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Leena Lehtolainen

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Beschreibung

Im Schein des Rotlichts Eine Frau wird brutal misshandelt ins Krankenhaus eingeliefert. Kaum hat Kommissarin Maria Kallio herausgefunden, dass es sich um eine Prostituierte aus der Ukraine handelt, verschwindet diese spurlos. Die Ermittlungen führen Maria tiefer ins Rotlichtmilieu, als ihr lieb ist. Dabei ahnt sie nicht, dass ihr eigenes Leben längst auf dem Spiel steht ... «Niemand erzählt so spannend von finnischen Eigenheiten und kleinen Morden unter Freunden.» (Stern) «Leena Lehtolainen versteht es gut, das Netz um den Mörder enger zu ziehen und dabei immer mehr Spannung aufzubauen – bis hin zum dramatischen Ende, das dazu führt, dass auch ihre Kommissarin vieles neu überdenken muss.» (NDR) Maria Kallios achter Fall

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Leena Lehtolainen

Wer sich nicht fügen will

Maria Kallios achter Fall

 

 

Übersetzt von Gabriele Schrey-Vasara

 

Über dieses Buch

Im Schein des Rotlichts

 

Eine Frau wird brutal misshandelt ins Krankenhaus eingeliefert. Kaum hat Kommissarin Maria Kallio herausgefunden, dass es sich um eine Prostituierte aus der Ukraine handelt, verschwindet diese spurlos. Die Ermittlungen führen Maria tiefer ins Rotlichtmilieu, als ihr lieb ist. Dabei ahnt sie nicht, dass ihr eigenes Leben längst auf dem Spiel steht …

 

«Niemand erzählt so spannend von finnischen Eigenheiten und kleinen Morden unter Freunden.» (Stern)

 

«Leena Lehtolainen versteht es gut, das Netz um den Mörder enger zu ziehen und dabei immer mehr Spannung aufzubauen – bis hin zum dramatischen Ende, das dazu führt, dass auch ihre Kommissarin vieles neu überdenken muss.» (NDR)

 

Maria Kallios achter Fall

Vita

Leena Lehtolainen, 1964 geboren, lebt und arbeitet als Kritikerin und Autorin in Degerby, westlich von Helsinki. Sie ist eine der erfolgreichsten Schriftstellerinnen Finnlands.

Impressum

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel «Rivo Satakieli» bei Tammi, Helsinki.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, November 2009

Copyright © 2007 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg «Rivo Satakieli» Copyright © 2006 by Leena Lehtolainen

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung Shutterstock

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-30101-6

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Eins

Die Frau stand am Straßenrand. Die hochhackigen Vinylstiefel endeten eine Handbreit unter dem Saum ihres Minirocks, das enge Top verhüllte kaum ihre Brüste. Ihr Lächeln wirkte verführerisch, aber auch unsicher: Sie konnte nie wissen, was für ein Typ der nächste Freier war. Plötzlich hielt ein Wagen. Am Steuer saß Richard Gere.

Ich schaltete um. Zum dritten Mal «Pretty Woman», nein danke. Die Alternativen waren allerdings auch nicht berauschend: Zeitfahren in der Formel 1, Reality-TV-Abenteuer, ein Quiz, bei dem es hauptsächlich darum ging, die Teilnehmer miteinander zu verkuppeln. Ich trank meinen Tee aus und schaltete den Fernseher ab.

Die Kinder schliefen längst. Ich vergewisserte mich, dass sie atmeten. Venjamin, unser drei Monate altes Katzenbaby, hatte sich am Fußende von Iidas Bett zusammengerollt und fauchte leise, als ich es hinter dem Ohr kraulte. Ich fühlte mich einsam. Ich rief Antti an, aber er hatte das Handy ausgeschaltet, obwohl es erst halb zehn war.

Meine Freunde wollte ich um diese Zeit nicht mehr stören, denn sie hatten entweder kleine Kinder oder mussten morgens früh raus.

Mit fiel nichts Besseres ein, als Koivu anzurufen, der an diesem Abend den Bereitschaftsdienst für unser Dezernat versah. Er war ein paar Jahre jünger als ich und nicht nur mein Kollege, sondern auch ein guter Kumpel. Wir arbeiteten schon seit Jahren zusammen, zuerst in Helsinki, dann in Nordkarelien und jetzt in Espoo.

«Maria hier, grüß dich. Liegt was Besonderes an?»

«Ein Notruf, zu den Janatuinens in der Aapelinkuja. Ist ja auch schon einen Monat her, seit wir zuletzt da waren. Beide stockbesoffen. Jetzt hocken sie in der Ausnüchterungszelle, die Kinder haben wir wieder mal ins Heim gebracht. Kann man den Alten nicht endlich das Sorgerecht entziehen?»

«Wenn die Eltern morgen früh wieder in Reue zerfließen und niemand Anzeige erstattet und wenn …»

«Ja, ja», seufzte Koivu. «Ist das Recht der Eltern in diesem Land wirklich so unumstößlich, dass man nichts für die Kinder tun kann?»

Ich gab ihm keine Antwort. Über dieses Thema hatten wir schon oft gesprochen. Mein Kollege und seine Frau Anu Wang-Koivu, die auch Polizistin war, hatten sich in kurzen Abständen drei Kinder zugelegt, das jüngste war erst zwei Monate alt. Die Vaterrolle hatte Koivu gegenüber allem, was Kinder betraf, dermaßen übersensibel gemacht, dass ich ihn gelegentlich beschwichtigen musste.

«Sonst gibt es nichts?»

«Doch, eine schlimm zugerichtete Frau. Sie ist in die Klinik eingeliefert worden, mit Schnittwunden am ganzen Körper, im Gesicht und an den Geschlechtsorganen. Keine Ausweispapiere, versteht offenbar kein Finnisch. Das Klinikpersonal vermutet, dass sie aus Russland oder einem der Nachbarländer stammt. Bevor die Narkose einsetzte, hat sie etwas geschrien, das sich russisch oder so ähnlich anhörte. Es hat fast zwei Stunden gedauert, die Wunden zu nähen.»

«Wo wurde sie gefunden?»

«Auf einem unbebauten Grundstück in der Nähe des Espooer Zentrums. Ein Hund hat beim Gassigehen das Blut gerochen. Nach Spuren wird noch gesucht.»

Ich dachte an die Filmszene, die ich gerade gesehen hatte. «Wie war sie gekleidet?», fragte ich.

«Winterstiefel und Pelzmantel», erwiderte Koivu. «Darunter gar nichts, nicht mal Unterwäsche.»

Seltsam. Wenn es sich um eine Prostituierte handelte, die von ihrem Zuhälter misshandelt worden war, stellte sich die Frage, warum er ihr Mantel und Stiefel angezogen hatte, statt sie nackt in der eiskalten Märznacht liegen zu lassen. Hatte er der Frau nur einen Denkzettel verpassen wollen und war, aus welchem Grund auch immer, zu weit gegangen?

«Bist du noch dran?», riss mich Koivus Stimme aus meinen Gedanken. «Die Ärzte meinen, wir können die Frau morgen vernehmen. Von einem Unfall stammen die Verletzungen nicht, so viel steht fest.»

«Dann bestell schon mal einen Dolmetscher. Bist du auch für die Frühschicht eingeteilt?»

«Ja. Wann kann ich eigentlich meine Überstunden abfeiern?»

«Du weißt doch, was bei uns los ist.»

Ich legte auf und schimpfte leise vor mich hin. In unserem Dezernat waren zwei Stellen unbesetzt. Lähde, der schon länger im Haus war als ich, bezog seit Anfang des Jahres Erwerbsunfähigkeitsrente, die zweite Stelle stand bereits seit zwei Jahren offen. Ursula Honkanen hatte nur eine befristete Anstellung, die alle drei Monate verlängert wurde, bis Anu Wang-Koivu aus dem Mutterschaftsurlaub zurückkam.

Die Senkung der Alkoholsteuer hatte zu einem Anstieg der Gewaltdelikte geführt, bei der Drogenkriminalität sah es noch schlimmer aus, aber nur für die Aufklärung von Wirtschaftsverbrechen wurden mehr Ressourcen zur Verfügung gestellt. Geld war den Verantwortlichen wichtiger als das Wohlergehen der Menschen.

Ich streckte mich auf der Fensterseite des Doppelbetts aus. Anttis Hälfte war leer. Wegen seines Forschungsauftrags in Vaasa war er schon seit längerem zwei Nächte pro Woche nicht zu Hause, und in letzter Zeit dehnte sich sein Aufenthalt in Vaasa immer länger aus. Das Forschungsprojekt befand sich in einer interessanten Phase, außerdem hatte er immer wieder Kongressvorträge zu halten. Die Pilotstudie der Universität Vaasa hatte internationales Aufsehen erregt. Eine Forschergruppe am Institut für Wirtschaftswissenschaft versuchte, ein Modell über die langfristigen Auswirkungen der Globalisierung auf die finnische und die Weltwirtschaft zu erarbeiten, wobei verschiedene Steuer- und Zollsysteme verglichen wurden. Obwohl Antti sich eigentlich auf die Kategorientheorie spezialisiert hatte, empfand er die angewandte Mathematik als angenehme Abwechslung. Er hatte das Gefühl, eine wichtige Arbeit zu leisten, denn die Resultate konnten genutzt werden, um eine gerechtere Verteilung des weltweiten Kapitalflusses zu erreichen. Aber so sinnvoll seine Aufgabe auch war, vor Heimweh schützte sie ihn nicht.

Als ich endlich einschlief, träumte ich von Julia Roberts und der misshandelten Frau im Schnee. Irgendwann spürte ich, wie Venjamin an meinen Zehen kaute, die unter der Bettdecke hervorlugten.

