Wer sich in Gefahr begibt - Ann Granger - E-Book

Wer sich in Gefahr begibt E-Book

Ann Granger

4,5
9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

England, 1864. Als Lizzie Martin mit dem Zug nach London kommt, um eine neue Stelle anzutreten, ahnt sie nicht, welche Abenteuer hier auf sie warten. Doch schon der erste Eindruck, den sie von der Stadt bekommt, ist bedrückend. Bereits vor dem Bahnhof begegnet sie einem Leichenwagen, der eine tote Frau abtransportiert. Und in ihrem neuen Heim angekommen, erfährt sie, dass ihre Vorgängerin unter mysteriösen Umständen von einem Tag auf den anderen spurlos verschwunden ist. Lizzies Neugier ist geweckt. Zusammen mit ihrem alten Bekannten Inspector Benjamin Ross beginnt sie nachzuforschen ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 544

Bewertungen
4,5 (24 Bewertungen)
16
5
3
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

CoverÜber die AutorinTitelImpressumWidmungKAPITEL EINSKAPITEL ZWEIKAPITEL DREIKAPITEL VIERKAPITEL FÜNFKAPITEL SECHSKAPITEL SIEBENKAPITEL ACHTKAPITEL NEUNKAPITEL ZEHNKAPITEL ELFKAPITEL ZWÖLFKAPITEL DREIZEHNKAPITEL VIERZEHNKAPITEL FÜNFZEHNKAPITEL SECHZEHNKAPITEL SIEBZEHNKAPITEL ACHTZEHNKAPITEL NEUNZEHNKAPITEL ZWANZIGKAPITEL EINUNDZWANZIG

Über die Autorin

Ann Granger war früher im diplomatischen Dienst tätig. Sie hat zwei Söhne und lebt heute mit ihrem Mann in der Nähe von Oxford. Bestsellerruhm erlangte sie mit der Mitchell-und-Markby-Reihe und den Fran-Varady-Krimis. Nach Ausflügen ins viktorianische England mit den Lizzie-Martin-Romanen, knüpft sie mit der Serie um Inspector Jessica Campbell wieder unmittelbar an die Mitchell-und-Markby-Reihe an.

ANN GRANGER

WER SICH IN GEFAHR BEGIBT

EIN FALL FÜR LIZZIE MARTIN UND BENJAMIN ROSS

Kriminalroman Aus dem Englischen von Axel Merz

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Titel der englischen Originalausgabe: »A Rare Interest in Corpses«

Für die Originalausgabe: Copyright © 2006 by Ann Granger

Für die deutschsprachige Ausgabe: Copyright © 2007 by Bastei Lübbe AG, Köln Textredaktion: Rainer Schumacher, Bonn Lektorat: Stefan Bauer Titelillustration: © Dave Hopkins / phosporart Umschlaggestaltung: Tanja Østlyngen E-Book-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-8387-0892-8

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Dieses Buch, welches in der Vergangenheit spielt, ist meinen Enkelkindern William und Josie Hulme gewidmet. Ihnen gehört die Zukunft.

Ich möchte all jenen danken, die mir bei den Recherchen zum Hintergrund dieses Buchs geholfen haben, insbesondere (und in alphabetischer Reihenfolge!)

KAPITEL EINS

Elizabeth Martin

Die Maschine stieß einen langgezogenen Seufzer aus wie eine ältere Lady, die ihr Korsett löste, und hüllte alles und jeden in eine Wolke aus schwefeligem Rauch und Dampf. Er wirbelte den Bahnsteig entlang und in die Höhe, wo er sich unter dem Dach des Bahnhofs fing. Der Geruch erinnerte mich an Mary Newlings Küche, wo ich als kleines Mädchen die Aufgabe gehabt hatte, hart gekochte Eier zu schälen.

