White Moon - Leni Anderson - E-Book

White Moon E-Book

Leni Anderson

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Beschreibung

Die hübsche Hannah ist endlich in ihrem Leben angekommen. Lange hat sie für ihre Träume kämpfen müssen. Besonders ihr Job in einer großen Werbeagentur hat ihr vieles abverlangt. Als sie eines Nachts im Club auf den gut aussehenden Chris trifft, bemerkt sie sofort, dass ihm etwas Düsteres anhaftet. Sie ahnt jedoch nicht, dass er sie in einen Strudel aus Gefahren und Dunkelheit ziehen wird, als er sie noch vor Mitternacht aus dem Club zerrt. Hannahs Leben gerät völlig aus den Fugen. Ihr Job scheint verloren, ihre beste Freundin Hailey auf einmal unerreichbar. Nichts ist mehr so, wie es einmal war. Der Einzige, der ihr bleibt, ist Chris. Ihr Seelenverwandter. Und Vampir. Am Ende muss Hannah eine Entscheidung treffen, die nicht nur ihr eigenes Leben nachhaltig beeinflussen wird.

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Seitenzahl: 421

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Prolog
1 Kapitel
2 Kapitel
3 Kapitel
4 Kapitel
5 Kapitel
6 Kapitel
7 Kapitel
8 Kapitel
9 Kapitel
10 Kapitel
11 Kapitel
12 Kapitel
13 Kapitel
14 Kapitel
15 Kapitel
16 Kapitel
17 Kapitel
18 Kapitel
19 Kapitel
20 Kapitel
21 Kapitel
22 Kapitel
23 Kapitel
24 Kapitel
25 Kapitel
26 Kapitel
27 Kapitel
28 Kapitel
29 Kapitel
30 Kapitel
31 Kapitel
32 Kapitel
33 Kapitel
34 Kapitel
35 Kapitel
36 Kapitel
37 Kapitel
38 Kapitel
39 Kapitel
40 Kapitel
41 Kapitel
42 Kapitel
43 Kapitel
44 Kapitel
45 Kapitel
46 Kapitel
47 Kapitel
48 Kapitel
49 Kapitel
50 Kapitel
Danksagungen
Quellennachweise

Leni Anderson

Stämme des Mondes

- Band 1 -

White Moon

Roman

Texte: © Copyright by Leni Anderson

Umschlaggestaltung: © Copyright by Leni Anderson

1. Auflage 2021

Verlag:

Leni Anderson

c/o AutorenServices.de

Birkenallee 24

36037 Fulda

[email protected]

Prolog

Gierig sauge ich an ihrer Ader, lasse ihr warmes Blut meine trockene Kehle herunterlaufen. Wie eine Droge durchfließt es mich, stärkt meinen Körper, lässt meine Sinne ins Unermessliche steigern. Ich kann nicht aufhören. Tiefer, immer tiefer gleiten meine Fänge in ihren Hals, wollen auch den letzten Tropfen aus ihrem Körper saugen.

„Hannah, bitte“, keucht sie. „Du musst aufhören.“

Aber ich kann nicht. Ich will nicht. Zu köstlich schmeckt ihr Blut.

„Hannah“, ihre Stimme ist fast nur noch ein Wispern.

Ich merke, wie ihr Körper schlaffer wird, wie ich sie stärker halten muss, meine Beute. Meine Trophäe.

Hannah!

Eine mir bekannte Stimme drängt sich in meinen Kopf.

Hannah! Lass los!

Aber ich denke gar nicht daran.

Hannah! Du bringst sie um!

Es kümmert mich nicht. Nichts kümmert mich in diesem Moment. Zu viel habe ich in den letzten Tagen erlebt. Mein ganzes Leben hat sich auf den Kopf gestellt. Mein Leben, so wie ich es kannte, gibt es nicht mehr. Ist vorbei.