Um sieben zwang mich der Wecker zum Aufstehen. Ich brachte den vierjährigen Taneli in die Kita und begleitete Iida und ihre Freundin Saara, die in die zweite Klasse gingen, zur Schule, denn auf dem Weg dorthin gab es zwei gefährliche Kreuzungen. Außerdem tat es mir gut, ein Stück zu Fuß zu gehen. Es war fast Mitte März, aber immer noch winterlich. Selbst die Nachmittagssonne trieb die Temperatur nicht über den Gefrierpunkt, und es lag noch genug Schnee zum Skilaufen.

Der Besprechungsraum im Präsidium bot den gewohnten Anblick. Ursula war perfekt geschminkt, Puustjärvi stürmte in letzter Minute herein, weil er im Stau stecken geblieben war wie jeden Morgen. Zum x-ten Mal fragte ich mich, warum er nicht einfach fünf Minuten früher losfuhr. Koivu sagte gähnend, er habe im Pausenraum ein paar Stunden geschlafen. Puupponen biss in einen Berliner. Er verdrückte täglich Unmengen von fetttriefenden Speisen und nahm trotzdem kein Gramm zu. Autio trug einen neuen Schlips, dessen blaue Streifen gut zum braunen Anzug passten.

«Ursula, du übernimmst die Familie Janatuinen und sprichst mit dem Sozialamt über die Möglichkeit, die Kinder in Obhut zu nehmen. Koivu, was ist mit der Frau in der Klinik? Nennen wir sie vorläufig Frau X. Hast du einen Dolmetscher organisiert?»

«Sieht schlecht aus. Von den zwei Dolmetschern für Russisch ist der eine krankgeschrieben und der andere leihweise in Vantaa. Vielleicht probier ich es mit Englisch oder bitte in der Klinik um Amtshilfe. Vermutlich muss ich den Fall übernehmen, oder?»

Ich lächelte. Sprachkenntnisse waren nicht unbedingt Koivus starke Seite.

«Hier sind übrigens ein paar Fotos.» Koivu schaltete den Computer ein. Puupponen legte seinen zweiten Berliner beiseite, denn gleich die erste Aufnahme zeigte ein weibliches Geschlechtsorgan mit einer bis zum Anus reichenden Schnittwunde. Auch an beiden Brüsten hatte die Frau tiefe Wunden, und im Gesicht zog sich ein Schnitt vom rechten Auge bis zum Mundwinkel. Ich bemühte mich, die Bilder kühl und aufmerksam zu betrachten, obwohl es in meinem Körper unangenehm kribbelte.

«Ein Linkshänder», sagte Puupponen spontan, aber ich war mir dessen nicht so sicher. Möglicherweise hatte der Täter ja hinter seinem Opfer gestanden. Puupponen neigte zu übereilten Schlussfolgerungen und benahm sich oft wie ein kleiner Junge. Seine Manie, über alles und jedes Witze zu reißen, hatte sich in letzter Zeit allerdings gelegt; manchmal vermisste ich seine Kalauer sogar.

Die Frau war zierlich und, soweit man aus den Fotos schließen konnte, höchstens zwanzig. Alle Verletzungen befanden sich an der vorderen Körperhälfte.

«So hat der Fundort ausgesehen», fuhr Koivu fort. «Gestern herrschte ziemlich starker Frost. Der Schnee war verharscht, Fußspuren waren deshalb kaum zu finden. Die Streifenbeamten, die vor Ort waren, meinen, dass die Frau nicht an der Fundstelle misshandelt wurde, denn auf der Schneedecke waren keine Blutspritzer zu sehen.»

Das Foto zeigte eine flache, von einer dünnen Schneeschicht bedeckte Parzelle unmittelbar an der Straße. Eine Leichtigkeit, dort jemanden aus dem Auto zu stoßen.

«Aber warum hat man sie ausgerechnet da abgelegt? Um sie erfrieren zu lassen? Oder damit sie gefunden wird?», überlegte Puupponen.

«Man hat der Kleinen das Werkzeug zerschnippelt, aus Rache», stellte Ursula ungerührt fest. «Seltsam ist nur, dass sie anschließend nicht eingesperrt wurde. Normalerweise halten die Zuhälter ihre Pferdchen unter Verschluss, bis sie wieder gesund sind.»

«Denkt bitte daran, dass wir bislang keinen Grund haben, das Mädchen mit dem Millieu in Verbindung zu bringen. Warten wir die Vernehmung ab», mahnte ich. Anu Wang-Koivu, eine gebürtige Vietnamesin, hatte mich darüber belehrt, dass Immigrantinnen asiatischer und russischer Herkunft in Finnland pauschal abgestempelt wurden: als Freudenmädchen oder per Katalog bestellte Ehefrauen.

«Ich kümmere mich darum», versicherte Koivu, und ich nickte zustimmend. Seine sanfte Art brachte die meisten zum Reden. Aber ohne Dolmetscher würde er nicht klarkommen.

«In der Klinik gibt es sicher jemanden, der Russisch spricht. Werden neuerdings nicht alle Hilfsschwestern aus dem Ausland herangekarrt, weil die Finnen sich für solche Arbeiten zu schade sind?», meinte er.

«Du redest ja wie ein Politiker. Ich komme mit», sagte ich spontan. «Passt es dir gleich nach der Besprechung?»

Puupponen pfiff durch die Zähne. «Kannst du etwa Russisch, Chefin?»

«Ich hab’s im Gymnasium gelernt und in letzter Zeit wieder aufgefrischt, weil wir per Satellit ein paar russische Fernsehsender kriegen.» Dass ich meine Russischkenntnisse aufpolierte, weil ich hoffte, bei der Stellensuche davon zu profitieren, verschwieg ich. Ich war seit zehn Jahren bei der Espooer Polizei, hatte allerdings wegen der beiden Mutterschaftsurlaube nur sieben Jahre voll gearbeitet. Trotzdem wurde es allmählich Zeit für einen Tapetenwechsel. Wenn ich mich recht erinnerte, hatte ich damals in der Oberstufe Russisch gewählt, weil Johnny, meine erste Liebe, den gleichen Kurs belegte. Welche Ironie, dass die alberne Entscheidung eines Schulmädchens fast ein Vierteljahrhundert später womöglich bei einer Kriminalermittlung von Nutzen war.

Ich überließ Koivu das Steuer und legte mir während der Fahrt brauchbare Wendungen und Wörter zurecht. In letzter Zeit hatte ich auch mit einer von Iidas Eiskunstlauftrainerinnen Russisch gesprochen, aber Schlittschuhwortschatz war bei der Vernehmung sicher nicht hilfreich.

Mein letzter Besuch in der Klinik lag einige Monate zurück. Im letzten Herbst hatte ich mich dort von Anttis Vater verabschiedet. Die Erinnerung schnürte mir die Kehle zu, obwohl der Tod Tauno Sarkela von einer langen, schweren Krankheit erlöst hatte. Die Klinik war für mich ein Ort des Leidens und Sterbens – darum hatte ich meine Kinder auch im Geburtshaus in Tammisaari zur Welt gebracht. Koivu ging mir mit langen Schritten voran, als wollte er die Sache möglichst schnell hinter sich bringen. Und ich hatte plötzlich das Gefühl, keinen einzigen russischen Satz zusammenzubringen.

Am Informationsschalter erfuhren wir die Zimmernummer. Die junge Frau, die wir vernehmen wollten, lag am Fenster. Im mittleren Bett schlummerte eine alte Dame, im Bett an der Tür lag eine Frau in meinem Alter mit lockigen Haaren und einem Gipsbein, das in einer Zugvorrichtung hing. Sie grüßte uns fröhlich.

«Hat sich endlich jemand gefunden, der das Mädchen im Fensterbett kennt?»

Es ging natürlich nicht an, Frau X in Anwesenheit anderer Patientinnen zu vernehmen. Ich fragte die Dienstschwester nach einem freien Zimmer. Sie sah mich an, als wäre ich nicht ganz bei Trost.

«Wir stellen ja schon überall Zusatzbetten auf.»

«Ein Waschraum vielleicht, oder eine Wäschekammer? Jeder separate Raum ist uns recht.»

Sie machte sich auf die Suche nach der Stationsschwester, während Koivu und ich uns bemühten, die neugierige Zimmernachbarin abzuwimmeln.

«Das ist eine Russin. So viel Russisch hab ich in Tallinn immerhin gehört, dass ich die Sprache wieder erkenne.»

«Hat sie mit Ihnen gesprochen?»

«Nein, aber heute Nacht hat sie im Schlaf derart gebrüllt, dass ich die Schwester rufen musste. Erst warte ich vier Jahre auf die Krampfadernoperation, und dann krieg ich so eine aufs Zimmer. Die hat bestimmt mit Drogen zu tun. Bin ich in der Klinik überhaupt in Sicherheit? Hier kann doch jeder ein und aus gehen.»

Ich trat ans Fenster und sah, dass das Mädchen mit den schulterlangen blonden Haaren die Augen aufgeschlagen hatte. Die eine Gesichtshälfte war verbunden. Sie hatte die Decke bis zum Hals hochgezogen, als wollte sie sich verstecken.

«Trastuit. Vi gavarite pa russkij?», fragte ich. Ihre Augenlider zitterten leicht, doch sie antwortete nicht. Ich beschloss, mit weiteren Fragen zu warten, bis wir unter uns waren.

Die Stationsschwester kam herein und entschuldigte sich für die Enge. Sie bot uns ihr Büro an. Eine Schwesternhelferin schob das Bett über den Flur, Koivu und ich folgten ihr. Nachdem wir einige Stühle beiseite geschoben hatten, passte das Bett gerade noch zwischen Schreibtisch und Tür.

Frau X machte ein abweisendes Gesicht. Ich stellte uns vor und fragte sie nach ihrem Namen. Sie gab keine Antwort. Auch auf die Fragen wer, warum und wo kam keine Reaktion. Allmählich kamen mir Zweifel, ob die junge Frau wirklich Russisch verstand. Vielleicht kam sie aus Polen oder Slowenien. Ich versuchte mein Glück mit Finnisch, Schwedisch, Englisch und Deutsch. Nichts. Die braunen Augen blieben starr auf die Bettdecke gerichtet, die schön geformten Lippen öffneten sich nicht. Nach einer Viertelstunde bat ich Koivu, das Zimmer zu verlassen. Vielleicht fürchtete sie sich vor Männern. Aber auch unter vier Augen kam ich nicht weiter. Frustriert machte ich mich auf die Suche nach dem behandelnden Arzt. Lohnte es sich überhaupt, eine Ermittlung einzuleiten, wenn wir nicht einmal mit Sicherheit wussten, ob ein Verbrechen vorlag?