In unerwarteten Abständen teilte sich der Rauch, und eine Gestalt erschien kurz darin, nur um gleich wieder zu verschwinden und von einer anderen ersetzt zu werden wie in einer flimmernden Laterna-magica-Vorstellung. Hier eine Frau mit einer großen Tasche in der einen und einem Jungen in einem Matrosenanzug an der anderen Hand. Als sie verschwanden, tauchte an einer anderen Stelle ein Mann in Jacke und Hose aus grellem Karomuster mit einem verwegen auf dem Kopf sitzenden Hut auf. Ich muss so unerwartet für ihn in Sicht gekommen sein wie er für mich. Er bedachte mich mit einem scharfen Raubtierblick, und ich fand gerade genügend Zeit zu sehen, wie er einen abfälligen Blick aufsetzte, bevor der Rauchvorhang sich wieder über ihm schloss.

»Nun aber, Lizzie Martin!«, schalt ich mich forsch. »Du bist weder hübsch genug noch gut genug gekleidet, als dass du dich sorgen müsstest, belästigt zu werden.«

Trotzdem verletzte es meine Eitelkeit, so schnell abgetan zu werden.

Der Rauch wurde rasch dünner, und die nächste Gestalt, die vor mir erschien, trug zu meiner großen Erleichterung die Uniform eines Kofferträgers. Ein kleiner, drahtiger Mann unbestimmbaren Alters, der mich angrinste und sich in einer Geste an die Mütze tippte, die seinen Respekt signalisieren sollte, doch unglücklicherweise stark an das konspirative An-die-Stirn-tippen erinnerte, welches die Einfältigkeit einer anderen Person signalisierte.

»Darf ich Ihren Koffer nehmen, Miss?«

»Ich habe nur diesen einen«, sagte ich entschuldigend. »Und eine Hutschachtel.«

Doch er griff bereits nach beidem, und ehe ich mich versah, stapfte ich munteren Schrittes hinter ihm her in Richtung Bahnsteigsperre. Mein Fahrschein wurde von dem wichtig aussehenden Beamten dort beiseitegewischt, und ich betrat die Haupthalle.

»Werden Sie abgeholt, Miss? Oder brauchen Sie eine Droschke?« Der Kofferträger schaute erwartungsvoll zu mir hinauf.

»Oh, ja, eine Droschke, aber …«

Zu spät. »Dann folgen Sie mir bitte, Miss. Ich bringe Sie zum Stand.«

Mrs Parry hatte mir ausführlich geschrieben und bedauert, dass es nicht möglich sei, mich von irgendjemandem abholen zu lassen, und mir gleichzeitig ausführliche Anweisungen gegeben, wie ich mich bei meiner Ankunft in der Hauptstadt verhalten sollte. Ich sollte meine Habseligkeiten nur einem Kofferträger anvertrauen, der (die nächsten Worte waren dick unterstrichen) ein Angestellter der Eisenbahngesellschaft war, und niemand anderem! Wenn ich jemand anderem meine Koffer gäbe, sollte ich nicht überrascht sein, falls ich sie niemals wiedersähe. Wenigstens diese Anweisung hatte ich befolgt.

Ich war auf dem besten Weg, auch der zweiten Folge zu leisten: eine Droschke zu nehmen – und zwar eine, die von einem Pferd in gutem Zustand gezogen wurde – und mich zuerst beim Kutscher nach dem Fahrpreis zu erkundigen. Ich sollte mich von ihm auf dem kürzesten Weg zu Mrs Parrys Adresse fahren lassen. Droschkenfahrer seien zuzeiten höchst impertinent, hatte sie geschrieben, wenn sie mit allein reisenden Damen zu tun hätten, und ich dürfte sie unter keinen Umständen zu diesem Verhalten ermutigen.

Eine kleine Bande abgerissener Kinder tauchte wie aus dem Nichts auf und rannte neben mir her, um mich hartnäckig um Pennys anzubetteln.

»Los, machtdasserwegkommt, Lumpenpack!«, donnerte mein Kofferträger sie mit unerwarteter Heftigkeit an. Während sich die Bande unter Spottrufen an seine Adresse zerstreute, fügte er an mich gewandt hinzu: »Passen Sie bloß gut auf diese Gören auf, Miss! Und nehmen Sie niemals vor ihren Augen Ihre Geldbörse hervor.«

»Nein, gewiss nicht!«, stimmte ich ihm atemlos zu. Ich war neu in der Stadt, und ich kam eindeutig aus der Provinz, doch ich war nicht dumm, und dort, wo ich herkam, gab es ebenfalls Banden kindlicher Diebe.