Ich merke, wie eine höhere Macht nach mir greift, mich nach oben zieht, als wäre ich eine Marionette. Wie in Trance schwebe ich nach oben und sehe die bizarre Szene unter mir: Die Festhalle mit ihren prunkvollen Lüstern, die alles in ein schummriges Licht tauchen, die Bühne, auf der wir stehen, ich, wie ich an ihrem Hals sauge. Und ihn, der nach wie vor am Rande der Bühne steht und nur in Gedanken versuchen kann, mich von etwas abzuhalten, was seit wenigen Tagen in meiner Natur liegt.

Ein Leuchten bricht auf einmal aus mir heraus und taucht den gesamten Saal in grelles Licht. Ich spüre, wie sich meine Fänge von ihrem Hals lösen und schreie auf. Dann sacke ich zusammen. Mein Leben zieht an mir vorbei. Nein, nicht alles, nur weniges, schemenhaft, Bruchstücke. Ein leuchtender Schriftzug taucht vor meinem inneren Auge auf. Ja, hier hatte alles angefangen.

1 Kapitel

Die Warteschlange vor dem All in scheint heute schier endlos. Kein Wunder, ist es doch zur Zeit der angesagteste Club der Stadt. Himmel, bin ich nervös. Wie lange ist es her, dass ich unterwegs war? Zwei Monate? Vielleicht drei? In den letzten Wochen gab es in der Agentur viel zu tun. Da blieb keine Zeit für privates Vergnügen.

Der letzte Werbedeal war eines der größten Projekte, die Pro Visions je an Land gezogen hatte. Und ich war stolz, dabei mitgewirkt zu haben. Der Anfang in einer der bekanntesten Werbeagenturen unserer Stadt war wahrlich nicht einfach für mich gewesen. Luke, der CEO und gleichzeitig mein direkter Vorgesetzter, behandelte mich vom ersten Tag an, als wäre ich irgendeine Praktikantin und nicht seine erste Assistentin. Eine meiner Standardaufgaben war zunächst Kaffee kochen, und das in allen Varianten, die man sich vorstellen kann. Ich kam mir vor wie eine Barista und fragte mich zeitweise, wofür ich die lange Studienzeit auf mich genommen hatte, wenn keiner hier, besonders mein Chef nicht, meine Talente und Ideen, und davon hatte ich viele, zu würdigen wusste. Es war frustrierend.

Letztendlich war es Monika, unsere freundliche Dame von der Rezeption und die gute Seele der Agentur, die mich nicht selten in den Mittagspausen tränenüberströmt in unserer kleinen Küche vorfand, während ich versuchte, mal wieder einen extra starken Mokka Latte am Kaffeevollautomaten zu zaubern. Mütterlich nahm sie mich dann in den Arm und fand tröstende Worte für mich. Sie ist heute immer noch diejenige, die mich regelmäßig aufbaut und ermutigt, an meinen Ideen und Visionen festzuhalten. Ohne Monika wäre das Arbeiten bei Pro Visions nicht mehr vorstellbar.

Mein großer Durchbruch und damit der Moment, der dafür sorgte, dass mich endlich alle wahrnahmen, kam mit dem Deal mit Runner‘s High. Das Management trat vor etwa drei Monaten an uns heran und bat uns um Ideen für eine neue Laufkampagne. Als ambitionierte Hobbyläuferin lief mein Ideenkarussel sofort auf Hochtouren. In einer der ersten Sitzungen, in der erste Ideen und Ansätze gesammelt werden sollten, traute ich mich endlich, meinen Vorschlag zu offenbaren. Ich hatte ihn vorab schon mehrfach bei Luke geäußert, doch er wimmelte mich immer wieder ab.

Als ich also vorsichtig die Hand hob und meine Idee vortrug, hätte Luke mich wohl am liebsten mit seinen Blicken getötet. Alles an ihm strahlte dieses „Wag‘ es ja nicht!“ aus. Mir war durchaus bewusst, dass das anschließende Gespräch in seinem Büro alles andere als gut für mich ausgehen könnte, dass ich möglicherweise sogar meine Sachen würde packen müssen und dass Monika in der Küche auf mich warten würde. Aber ich konnte einfach nicht länger schweigen. Wochenlang hatte ich das Treiben in der Agentur wie aus dem Off beobachtet, mich von Kolleginnen und Kollegen, deren gleichgestelltes Teammitglied ich eigentlich war, rumschubsen lassen. Und auch wenn es bedeutete, dass ich meinen Job verlieren würde, so war es mir in diesem Moment egal. Ich berichtete von meiner Idee.