Der Stationsarzt meinte, die Verletzungen rührten von einem ungewöhnlich scharfen, kleinen Messer, vielleicht von einem Stilett.

«Die Schnitte an der Wange und am Oberkörper könnten in verschiedenen Situationen entstanden sein, aber die Verstümmelung der Geschlechtsorgane deutet auf eine intime Beziehung zwischen Täter und Opfer hin», spekulierte er. «Natürlich kann es sich auch um eine versuchte Vergewaltigung handeln, dann wäre der Sprachverlust vielleicht eine Schockreaktion. In der Vagina wurde kein Sperma gefunden, die Tat ist also nicht vollendet worden … Die Wunden sind ein bis zwei Stunden vor dem Auffinden der Patientin entstanden, das Blut war bereits leicht geronnen.»

«Wie hoch war der Blutverlust?»

Laut Auskunft des Arztes hatte die Unbekannte nur einen Beutel Plasma benötigt.

«Hat die Frau irgendwelche besonderen Kennzeichen, Muttermale zum Beispiel, oder Tätowierungen?» Einen lebenden Menschen, der bei vollem Bewusstsein war, konnte man nicht untersuchen wie eine Leiche in der Pathologie. Andererseits konnten besondere Kennzeichen entscheidend zur Identifizierung des Opfers beitragen.

Der Arzt blätterte in seinen Unterlagen. «Eine alte, nicht besonders sorgfältig vernähte Schnittwunde unter dem linken Schulterblatt. Keine weiteren Narben, keine Tätowierungen. Ein großes Muttermal auf der linken Gesäßbacke. Mindestens eine schlampig ausgeführte Abtreibung, auch das spricht für unsere Hypothese über die Herkunft des Mädchens. Die russischen Abtreibungskliniken sind heute noch wahre Folteranstalten.»

«Drogenspuren im Blut?»

«Diese teuren Tests machen wir nicht routinemäßig. Aber wenn Sie wollen, können wir das nachholen. Ein HIV-Test wurde natürlich vorgenommen. Im Übrigen macht das Mädchen einen gesunden Eindruck, alle Organfunktionen normal, Ernährung in Ordnung, gut trainierte Muskeln.»

«Wo sind ihre Kleider?»

«In ihrem Schrank.»

«Brieftasche? Handy? Schlüssel?»

«Nichts, aber ihr Schmuck liegt sicher in der Tischschublade an ihrem Bett. Ohne Genehmigung der Patientin dürfen Sie ihn aber nicht ansehen.»

«Schmuck?»

«Zwei Ringe und eine Kette mit Kreuzanhänger. Übrigens ein orthodoxes Kreuz.»

Möglicherweise war in die Ringe etwas eingraviert. Ich überlegte, ob ich Hausfriedensbruch beging, wenn ich mir den Schmuck ohne Einwilligung seiner Besitzerin ansah. Wir verabschiedeten uns von dem Stationsarzt und gingen ins Krankenzimmer zurück. Das Mädchen lag mit geschlossenen Augen da. Die Frau mit den Locken ließ uns nicht aus den Augen, während die Patientin im mittleren Bett immer noch schlief. Ich bat das Mädchen zuerst auf Finnisch, dann auf Russisch um die Erlaubnis, mir ihren Schmuck ansehen zu dürfen. Als sie nicht reagierte, öffnete ich die Schublade. Da riss das Mädchen plötzlich die Augen auf, und ich glaubte Furcht darin zu lesen.

Das Kreuz war klein, etwa drei Zentimeter, und aus dünnem Gold. Es war tatsächlich ein orthodoxes Kreuz mit einem Schrägbalken unterhalb des Querbalkens. Nach einer Gravur suchte ich vergeblich. Den einen der beiden Ringe zierte ein riesiger Rubin, eingefasst von Diamanten, die wie Blütenblätter angeordnet waren. Er sah wertvoll aus, hatte aber ebenfalls keine Gravur. Der andere Ring war schlichter, ein dünner doppelter Goldreif, in den hier und da kleine Steine eingelassen waren, offenbar Granate. Ich hielt ihn ans Licht. ‹Nad Oksanu. A.›

«Nad Oksanu … Oksana? Dein Name?», fragte ich auf Russisch und sah, wie das Mädchen schluckte. Doch sie schwieg beharrlich. Da klingelte mein Handy. Ich hatte vergessen, es beim Betreten der Klinik auszuschalten. Auf dem Display sah ich die Nummer der Staatsanwältin Katri Reponen, mit der ich befreundet war, und schaltete kurzerhand ab. Mit Katri konnte ich später reden.

«Oksana, wir wollen dir helfen. Derjenige, der das getan hat, muss zur …» Ich erinnerte mich nicht, was Verantwortung auf Russisch hieß, und ließ den Satz unvollendet. «Hier ist meine Telefonnummer», sagte ich stattdessen und legte meine Visitenkarte auf den Tisch. Dann öffnete ich Oksanas Schrank. Ein Pelzmantel quoll heraus, dick und flauschig, aber an der Vorderseite blutverschmiert. Ich hatte keine Ahnung, von welchem Tier das blaugraue Fell stammen konnte, Koivu tippte auf gefärbten Chinchilla. In der Manteltasche fand ich eine Zwei-Euro-Münze und ein Papiertaschentuch. Die schwarzen Schnürstiefel, die unten im Schrank standen, hatten extrem hohe Absätze und spitze Kappen. Sie erinnerten mich an den Film vom Vorabend. Am Schaft des rechten Stiefels befand sich ein kleiner Riss, der mit Leim notdürftig repariert worden war.

Unterdessen war die Oma im mittleren Bett aufgewacht und lärmte. Sie wollte zur Toilette. Die geschäftige Zimmergenossin klingelte nach der Schwester. Ich sprach noch kurz mit der Diensthabenden und bat sie, uns zu informieren, wenn sich der Zustand des Mädchens veränderte.

«Schade, dass wir keinen russischsprachigen Psychiater oder Psychologen haben», sagte ich zu Koivu, als wir zum Parkplatz gingen.

Koivu hatte für den Nachmittag einen Termin mit der Frau vereinbart, die die Unbekannte gefunden hatte. Die Vermisstenmeldungen hatte er bereits am Morgen überprüft. Am besten stellten wir sofort eine Pressemitteilung ins Internet, das konnte Koivu mit der Pressereferentin erledigen. Vielleicht brachte die Erwähnung der Schmuckstücke irgendwelche Hinweise.

«Dann besteht allerdings die Gefahr, dass der Täter erneut zuschlägt, wenn er die Mitteilung liest», gab Koivu zu bedenken. Natürlich würden wir den Aufenthaltsort des Mädchens nicht bekannt geben. Falls einer ihrer Freier sie so zugerichtet hatte, würde er wahrscheinlich bald ihren Zuhälter am Hals haben. Andererseits – wenn der Zuhälter wollte, dass das Mädchen ärztlich versorgt wurde, weshalb hatte er sie dann nicht direkt vor der Klinik ausgesetzt?

«Überprüf sicherheitshalber alle in Finnland lebenden Oksanas. Es werden nicht viele sein. Such dir die raus, die zwischen fünfzehn und dreißig sind. Wie genau wurde der Fundort abgesucht? Kann es sein, dass etwas übersehen wurde, ein Handy zum Beispiel oder eine Handtasche?»

«Rasilainen und Airaksinen waren da. Sie haben nichts gesagt.»

«Setz dich mit der Prostituiertenberatung in Verbindung. Die geben natürlich nicht gern Auskunft über ihre Klientinnen. Deshalb musst du ihnen ausdrücklich sagen, dass wir Oksana als Opfer betrachten, nicht als Verdächtige. Wenn sie sich weigert, zu sagen, woher sie die Verletzungen hat, können wir kaum etwas tun. Festnehmen können wir sie nicht, aber ihre Identität muss festgestellt werden. Das ist allerdings Sache der Ausländerpolizei.»

Koivu gähnte wieder. Der Arme tat mir leid. Sein Sohn Juuso war nicht mal drei, Sennu anderthalb. Zum Glück brauchte man nicht die volle Hirnkapazität, um der Identität der jungen Frau nachzuspüren, die ich in Gedanken Oksana nannte. Ich überließ Koivu das Einparken und ging in mein Dienstzimmer. Auf dem Computer erwartete mich eine kurze E-Mail von meinem unmittelbaren Vorgesetzten Jyrki Taskinen. «Alles bestens hier in Quebec. Silja geht es gut, sie findet sich nur zu rund, und Terttu genießt es, sie zu bemuttern. Nächste Woche soll es so weit sein. Habt ihr noch genug Schnee zum Skilaufen? Hier im Gebirge gibt es phantastische Loipen. Wie läuft die Arbeit? Grüße an alle. Jyrki.»

Taskinen hatte sich für ein halbes Jahr beurlauben lassen und war mit seiner Frau nach Kanada geflogen, wo ihre Tochter Silja wohnte. Silja erwartete ihr erstes Kind, Taskinen würde also bald Großvater sein. Ich vermisste ihn tagtäglich, obwohl unser gemeinsames Mittagessen auch vor seiner Abreise oft genug ausgefallen war. Taskinens Frau Terttu war vor zwei Jahren schwer erkrankt, aber die Entfernung der Gebärmutter und zwei weitere Operationen hatten den bösartigen Tumor besiegt. Als feststand, dass Terttu überleben würde, hatte Taskinen ihr versprochen, sich beurlauben zu lassen. Es hatte mehr als ein Jahr gedauert, die Sache durchzuboxen. Da keine Vertretung eingestellt wurde, musste ich in seiner Abwesenheit direkt dem stellvertretenden Polizeichef Kaartamo Bericht erstatten, was weder ihm noch mir angenehm war. Zum Jahresende würde Kaartamo in Pension gehen, und ich war nicht die Einzige, die jetzt schon die Tage zählte.

