Wer andern eine Grube gräbt - Ann Granger - E-Book

Wer andern eine Grube gräbt E-Book

Ann Granger

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Beschreibung

Mitchell & Markbys 5. Fall. Was soll man tun, wenn man den Verdacht hat, dass ein ehemaliger Geliebter seine Ehefrau ermordet hat? Diese Frage stellt Ursula Gretton, Archäologin an einer Ausgrabungsstätte in Bramford, ihrer Freundin Meredith Mitchell. Als Meredith Chief Inspector Alan Markby zu Rate zieht, ist dieser zuerst eher skeptisch, was den Verdacht betrifft. Doch dann findet man in der Nähe der Ausgrabungsstätte eine Leiche. Verdächtige und mögliche Zeugen - darunter auch Meredith - gibt es viele. Als dann auch noch eine zweite Leiche auftaucht, wird die Sache immer komplizierter ...

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Seitenzahl: 482

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Über die Autorin

Ann Granger war früher im diplomatischen Dienst tätig. Sie hat zwei Söhne und lebt heute mit ihrem Mann in der Nähe von Oxford. Bestsellerruhm erlangte sie mit der Mitchell-und-Markby-Reihe und den Fran-Varady-Krimis. Nach Ausflügen ins viktorianische England mit den Lizzie-Martin-Romanen, knüpft sie mit der Serie um Inspector Jessica Campbell wieder unmittelbar an die Mitchell-und-Markby-Reihe an.

ANN GRANGER

WER ANDERN EINE GRUBE GRÄBT

Mitchell & Markbys fünfter Fall

Ins Deutsche übertragen von Axel Merz

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Titel der englischen Originalausgabe: Where Old Bones Lie

© 1993 by Ann Granger

© für die deutschsprachige Ausgabe 2001/2011 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat: Ruggero Leò / Stefan Bauer

Titelillustration: David Hopkins

Umschlaggestaltung: QuadroGrafik, Bensberg

E-Book-Produktion: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN 978-3-8387-0696-2

Sie finden uns im Internet unter

www.luebbe.de

Bitte beachten Sie auch: www.lesejury.de

›Geschichte … ein Verzeichnis der Verbrechen, Dummheiten und Missgeschicke der Menschheit.‹

Edward Gibbon

PROLOG

Noch einige Zeit, nachdem sie gegangen war, wartete er auf einen Brief von ihr und hielt frühmorgens von der Spitze der alten Wehrmauer nach dem Postwagen Ausschau. Dienstagabends war er ganz besonders ungeduldig, weil er hoffte, dass sie am Wochenende zuvor einen Brief geschrieben und diesen am Sonntagabend oder am frühen Montag eingeworfen hätte. Sie musste doch wissen, dass er sich Sorgen machte, ob es ihr gut ging und ob sie irgendwo untergekommen war und genügend Geld besaß, also wartete er zuversichtlich, dass der Brief ankäme.

So früh am Tag, im taufeuchten Gras, wirkten die Farben der umgebenden Landschaft wie frisch gewaschen. Weil der Wind kalt über den Wall wehte, trug er den letzten Pullover, den sie für ihn gestrickt hatte. Er fuhr mit den Fingerspitzen über das Zopfmuster und erinnerte sich, wie sie des besseren Lichts wegen am Fenster gesessen hatte, als sie ihn strickte.

Er wusste selbst sehr gut, dass er mit vierzehn kein Kind mehr war und in der Lage sein sollte, ohne sie zurechtzukommen – genau wie sie es gesagt hatte. Trotzdem spürte er noch immer einen eigenartigen Schmerz in sich, wenn er an sie dachte.

Er sah die kleinen roten Postwagen an den meisten Morgen, wie sie klappernd unten über die Straße und am Steinbruch vorbeifuhren. Manchmal brachten sie Briefe für die Farm. Dann bog der Wagen in die Auffahrt ein, und er rannte pochenden Herzens los, um ihn abzufangen. Doch der Fahrer schüttelte stets nur den Kopf, lächelte und fuhr weiter. Für ihn war kein Brief dabei. Die schreckliche Leere kehrte zurück, während er mit zerknitterten und taufeuchten Hosen hinunter zur Straße ging, um dort auf den Schulbus zu warten.

An den Abenden solcher Tage blätterte er verstohlen die geöffnete Post durch, die hinter die Kaminuhr geklemmt war, um zu sehen, ob sie seinem Vater geschrieben hatte. Doch wenn tatsächlich ein Brief angekommen sein sollte, hatte Vater ihn versteckt, vielleicht, weil eine Nachricht von ihr auch ihm kostbar war. Er sehnte sich danach zu fragen. Auch hätte er zu gerne gewusst, ob Vater seinen Schmerz teilte. Aber da Vater ihn höchstwahrscheinlich in beiden Fällen kurz abgefertigt hätte, behielt er seine Fragen genau wie seine Gefühle für sich.

Eines Dienstags, als er erwachte, wusste er ganz tief im Innern seines Herzens, dass der Brief niemals kommen würde. Er fragte sich, ob es seine Schuld war und ob er sie vielleicht ungewollt verärgert hatte. An jenem Tag kletterte er nicht in der Frühe vor der Schule auf den alten Wachturm, ebenso wenig wie an einem der folgenden Tage.

Das Leben ging weiter, und er wuchs heran, doch in all den Jahren vergaß er sie niemals und hoffte, dass sie, wo auch immer sie jetzt sein mochte, glücklich war, und dass sie vielleicht, und sei es nur ganz gelegentlich, einmal an ihn dachte.