Die große Überraschung war, dass das Management von Runner‘s High meinen Vorschlag großartig fand. Und als ich dann auch noch mit einem bekannten Gesicht aus der Laufszene auftrumpfen konnte, das ich für die Kampagne bereits im Vorfeld gewonnen hatte, war die Sache klar. Mein Vorschlag wurde angenommen.

Die anschließenden Wochen waren der Hammer gewesen, aber es hatte sich gelohnt. Ich kann mich nicht erinnern, jemals in meinem Leben so viel gearbeitet zu haben. Oft saßen wir bis spät in die Nacht hinein in Teamsitzungen oder hatten hitzige Diskussionen mit den Grafikdesignern.

In einer Woche sollte die Kampagne starten. Endlich. Der große Moment. Nervosität und Euphorie waren meine ständigen Begleiter. Und, oh ja, auch Selbstzweifel.

Wie gut tat es da gestern, endlich auf alles anstoßen zu können. Haileys Anruf kam, noch bevor ich meinen Champagner geleert hatte. „Babe, morgen gehen wir aus. Keine Ausreden. Und mach dich schick.“

Und hier stehe ich nun. Und warte auf Einlass. Mir war bei unseren letzten Besuchen gar nicht aufgefallen, wie viele Gäste von der Security abgewiesen werden. Hauptsächlich Männer wie mir scheint, so dass ich schon überlege, ob heute eine Art Ladies Night stattfindet, von der Hailey mir nichts erzählt hatte. Na ja, whatever.

Als ich endlich am Eingang des Clubs ankomme, mustert mich einer der Schlägertypen von oben bis unten.

Mist.

Nicht schick genug? Dabei hab ich mich echt in Schale geworfen. Gut, ich trage kein Kleid, wie die anderen Frauen vor mir, aber ich fand, im Spiegel sah meine Kombination aus enger schwarzer Jeans und cremefarbenem Spitzentop schon sexy aus. Die Pumps sollten das Ganze abrunden. Dazu die langen braunen Haare zu großen Locken gestylt und das Make-up Smokey aber nicht Horny. So wie der Typ mich ansieht, habe ich mich wohl geirrt. Hailey wird begeistert sein, wenn ich ihr gleich am Telefon erklären kann, dass ich nicht reingekommen bin. Sofern ich mein Handy mitgenommen hätte.

Fuck ...

Der Abend war ein wenig stressiger verlaufen als geplant, dabei hatte der Tag eigentlich gut anfangen. Na ja, fast. Ich hatte leider vergessen, meinen Handywecker über das Wochenende auszuschalten und so wurde ich um 5.30 Uhr aus dem Schlaf gerissen. Da ich dann aber eh schon mal wach war, hatte ich meine Sportsachen angezogen und meine Lieblingslaufrunde gedreht. Die frische Morgenluft war wie ein Kick in den Tag gewesen und als ich gegen Mittag einen kleinen Latte auf meinem Balkon schlürfte, spürte ich zum ersten Mal seit Wochen so etwas wie Ruhe und Zufriedenheit in mir.

An Ruhe und Zufriedenheit ist jetzt gerade aber nicht mehr zu denken. Der strenge Blick der Security ruht noch immer auf mir und verursacht mir ein unangenehmes Prickeln am ganzen Körper.

„Ausweis bitte.“

Ernsthaft jetzt? Ich bin fast 30 und werde nach meinem Ausweis gefragt? Ein wenig schmeichelhaft ist das ja schon, aber ich sehe nun wirklich nicht mehr wie eine 18-Jährige aus.

„Klar, kein Problem.“ Gequält lächle ich ihn an und greife mir an die Gesäßtasche, in der ich grundsätzlich Scheine und Ausweis drapiere. Verdammt, die Hose ist aber auch eng. Hannah, wie wäre es das nächste Mal mit einer Handtasche?