Kaartamo war ein Fossil aus der Zeit von Präsident Kekkonen und hatte die Angewohnheit, alles über seine Seilschaften laufen zu lassen. Er hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass er gegen meine Ernennung zur Leiterin des Gewaltdezernats gewesen war. Seiner Meinung nach waren Frauen als Polizeibeamtinnen ganz passabel, solange man ihnen nicht zu viel Macht gab. Bei unserer letzten Auseinandersetzung war es um das Austauschprogramm des NBNP, des skandinavisch-baltischen Polizistinnennetzwerks, gegangen. Thema des Programms waren Prostitution und Gewalt gegen Frauen und Kinder. Kaartamo hielt das Ganze für pure Verschwendung und Weibergewäsch. Nach dem Gespräch war mir klar gewesen, dass Kaartamo Frauen hasste und dass unser Kampf immer noch nicht zu Ende war, obwohl wir uns einbildeten, in einer gleichberechtigten Gesellschaft zu leben, und obwohl es für Frauen leichter war, bei der Polizei zu arbeiten, als noch vor zwanzig Jahren bei meinem Dienstantritt.

Ich rief Liisa Rasilainen von der Schutzpolizei an. Wir hatten uns im Lauf der Jahre angefreundet und warteten beide auf den Beginn der Fußballsaison, um endlich wieder in der Frauenelf der Espooer Polizei spielen zu können. Ich hatte mehrmals versucht, Liisa vom Streifendienst zur Kripo abzuwerben, doch die abwechslungsreiche Arbeit bei der Schupo gefiel ihr besser.

«Hallo, Maria!» Liisas Stimme klang dumpf. «Entschuldige, ich hab den Mund voll, Jukka und ich essen gerade Pizza.» Jukka Airaksinen war Liisas Streifenpartner, ein ruhiger Mann, der sich im Gegensatz zu einigen anderen im Präsidium nie daran gestört hatte, dass seine Kollegin lesbisch war.

«Ihr hattet doch gestern mit der Körperverletzung im Zentrum von Espoo zu tun?»

Liisa bejahte. «Eine Routinesache, wir sind gleichzeitig mit dem Krankenwagen eingetroffen. Wir konnten das Opfer nicht befragen, weil es sofort abtransportiert wurde. Ich hab den Fall Koivu gemeldet und ihm Tatortfotos geschickt. Die Spurensicherung haben wir nicht angefordert, das schien uns überflüssig, auch wenn das Ganze nicht nach der üblichen familiären Gewalt aussah. Wer ist das Mädchen?»

«Wissen wir noch nicht.»

Ich hörte Airaksinens Handy klingeln, und gleich darauf sagte Liisa, sie müssten einen Ladendieb verfolgen. Eigentlich hätte ich den Stundenbericht für die erste Monatshälfte ausfüllen müssen, aber meine Gedanken schweiften zur russischen Sprache ab. In den Ländern, die nach dem Zerfall der Sowjetunion unabhängig geworden waren, bestand Bedarf an einer modernen Polizeiausbildung, dort brauchte man vielleicht eine Ausbilderin mit Russischkenntnissen. Im Herbst war ich eine Woche lang in Köln gewesen, um afghanische Polizisten zu schulen, und diese Arbeit hatte ich trotz der gewaltigen Kulturunterschiede als fruchtbar empfunden. Die Gespräche im Unterricht hatten den Glauben an meine Arbeit gestärkt: Ein unparteiisches Rechtswesen und eine korruptionsfreie Polizei waren Grundpfeiler der Demokratie. Ich sehnte mich nach neuen Herausforderungen, aber an einen längeren Auslandsaufenthalt war aus familiären Gründen wohl doch nicht zu denken. Es war auch so schon schwierig genug, die Kinderbetreuung zu organisieren.

Die Pressereferentin schickte mir per E-Mail die polizeiliche Mitteilung zum Abzeichnen. «Die Espooer Polizei bittet um sachdienliche Hinweise zur Identifizierung einer Frau, die gestern mit Schnittwunden im Zentrum von Espoo aufgefunden wurde. Die Frau ist ca. 170 cm groß, schlank, blond und braunäugig. Sie trug einen langen blaugrauen Chinchillamantel und schwarze Stiefel mit hohen Absätzen. Wer Angaben zur Identität der Frau machen kann, wird gebeten, sich mit der Espooer Polizei in Verbindung zu setzen.» Den Abschluss bildete die Telefonnummer des Präsidiums.

Ich quittierte die Mitteilung und ging zum Mittagessen. Pelzmantel und Stiefel lösten so eindeutige Assoziationen aus, dass die Medien sich für den Fall interessieren würden. Vielleicht schaffte es ein Journalist, Oksana zum Reden zu bringen. Bargeld war oft erfolgreicher als die Polizei, zumal Oksana sich mit Geld vielleicht Schutz erkaufen konnte.

Der Nachmittag verstrich in einer Sitzung der Koordinationsgruppe für die Hauptstadtregion, von der ich nichts mehr im Gedächtnis hatte, als ich zur Kita fuhr. Unterwegs rief ich Koivu an, um mich nach der Vernehmung der Frau zu erkundigen, die Oksana gefunden hatte, hörte aber nur das Besetztzeichen. Ich hoffte, die Pressemitteilung würde uns weiterbringen. Ich holte zuerst Taneli ab, dann Iida, die nachmittags in der Familie ihrer Schulfreundin betreut wurde. Damit hatten wir Riesenglück gehabt, denn ohne diese Lösung hätten wir unsere Achtjährige stundenlang allein zu Hause lassen müssen. Zwar war vor kurzem ein Gesetz über die kommunale Nachmittagsbetreuung in Kraft getreten, doch das System funktionierte noch nicht. Stattdessen wurde mittlerweile sogar gefordert, das subjektive Recht auf einen Kindergarten- oder Hortplatz abzuschaffen. Dabei war es für manche Kinder bestimmt besser, den Tag in einer Kita zu verbringen als in der Gesellschaft ihrer betrunkenen Eltern. Unsere Stammkunden, die Janatuinens, waren ein Paradebeispiel. In der Tagesstätte bekamen die Kinder wenigstens Frühstück und Mittagessen.

Wir aßen in aller Eile, denn wir mussten noch nach Matinkylä, wo Iidas Eiskunstlaufgruppe zweimal wöchentlich trainierte. Unser armes Kätzchen blieb wieder allein zu Hause. Während Iida trainierte, vertrieben Taneli und ich uns die Zeit in der Bibliothek, die im Einkaufszentrum Big Apple untergebracht war. Die Umgebung hatte sich unglaublich verändert, seit ich vor neun Jahren in Matinkylä den Mord an der Eiskunstläuferin Noora Nieminen aufgeklärt hatte. Espoo glich einem Puzzle, das nie fertig wurde, weil immer wieder neue Teilchen auftauchten, die nicht ins Bild passten. Antti hatte vorgeschlagen, gegen den Strom zu schwimmen und aus der Hauptstadtregion in die Umgebung von Vaasa zu ziehen. Ab und zu überlegte ich, wie es wäre, dort als Dorfpolizistin im schwedischsprachigen Küstengebiet zu arbeiten. Da die Finnlandschweden einander nicht umzubringen pflegten, würde ich mich da hauptsächlich mit Anschlägen auf Pelztierfarmen beschäftigen müssen. Diese Aussicht erschien mir nicht besonders verlockend.

Trotz der grauenvollen Erinnerung an Noora Nieminens Tod hatte ich Iidas Begeisterung für den Eiskunstlauf begrüßt. Zu meiner Überraschung hatte auch Taneli Schlittschuhe gewollt und schien viel schneller zu lernen als Iida. Ich wusste, wie viel Zeit und Geld der Eissport verschlang, wenn man ihn ernsthaft betrieb, aber ich wollte meinen Kindern nicht die Freude verderben. Zum Glück brauchten sie in ihrem Alter noch nicht an Wettkämpfen teilzunehmen.

Als wir zur Eishalle zurückgingen, klingelte mein Handy. Die angezeigte Nummer war mir unbekannt.

«Krankenschwester Mirja Helin, chirurgische Abteilung der Klinik Jorvi, guten Abend. Sie hatten gebeten, informiert zu werden, wenn im Zustand der unbekannten Frau, die mit Schnittwunden bei uns liegt, eine Veränderung eintritt.»

«Ja», sagte ich, obwohl ich gebeten hatte, den Diensthabenden im Präsidium zu benachrichtigen, nicht mich persönlich. «Na, jetzt hat sich etwas verändert. Sie ist abgängig.»

«Was?»

«Spurlos verschwunden. Als wir ihr die Medikamente bringen wollten, die sie abends nehmen muss, war das Bett leer. Sie hat die Stiefel und den Mantel über die Klinikkleidung gezogen und den Tropf herausgerissen. Wir haben keine Ahnung, wo sie steckt.»

Zwei

Nun mussten die Pressemitteilung aktualisiert und Oksanas Personenbeschreibung an alle Streifenwagen durchgegeben werden. Ihrer Mitpatientin zufolge war Oksana mit dem Infusionsgestell auf den Flur gegangen, um sich die Beine zu vertreten. Dann war sie plötzlich zurückgekommen, hatte hastig den Mantel aus dem Schrank geholt und war verschwunden. Den Infusionsschlauch hatte man vor dem Aufzug gefunden. In der Klinik war immer jemand auf dem Gang unterwegs, irgendjemandem musste die Frau mit dem Kopfverband und dem dicken, blutbefleckten Pelzmantel aufgefallen sein.