KAPITEL 1

Ein kleiner Konvoi aus Lieferwagen, Wohnanhängern und umgebauten Bussen ratterte über die Hauptstraße. Einige der Fahrzeuge waren kaum mehr als Metallwracks, mehr Rost als Farbe, zusammengehalten von Trotz und Hoffnung, andere waren schrill bemalt mit leuchtend bunten Blumen. In allen keuchten kehlig alte Motoren, während sie mit der Steigung kämpften. Wolken schwarzer Auspuffgase verschmutzten die klare Spätsommerluft und erfüllten sie mit dem durchdringenden Gestank nach Öl.

Unvermittelt signalisierte die heisere Hupe des purpurnen Busses an der Spitze des Konvois, dass ein gesuchter Orientierungspunkt in Sicht gekommen war, und die nachfolgenden Vehikel antworteten mit einer freudigen Kakophonie.

Es war die Stelle, wo die Straße den unteren Hang von Bamford Hill überquerte. Zur Rechten ging es weiter bergab, zur Linken erhob sich steiles, offenes Weideland, durchsetzt von wogenden Weizenfeldern. Mit einem raubtierhaften Aufbrüllen der Maschine verließ der purpurne Bus die Straße und bog nach links in einen Feldweg ein, der mit »Mott’s Farm« beschildert war. Die übrigen Fahrzeuge folgten ihm unter dem protestierenden Gekreisch gequälten Metalls.

Der Anführer bog erneut nach links ab und verließ den Feldweg durch eine Lücke in der säumenden Weißdornhecke. Triumphierend führte der Bus sein Gefolge über trockenes Grasland auf eine eigenartig bewachsene Wehrmauer zu, die den Hügel auf halber Höhe horizontal überquerte.

Sie waren nicht die Ersten, die dort eintrafen. Eine Gruppe von Archäologen hatte sich bereits eingerichtet und ein Gewirr von Gräben ausgehoben. Sie hatten unter der warmen Sonne eifrig gearbeitet, doch jetzt sprangen sie hoch und starrten offenen Mundes und erschüttert auf die Eindringlinge, die sich mit lautem Hupen und dichtem Auspuffqualm an ihnen vorbei den Hügel hinauf und zur Wehrmauer wälzten. Unterhalb der grasbewachsenen Kuppe fuhr das wüste Durcheinander von Fahrzeugen schließlich zu einer Doppelreihe auf wie antike Belagerungsmaschinen, bevor alle anhielten.

Heraus schwärmten Männer mit buschigen Bärten und Frauen in langen Röcken, Jugendliche beider Geschlechter in abgerissenen Jeans, Kinder in jedem Alter und aufgeregt kläffende Hunde. Selbst eine Ziege entsprang ihrem Stall auf Rädern. Mit der unorganisierten Effizienz von Nomaden machten sich einige daran, die verwucherte Hecke nach Feuerholz abzugrasen; andere, mit Eimern bewaffnet, kletterten über einen Zaun, um Wasser zu holen, das durch eine zerbrechliche Rohrleitung über einen Hahn in eine Viehtränke floss. Die überraschten Kühe galoppierten in alle Richtungen davon.

Schließlich trottete ein großer schwarzer Labrador-Mischling den Hang hinunter zu der archäologischen Grabungsstelle, ließ sich ins Gras fallen, kratzte sich ausgiebig und beäugte gutmütig und mit heraushängender Zunge die entsetzten Arbeiter.

Doch Gegenwehr war unterwegs. Ein altersschwacher Land-Rover kam den Hügel hinab, der als Mott’s Farm ausgewiesen war. Schornsteinspitzen ragten hinter dem Hügel in den Himmel. Der Rover verschwand für kurze Zeit hinter der Wehrmauer und tauchte dann unvermittelt oben auf dem alten Wall wieder auf.

Zwei Männer sprangen heraus, ein eigenartig gegensätzliches Paar. Das Aussehen des älteren – groß, dünn und doch kräftig, mit einem hohen Nasenrücken und grauen Locken, die von einer steifen Brise zu einem wirren Geflecht gepeitscht wurden – erinnerte an einen alttestamentarischen Propheten. Die Schrotflinte in der Armbeuge diente lediglich der Übertragung des Bildes in die Moderne.

Der jüngere war untersetzt und kräftig, trug braune Kordhosen und einen weiten, grünen Pullover und sah aus, als wären seine Bestandteile in der umgebenden Landschaft aufgesammelt worden. Er trat nun vor, legte die Hände trichterförmig an den Mund und brüllte: »Sie befinden sich unerlaubt auf unserem Land!«

»Hört augenblicklich auf, diese Hecke einzureißen, oder ich schieß euch die verdammten Köpfe vom Hals! Verschwindet von unserem Land! Los, macht, dass ihr wegkommt!«, bellte der Grauhaarige. Seine Stimme drohte sich zu überschlagen, während er die Schrotflinte aus der Armbeuge nahm und sie schussbereit mit beiden Händen packte.

»Warte, Onkel Lionel!«, sagte der andere knapp. »Lass mich mit ihnen reden.«

Der Autorität in der Stimme des Jüngeren nach zu urteilen, duldete er keinen Widerspruch – zumindest kurzfristig. Die Holzsammler hatten mit ihrer Arbeit aufgehört und sich zu den restlichen Tramps gesellt. Sie bildeten eine schweigende, bunte Menge. Ein bärtiger Sprecher übertrat die unsichtbare Linie zwischen den beiden Parteien.