Gerade als ich meinen Ausweis herausgekramt habe und ihm stolz entgegenstrecke, lehnt sich der andere Schrank nach vorne und flüstert dem Ersten etwas ins Ohr. Ein wissender Ausdruck legt sich auf sein Gesicht. Er nickt.

„Schon okay,“, sagt er ohne einen Blick auf meinen Ausweis zu werfen. „Kannst reingehen.“

Was war das denn jetzt? „Äh, okay. Danke“, höre ich mich nuscheln und stecke meine Habseligkeiten wieder ein. Dann betrete ich endlich das All in.

Hämmernde Beats und jede Menge heiße Luft schlagen mir entgegen. Die Kasse im Eingangsbereich ist nicht weniger gut besucht. War ja klar, dass es sich hier auch wieder staut. Wie gerne denke ich in solchen Momenten an die Zeit zurück, als das All in noch eine kleine irische Bar mit übersichtlicher Tanzfläche war, in der man sich am Wochenende gerne eine neue unbekannte Band anhörte, die live auf der Bühne performte. Das Aus kam vor drei Jahren als der Inhaber Francis erkrankte und mit seiner Frau zurück nach Irland ging. Zusammen mit den umliegenden Geschäften und Bars wurde aus dem ehemaligen All for you letztendlich das zweistöckige All in, der Szeneclub unseres Viertels.

Endlich an der Kasse angekommen, die eigentlich mehr einem Tresen gleicht, der unpassenderweise mitten im Gang verbaut wurde, zahle ich den üblichen Eintritt und will gerade Richtung Innenraum, als mich einer der Kassierer am Handgelenk packt und sagt: „Warte, du brauchst noch nen Stempel.“

Stempel? Das war mir neu. Er dreht meine Handfläche nach oben und bevor ich auch nur etwas erwidern kann, hat er mir auch schon einen Abdruck auf mein inneres Handgelenk verpasst. Na toll, sieht wieder jeder tagelang, wo man am Wochenende war. Was mein Chef wohl am Montag dazu sagen wird? Innerlich stöhne ich auf.

„Sorry, ist jetzt Pflicht für alle Gäste.“ Er hebt den Stempel wieder hoch und da ist ... nichts?

„Äh sorry, aber man sieht gar nichts. Soll das so sein?“, frage ich irritiert nach.

„Oh, das ist fluoreszierende Farbe. Die leuchtet nur unter UV-Licht. Soll ja nicht jeder wissen, wo man am Wochenende war.“ Er zwinkert mir zu.

Bevor ich etwas erwidern kann, werde ich schon von den nächsten Gästen zur Seite geschoben. Seltsam, dass er das gesagt hat ...

Nachdem ich meine Jacke an der Garderobe abgegeben habe, dränge ich mich vorsichtig durch die vielen Leute im Eingangsbereich und folge dem langen Flur, bis ich schließlich im Herzstück des Clubs ankomme. Die Musik ist hier wesentlich lauter als vorne und der DJ legt just in diesem Moment einem neuen Song auf.

Rechts an der Bar drängeln sich die Durstigen. Obwohl es noch nicht mal 23 Uhr ist, scheint die Reihe der Wartenden schier endlos. Herrje, das wird ja ein Abend. Auch die Tanzfläche vor mir, die durch einige umliegende Stufen erreicht werden kann, ist rappelvoll.

Wo steckt nur Hailey?

Ein wenig genervt lasse ich meinen Blick immer wieder über die bebende Menge schweifen. Nichts. Normalerweise finden wir uns immer wie von selbst. Das war irgendwie schon immer so.

Hailey. Ein Lächeln schleicht sich auf mein Gesicht, als ich an sie denke. Ich weiß noch genau, wann und wo wir uns kennen gelernt haben. Es war auf einer meiner ersten Studentenpartys und es war so unfassbar öde, dass man die Enttäuschung in der Luft fast riechen konnte. Und dann kam eine völlig unangepasste junge Frau auf mich zu und sagte keck: „Boah, hier gibt’s weder was zu saufen noch was zu ficken. Hauen wir ab?“ Und das taten wir. Wir zogen die ganze Nacht um die Häuser und Hailey riss mich einfach mit. Raus aus meinem bis dato tristen Alltag, meinem langweiligen Studentinnenleben, und brachte Farbe in mein Grau. Seitdem ist Hailey fester Bestandteil meines Lebens, meine beste Freundin.