Ein neuer Geruch gesellte sich zu dem des Qualms, der Asche und der ungewaschenen Menschen: der Geruch nach Pferden. Wir hatten einen Stand mit vierrädrigen Gespannen von der Sorte erreicht, die ›Growler‹ genannt werden wegen des Lärms, den ihre Räder machen.

»Das ist angemessener für eine allein reisende Lady«, vertraute mir mein Träger an. »Sie würden sicher keine zweirädrige Kutsche mieten wollen. Wo wollen Sie überhaupt hin, Miss?« Und bevor ich antworten konnte, rief er: »Aufgepasst, Wally! Hier ist eine Lady, die eine Kutsche benötigt!«

Der fragliche Droschkenlenker hatte gegen sein Pferd gelehnt gestanden und sich gemächlich ein Stück Kuchen genehmigt. Nun schob er sich den Rest des krümelnden Gebäcks in den Mund und richtete sich aufmerksam auf. Das machte ihn bei weitem nicht vertrauenerweckender. Er war stämmig und kräftig, und seine Gesichtszüge waren so zerschlagen, dass es den Eindruck erweckte, er sei irgendwann einmal im Leben mit einem massiven Gegenstand kollidiert. Allein auf mich gestellt, hätte ich sicherlich gezögert, mich diesem Fahrer zu nähern, geschweige denn ihn anzusprechen.

Er bemerkte meinen verblüfften Gesichtsausdruck und sagte: »Angst wegen meiner verbeulten Visage, Miss?« Mit einem dicken kurzen Finger deutete er auf seine schiefe Nase. »Das kommt von meiner glänzenden Karriere im Boxring, jaja. Glänzend, aber kurz, wenn ich das sagen darf. Es war eine Frau, die mich dazu bewogen hat, damit aufzuhören. ›Wally Slater!‹, hat sie geschimpft. ›Entweder der Boxring oder ich!‹, und weil ich damals jung und dumm war«, fügte er in vertraulichem Ton hinzu, »habe ich sie genommen, und heute ist sie meine liebende Ehefrau, und ich fahre diese Droschke, um unseren Lebensunterhalt zu verdienen!« Er kicherte ausdauernd und schlug sich auf den Schenkel. Das Pferd stieß ein boshaftes Schnauben aus.

»Das interessiert die Lady nicht«, tadelte mein Kofferträger den Fahrer. Wie das Pferd, so hatte auch er diese Geschichte wohl schon unzählige Male gehört. Er wandte sich an mich. »Wohin möchten Sie, Miss?«

Ich nannte die Adresse, Dorset Square, und fügte hinzu: »Das ist in Marylebone.«

»Und eine sehr hübsche Gegend außerdem«, bemerkte der Droschkenfahrer und nahm meinem Kofferträger das Gepäck ab.

»Wie viel macht das?«, beeilte ich mich, Mrs Parrys Instruktionen zu gehorchen.

Der Mann blinzelte mich an, was ihn noch furchteinflößender aussehen ließ, und nannte seinen Fahrpreis. Ich bemerkte den Blick des Trägers, und er nickte mir ermutigend zu, was ich in dem Sinne auffasste, dass der Preis angemessen sei. Oder vielleicht steckte er auch nur mit dem Droschkenfahrer unter einer Decke. Sie waren offensichtlich alte Bekannte. Die nächsten Worte des Fahrers schürten mein Misstrauen nur umso mehr.

»Es könnten noch Sixpence zusätzlich werden, Miss – für den Fall, dass wir außen herum fahren müssen wegen all der Baukarren.«

»Ich möchte, dass Sie den kürzesten Weg fahren«, sagte ich in strengem Ton.

»Hören Sie, Miss, Sie haben das wohl falsch verstanden«, erklärte Mr Slater ernst. »Sie machen Platz für den neuen Bahnhof, sehen Sie, reißen Häuser ein und fahren den ganzen Abraum weg. Die Straßen ringsum sind völlig verstopft, und wir Droschkenfahrer müssen es ausbaden und haben ohne Ende Scherereien. Stimmt’s etwa nicht?«, fragte er an meinen Träger gewandt.

