zu unterstützen … Ja, ich erkläre dem Staat den Krieg, ruhig, wie es meine Art ist.“16
Am Ende von Thoreaus Schrift heißt es dann: „Der Fortschritt von einer absoluten zu einer gemäßigten Monarchie, von einer gemäßigten Monarchie zu unserer gegenwärtigen Form einer gewalttätigen Demokratie, ist ein Fortschritt in Richtung auf wahre Achtung vor dem Individuum, auf wahre Demokratie … Ist die Demokratie, wie wir sie kennen, wirklich die letztmögliche Verbesserung im Regieren? Ist es nicht möglich, in der Demokratie, in unseren Verfassungen noch einen Schritt weiter zu gehen zur Anerkennung und Kodifizierung der Menschenrechte einschließlich des Rechts auf zivilen Ungehorsam gegen den Staat? … Nie wird es einen wirklich freien und aufgeklärten Staat geben, solange der Staat sich nicht bequemt, das Individuum und sein Recht auf zivilen Ungehorsam als größere und unabhängige Macht anzuerkennen, von welcher all seine Macht und Gewalt sich ableiten … Ich mache mir das Vergnügen, mir einen solchen demokratischen Staat vorzustellen, der es sich leisten kann, zu allen Menschen gerecht zu sein. Ein Staat, der solche Früchte trüge, würde den Weg für einen vollkommenen Staat freigeben – einen Staat, den ich mir auch vorstellen kann, den ich bisher aber noch nirgends gesehen habe.“17
Henry David Thoreau starb am 6. Mai 1862 – im zweiten Jahr des Amerikanischen Bürgerkriegs zwischen den Nord- und den Südstaaten – in Concord, Massachusetts. Der Sheriff Sam Staples, der ihn einst wegen seiner Steuerverweigerung verhaftet und ins Gefängnis geworfen hatte und daraufhin sein Freund geworden war, sagte nach seinem letzten Besuch an Thoreaus Sterbebett: „Habe nie eine Stunde mit größerer Befriedigung verbracht, habe nie einen Menschen mit so viel Freude und Frieden sterben sehen.“ Am Tag seines Todes hatten die Schulkinder in Concord frei. Sein Freund, der amerikanische Dichter und Philosoph Ralph Waldo Emerson, hielt die Grabrede.
Später trug ein Mann Thoreaus Ungehorsamsschrift häufig bei sich und kannte sie schließlich auswendig, als er Südafrika für sein Heimatland Indien wieder verließ: Mohandas K. Gandhi. In Indien verteilte er sie wie ein Lehrbuch unter seinen Mitstreitern.18
Kapitel 2
Mahatma Gandhi – Vom Salzmarsch zum Generalstreik
Ziviler Ungehorsam der Inder gegen britisches „Law and Order“ in Südafrika und Indien
„Wie konnte ein solcher Mensch bloß auf Erden wandeln.“
Albert Einstein über Gandhi nach dessen Ermordung 1948
Mohandas Karamchand Gandhi wurde am 2. Oktober 1869 in der Stadt Porbandar im westlichen Indien (zwischen Mumbai und Karachi) geboren. Sein Vater Karamchand Gandhi diente den örtlichen Rajas (Prinzen) in dem kleinen Stadtstaat Porbandar als Premierminister. Er war, so Mohandas, ein unbestechlicher Beamter. Seine Mutter Putlibai war eine tiefreligiöse Hindu. Für Mohandas war sie eine Heilige. Der Familie ging es wirtschaftlich gut, man besaß ein Haus in Porbandar, eines in Rajkat und ein anderes in Kutiana.