»Wir nehmen nur das tote Holz«, sagte er. »Wir machen nichts kaputt.«

»Ich sehe selbst, was ihr da macht!«, brüllte Lionel Felston, und der Lauf seiner Schrotflinte wackelte gefährlich.

Sein Neffe Brian streckte einmal mehr die Hand aus, um dem aufgebrachten Onkel zuvorzukommen. »Sie befinden sich unerlaubt auf unserem Land! Ich bitte Sie, es zu verlassen. Ich bitte Sie dieses eine und letzte Mal höflich darum. Nehmen Sie Ihre Frauen und Kinder, und machen Sie, dass Sie wegkommen!«

Ein anderer Mann – mit kahlrasiertem Kopf, drahtig, in abgerissenen Jeans und mit drei goldenen Ringen in einem Ohrläppchen – zeigte den Hügel hinunter zu der archäologischen Grabungsstelle.

»Und was ist mit denen da? Sind die vielleicht nicht unerlaubt auf Ihrem Land, wie Sie es nennen?«

»Nein! Sie führen eine Ausgrabung durch, und zwar mit unserer Genehmigung! Sie hingegen besitzen keine Genehmigung, und die werden Sie so sicher wie die Hölle auch nicht kriegen!«, giftete Brian. »Und jetzt machen Sie endlich, dass Sie verschwinden!«

»Sonst?«, fragte der Drahtige und grinste niederträchtig. »Wollen Sie uns vielleicht vertreiben?«

»Darauf kannst du Gift nehmen!« Lionel Felston hob das Gewehr.

»Sie haben das Recht, angemessene Gewalt anzuwenden«, sagte der bärtige Mann. »Uns mit einer Schrotflinte zu bedrohen ist alles andere als angemessen. Wenn Sie damit schießen, stecken Sie in Schwierigkeiten.«

»Hör bloß auf, mir die Gesetze zu zitieren!«, schnappte Lionel. »Das hier ist Privatbesitz! Unser Besitz! Ich habe gesehen, was Typen wie ihr mit dem Land machen, auf dem sie lagern, und das wird hier ganz bestimmt nicht geschehen. Ihr hinterlasst überall euren Dreck, vernichtet die Ernte, verletzt unser Vieh …«

Der Kahlköpfige kicherte boshaft, was ihm einen raschen tadelnden Blick seines sprachlich gewandteren Begleiters einbrachte.

»Wir graben vernünftige Latrinenlöcher und machen hinterher sauber. Wir nehmen unseren Abfall mit. Sie selbst nutzen dieses Land nicht. Wir sind niemandem im Weg. Warum lassen Sie uns nicht einfach ein paar Tage in Frieden hier verbringen? Wir haben unsere Familien und unsere Kinder bei uns. Wir brauchen einen Platz, an dem wir ein paar lausige Tage bleiben können, das ist alles!«

»Ein paar Tage, pah!« Lionels hagere Gesichtszüge verzerrten sich. »Vorher schicke ich euch alle zum Teufel!«

Ein plötzlicher, unerwartet starker Windstoß fing die Worte ein und wirbelte sie hoch hinauf in die Luft, zu den Möwen, die, von ihren weißen Flügeln getragen, im Inland nach Futter suchten und ihre seltsam schrillen Schreie ausstießen. Fast klang es, als feuerten die Seelen all derer, die kämpfend an der Wehrmauer gestorben waren, die gegnerischen Parteien an, sich erneut auf diesem uralten Schlachtfeld gegenüberzutreten.

KAPITEL 2

Unter Gefahr für Leib und Leben.

Ursula Gretton wünschte inbrünstig, diese trostlose Phrase hätte sich ihr nicht aufgedrängt. Sie war nun schon seit Jahren mit dem Fahrrad in den Straßen Oxfords unterwegs, obwohl es angesichts des immer stärker werdenden Verkehrs, der immer intoleranter werdenden Fahrer und der zunehmenden Abgase mehr und mehr zu einem selbst auferlegten Hindernisparcours geworden war. Eine Limousine schnitt ihren Weg, und Ursula wankte unsicher. Ein Doppeldecker-Bus hinter ihr hupte. Die Frau auf dem Bürgersteig neben ihr, die mit Einkäufen überladen war und einen Sportwagen schob, funkelte sie böse an. Ursula biss die Zähne zusammen und verfluchte Dan. Wehe, wenn er keinen triftigen Grund hatte, sie zu sich nach Hause zu bestellen!

Sie verfluchte auch ihr altes, klappriges Fahrrad, doch Archäologen hatten selten genügend Geld übrig. Es sei denn, sie arbeiteten an einem ganz besonders berühmten Projekt, vorzugsweise gefördert von irgendeinem großzügigen Konzern, und beabsichtigten, ein wichtiges Buch zu dem Thema zu schreiben. Ganz bestimmt jedenfalls nicht, wenn sie nur vom Ellsworth Trust finanziert wurden, einer kleinen, unabhängigen pädagogischen Stiftung mit Interesse an mittelalterlicher Archäologie und zugegebenermaßen beschränkten finanziellen Ressourcen.