Der Kopf des Letzteren tanzte auf und ab wie bei einem Nick-Automaten. »Das ist richtig, Miss. Die Midland Railway baut ihren eigenen Bahnhof, verstehen Sie, anstatt mit anderen zu teilen. St. Pancras soll er heißen, wenn er fertig ist. Die Eisenbahngesellschaft hat sämtliche Häuser gekauft und die Leute vertrieben, die dort gewohnt haben, und jetzt wird alles abgerissen und hübsch plattgemacht. Stellen Sie sich vor, selbst die Kirche muss weichen.«

»Sie wird an irgendeiner anderen Stelle wieder aufgebaut – jedenfalls habe ich das so gehört«, sagte der Droschkenfahrer.

»Bauen sie auch die Häuser für die Menschen irgendwo anders wieder auf? Das würde mich nämlich mehr interessieren«, konterte der Träger.

»Es ist der Friedhof«, vertraute uns der Droschkenfahrer traurig an. »Sie schätzen, dass der ihnen Probleme machen wird. Sie haben versucht, drunter zu graben, als Hexperiement quasi, aber sie finden ständig irgendwelche menschlichen Skeldette, wie ich gehört habe.«

Beide richteten ihre erwartungsvollen Blicke auf mich, wie um sicherzustellen, dass ich diese gruslige Tatsache angemessen zu würdigen wusste. Es war, wie ich durchaus erkannte, ein Versuch, mich von meinen Einwänden abzubringen.

»Also schön«, räumte ich schließlich ein und bemühte mich, geschäftsmäßig zu klingen. Ich drückte dem Träger eine Münze in die Hand. Er bedachte mich mit einem weiteren von seinen merkwürdigen Grüßen und eilte davon.

Bevor ich mir in die Droschke helfen (oder besser, mich hineinbugsieren) ließ, hatte ich gerade noch genug Zeit, um einen Blick auf das Pferd zu werfen. Es erschien meinem unerfahrenen Auge einigermaßen gesund, obwohl mir, wäre es der erbärmlichste, überarbeitetste, unterernährteste Klepper in den Straßen Londons gewesen, keine Gelegenheit geblieben wäre, deswegen Einwände zu erheben. Wir fuhren los.

Ich muss zugeben, dass ich neugierig war auf die große Stadt, und so spähte ich nach draußen, während wir durch die Straßen rumpelten. Ich hoffte außerdem auf ein wenig frischere Luft, denn der Growler roch in seinem Innern verschwitzt und muffig, auch wenn er einigermaßen sauber wirkte. Doch schon bald entschied ich mich dagegen, weiter den Kopf aus dem offenen Fenster zu stecken. Der Lärm auf den Straßen war ohrenbetäubend, und rings um uns herum war eine erschreckende Zahl anderer Fuhrwerke in diese oder jene Richtung unterwegs, und die Fahrer brüllten einander unablässig an, den Weg frei zu geben und gefälligst aufzupassen. Das Gebot, sich möglichst links zu halten, schien für sie eher theoretischer Natur zu sein, und die meisten zogen es vor, mitten auf der Straße zu fahren, sobald sich die Gelegenheit dazu bot, häufig genug, um langsame Omnibusse zu überholen, die von müden, schwitzenden Pferden gezogen wurden. Was das andere Gebot betraf – dass Droschken privaten Fuhrwerken auszuweichen hatten –, so schien auch dies mehr übertreten als beachtet zu werden.

Als wäre dies nicht genug, riskierten Fußgänger Leib und Leben, während sie zwischen unbarmherzigen Rädern hindurchrannten, die sie mit Schmutz und Schlimmerem bespritzten und mich, wäre ich dumm genug gewesen, weiter den Kopf nach draußen zu strecken, sicher ebenfalls besudelt hätten. Hier und da bemühten sich Straßenkehrer nach besten Kräften, einen Pfad für die besser Gekleideten von Unrat zu befreien; doch die meisten Passanten schienen resigniert zu haben, was den Dreck anging. Also begnügte ich mich damit, hinter dem Fenster zu bleiben und eine verwirrende Parade von Bildern an mir vorbeiziehen zu lassen, die, kaum dass sie auftauchten, auch schon wieder verschwunden waren.