Am nächsten Morgen stand die Vermisstenmeldung in der Zeitung, und als ich zur Arbeit fuhr, hörte ich sie auch im Radio. Bis zum Frühlingsanfang waren es nur noch knapp zwei Wochen, daher war es morgens nicht mehr so dunkel, und das Aufstehen fiel mir leichter.

«Taxi- und Busfahrer wurden befragt, aber niemand hat die Frau gesehen», sagte Koivu bei der Morgenbesprechung. «Vermutlich hat sie das Klinikgelände in einem Privatfahrzeug verlassen.»

«Da bleibt uns wohl nichts übrig, als zu warten», meinte Puustjärvi. «Vielleicht bringt uns die Pressemitteilung weiter.»

Puustjärvi war der Geduldigste in unserem Team, er trainierte seine Gelassenheit unter anderem beim Go-Spiel und beim Fliegenbinden. Außerdem machten er und seine Frau Yoga, was er auch uns wärmstens empfahl. Die Vorstellung, dass der blonde, stämmige Puustjärvi sich zu diversen Asanas verrenkte, hatte etwas Komisches. Offenbar war er vielschichtiger, als er zu erkennen gab.

Noch weniger als ihn kannte ich Autio, obwohl wir seit fast drei Jahren zusammenarbeiteten. Für ihn war der korrekte Anzug eine Maskerade, hinter der er sich verbarg. Er kam mit jedem aus, war aber mit niemandem befreundet. Ursulas gelegentliche Versuche, mit ihm zu flirten, ignorierte er souverän, was Ursula ganz offensichtlich nervte. Sie war eine der Frauen, die zwanghaft versuchen, jeden Mann herumzukriegen, nur so zum Spaß. Anfangs hatte ich mich darüber geärgert, aber inzwischen fand ich ihre Marotte nur noch lächerlich.

Bisher hatten wir nur wenige Hinweise erhalten, und keiner davon war brauchbar. Eine Frau in Kirkkonummi war fest davon überzeugt, dass es sich bei der Vermissten um ihre Nachbarin handelte; diese jedoch saß kerngesund an ihrem Arbeitsplatz. Ein Betrunkener hatte angerufen und gelallt, er habe in Estland mit einer Nutte namens Oksana geschlafen. Die weiteren Hinweise waren noch absurder, und die Beratungsstelle für Prostituierte kannte keine Oksana. Allerdings versprachen die Mitarbeiterinnen, sich unter ihren Klientinnen umzuhören.

Nach Auskunft der Ärzte war Oksanas Gesundheitszustand nicht lebensbedrohlich, doch wenn die Wunden nicht versorgt würden, könnten sie sich entzünden. Ich beauftragte Koivu, weiter die Liste der Oksanas in Finnland abzuarbeiten und das Einreiseregister der letzten Wochen zu überprüfen, denn viele Sexarbeiterinnen kamen mit einem Dreimonatsvisum.

Mit der Staatsanwältin Katri Reponen besprach ich einen Vergewaltigungsfall, der in nächster Zeit vor Gericht kommen sollte, dann war es auch schon Zeit fürs Mittagessen. Da Katri in Eile war, begnügten wir uns mit der Kantine. Es tat richtig gut, mal wieder mit ihr zu plaudern. In der Kriminalabteilung der Staatsanwaltschaft wurde eine Stelle frei, und Katri meinte, ich sollte mich unbedingt bewerben.

«Du wirkst seit einiger Zeit so ausgelaugt, ein neuer Job würde dir gut tun. Übrigens planen Leena und ich ein Wellness-Wochenende in einem Spa-Hotel. Komm doch mit!»

Über den zweiten Vorschlag versprach ich nachzudenken, aber als ich auf dem Flur Kaartamo begegnete, fand ich auch den ersten gar nicht mehr so abwegig.

«Wir haben heute früh bei der Chefbesprechung deinen weiblichen Charme vermisst», rempelte er mich an. «Wenn Taskinen nicht dabei ist, hast du offenbar kein Interesse an unseren Sitzungen.»

«Ich musste an unserer Dezernatsbesprechung teilnehmen, wir haben gerade einen ziemlich komplizierten Fall», antwortete ich ausweichend.

«Die Schlampe, die aus der Klinik verschwunden ist? Eine Russenhure weniger, was soll’s», knurrte Kaartamo. «Davon gibt’s genug. Lohnt sich nicht, dafür seine Zeit zu verschwenden.»

«Bisher wissen wir weder, ob die Frau Russin ist, noch ob sie als Prostituierte arbeitet. Und es geht nun mal nicht, dass Leute einfach so aus Krankenhäusern verschwinden.»

«Ist sie nicht freiwillig abgehauen? Hat sich unten nähen lassen und ist gegangen. Vergiss es.»

«Woher weißt du, welche Verletzungen sie hatte? Das Protokoll über die Voruntersuchung ist meines Wissens noch gar nicht fertig.»

«Es spricht sich eben rum, wenn die Jungs bestimmte Fotos als Untersuchungsmaterial begutachten dürfen. Mann ist Mann, Kallio, so viel müsstest du inzwischen doch gelernt haben.» Kaartamo ging weiter, offenbar legte er keinen Wert auf eine Antwort. War auch besser so, mir fiel nämlich keine passende Retourkutsche ein.

Koivu verbrachte den Nachmittag in der Klinik, wo er das Personal und Oksanas Zimmergenossinnen befragte, anschließend gab er mir telefonisch einen Zwischenbericht. Etwas hatte er schon herausgefunden: Die Frau mit dem Gipsbein behauptete, eine halbe Stunde vor Oksanas Verschwinden habe das Telefon geklingelt. Oksana habe abgenommen und einsilbig geantwortet. Dabei habe sie ängstlich ausgesehen.

«Ein Anruf? Seltsam. Es wusste doch niemand, in welchem Zimmer Oksana lag. Sprich mal mit der Zentrale, ich beantrage Einsicht in die Verbindungsdaten.»

Oksana war im Erdgeschoss beim Verlassen der Klinik gesehen worden, aber niemand hatte beobachtet, wohin sie danach gegangen war. Auch über ihre Identität erfuhren wir nichts. Ein unbekanntes Mädchen aus dem Nichts, ein Mädchen, das niemand vermisste außer dem Gewaltdezernat der Espooer Polizei. Gab es so etwas?

 

Auf dem Nachhauseweg ging ich noch einkaufen. Antti hatte die Kinder abgeholt, ein freies Wochenende mit der ganzen Familie lag vor mir, es war wie ein Fest. Iida zeigte stolz eine Schale aus Gips, die sie in der Schule gemacht hatte, und Antti fragte, ob er das Werk nach Vaasa mitnehmen dürfe, um sein Zimmer dort ein wenig gemütlicher zu machen. Wir hatten den ganzen Winter über eine Reise nach Vaasa geplant, doch die Erkrankung von Anttis Vater und dann die Beerdigung hatten alle Pläne durcheinander gebracht. Außerdem war es eine komische Vorstellung, zum eigenen Ehemann auf Besuch zu fahren.

Nach dem Essen spielten wir Karten. Taneli, der gerade erst die Zahlen erlernt hatte, schlug sich beim Mau-Mau ebenso wacker wie beim schwarzen Peter. Antti holte sich ein Bier, ich nahm ein Glas Rotwein. Kurz nach acht fielen Taneli die Augen zu, und ich trug ihn ins Bett. Als ich zurückkam, guckte Antti die Nachrichten. Es gefiel mir nicht, dass auch Iida vor dem Fernseher saß, wenn jederzeit Bilder von verhungernden Kindern oder zerfetzten Leichen über den Bildschirm flimmern konnten. Zu meiner Erleichterung ging es diesmal jedoch um Unternehmenssanierung.

«Der Forstmaschinenhersteller Copperwood AG kündigt für seinen Betrieb in Arpikylä Beurlaubungen an. Das Unternehmen beschäftigt dort zurzeit sechsunddreißig Mitarbeiter. Copperwood ist Teil des Konzerns Finnsteel, der in den letzten Jahren vor allem auf dem fernöstlichen Markt Umsatzsteigerungen erzielt hat. Generaldirektor Arto Saarnio, wie begründen Sie die Freistellungen?»

Sechsunddreißig Beschäftigte, das klang fast harmlos, aber für meine Heimatstadt Arpikylä war es eine ganze Menge. Jarmo, der Mann meiner Schwester Eeva, leitete die PR-Abteilung bei Copperwood. Vielleicht würde auch er seine Stelle verlieren. Der ehemalige Familienbetrieb Copperwood war vor einigen Jahren vom Finnsteel-Konzern aufgekauft worden, und schon damals hatte man mit Kündigungen gerechnet. Die waren jedoch ausgeblieben, woraufhin Jarmo die neuen Besitzer in den höchsten Tönen gelobt hatte. Aber im letzten Herbst hatte Arto Saarnio die Leitung des Konzerns übernommen, ein Mann, der als harter Sanierer bekannt war und bereits zwei Unternehmen der Elektronikbranche so effektiv saniert hatte, dass die Dividenden sich verdoppelten. Von den Arbeitsplätzen war dagegen die Hälfte verschwunden.

Ich rief bei Eeva an, doch ihre Nummer war besetzt. Offenbar war unsere Mutter mir zuvorgekommen. Also ging ich erst mal mit Iida duschen. Das Einfamilienhaus von Jarmo und Eeva in Joensuu war sicher noch höher mit Schulden belastet als unsere Wohnung im weißen Würfel hier in Espoo. Würde Jarmo dort oben in Nordkarelien überhaupt einen vergleichbaren Job finden? Während ich in den Schlafanzug schlüpfte, dachte ich neidisch an die Generation unserer Eltern, für die ein Studium noch die Garantie auf lebenslange Anstellung bedeutet hatte.