Letzteres war darüber hinaus signifikant, weil der Ellsworth Trust die Grabung von Bamford Hill finanzierte. Die anderen Stiftungen, an die sie herangetreten waren, hatten sich außerstande gesehen zu helfen. Ellsworth hatte gemäß seiner Stiftungsurkunde zugestimmt, doch die Ressourcen waren gestreckt und die Fördergesuche zahlreich. Doch falls es Ian gelang …

Dan hatte gesagt – diesmal vielleicht sogar mit Recht –, dass Ian Jackson einer wichtigen Sache auf der Spur sei und möglicherweise richtig lag mit der Behauptung, dass Bamford eine wichtigere Begräbnisstätte sei als alle anderen bisher entdeckten. Im Großen und Ganzen war es Dan gewesen, der den Trust dazu bewegt hatte, die Grabung zu unterstützen.

Dan hatte gesagt! Ursula schüttelte den Kopf. Als hätte sie nicht schon genug Schwierigkeiten gehabt, weil sie immer wieder auf Dan Woollard hörte.

Ich bin eine richtige Närrin!, schalt sich Ursula und streckte den linken Arm aus. Und nicht nur, weil ich ausgerechnet an einem Samstag mit dem Fahrrad über diese Straße fahre. Ich bin eine Närrin, weil ich mich in diesen Schlamassel manövrieren musste!

Mit einem Gefühl der Erleichterung bog sie in die Seitenstraße ab. Wenn sie ehrlich war, machte ihr der starke Verkehr Angst. Sie fuhr langsamer, während sie nach dem Haus suchte und es fand, dann nahm sie die Füße von den Pedalen und ließ das Fahrrad ausrollen. Mit einem Fuß auf dem Boden und dem Rad aufrecht unter ihr, betrachtete sie zweifelnd die Vorderfront. Was auch immer es war – warum hatte er es nicht am Telefon erklären können?

Ursula stieg ab, bugsierte das Rad zwischen parkenden Wagen hindurch, schob es über das gesprungene Pflaster und den freien Raum, wo eigentlich ein Gartentor hätte sein sollen, und lehnte es schließlich im gefliesten Vorhof unter dem Erkerfenster an. Danach zog sie sorgfältig die lange Sicherheitskette durch das Vorderrad und schloss ab, obwohl sie sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, dass jemand mit klarem Verstand diesen alten Schrotthaufen stehlen würde.

Die Häuser stammten aus der spätviktorianischen Zeit und waren früher einmal bescheidene Wohnhäuser für Handwerker und Büroangestellte gewesen. Heute galten sie als chic, und die »plaudernden Klassen«, wie jemand sie getauft hatte, waren eingezogen. Als Adresse war die Straße »in Ordnung«, und die Preise hier waren im Verhältnis zum Besitztum über jedes vernünftige Maß hinausgestiegen. Die meisten Häuser waren von den neuen Besitzern sorgfältig renoviert worden. Dieses hier nicht. Die Fassadenfarbe blätterte ab. Die Tüllgardinen waren graustichig. Natalie besaß weder Neigung noch Talent zur Hausfrau, und Dan fielen derartige Dinge nicht auf.

Ursula seufzte und drückte auf den Klingelknopf.

Sie hörte, wie sich Dans Schritte durch die Eingangshalle näherten, und vor ihrem geistigen Auge entstand das Bild des unmöblierten, teppichlosen Raums. Gott allein wusste, warum die beiden so lebten. Natalie verdiente sicherlich gutes Geld mit diesen schwülen Romanen. Vielleicht reflektierte der Zustand des Hauses einfach den ihrer Ehe.

Die Tür ging auf, und er rief: »Sula!« Sein breites Gesicht hellte sich freundlich auf.

»Hallo«, murmelte sie.

»I-ich bin froh, dass du doch noch vorbeigekommen bist.« Er schenkte ihr einen wirklich mitleiderregenden Blick – mit dem einzigen Erfolg, dass sie zusammenzuckte.

»Besser für dich, wenn es ein richtiger Notfall ist, Dan. Ich hab dir gesagt, dass ich an diesem Wochenende meine Berichte fertig machen wollte.«

»Es ist ein Notfall!« Er klang grimmig. Vielleicht stimmte es ja tatsächlich.

Ursula setzte einen Fuß über die Schwelle, doch dann hielt sie inne. »Ist Natalie zu Hause?«

»Nein. Sie ist nach Bamford gefahren, um ihre Mutter zu besuchen.«

»Oh.« Ein verhängnisvolles Zögern.

»Jetzt dreh dich nicht gleich um und renn weg!«, sagte er ärgerlich. »Ich habe nicht vor, dir zu nahe zu treten! Außerdem ist Ian auf dem Weg hierher.« Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Er müsste in zehn, fünfzehn Minuten da sein. Ich setz schon mal den Kessel auf.«

Gedemütigt, weil ihre Zweifel so offensichtlich gewesen waren, folgte sie ihm durch die Diele ins Wohnzimmer, das auf der Rückseite des Hauses lag. Morgens schien die Sonne auf diese Seite und fiel noch immer hell durch das Fenster in den Raum, den die Woollards in ein Allzweckarbeitszimmer verwandelt hatten. Auf einer Seite stand Natalies Schreibtisch, übersät mit maschinenbeschriebenen Blättern. Auf der anderen Seite stand der von Dan. Die Einrichtung erweckte den Eindruck, die beiden seien ein harmonisches Paar, das nebeneinander zu arbeiten pflegte. Wie so viele andere Dinge bei Dan und Natalie trog jedoch auch dieser Eindruck. Allerdings herrschte eine gemütliche Unordnung, und die hübschen alten, mit Pferdehaar gepolsterten Sessel waren bequem. Ursula setzte sich in einen davon und stellte ihre Umhängetasche an die Seite.