Unter die Fußgänger mischten sich Menschen, die aus Bauchläden alles mögliche Zeugs feilboten, von Zeitungsblättchen für wenige Pennys bis hin zu Bändern und Streichhölzern, während andere Straßenhändler Obst und Gemüse in Ständen oder aus Handkarren verkauften. Ein strenger Geruch nach Fisch, der für kurze Zeit in den Innenraum der Droschke drang, ließ mich vermuten, dass eine Frau, die neben einem großen Fass saß, Heringe feilbot. Ein weit angenehmerer Duft erreichte meine Nase von einem Stand mit zwei großen Kupferkesseln, aus denen heißer Kaffee ausgeschenkt wurde.

Wir passierten die Stelle, wo allem Anschein nach der neue Bahnhof errichtet werden sollte. Ich konnte erst wenig davon erkennen bis auf die zahllosen Karren mit Schutt, die sich in den übrigen Verkehr mischten. Eine Staubwolke lag über der Gegend und drang bis in meine Droschke vor, was mich zum Husten reizte. Man hatte mich gewarnt, welches Ärgernis diese Karren darstellten, doch selbst wenn dem nicht so gewesen wäre, war ihr Mangel an Beliebtheit nicht zu übersehen. Fußgänger verliehen vehement ihrer Frustration Ausdruck, und Droschkenfahrer stießen lästerliche Flüche aus, während die knarrenden Vehikel langsam ihres Weges rumpelten und sich lange Schlangen anderer Fuhrwerke hinter ihnen stauten. Ich für meinen Teil fand diese Karren und ihre Ladungen höchst mitleiderregend. Stofffetzen, die einst ein billiger Vorhang oder Teppich gewesen waren, klebten an Klumpen von zerschlagenem Mauerwerk und Fliesen, und gelegentlich thronte ein zertrümmerter Stuhl unsicher auf dem Haufen oder eine verbogene eiserne Bettstatt. Die Überreste eines dürren Rosenbusches waren Zeugnis für den Wunsch einiger ehemaliger Bewohner nach einem kleinen Gärtchen. Geborstene Dielen, Tür- und Fensterrahmen ragten aus dem Schutt wie knochige Finger, als wollten sie sich jeden Moment aus ihren Schuttgräbern ins Freie wühlen. Unvermittelt blieben wir holpernd stehen, und ich fragte mich bereits, ob wir angekommen waren.

Sicher war eine Form von Gedankenübertragung am Werk, denn auf der mir gegenüberliegenden Seite der Droschke flog eine kleine Klappe an der Decke auf. Wally Slater spähte zu mir herunter. »Nur ein Karren, Miss. Ein Bobby steht auf der Kreuzung und hat uns angehalten, damit der Karren passieren kann.«

»Ein Bobby?«

»Ein Bulle, Miss. Ein Vertreter des Gesetzes, der es auf sich genommen hat, die Sache in die Hand zu nehmen. Sie sind sehr gut darin, diese Bobbys, irgendwelche Sachen in die Hände zu nehmen und sich in die tagtäglichen Angelegenheiten ehrlicher Bürger einzumischen, Miss«, schloss der Droschkenfahrer grollend.

Nun wagte ich es doch, meinen Kopf aus dem Fenster zu strecken und zu betrachten, was an diesem Karren so anders war, dass das Gesetz sich genötigt gesehen hatte einzuschreiten, um sein Vorankommen zu fördern. Eine Wolke frischen Staubs drang in meine Nüstern und brachte mich zum Niesen. Ich wollte soeben meinen Kopf wieder nach drinnen ziehen, als das neue Fahrzeug aus einer Straße zu unserer Rechten kam. Es war ein weiterer Karren, ganz ähnlich denen, die den Schutt transportierten, doch auf diesem stand nur ein einzelnes mysteriöses Objekt, verhüllt von einer Abdeckplane. Im Gegensatz zu den Pfiffen und Buhrufen, welche die anderen Karren begrüßten, senkte sich ein neugieriges, beunruhigtes Schweigen über die Menge, als das Fuhrwerk in Sicht kam. In der Nähe nahm ein älterer Mann die Mütze ab.