Antti, der mit Vorlesen an der Reihe war, brachte Iida ins Schlafzimmer. Ich setzte mich wieder vor den Fernseher, diesmal sozusagen aus beruflichem Interesse. In der Talkshow «Überraschungsgäste» von Ilari Länsimies sollte es nämlich diesmal um Prostitution gehen. «Legal oder illegal?», war die Vorankündigung in der Zeitung überschrieben. Sollte Kauf oder Verkauf von Sex unter Strafe gestellt werden? Oder sollte man im Gegenteil das Betreiben von Bordellen legalisieren?

Das Thema interessierte mich nicht nur wegen Oksana. Mit der Prostitution und ihren Folgeerscheinungen hatten Gewalt- und Rauschgiftdezernat immer wieder zu tun. Im Herbst hatte die Helsinkier Schutzpolizei die Überwachung des Straßenstrichs eingestellt, weil zuvor die meisten Verfahren aus Mangel an Beweisen niedergeschlagen wurden. Viele Freier sahen darüber hinweg, dass sie letztlich das organisierte Verbrechen unterstützten. Bis Iida eingeschlafen war, konnte ich mir die Sendung ruhig anschauen, danach wollte ich die Zweisamkeit mit Antti genießen. Als die fröhliche Erkennungsmelodie einsetzte, drehte ich die Lautstärke herunter. Venjamin sprang auf meinen Schoß und begann zu schnurren.

Der fünfzigjährige Ilari Länsimies hatte sich schon in vielen Bereichen hervorgetan: in der Politik, in der Wirtschaft, in verschiedenen Medienkonzernen. Am wohlsten fühlte er sich jedoch vor der Kamera. Er hatte Charisma und schnitt bei der Wahl des attraktivsten Mannes, die von manchen Frauenzeitschriften veranstaltet wurden, immer gut ab. Seine Show «Überraschungsgäste» lief seit rund einem Jahr. Der Clou der Sendung bestand darin, dass keiner der Diskussionsteilnehmer im Voraus wusste, wer außer ihm eingeladen war. Länsimies meinte, nur so komme eine spontane Diskussion zustande. Die Teilnehmer wurden nacheinander einzeln ins Studio geführt, und bei jedem Neuankömmling beobachteten die Kameras die Reaktionen der bereits Anwesenden. Je entsetzter sie wirkten, desto besser. Vor einigen Monaten hatte Länsimies den Außenminister, einen General, einen Friedensaktivisten und eine freiwillige Rekrutin über Landminen streiten lassen und es sichtlich genossen, als die Diskussion immer hitziger wurde und die freiwillige Landesverteidigerin den Außenminister als naiven Idioten beschimpfte. Der Medienrummel hatte danach tagelang gedauert.

«Heute sprechen wir über ein Thema, das uns alle interessiert: Sex. Diesmal geht es allerdings speziell um käufliche Liebe. Viele unter uns empfinden die Kirche als sexualfeindliche Institution, ein Eindruck, den der kürzliche Skandal um die Ehescheidung des Bischofs von Turku noch verstärkt haben dürfte. Was hat die Kirche zur Prostitution zu sagen? Ich begrüße Pastorin Terhi Pihlaja von der Gemeinde Tapiola.»

Die Pfarrerin war um die dreißig. Ihre schwarze Ponyfrisur und das blasse Gesicht passten gut zu der schwarzen Bluse mit dem weißen Stehkragen, allerdings setzten der grellrote Lippenstift und die großen Ohrringe einen überraschenden Kontrast.

«Guten Abend. Als Erstes möchte ich klarstellen, dass ich hier weder für die evangelisch-lutherische Kirche Finnlands noch für die Gemeinde Tapiola spreche, sondern einzig und allein meinen persönlichen Standpunkt vertrete.»

«Und was ist mit dem Standpunkt Gottes?», frotzelte Länsimies. Terhi Pihlaja wirkte peinlich berührt. Länsimies lachte ganz allein über seinen Witz, denn die Talkshow wurde ohne Studiopublikum aufgezeichnet, um eine intime Atmosphäre zu erzeugen.

Terhi Pihlaja trat dafür ein, sowohl das Kaufen als auch das Vertreiben von Sex zu kriminalisieren. Sie erklärte, Menschen seien keine Handelsware.

«Sie setzen sich aber dafür ein, dass Schwule und Lesben kirchlich getraut werden dürfen. Ist das nicht ein Widerspruch?»

«Wieso?» Es stand der Pastorin ins Gesicht geschrieben, dass sie diese Frage nicht zum ersten Mal hörte. «Ich bin gegen Menschenhandel. Verbindliche Beziehungen schätze ich dagegen sehr.»

«Sind Sie verheiratet?», fragte Länsimies. Die Gäste der Talkshow waren darüber informiert, dass sie auch mit Fragen zu ihrem Privatleben rechnen mussten. Einmal hatte Länsimies den durch rassistische Äußerungen bekannt gewordenen Vater des Ministerpräsidenten gefragt, was er dazu gesagt hätte, wenn sein Sohn eine Schwarze geheiratet hätte.

«Ich habe mich von meinem Lebensgefährten getrennt», antwortete Terhi Pihlaja, doch Länsimies zeigte schon kein Interesse mehr. Es war Zeit für den nächsten Studiogast.

«Über unser Thema gibt es vermutlich so viele Meinungen, wie es Männer gibt – oder Frauen. Wie mag die Auffassung der Gesetzeshüter lauten? Das sagt uns nun Kommissar Lasse Nordström, Prostitutionsexperte bei der Zentralkripo.»

Lasse Nordströms Wege hatten sich gelegentlich mit meinen gekreuzt. Als ich noch studierte, hatte Lasse mit meinem damaligen Freund Kristian Squash gespielt, und vor einigen Jahren hatten wir beide in einer Arbeitsgruppe zur Gewalt in der Familie gesessen. Ich hatte immer das Gefühl gehabt, dass mehr in ihm steckte, als er nach außen zu erkennen gab, dass seine joviale Art teilweise nur Fassade war. Er war breitschultrig und trug einen Bürstenschnitt. Das braune Cordjackett und die Jeans vermittelten einen betont lockeren Eindruck: Dieser Mann wollte nicht wie ein Polizist aussehen.

«Lasse Nordström, in Finnland ist es verboten, in der Öffentlichkeit sexuelle Dienstleistungen anzubieten, trotzdem blüht das Sexgeschäft auf den Straßen ebenso wie in Restaurants und im Internet. Die Helsinkier Schutzpolizei hält das Gesetz gegen Straßenprostitution für wirkungslos, weil Anzeigen so gut wie nie zu Verurteilungen führen. Ist die Polizei frustriert?»

«Die Einhaltung der vom Parlament beschlossenen Gesetze muss selbstverständlich überwacht werden. Auch dann, wenn man lieber andere Prioritäten setzen würde. Die Polizei strebt bei allen Formen der Kriminalität die Nulllinie an.»

«Selbst wenn dieses Ziel unerreichbar ist?», hakte Länsimies nach.

Nordström schien unbequem zu sitzen, offenbar war der schwere braune Sessel zu klein für ihn.

«Das ist eine Frage der Ressourcen. Wie jedem klar sein dürfte, ist die Polizei zu knapp ausgestattet. Die Leichtathletik-WM in diesem Sommer wird die Situation noch verschlimmern.»

«Was meinen Sie persönlich – sollten Kauf und Verkauf von Sex verboten oder liberalisiert werden?»

Lasse weigerte sich, seine eigene Meinung zu äußern. Stattdessen leierte er Statistiken herunter, und Länsimies hatte seine liebe Not, ihn zum Schweigen zu bringen. Ich selbst hätte es auch problematisch gefunden, in einer Fernsehdiskussion meine persönliche Auffassung publik zu machen. Staatsdiener mussten nun einmal loyal zu ihrem Dienstherrn stehen, auch wenn es ihnen gegen den Strich ging.

Schließlich riss Länsimies die Zügel wieder an sich und bat den nächsten Gast ins Studio: Anna-Maija Mustajoki. Sie hatte im letzten Herbst ihre Memoiren veröffentlicht, und eine Episode darin hatte Aufsehen erregt: die fünfseitige Schilderung ihrer Begegnung mit einem männlichen Prostituierten Ende der sechziger Jahre in Kalifornien. Dass die Autorin nicht nur eine kürzlich pensionierte hohe Beamtin des Ministeriums für Gesundheit und Soziales, sondern auch eine bekennende Feministin war, machte den Skandal perfekt. Die Journalisten interessierten sich weder für Mustajokis Analyse der erneut auseinander driftenden Geschlechterrollen noch für ihre Erfahrungen als Unicef-Beauftragte in Afrika, sondern bissen sich an jenen fünf Seiten fest. Unzählige Kolumnen und Karikaturen nahmen Anna-Maija Mustajoki aufs Korn. Mit ihren langen grauen Haaren, der runden Brille im ungeschminkten Gesicht und der betont maskulinen Kleidung entsprach sie haargenau dem Prototyp der Feministin, wie sie in Zerrbildern so gern dargestellt wurde.

«Anna-Maija Mustajoki, Sie sind der Ansicht, Kuppelei und der Kauf sexueller Dienstleistungen sollten kriminalisiert werden, der Verkauf dagegen nicht. Warum?»

«Die meisten in Finnland tätigen Prostituierten sind Opfer des Frauenhandels und geraten ins horizontale Gewerbe, weil sie keine Alternative haben. Sie brauchen Hilfe, deshalb ist es unvernünftig, sie zu Outlaws zu machen. Wenn sie Strafverfolgung befürchten müssen, werden sie sich bei Übergriffen erst recht nicht mehr an die Polizei wenden. Man sollte sich lieber darauf konzentrieren, Zuhälter und Menschenhändler dingfest zu machen.»

«Ihrer eigenen Interpretation nach haben Sie selbst also vor fast vierzig Jahren ein Verbrechen begangen …»

Anna-Maija nickte, ihre Miene war reserviert.

«Aber waren die Dollars, die Sie damals bezahlt haben, nicht eine Hilfe für Jimmy, den jungen Stricher? Warum sollte in Finnland nicht das Gleiche gelten? Die Mädchen verdienen Geld und brauchen nicht zu hungern.»