»Sind das die Korrekturausdrucke von Natalies neuem Buch?«

»Ja«, rief er aus der Küche und fluchte anschließend; wahrscheinlich hatte er sich am Griff des Wasserkessels verbrannt.

Oben auf dem Manuskriptstapel lag eine Notiz. Sie stammte von Natalies Redakteur und lautete: »Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat. Ich hätte sie gerne bis zum 12. August zurück. Danke.«

Es war bereits der Achte des betreffenden Monats. Wenn Natalie die Ausdrucke tatsächlich rechtzeitig wieder abliefern wollte, würde sie sich ziemlich beeilen müssen. Kaum der geeignete Zeitpunkt, die Kurve zu kratzen und ihre Mutter zu besuchen, es sei denn, diese hatte dringend darum gebeten. »Ist Natalies Mutter wieder krank?«, rief Ursula in Richtung Küche.

»Was?«

Dans Stimme klang ganz nah, und Ursula bemerkte, dass sie nicht hätte rufen müssen. »Natalies Ma«, wiederholte sie deutlicher, aber in leiserem Tonfall.

»Oh, Amy. Ich weiß es nicht. Sie ruft an, und Natalie lässt alles stehen und liegen und eilt nach Bamford. Ich hab keine Ahnung. Und ehrlich gesagt, ist es mir auch egal.«

»Sie wird eben langsam alt; wahrscheinlich ist sie inzwischen schon über siebzig?«

»Ihr fehlt nichts, falls du das vermutest, aber sie mag es, wenn Natalie um sie herumtanzt und ihr Aufmerksamkeit schenkt. Ich habe mich mit ihr … wir haben uns immer deswegen gestritten. Jetzt macht Natalie einfach, was sie will – wie bei allen anderen Dingen auch.« Er reichte ihr einen Becher.

»Danke.« Ursula zog sich mit ihrem Kaffee in den Sessel zurück. »Weswegen hast du mich eigentlich angerufen?«

»Ian wird alles erklären. Es handelt sich um einen Notfall.« Er verzog das Gesicht. »Du brauchst ganz schön lange heutzutage, wie? Ich meine, um dich überzeugen zu lassen, mich irgendwo außerhalb einer Grabung zu treffen. Ich sehe dich nur noch, wenn wir arbeiten. Es könnte sich alles ändern, weißt du? Ich könnte … dafür sorgen, dass es anders wird.«

»Wenn es sich um einen Notfall handelt, dann sag mir bitte, worum es geht«, erwiderte sie knapp.

»Es hat keinen Sinn, wenn ich dir jetzt alles erzähle und Ian dann später noch einmal von vorn anfängt. Seine Informationen sind aktueller als meine. Um es kurz zu machen – wir haben Besucher.«

Ursula stöhnte auf. Bei jeder Grabung musste man mit Störungen durch Außenstehende rechnen, manchmal gut gemeint oder aus reiner Neugier, manchmal nicht. »Schatzsucher? Irgendwelche Idioten mit Metalldetektoren?«

Das waren die schlimmsten. Wenn sie etwas fanden, verschwanden sie einfach mit ihrer Beute, und wertvolle Hinweise auf das Datum und die Art der Grabung waren unwiederbringlich verloren.

»Nein. New-Age-Nomaden. Laster, Hunde und Kinder, alles, was dazugehört. Dreißig oder mehr Leute, vorsichtig geschätzt, trampeln über das Grabungsgebiet. Zünden Feuer an. Kinder, die Nachlaufen spielen. Hunde, die Löcher buddeln.«

Sie starrte ihn entsetzt an. »Auf der Grabungsstätte?«

»Mitten auf dem Hang, genau über uns. Und zwischen uns und der Wehrmauer. Ian kann dir den Rest erzählen.«

Sie runzelte die Stirn. »Und was ist mit den Felstons? Können sie denn die Nomaden nicht verjagen? Sie werden doch ganz bestimmt keine Hippies auf ihrem Land wollen.«

»Natürlich nicht. Es gab bereits eine ziemlich haarige Konfrontation, kann ich dir sagen. Der alte Lionel hat mit einer Schrotflinte herumgefuchtelt, und Brian hat das Gesetz über Landfriedensbruch zitiert. Es hat überhaupt nichts genutzt. Offensichtlich brauchen sie erst eine richterliche Verfügung.«

Die Türklingel ging erneut. »Ian!«, sagte Dan und stand auf, um zu öffnen.

»Sind Karen und Renee etwa allein an der Grabungsstelle …?«, fragte Ursula.

Doch Dan war bereits im Hausflur, und sie konnte hören, wie er Ian Jackson einließ. Sekunden später platzte der Kurator des Bamford Museum, klein, mit rotem Gesicht und sandfarbenen Haaren, ins Zimmer.

»Sula? Ich nehme an, Dan hat dir schon erzählt, was passiert ist? Was, Dan? Oh, Tee, Kaffee, was auch immer, danke.« Jackson warf sich in einen Sessel, und der Kragen seiner braunen Tweedjacke schob sich bis zu den Ohren hoch. »Tut mir leid, dass ich so spät komme, aber ich habe vorher noch einen Abstecher nach Bamford gemacht. Ich war auf der örtlichen Polizeiwache und hatte eine Unterhaltung mit dem Dienst habenden Beamten, einem Chief Inspector namens Markby.«

Ursula zuckte zusammen, öffnete den Mund und schloss ihn wieder.