Die Droschke schaukelte unvermittelt, und ich sah, dass mein Fahrer von seinem Kutschbock gestiegen war und sich zu einem stämmigen Mann in Arbeiterkleidung begab, den er zu kennen schien. Die beiden unterhielten sich gedämpft miteinander.

»Ist das ein Unfall?«, rief ich nach draußen.

Beide drehten sich zu mir um. Der Arbeiter öffnete den Mund zu einer Antwort, doch mein Fahrer kam ihm rasch zuvor. »Es ist nichts, weswegen Sie sich sorgen müssten, Miss.«

»Aber das ist ein Leichnam auf diesem Karren, oder etwa nicht?«, beharrte ich. »Hat es vielleicht irgendwo einen tödlichen Unfall auf dieser Baustelle für den neuen Bahnhof gegeben?« Ich erinnerte mich daran, dass einige der Grabungsarbeiten einen Friedhof betrafen. »Oder ist es ein Sarg vom Kirchhof?«

Walter Slater, Expreisboxer, betrachtete mich auf eine Weise, die schockiert und missbilligend zugleich war. Ob er mich als eine einfach praktische oder vom Morbiden faszinierte Person betrachtete, es war beides nicht das Benehmen, das sich für respektable junge Damen im Angesicht des Todes geziemte. Ein wenig mehr Betrübtheit war angebracht. Doch ich war niemand, der schnell jammerte oder in Ohnmacht fiel. Trotzdem hatte er möglicherweise eine Erklärung verdient.

»Ich bin die Tochter eines Arztes«, sagte ich zu ihm, »und mein Vater wurde häufig zu schweren Unfällen gerufen in den …«

An dieser Stelle brach ich ab. Ich wollte ›in den Minen‹ sagen, doch das hier war London und nicht Derbyshire, und was wussten diese Menschen schon von Kohlenminen?

Also vervollständigte ich meinen Satz: »… auf Bitten der Behörden.«

»Ja, Miss, das sieht man«, entgegnete mein Kutscher, doch er ließ mich merken, dass mein Mangel an Takt nicht übersehen worden war.

Also wirklich, Lizzie!, schalt ich mich einmal mehr. Du musst deine Zunge besser im Zaum halten! Das hier ist London, und provinzielle Unverblümtheit gilt wahrscheinlich nicht als anständiges Benehmen! Wenn du selbst diesen Kutscher so weit bringst, dass er Anstoß an dir nimmt, was für grauenvolle Fehler mögen dir dann erst in Gesellschaft gebildeterer Menschen unterlaufen?

Den Arbeiter schien dieser Wortwechsel indes zu amüsieren. »Wo denken Sie hin, Miss?«, sagte er munter. »Das ist kein alter Leichnam, sondern ein junger, ganz frisch.«

Slater knurrte ihn an, seine Zunge im Zaum zu halten, doch ich stand bei meinem Kutscher ohnehin schon im Ruf, jemand zu sein, der sich unangemessen für derart grausige Dinge interessierte. Also konnte ich meine Neugier genauso gut befriedigen.

»Was meinen Sie mit ›ganz frisch‹«, erkundigte ich mich bei dem braven Arbeiter. »Dann war das also ein Unfall?«

»Sie haben die Leiche einer Frau gefunden«, antwortete er mit sichtlichem Vergnügen. »Grausig ermordet. Sie war in einem der Abrisshäuser. Sie haben ihren Leichnam unter einem alten Bett entdeckt. Sie hat seit Wochen dort gelegen, schätzen sie. Sie war so grün wie ein Salat, und die Ratten haben schon an ihr …«

Ich spürte, wie ich erbleichte, während der Kutscher fauchte, »Das reicht jetzt wirklich!«, und damit jedes weitere unwillkommene Detail unterband.