Mohandas Gandhi war, wie er von sich selbst sagte, „nur ein mittelmäßiger Schüler“. Dennoch entschied sich seine Familie, ihn nach London zu schicken, um dort Rechtswissenschaft (British Common Law) zu studieren, sollte er doch die Familientradition fortsetzen und später ein hohes Verwaltungsamt in einem von den Engländern dominierten indischen Stadtstaat übernehmen. In London befolgte Gandhi das Versprechen, das er seiner Mutter gegeben hatte, und blieb Vegetarier in diesem „fleischfressenden Land“. Das Rechtsstudium, das Gandhi nur widerwillig absolvierte und mit einem „Barrister’s Degree“ (Rechtsanwaltsgrad) abschloss, füllte ihn kaum aus. Er beschäftigte sich in London weit mehr mit philosophischen und Religionsfragen als mit Politik und Recht. Vor allem waren es das Neue Testament und darin besonders die Bergpredigt, die es ihm angetan hatten. Die Worte „Wer immer dich auf die rechte Wange schlägt, halte ihm auch die linke hin … Häufe nicht Reichtum auf dieser Erde für dich an, denn dort, wo dein Reichtum ist, wird auch dein Herz sein.“ „Diese Worte“, so Gandhi, „entzückten mich, sie erinnerten mich an Aussagen in der Bhagavad-Gita, dem heiligen Buch der Hindus.“ Die Bergpredigt und die Bhagavad-Gita blieben zeit seines Lebens Gandhis geistige Quellen. In der Bhagavad-Gita waren es vor allem die Teile über die Lehre und die Anwendung von Yoga, der Versuch, durch diese Praktiken totalen Frieden mit sich selbst und seiner Umwelt zu erreichen.19
In London lernte Gandhi auch Mitglieder der „Fabian Society“ kennen, einer Gruppe britischer sozialistischer Intellektueller, unter anderen auch George Bernard Shaw und Edward Carpenter. Es war Carpenter, der Gandhi mit Thoreaus „Pflicht zum zivilen Ungehorsam“ vertraut machte. Der Essay wurde zu der wesentlichen politischen Schrift, die Gandhi aus Europa nach Südafrika und Indien hinübernahm. Der Begriff „Civil Disobedience“ taucht in seinen späteren Reden und Aufsätzen immer wieder auf, so wie er auch Thoreaus Methode der Steuerverweigerung gegenüber dem Staat anwandte. So hatte er schon vor dem berühmten „Salzmarsch“ ans Meer seine Anhänger in Indien aufgefordert, die von den Engländern erhobene Salzsteuer nicht mehr zu entrichten.20
Nach seinem Studium in London und der Rückkehr nach Indien im Jahr 1891 fiel es Gandhi schwer, sich in seinen ersten Rechtsfällen in Mumbai „durchzuboxen“. Doch seine Frau Kasturbai und ihr vierjähriger Sohn Hariral mussten versorgt werden. Und so begann Gandhi alle möglichen Rechtsfälle, die sich zwischen der britischen Kolonialverwaltung und den indischen Prinzen und Würdenträgern in Porbandar, Rajkat und anderswo ergaben, zu bearbeiten.
Gandhis älterer Bruder Laxmidas, der damals erster Berater des Prinzen von Porbandar war, hatte mehrere Male versucht, den „Ersten Britischen Agenten in Porbandar“ zu umgehen, um mehr Rechte für die Inder zu erreichen. Entsprechend wollten die Briten Laxmidas aus dem Amt drängen. Gandhi intervenierte für seinen Bruder beim britischen Agenten, den er persönlich kannte, dieser befahl ihm aber, sein Büro umgehend zu verlassen. Als Gandhi blieb, um sein Bittgesuch vorzubringen, ließ ihn der Agent vom Türsteher die Treppe hinunterwerfen. „Der Schock dieses Zwischenfalls“, so Gandhi in seiner Autobiografie, „veränderte den Kurs meines ganzen zukünftigen Lebens.“ Nun hatte er die Rassendiskriminierung der englischen Kolonialherrschaft und die Ohnmacht der Inder am eigenen Leibe erfahren. Es war zu dieser Zeit, 1893, als ihm eine indische Firma in Natal, Südafrika, einen Job anbot, um dort für ein Jahr ihre Rechtsangelegenheiten mit der südafrikanischen Regierung zu vertreten. Gandhi nahm an.
Kurz nach seiner Ankunft in Südafrika kam es zu einem zweiten, ähnlichen Vorfall, der ihm vor Augen führte, dass das britische System von Law and Order nur dazu diente, die Herrschaft der Engländer über asiatische und afrikanische Menschen mit allen Mitteln aufrechtzuerhalten. Als Gandhi nach einigen Tagen Aufenthalt in Südafrika mit dem Nachtzug nach Pretoria fahren musste, um dort für seine Firma einen Rechtsfall zu klären, stieg er mit einer Erste-Klasse-Fahrkarte in einen Erste-Klasse-Waggon, hatte er doch vor, die Fahrt über zu schlafen. Ein weißer Südafrikaner, der bei der Station Pietermaritzburg zustieg und des „braunen Kerls“ gewahr wurde, verließ das Abteil sofort wieder und erschien kurz darauf mit zwei weißen Eisenbahnbeamten, die Gandhi anbrüllten und ihn aufforderten, sofort das Abteil zu verlassen, da er darin nichts zu suchen habe, sei es doch ausschließlich für Weiße reserviert. Gandhi zeigte sein Erste-Klasse-Ticket. Darauf wurden die Eisenbahnbeamten handgreiflich, warfen ihn aus dem Abteil und zwangen ihn, während der gesamten Fahrt draußen auf der Waggonplattform zu bleiben. Auf der Weiterfahrt in einer Überlandkutsche wurde er von dem weißen Fahrer geschlagen und gezwungen, draußen auf dem Trittbrett zu stehen, da, so auch hier die Begründung, das Innere der Kutsche Weißen vorbehalten sei. Die ganze Fahrt über musste Gandhi diesen Platz einnehmen, und die weißen Insassen machten sich über den „stinkenden Asiaten“ lustig.