«Der arme Junge hat sich von dem Geld bestimmt den nächsten Schuss gekauft. Ein Entzug wäre für ihn besser gewesen.»

«Anna-Maija Mustajoki ist zu bewundern für den Mut, über ihre Abenteuer in Kalifornien zu schreiben. Auch einen Mann zu finden, der bereit ist, dem Sexkunden ein Gesicht zu geben, war gar nicht so leicht. Oft denkt man ja, zu Prostituierten gingen nur Loser und verklemmte Junggesellen, Männer, die keine andere Wahl haben. Aber Untersuchungen zufolge sind es die ganz normalen Männer, die käuflichen Sex in Anspruch nehmen. Hier ist einer von ihnen. Herzlich willkommen, Mauri Hytönen!» Länsimies applaudierte als Einziger.

Der Mann, der nun auftrat, war um die vierzig, mittelgroß und elegant gekleidet. Die schwarzen Haare und der schwarze Schnurrbart bildeten einen so scharfen Kontrast zu seinem blassen Gesicht, dass ich annahm, sie seien gefärbt.

«Mauri Hytönen aus Vesanto, Sie haben den Mut gehabt, sich auf der Internetseite unserer Show darüber zu äußern, weshalb Sie käuflichen Sex in Anspruch nehmen. Und nun erzählen Sie es bitte noch einmal hier in der Sendung.»

Hytönen strich seine Krawatte glatt. «Ich war zweimal verheiratet, aber eine feste Beziehung ist nicht das Richtige für mich. Ich will nach meinen eigenen Vorstellungen leben. Man findet selten Frauen, die wirklich bereit sind, Sex zu haben, ohne gleich eine feste Bindung zu verlangen. Mit Professionellen sind die Spielregeln eindeutig, und man bekommt für sein Geld genau das, was man will.» Er bemühte sich, korrektes Hochfinnisch zu sprechen, doch sein Savoer Dialekt klang immer wieder durch.

«Wie suchen Sie sich die Frauen aus?»

«Ich habe einige feste Mädchen, die ich regelmäßig besuche, zum Teil hier in der Hauptstadtregion, zum Teil in Tallinn. Ich zahle gern für gute Qualität, und ich bevorzuge Frauen, die weder Junkies sind noch unter der Fuchtel eines Zuhälters stehen. Es ist absurd, dass Bordelle nicht legalisiert werden. Das wäre wesentlich sicherer, sowohl für die Mädchen als auch für uns Freier, da bräuchte man keine Angst vor krummen Sachen zu haben. Das Ganze ist doch ein ehrlicher Handel.»

«Keineswegs, solange es illegal ist», ergriff Lasse Nordström das Wort.

«Sind zwischenmenschliche Beziehungen nicht immer ein Tauschhandel, im Guten wie im Schlechten?», warf Anna-Maija Mustajoki ein, doch Länsimies übertönte sie: «In Frauenzeitschriften werden die Männer aufgefordert, die Wohnung zu putzen, denn schwups, dann hätten ihre Frauen am Abend auch Lust. Ein Handel ist das, sonst nichts! So oder so muss jeder Mann für seinen Sex bezahlen.»

«Was soll das heißen, der Mann muss immer bezahlen!», rief Terhi Pihlaja. «Als wäre Sex etwas, das nur die Männer wollen, während Frauen von Natur aus kein Verlangen danach haben, sondern nur dem Mann zu Gefallen sind. Damit füttert man nur die Vorstellung, dass eine Frau, die Spaß am Sex hat, irgendwie anrüchig ist.» Anna-Maija Mustajoki nickte so heftig, dass ihre großen Brüste wippten und ihr eine Haarsträhne ins Gesicht fiel. Länsimies hob die Hand, um die Diskussion zu stoppen, dann machte er eine Kunstpause.

«Wir haben bereits einige Aspekte kennen gelernt, doch noch fehlt uns die Perspektive der Professionellen. Darf ich …» Der Redestrom versiegte, Länsimies starrte vor sich hin. Offenbar erhielt er über den Kopfhörer eine Regieanweisung. «Einen kleinen Augenblick noch, gleich stelle ich Ihnen eine Person vor, die …»

Die Frau, die plötzlich ins Studio gerannt kam, war völlig außer sich. Sie schien etwas zu rufen, ich glaubte das Wort «tot» von ihren Lippen zu lesen.

Lasse Nordström sprang auf.

«Was sagen Sie?» Er fasste die Frau an der Schulter. Sie zitterte am ganzen Leib. «Wer ist tot?»

«Lulu? Lulu Nightingale?», rief Ilari Länsimies dazwischen. Auch er lief zu der Frau im eleganten Kostüm, ich sah, wie sie nickte und dann schluchzend zu sprechen begann. Erst jetzt schien Länsimies zu begreifen, dass er immer noch auf Sendung war.

«Kameras aus!», brüllte er. Zuerst verschwand der Ton, eine Weile sah man noch wild gestikulierende Gestalten, dann erschien das Testbild. Ich war hellwach. Das Studio der Firma Westman Productions, die die Talkshow produzierte, befand sich in Tontunmäki, das zu Espoo gehörte. Wenn sich dort ein Todesfall ereignet hatte, war mein Dezernat zuständig. Venjamin schlug beleidigt die Krallen in mein Knie, als ich aufsprang. Ich setzte ihn auf den Fußboden. Puupponen hatte Bereitschaftsdienst. Ich wollte schon seine Nummer wählen, ließ es jedoch bleiben. Wozu die Aufregung – womöglich war bloß jemand überraschend krank geworden.

Iida und Antti waren mit dem Lesen fertig. Ich passte auf, dass Iida sich ordentlich die Zähne putzte, brachte sie ins Bett und gab ihr einen Gutenachtkuss. Kaum hatte ich die Tür hinter mir zugezogen, als das Handy klingelte. Auf dem Display stand «Puupponen».

«Hallo, ich bin auf dem Weg zum Fernsehstudio in Tontunmäki. Da ist was Verrücktes passiert, ein seltsamer Todesfall. Ein Talkshow-Gast kam nicht vor die Kameras. Er wurde tot in der Garderobe gefunden. Zufällig war ein Kollege im Studio, der hat einen Krankenwagen gerufen und uns alarmiert.»

«Ich hab die Sendung gesehen. Ist schon ein Streifenwagen unterwegs?»

«Saastamoinen und Akkila, die Spurensicherung hab ich auch gleich alarmiert. Das Opfer soll eine bekannte Prostituierte sein. Mein lieber Schwan!»

Ich zog den Schlafanzug wieder aus und suchte meine Kleider zusammen, ohne das Gespräch zu unterbrechen. Ich versprach Puupponen, in zehn Minuten im Studio zu sein. Dabei spürte ich förmlich, wie das Adrenalin durch meinen Körper strömte.

«Was ist denn jetzt los?», fragte Antti, als er sah, dass ich die Jeans anzog.

«Arbeit.» Ich riss den Blazer vom Kleiderbügel, er war ein bisschen zerknautscht, aber das spielte keine Rolle. Zum Schminken hatte ich keine Zeit, ich bürstete mir nur rasch die Haare.

«Musst du wirklich um diese Zeit noch weg?»

«Ich schau mir die Sache an. Vielleicht dauert es nicht lange.»

Die Windschutzscheibe war beschlagen, ich stellte die Heizung auf die höchste Stufe. Bei der Toten handelte es sich offensichtlich um Lulu Nightingale, eine der bekanntesten Sexarbeiterinnen Finnlands. Die Wahl ihres Künstlernamens begründete sie damit, dass sie ihrer Ansicht nach einen ähnlichen Samariterdienst leistete wie Florence Nightingale im Krimkrieg. Ihr Etablissement im Helsinkier Stadtteil Punavuori hieß «Die frivole Nachtigall», es stand seit langem unter Beobachtung. Die Frau bewegte sich ständig am Rande der Legalität; soweit ich mich erinnerte, hatte sie auch schon eine Bewährungsstrafe kassiert, weil sie Assistentinnen beschäftigt hatte, was ihr als Kuppelei ausgelegt wurde. Damals hatte sie versucht, einen Einfrauenkrieg gegen den Kuppeleiparagraphen zu führen. Manche betrachteten Lulu Nightingale als Heldin der sexuellen Befreiung, andere sahen in ihr die Verkörperung des moralischen Verfalls, weil sie meinten, es gehöre sich nicht für eine Prostituierte, stolz auf ihren Beruf zu sein.

Die Straßen hatten sich geleert, und die meisten Ampeln waren abgeschaltet. So brauchte ich nicht einmal eine Viertelstunde für die Fahrt. Das Fernsehstudio befand sich im Erdgeschoss eines weiß verputzten Industriegebäudes, in der oberen Etage waren ein Textilgroßhandel und ein Softwareunternehmen untergebracht. Vor dem Haus standen zwei Streifenwagen und eine Ambulanz. Die Tür war verschlossen. Ich drückte auf die Klingel, doch es rührte sich nichts. Noch einmal hielt ich den Finger auf den Knopf. Mein Atem dampfte in der klaren Märznacht, der Mond stand als schmale Sichel am Himmel. Gerade als ich Mira Saastamoinen anrufen wollte, öffnete ihr Partner Akkila die Tür.

«Kallio, grüß dich. Was machst du denn schon hier?»

«Ich hab’s im Fernsehen gesehen. Puupponen kommt auch. Wie sieht’s aus?»

«Schau es dir selbst an.» Akkila führte mich hinein. «Hier herrscht absolutes Chaos, eine von den Frauen ist total hysterisch, und Nordström von der Zentralkripo versucht mit Gewalt, die Ermittlungen an sich zu reißen. Mira zankt sich gerade mit ihm herum. Rasilainen und Airaksinen sind mit den anderen im Aufnahmestudio.»