Aber ich denke, er war höchst zufrieden damit, dass die wenigen enthüllten Fakten sich selbst für eine Person meines Schlages als zu viel erwiesen hatten. Er musterte mich mit einem Blick, der höchst deutlich »Das geschieht Ihnen ganz recht, Miss« sagte. »Warum zeigen Sie auch ein so undamenhaftes Interesse an Dingen, die Sie überhaupt nichts angehen?«

Der Constable, der den Verkehr aufgehalten hatte, ersparte mir einen weiteren Gesichtsverlust, indem er sich uns zuwandte. »Los, weiter!«, rief er ungeduldig.

Die Verzögerung war vorbei. Mr Slater kletterte auf seinen Kutschbock zurück, stieß einen Pfiff aus, und das Pferd trottete los. Wir fuhren unseres Weges.

Ich lehnte mich zurück, nachdem ich die Hutschachtel, die bei der unvermittelten Bremsung heruntergefallen war, wieder neben mir auf den Sitz gestellt hatte, und versuchte angestrengt, die grausige Beschreibung aus meinen Gedanken zu verdrängen. Doch kaum waren meine Bemühungen von Erfolg gekrönt, da erschien das Bild einer anderen Leiche vor meinem geistigen Auge, die vor vielen, vielen Jahren ebenfalls in einem Karren weggefahren worden war. Doch das war kein Mord gewesen … oder vielleicht doch, je nachdem, von welcher Warte aus man die Sache betrachtete. Mein Vater hatte damals stets gemeint, dass es durchaus einer hätte gewesen sein können.

Ich verdrängte diese Erinnerungen, auch wenn ich nicht anders konnte, als zu sinnieren, welch einen gewalttätigen Empfang London mir bei meinem ersten Besuch bereitete. Erneut musste ich an die Vorhangfetzen denken, die auf den Ziegeln und dem zerbrochenen Mauerwerk geflattert hatten. Wohin sind all diese Menschen gezogen?, fragte ich mich. Die Leute, die in den abgerissenen Häusern gewohnt haben? Hatte man sie vor ihrem Rauswurf lange genug vorgewarnt? Wahrscheinlich nicht. Sie waren im Namen des unaufhaltsamen Fortschritts des Eisenbahnzeitalters vor die Tür gesetzt worden, und sie hatten ein furchtbares Erbe hinterlassen, so viel stand fest.

Das Pferd war unterdessen in einen forschen Trab gefallen. Der Verkehr hatte deutlich abgenommen, und wir befanden uns in einem weit hübscheren Teil der Stadt. Wir passierten Wohnstraßen mit eleganten Gebäuden und bogen zu guter Letzt auf einen rechteckigen Platz, der von herrschaftlichen Stadthäusern inmitten großer Rasenflächen gesäumt war. Es war, als wären wir aus dem hektischen Betrieb der einen Welt in eine andere übergetreten, wo das Leben in einer sehr viel besser zu kontrollierenden Weise verlief. Vor einem dieser Herrenhäuser hielten wir an.

Mr Slater machte Anstalten, zu meiner Tür zu kommen und mir beim Aussteigen behilflich zu sein. »Dies ist die Adresse, nicht wahr?«, erkundigte er sich, als könnte ich ihm falsche Anweisungen gegeben haben. »Sehr schick. Wenn ich je an ein Vermögen gelangen sollte, werde ich mir auch ein Haus wie dieses leisten. Aber wie heißt es doch so schön? Die Wahrscheinlichkeit ist nicht sonderlich hoch.«

Sein Tonfall war philosophisch. Das Pferd stieß ein arrogantes Wiehern aus.

»Und was ist der Grund für Ihren Besuch in diesem Haus, Miss?«, erkundigte sich Mr Slater.

Wie es schien, hatte Mrs Parry gut daran getan, mich davor zu warnen, dass Londoner Kutscher bei allein reisenden Ladys zuweilen impertinent sein konnten. Ich öffnete den Mund, um ihm zu sagen, dass ihn das überhaupt nichts angehe, doch ich bemerkte einen so unendlich neugierigen Blick in seinen Augen, dass ich stattdessen laut lachen musste.