»Ich habe betont, wie dringend die Angelegenheit sei und wie wichtig die Grabung für das Museum wäre, und ich habe ihn gebeten, ein paar von seinen Leuten vorbeizuschicken, um diese New-Age-Typen zu verjagen. Das kann doch nicht so verdammt schwer sein! Aber der Bursche war absolut keine Hilfe! Er meinte, er würde sehen, was er machen kann, aber es hinge von den Umständen ab, und manchmal würden Konfrontationen auch nicht weiterhelfen. Es könnte zu Gewaltanwendung kommen, und wir wollten doch sicherlich keine Prügelei direkt neben der Grabungsstelle, oder?«

Jackson nahm den Becher, den Dan ihm reichte. »Ich hätte fast die Geduld verloren! Ich hab ihm gesagt: ›Ich bezahle meine Steuern, und wenn ich meine lokale Polizeidienststelle um Hilfe bitte, dann erwarte ich ein wenig mehr Einsatz!‹ Er meinte, er fühle mit mir. Ich hab gesagt, er könne sich sein Mitgefühl sparen, und ob ihm denn nicht bewusst wäre, dass das Bamford Museum eine kulturelle Oase in seiner geistig umnachteten Stadt sei.«

Er verstummte für den Augenblick. Dan hatte sich während Jacksons Tirade unbeholfen auf die Kante von Natalies Schreibtisch gesetzt. Ursulas Blicke wanderten einmal mehr zu dem Stapel mit den Korrekturausdrucken.

»Was ist mit den Felstons?«, fragte sie hastig.

»Sie haben gesagt, sie könnten sich keine richterliche Verfügung leisten. Aber wir können uns nicht auf die schnelle Hilfe der Polizei verlassen! Der alte Lionel ist imstande und schießt einem von diesen Typen den Kopf weg! Es kann gar nicht schlimmer kommen; irgendjemand muss etwas unternehmen!«

Ian beugte sich vor, während er von seinem Tee schlürfte. »Ich will nicht unfair sein. Der Sprecher dieses Konvois, Pete, ist einer von der vernünftigen Sorte. Aber ich glaube wirklich nicht, dass all die anderen ebenso vernünftig sind. Ganz bestimmt ist einer dabei, der unbedingt das Skelett sehen will und sich bei der Grabungsstätte herumdrückt, um die Plane hochzuheben, wenn gerade niemand aufpasst. Ich sage dir, Sula, wir brauchen Augen im Hinterkopf, solange diese Leute da sind, und wir kriegen unsere Arbeit nicht getan! Wir verbringen die Zeit mit Aufpassen, während die Felstons und die New-Age-Leute König auf dem Hügel spielen. Auf gar keinen Fall dürfen wir die Grabungsstelle unbewacht lassen, solange diese New-Age-Nomaden da sind, und damit basta. Und damit meine ich auch in der Nacht.«

Schweigen breitete sich aus. Ursula brach es als Erste. »Was ist mit dem Bauwagen?«, fragte sie zaghaft.

»Daran habe ich auch schon gedacht. Wir könnten zwei Betten hineinstellen, kein Problem. Ich schätze, wenn sie glauben, dass zwei von uns jede Nacht dort schlafen, würde das ausreichen. Sie sind nicht gefährlich, wenn ihr versteht, was ich meine. Das Problem ist nur, dass sie die Grabung stören könnten oder etwas in Unordnung bringen. Wir müssen physisch präsent bleiben. Ich dachte, du und ich könnten heute dort schlafen, Dan. Aber morgen kann ich nicht, weil das Baby seine Zähne bekommt und ich Becky nicht ganz allein lassen möchte.«

»Ich kann morgen auch dort schlafen«, sagte Woollard schnell.

Die beiden anderen blickten ihn fragend an, und er errötete.

»Was ist mit Natalie?«, fragte Ursula unverblümt.

»Ich hab dir doch gesagt, sie ist bei ihrer Mutter in Bamford.«

»Ich übernehme eine Schicht«, sagte Ursula. »Montagnacht. Meinetwegen auch Dienstag, wenn ihr wollt. Vielleicht bleibt Karen mit mir zusammen da.«

Jackson hatte umständlich mit seinem Becher hantiert. »Seht mal, ich muss euch beide um einen Gefallen bitten. Ich meine, ihr steht in direkter Verbindung mit der Stiftung. Ich hätte gerne, wenn wir diese Sache noch ein wenig für uns behalten könnten. Es macht keinen Sinn, die Stiftung damit aufzuscheuchen. Wenn der Ellsworth Trust Wind davon bekommt, dass ein Hippie-Konvoi neben der Grabungsstelle die Zelte aufgeschlagen hat, könnte man auf den Gedanken kommen, dass dort Dinge geschehen, die nicht geschehen sollten.« Er errötete. »Ich meine Drogen und so weiter. Sie haben doch Drogen, oder nicht? Diese Art von Leuten? Oder der Trust könnte glauben, dass wir unter den gegebenen Umständen nicht vernünftig arbeiten können.«

»Können wir auch nicht«, sagte Dan einsilbig.