Diese Vorkommnisse mit den britischen Autoritäten in seiner Heimatstadt Porbandar und in Südafrika waren für Gandhi die „kreativsten Erfahrungen“ in seinem sozialen Leben. Für ihn bildeten sie den „Moment der Wahrheit“. Von nun an wollte er solche Formen sozialen Unrechts und rassischer Diskriminierung nicht mehr akzeptieren. Von nun an wollte er „seine menschliche Würde als Inder“ verteidigen.21 Gandhi stellte fest, dass über hunderttausend seiner Landsleute, die nach Südafrika ausgewandert waren, von den Engländern und den Buren zwar nicht ganz so schlecht behandelt wurden wie die Schwarzen. Aber die Inder – die Asiaten, wie sie noch heute in Südafrika genannt werden – durften weder in den ihnen zugewiesenen Provinzen Transvaal, Natal, Zululand und Cape Colony Land besitzen, noch hatten sie Wahl- oder allgemeine Bürgerrechte. Sie mussten eine Drei-Pfund-Steuer entrichten, um eine Aufenthaltserlaubnis zu erhalten, mit der sie nur in Ghettos leben durften, die für Inder reserviert waren. In weißen Stadtteilen durften sie nicht wohnen, und wollten sie durch diese hindurch, um zur Arbeit zu gelangen, war es ihnen untersagt, die Bürgersteige zu benutzen. Taten sie es doch, wurden sie von weißen Polizisten niedergeknüppelt und auf die Straße geworfen. Auch Gandhi erlebte diese Demütigung. In Natal durften sich Inder nach 21 Uhr ohne Pass nicht auf der Straße sehen lassen; in der Buren-Republik „Orange Free State“ durften sie kein Eigentum besitzen, keinen Handel treiben, kein Land kaufen oder darüber verfügen.
Die meisten Inder waren in den 1860er- und 1870er-Jahren mehr oder weniger als Leibeigene („indentured laborers“) nach Südafrika gekommen, um in Bergwerken und auf den Tee- und Kaffeeplantagen zu arbeiten. Meist war eine Aufenthaltsdauer von fünf Jahren vorgesehen, häufig aber blieben sie länger, weil die Lebensbedingungen in Südafrika immer noch besser waren als in Indien unter der britischen Kolonialverwaltung. So wuchs ihre Zahl in Südafrika an. Im Jahr 1894 änderte die südafrikanische Regierung daraufhin die Aufenthaltsbedingungen. Von nun an wurde ein Inder „Leibeigener auf Lebenszeit“, wenn er nach fünf Jahren nicht in die Heimat zurückkehrte, oder er wurde ein „freier Arbeiter“, indem er für sich und seine Angehörigen eine zusätzliche jährliche Steuer von je drei Pfund entrichtete. Da die meisten Inder, die in Südafrika bleiben wollten, sich diese Steuer nicht leisten konnten, gab es für sie nur zwei Alternativen: zurück in die Heimat – und das bedeutete Hunger und eine geringe Lebenserwartung – oder lebenslängliches Leibeigentum in der Fremde. Nur wenige Inder waren wie Gandhi als „Freie“ nach Südafrika gekommen, durften in Grenzen Handel treiben oder „professional jobs“ etwa als Rechtsanwalt oder Lehrer ausüben, während alle anderen genannten Restriktionen im Großen und Ganzen auch für sie galten.
Statt nur ein Jahr in Südafrika zu bleiben, wie es in seinem Vertrag mit der indischen Firma ausgehandelt worden war, blieb Gandhi 21 Jahre (von 1893–1914), besuchte aber des Öfteren sein Heimatland. In dieser Zeit, in der er zumeist als Rechtsanwalt seinen Lebensunterhalt verdiente, entwickelte er sich zum „ungewählten Führer“ der Inder in Südafrika und erreichte schließlich durch den von ihm organisierten anhaltenden zivilen Ungehorsam in Form von Steuerboykott, Arbeitsniederlegung, Demonstrationen, Streiks etc., was ihn häufig ins Gefängnis brachte, Bedingungen, die seine Landsleute ohne diesen „Fakir im Nachthemd“ (Winston Churchill) niemals erzielt hätten. Als er nach Indien zurückkehrte, gab es keine Drei-Pfund-Steuer, keine Ausgangssperren für Inder mehr, und auch die Leibeigenschaft sollte bald enden.22