»Ich arbeite als Gesellschaftsdame für die Herrin des Hauses, Mr Slater.«

Er saugte die Luft zwischen den gelben Zähnen hindurch, und das Pferd stampfte ungeduldig mit den Hufen auf dem Pflaster, sodass gelbe Funken von seinen Hufeisen stieben.

»Ich hoffe, dass es Ihnen dort gefällt«, sagte Mr Slater ernst.

»Danke sehr, Mr Slater. Wenn Sie jetzt noch so gütig sein würden, mir meine Tasche und meine Hutschachtel zu bringen?«

»Sehr hübsch gesagt«, entgegnete er. »Sie sind eine junge Dame, die sich die Mühe macht, höflich zu einem Kutscher zu sein. Das verrät ein angenehmes Wesen – auch wenn Sie ein merkwürdiges Interesse für kürzlich Verstorbene an den Tag legen. Wissen Sie was? So eine Person wie Sie ist selten«, schloss er. »So was wie Sie ist wirklich ganz selten.«

Er nahm meine Tasche und stapfte zur Vordertür, um laut den Klopfer zu betätigen.

Als sich von drinnen Schritte auf dem gefliesten Boden des Flurs näherten, fügte der Kutscher in heiserem Flüstern hinzu: »Mir will scheinen, Sie sind ganz allein in London, Miss. Falls Sie jemals Hilfe benötigen, gehen Sie zum Droschkenstand am King’s Cross und geben dort eine Nachricht für Wally Slater ab. Wer auch immer sie erhält, er gibt sie bei nächster Gelegenheit an mich weiter.«

Ich war so überrascht angesichts dieses Angebots, dass ich um eine Antwort verlegen war. Ich fand jedoch nicht die Zeit, mir zu überlegen, womit ich mir dieses großzügige Angebot verdient hatte, denn in diesem Moment öffnete sich auch schon die Tür.

KAPITEL ZWEI

Der Hüter der Tür war ein Butler von beängstigendem Gleichmut. Er empfing die Nachricht, wer ich denn sei, ohne jeden Kommentar, und warf kaum einen Blick auf meine einfache Reisekleidung und die robusten Balmoral-Schnürstiefel, bevor er mich in die Halle führte, wo ich einen Moment warten sollte, während er den Droschkenfahrer entlohnte.

Ich konnte die beiden nicht sehen, während ich wartete, doch ich hörte Wally Slaters vergnügtes »Danke sehr!«, und als die Tür sich wieder schloss, seinen Pfiff an die Adresse des Pferdes und das Klappern und Rumpeln, als der Growler davonfuhr. Obwohl ich erst kurze Zeit in London weilte, hatte ich das Gefühl, einen Freund gefunden zu haben und wieder von ihm getrennt worden zu sein.

Ich hatte die wenigen Minuten genutzt, um mich mit lebhafter Neugier umzusehen. Soweit ich das beurteilen konnte, schien das Haus kostspielig und gemäß der neuesten Mode möbliert zu sein. Mein Wissen über derartige Dinge war beschränkt. Es gab eine Menge türkischer Teppiche, von denen ich wusste, dass sie eine Stange Pennys kosteten. Ich hatte schon Mühe gehabt, genug Geld zusammenzukratzen, um meinen durchgewetzten Wohnzimmerteppich zu Hause zu ersetzen, und ich war gezwungen gewesen, etwas sehr viel Bescheideneres zu nehmen. Außerdem gab es eine Vielzahl von Pflanzen in kunstvollen Jardinieren. Die Wände waren behängt mit einer Reihe von– meiner Meinung nach– fehl am Platz wirkenden Gemälden von Highland-Rindern und Aquarellen von italienischen Seen. In der Luft hing der Geruch nach Bienenwachs vermischt mit etwas, das ich erst zu identifizieren vermochte, als ich den Gasanschluss entdeckte, der aus der Wand ragte. Das war wirklich äußerst modern. Wir hatten zu Hause nur Öllampen und Kerzen. In einer Ecke tickte leise eine Standuhr vor sich hin.

»Wenn Sie mir bitte folgen würden, Miss?« Der Butler war zurück und starrte mich ohne jede Gefühlsregung an. »Mrs Parry wird Sie in ihrem Privatsalon empfangen.«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!