Es kam mir vor, als wäre alles viel zu schnell passiert: Vor einer halben Stunde noch hatte ich auf dem Sofa gesessen und die Studiodekoration betrachtet, und nun stand ich mittendrin. Die Kameras liefen nicht mehr, aber die Scheinwerfer strahlten noch. Die Menschen, die ich vorhin im Kleinformat auf dem Bildschirm gesehen hatte, waren plötzlich Wesen aus Fleisch und Blut. Nun musste ich die Rolle des Showmasters übernehmen, und bei mir würde es garantiert nicht locker zugehen.

«Kriminalkommissarin Maria Kallio von der Espooer Polizei, guten Abend. Wir bitten Sie, vorläufig hier im Studio zu bleiben. Wir werden Ihre Personalien aufnehmen und Sie später für weitere Befragungen kontaktieren.»

Ilari Länsimies, der auf der Lehne von Mauri Hytönens Sessel hockte, stand auf und trat zu mir. Meine erste Reaktion war Verwunderung: Er war klein, kaum eins siebzig. Er trug einen gut sitzenden dunkelblauen Anzug, hatte die Krawatte gelockert und den obersten Hemdknopf geöffnet, sodass die dichte, dunkle Brustbehaarung zu sehen war. Er gab mir die Hand, ohne sich vorzustellen, offenbar hielt er es für selbstverständlich, dass ich ihn erkannte. Sein Händedruck war fest, seine hellblauen Augen bohrten sich in meinen Blick. «Kriminalkommissarin Maria Kallio», wiederholte er meinen Namen nach amerikanischem Brauch, bevor er meine Hand losließ.

Mustajoki, Pihlaja und Hytönen saßen auf denselben Sesseln wie während der Sendung. Außerdem befanden sich drei Männer im Studio, offenbar Kameraleute und Tonmeister. Ich überlegte, wer die hysterische Frau sein mochte, die Akkila erwähnt hatte. War es diejenige, die mit der Nachricht von Lulu Nightingales Tod ins Studio gestürmt war? Wo steckte sie jetzt?

«’n Abend, Kallio!», rief Lasse Nordström von der Tür her. «Verdammt diensteifrige Schupos habt ihr in Espoo. Die haben mich glatt von der Leiche weggescheucht, obwohl ich erklärt habe, dass ich ein Kollege bin.»

Ich ging zu Nordström und zog ihn auf den Flur. Er schüttelte mir die Hand, als wären wir die besten Freunde; in Wahrheit beschränkte sich unsere Bekanntschaft auf ein paar Kneipenabende während des Studiums und auf einige zufällige Begegnungen bei Seminaren.

«Wie sieht es aus?», fragte ich. «Bist du sicher, dass es sich nicht um einen natürlichen Tod handelt?»

«Ich weiß, wer die Frau war, und halte es für besser, alle Eventualitäten in Betracht zu ziehen. Außerdem – na, schau dir erst mal die Leiche an.»

«Spuren äußerlicher Gewalt?»

«Nein, aber die Verkrampfung deutet auf eine Vergiftung hin», meinte Nordström.

«Wer hat die Leiche gefunden?»

«Riitta», antwortete Ilari Länsimies im selben Moment, als Nordström sagte: «Die Regisseurin.» Länsimies war zu uns auf den Flur gekommen und redete nun wie ein Wasserfall. «Heute Abend lief alles ein wenig anders. Normalerweise holt Nuppu, unsere Maskenbildnerin, die Gäste aus ihren Garderoben, aber sie hatte Probleme mit dem Babysitter und ist früher gegangen, weil Lulu darauf bestand, sich selbst zu schminken.» Länsimies lockerte den Schlips noch ein Stück weiter. «Wir arbeiten mit einem kleinen Team, nur mit zwei Kameras und einem Tonmeister, und Riitta sagte, sie könne den letzten Gast selbst holen, weil die Kameraleute auch ohne Regie wissen, was sie zu tun haben.»

Nordström sah Länsimies an, als wollte er ihn auffordern, den Mund zu halten. Der Showmaster hatte zwar Hausrecht, aber Nordström war immerhin Kriminalbeamter. Ihr Gockelkampf war allerdings überflüssig. Von jetzt an hatte ich das Sagen.

«Wo ist diese Riitta jetzt?»

«Sie hat sich in meiner Garderobe hingelegt. Eine von den beiden Polizistinnen ist bei ihr.»

Nun tauchte auch Puupponen auf. Ich bat Mira Saastamoinen, die Personalien aller Anwesenden aufzunehmen, und sagte, ich wolle zuerst mit der Frau sprechen, die die Tote gefunden hatte, und mich danach um die anderen kümmern. Mein Handy klingelte, auf dem Display sah ich die Nummer eines bekannten Polizeireporters. Da ich noch nichts mitzuteilen hatte, schaltete ich den Ton ab und steckte das Telefon in die Innentasche des Blazers, wo es lautlos vibrierte. Ich bat Länsimies, mich durch das Gebäude zu führen, denn es schien mir leichter, ihm Fragen zu stellen, wenn die anderen nicht zuhörten.

«Die Grundidee Ihrer Talkshow ist ja, dass die Gäste nichts voneinander wissen. Wie organisieren Sie das in der Praxis?»

«Für jeden ist eine eigene Garderobe reserviert, die er nur in Begleitung der Maskenbildnerin oder mit mir verlassen darf. Nuppu fungiert sonst als Zeremonienmeisterin, aber heute hatten wir, wie gesagt, umdisponiert. Wir geben den Gästen individuell abgestufte Ankunftszeiten, Nuppu oder Riitta nehmen sie in Empfang und führen sie in ihre Garderobe, wo sie dann geschminkt werden.» Länsimies zog ein Taschentuch hervor und wischte sich über die Stirn. Die Schminke hinterließ einen Fleck auf dem Tuch.

«Wie verhindern Sie, dass die Diskussionsteilnehmer zur falschen Zeit im Flur herumlaufen? Werden die Garderoben von außen abgeschlossen?»

«Nein, aber von innen. Die Leute halten sich an die Spielregeln. Jeder will ins Fernsehen, wir hatten nie Schwierigkeiten, Gäste zu finden. Aha, Riitta ist jetzt da drüben, in der Garderobe von Anna-Maija Mustajoki.»

«Danke», sagte ich in einem Ton, der Länsimies klar machen sollte, dass er nicht mehr gebraucht wurde. «Wir setzen unser Gespräch nachher fort.» Unmerklich ahmte ich seine Sprechweise nach, ein Versuch, mich mit ihm auf eine Stufe zu stellen.

Die Sanitäter kamen uns entgegen. «Nichts mehr zu machen», sagte einer der beiden, den ich flüchtig kannte. «Ihr könnt jetzt knipsen, wir nehmen sie anschließend mit, falls kein Alarm dazwischenkommt. Gibt’s hier irgendwo Kaffee?»

Die Sanitäter hatten es nicht mehr eilig, für uns dagegen fing der Stress erst an. Liisa Rasilainen, die meine Stimme erkannt hatte, steckte den Kopf durch die Tür und winkte mich in die Garderobe. Puupponen folgte mir in den kleinen Raum, der gerade genug Platz bot für ein Sofa, einen Stuhl und einen schmalen Schminktisch, über dem ein großer Spiegel hing. Auf dem Sofa lag die magere Frau im Kostüm, die ich vor gut einer halben Stunde auf dem Bildschirm gesehen hatte. Ihr Gesicht war aschfahl, sie starrte ins Leere. Die Augen waren vom Weinen gerötet, auf den Wangen sah man Reste von verschmiertem Make-up. Ich stellte mich und Puupponen vor, doch die Frau schien mich nicht zu hören und reagierte zunächst auch nicht auf meine Fragen. Dann brach sie erneut in Tränen aus.

«Ich will nicht darüber reden, es war so furchtbar!»

«Schockzustand», flüsterte Liisa mir zu. «Sie heißt Riitta Saarnio, sechsundfünfzig Jahre. Sollten wir sie besser in die Klinik bringen?»

«Versuch erst mal, ihre Angehörigen zu erreichen, dann sehen wir weiter. Wo ist die Tote?»

«In der Garderobe nebenan. Hier ist der Schlüssel.» Liisa reichte mir eine Lochkarte aus Plastik, auf der eine Zwei stand. «Sowohl Nordström als auch die Sanitäter haben den Raum betreten, aber sie sagen, sie hätten die Position der Leiche so wenig wie möglich verändert.»

Bevor ich die Tür zu Lulu Nightingales Garderobe öffnen konnte, klopfte mir jemand auf die Schulter. Ich fuhr zusammen, denn ich hatte keine Schritte gehört. Als ich mich umdrehte, sah ich einen vierschrötigen Mann mit millimeterkurzen schwarzen Haaren und traurigen Augen.

«Es war nicht meine Schuld!», rief er. «Ich war die ganze Zeit im Kontrollraum, es ist garantiert niemand ins Gebäude gekommen. Bitte, lasst mich zu Lulu. Ich möchte sie noch einmal sehen.»

«Wer bist du?»

«Tero. Lulus Leibwächter. Und ihr Freund …»

«Ich unterhalte mich später mit dir. Geh jetzt bitte zur Seite.» Puupponen packte den Mann an der Schulter und schob ihn fort. Das Erste, was ich sah, als ich die Tür öffnete, war ein roter Vinylstiefel. Der Absatz maß an die fünfzehn Zentimeter. Puupponen und ich zwängten uns vorsichtig durch die Tür und zogen sie hinter uns zu. Lulu Nightingales Leiche lag seitlich zwischen dem Sofa und dem umgekippten Stuhl. Die blonden Haare waren ins Gesicht gefallen. Blut war nirgends zu sehen, aber die Möbel waren verrückt worden, und auf dem Fußboden lag ein langer schwarzer Ledermantel mit rotem Flauschpelz an Ärmeln und Kragen. Auf dem Tisch standen eine Flasche Fernet Branca und ein Glas, in dem sich noch ein kleiner Rest dunkelbrauner Flüssigkeit befand. Am Glasrand war eine dicke Lippenstiftspur zu sehen. Der Inhalt eines Zigarettenetuis lag verstreut auf dem Fußboden.