»Außerdem«, Jacksons Stimme wurde lauter, »außerdem habe ich die Stiftung gerade erst um eine Verlängerung gebeten. Wir sind in einem sehr verzwickten Stadium. Ihr wisst beide, wie fest ich davon überzeugt bin, dass wir dort Wulfrics Grab finden! Ein sächsischer Fürst mit allen Gewändern und allem Schmuck! Überlegt nur, was das für das Bamford Museum bedeuten würde!«

Jacksons Gesicht leuchtete abwechselnd vor Begeisterung und inbrünstiger Sehnsucht. »Ich dachte, ich hätte die Stiftung überzeugt. Sie waren erfreut, als wir ein vollständiges Skelett fanden, aber als es nicht Wulfric war, zweifelten sie allmählich daran, dass wir sein Grab finden werden. Ich weiß, dass ihr beide mich unterstützt habt, und ich bin euch wirklich dankbar dafür. Aber mir ist schmerzhaft bewusst, dass wir absolut gar nichts gefunden haben, das meine Theorie stützt und das wir dem Ellsworth Trust zeigen könnten. Ich brauche mehr Zeit, und es darf absolut nichts dazwischen kommen, was das Vertrauen der Stiftung noch weiter erschüttert.«

Er setzte seinen Becher ab. »Also gut, ich kehre nach Bamford zurück und sehe zu, was ich für heute Nacht organisieren kann. Und dann stellen wir einen Dienstplan auf, bis der verdammte Konvoi weitergezogen ist.« Jackson war bereits auf dem Weg zur Tür, während er noch sprach. Dan begleitete ihn, und ihre Stimmen schallten durch den Hausflur zu Ursula herein. Sie überlegten laut, woher sie Schlafsäcke und Spirituskocher nehmen sollten.

Ursula seufzte. Sie hatte sich zwar bereitwillig anerboten, doch war sie nicht gerade begeistert von der Aussicht, draußen auf dem Hügel zu schlafen, in enger Nachbarschaft mit einem Lager voller unbekannter Hippies, die sie von der Grabungsstätte fern halten sollte. Auch bedeutete Karens Gesellschaft für Ursula alles andere als ungetrübte Freude.

Sie ließ die Hand neben dem Sessel sinken und tastete nach ihrer Umhängetasche. Ihre Finger berührten einen offenen Reißverschluss, und sie wühlte nach ihrem Taschentuch. Es dauerte einen Augenblick, bevor ihr bewusst wurde, dass etwas nicht in Ordnung war und ihre Hand nicht in ihrer eigenen Tasche, sondern in der von jemand anderem steckte. Unabsichtlich hatte sie ihre Tasche neben einer anderen abgestellt. Neugierig geworden, hob sie die andere Tasche auf. Sie war offen, und so warf sie einen Blick hinein. Eine ledernes Etui mit Kreditkarten, ein Lippenstift, ein Notizbuch, Kugelschreiber, eine Geldbörse, zwei Rechnungen vom Supermarkt, Autoschlüssel …

Dan kam zurück, nachdem er hinter Ian die Tür geschlossen hatte. Ursula stellte die Tasche an ihren Platz und nahm gerade ihre eigene hoch, als er das Zimmer betrat.

»Ich glaube, ich gehe jetzt auch besser«, sagte sie und stand auf.

»Du musst nicht wegrennen, das weißt du, Sula.«

»Ich hab dir doch gesagt, meine Berichte …«

»Du wirst doch wohl noch fünf Minuten Zeit haben zum Reden!« Er brüllte ihr die Worte fast entgegen, und sie hallten durch den Raum.

»Und worüber?«, fragte Ursula leise.

Er ließ die Schultern hängen und sagte verdrießlich: »Über uns.«

»Es gibt kein ›uns‹. Ich habe dir gesagt, dass es vorbei ist. Es war schön, so lange es gedauert hat, aber es war ein Fehler.«

Starrsinn hatte kompromisslose Linien in seine niedergeschlagenen Gesichtszüge gezeichnet. »Ich hab dir doch gesagt, Natalie und ich bedeuten uns nichts mehr! Sie will es nur nicht zugeben. Aber sie wird einer Scheidung zustimmen, wenn wir nur lange genug durchhalten.«

»Ich will nicht, dass du dich wegen mir scheiden lässt. Ich würde dich bestimmt nicht heiraten, wenn du es tun würdest. Um Himmels willen, Dan! Wir haben das alles schon vor fast einem Monat besprochen! Ich dachte, du hättest inzwischen akzeptiert, dass es aus ist mit uns. Vorbei, Ende!« Sie wusste, dass sie wütend klang, doch es war, als hätte sie gegen eine Wand geredet. »Aber nein, du und Natalie, ihr seid wirklich vom gleichen Schlag! Keiner von euch beiden hört auf ein Wort, das irgendjemand anderes sagt!«

»Ich liebe dich!«, brüllte er sie mit rotem Gesicht an. Er trat einen Schritt vor, streckte die Hände aus, doch dann schien er sich wieder zu fassen und blieb stehen. Kraftlos sanken die Arme an den Seiten herab.

»Das tust du nicht! Du denkst nur, dass es so ist. Aber wenn du die Sache objektiv betrachten würdest, würde dir klar werden, dass du mich schon seit Ewigkeiten nicht mehr liebst!«

»Das ist Unsinn!«, schoss er zurück. »Und außerdem, ich glaube dir nicht, dass du mich nicht mehr liebst! Wenn nur Natalie nicht hier wäre …«

»Nun, sie ist nicht hier«, fauchte Ursula. »Und ich werde jetzt ebenfalls gehen.«

»Ich lasse dich nicht gehen«, sagte er scharf. »Du kannst nicht so einfach gehen, nicht nach allem, was zwischen uns war.«

Sie hatte unterdessen die Tür erreicht, doch als sie die unterdrückte Wut in seiner Stimme hörte, drehte sie sich um und blickte ihn an. Er stand finster mitten im Flur, und in seinen Augen war so viel Zorn, dass sie sich einen Augenblick lang wirklich vor ihm fürchtete. Sie erblickte die Handtasche, die hinter dem Sessel hervorlugte. Es musste Natalies Tasche sein, ganz bestimmt.

»Wie lange ist Natalie eigentlich bei ihrer Mutter?«, fragte sie und wünschte im gleichen Augenblick, sie hätte, bevor sie zu Dan gefahren war, wenigstens die elementare Vorsichtsmaßnahme ergriffen herauszufinden, wo Natalie sich aufhielt.

»Ich … seit drei Tagen.« Er drehte den Kopf zur Seite.

»Und wann kommt sie zurück?«

»Ich weiß es nicht, und es ist mir auch egal! Am liebsten wäre mir, wenn sie überhaupt nicht mehr käme! Du weißt ja nicht, wie das Leben mit ihr ist! Und seit ich dich kenne, Sula, war es die reinste Hölle. Zu wissen, dass …«

Ursula unterbrach ihn. »Dan, es ist doch nichts passiert, oder?«

»Außer dass ich mich in dich verliebt habe – was soll denn passiert sein?«

»Zum letzten Mal, hör endlich auf, so zu reden! Du klingst wie eines von Natalies Büchern!« Das war nicht nett, und sie wollte ihn nicht verletzen. Sie wollte, dass er ehrlich war – falls er überhaupt wusste, was das bedeutete. »Ich meine, ist irgendetwas, etwas anderes als gewöhnlich, zwischen dir und Natalie vorgefallen?«

»Um Himmels willen, hör auf damit! Immer wieder Natalie!« Sein Gesicht war erneut rot angelaufen, und sein buschiger Bart schien sich aufzurichten. Die vollgestaubten Nischen des Flurs warfen das Echo seiner Stimme zurück. »Was versuchst du mir da anzutun? Ich liebe dich, und du hast gesagt, dass du mich auch liebst. Wir sind allein, und Natalie ist weg!«

»Wohin weg, Dan?« Trotz ihrer Vorsicht sprudelten die Worte aus ihrem Mund wie eine Anschuldigung.

»Das hab ich dir schon gesagt! Zu ihrer Mutter! Vielleicht kommt sie nie wieder zurück! Wenn sie nicht …«

»Was heißt, wenn sie nicht?« Misstrauen knisterte in ihrer Stimme.

»Was das heißt? Wenn sie nicht wiederkommen würde, könnten wir für immer zusammenbleiben! Die Dinge können sich ändern, genau wie ich gesagt habe. Ich kann dafür sorgen, dass sie sich ändern. Denk darüber nach, Sula.« Seine Stimme wurde leiser, und er trat einen Schritt nach vorn.

Automatisch wich sie zurück, und er flüsterte: »Ich würde alles tun, damit du und ich zusammen sein können. Alles, ich schwöre es!«

»Hör auf damit!« Sie wandte sich um und floh durch den Flur zur Tür, und ihre Finger fummelten hektisch am Riegel der Haustür. »Ich wollte nicht bei dieser Grabung mitarbeiten, weil ich gleich wusste, dass du immer wieder damit anfangen würdest!«

Ihr Fingernagel brach an dem halsstarrigen Riegel. Was war das für ein Mistding, warum klemmte es?

»Das war nur, weil Ian niemand anderen bekommen konnte und die Stiftung mich gefragt hat …«

Gott sei dank, endlich ging die Tür auf! Fast wäre sie die Stufen hinunter und in den Vorhof gefallen.

»Warte, Sula!«, rief er.

Doch sie hatte bereits ihr Fahrrad aufgeschlossen und schob es auf die Straße hinaus. Sie hörte ihn noch immer ihren Namen rufen, als sie davonradelte. In ihrem Kopf drehte sich alles, und ein neuer und schrecklicher Verdacht nahm langsam in ihren Gedanken Gestalt an.

»Dumm, so verdammt dumm!«, murmelte sie zu sich selbst, während sie mit gesenktem Kopf in die Pedale trat. Ein Autofahrer drückte auf die Hupe und brüllte sie an. Sie beachtete ihn nicht. »Wie konnte ich nur so dumm sein! Rot!« Sie hatte gerade noch rechtzeitig gesehen, dass die Ampel vor ihr rot war. Während sie darauf wartete, dass die Ampel auf Grün umschaltete, wiederholte sie es ein letztes Mal, diesmal laut. »So verdammt dumm!«

Doch es sollte nicht das letzte Mal sein, dass ihr dieser Gedanke durch den Kopf ging, dieser unaussprechliche, unglaubliche, aber nicht ganz und gar unmögliche Verdacht, der sich ihr so unangenehm aufdrängte. So verrückt er auch sein mochte – nein: war, mit Sicherheit war! –, er wollte einfach nicht schwinden.

KAPITEL 3

Meredith Mitchell streckte und räkelte sich unter dem Federbett und genoss schamlos den Luxus samstagmorgendlicher Faulheit. An diesem Tag musste sie ausnahmsweise nicht aus dem Haus eilen, um sich mit dem Zug von Islington nach Whitehall zu quälen und dort frustriert über einem Schreibtisch des Foreign Office zu schwitzen. An diesem Tag konnte sie einfach liegen bleiben, während aus dem Radiowecker leise Musik an ihr Ohr drang, und sich an dem angenehmen Gedanken erfreuen, dass sie nicht nur an diesem Tag zu Hause bleiben durfte, sondern auch noch die gesamte folgende Woche.

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