Ein herber Schubser in den Rücken reißt mich aus meinen Gedanken. „Sorry! Das war keine Absicht!“ Große dunkle Augen schauen von oben auf mich herab. Wow. In diesen Augen könnte ich mich verlieren.

„Äh, ja. Kein Problem. Ist ja nichts passiert.“

Ein Grinsen umspielt die großen Augen.

„Hab ja zum Glück nichts in der Hand, was verschüttet werden könnte.“ Ich schiebe ein unsicheres Grinsen hinterher und werde mir vage bewusst, dass zu den großen Augen ein ebenso großer Mann gehört. Kräftige Oberarme lugen aus seinem schwarzen Shirt hervor und im steten Aufblinken der Clublichter lässt sich ein wohl definierter Oberkörper durch den dunklen Stoff erahnen.

Fuck, ist der heiß.

Und irgendwie kommt er mir bekannt vor. Woher kenne ich ... Oh mein Gott! Ich weiß es! Er sieht echt wie der zu Fleisch gewordene Thor aus, einer von Dads liebsten Marvel-Helden. Ich schlucke.

„Also ... Nichts passiert“, stammle ich und bin froh, dass er im Dunkeln des Clubs nicht sehen kann, dass meine Wangen in Flammen in stehen.

Schweigen.

Langsam mustert er mich von oben nach unten und das Grinsen auf seinem Gesicht wird immer breiter. Alles an dieser Situation schreit in mir gerade zu unangenehm auf, aber ich kann auch nicht aufhören, in diese großen, dunklen Augen zu starren. Ich beiße mir auf die Unterlippe und merke, dass mein Herz mir bis zum Hals schlägt. Er strahlt eine Anziehung auf mich aus, die mich fast schwindelig werden lässt. Es ist, als würde jede Zelle meines Körpers auf ihn reagieren. Jede ...

Als ich mich doch endlich losreißen kann, mich mehr oder weniger dazu zwinge, und mich abwenden will, findet er seine Stimme wieder: „Hm. Du hast also keinen Drink? Wie kann das denn sein?“

Soll das ein Witz sein? Hat der mal die Schlange vor der Bar gesehen?

„Na ja, es ist ziemlich voll, falls dir das noch nicht aufgefallen ist. Und bisher war ich noch nicht motiviert genug, mich in das Gedränge zu schmeißen.“ Ich nicke in Richtung Bar und auf die Menschenmassen davor.

Ungläubig und fast ein wenig amüsiert starrt er mich an. Da ist es wieder, dieses Grinsen. Flüchtig leckt er sich über die Lippen und ein kleines Kribbeln macht sich in mir breit. „Verstehe. Warte kurz.“

Behände bahnt er sich seinen Weg durch die Menge und winkt dem Barkeeper: „Hey Pat!“ Der auch prompt reagiert, praktisch alles stehen und liegen lässt.

Was zum ...?

„Yo, Chris! Was kriegst du?“

„Das Übliche!“

Pat reckt den Daumen in die Luft.

Und tatsächlich. Keine fünf Minuten später habe ich einen eisgekühlten Gin Tonic in der Hand. „Äh, danke. Das ging schnell.“ Ich bin etwas überrumpelt von der Situation und weiß nicht so recht, was ich sagen soll. Fuck! Ich bin doch sonst nicht so wortkarg!

„Kein Problem“, erwidert er und grinst von einem Ohr zum anderen. „Na dann, cheers!“

Wir stoßen an und dann ist er auch schon genauso schnell verwunden, wie er aufgetaucht ist. „Wir sehen uns“, ist das Letzte, was ich noch von ihm höre. Er geht Richtung Tanzfläche davon.

Wow, der Po kann sich auch sehen lassen ... Nur die groben Stiefel erscheinen fast ein wenig zu derbe für einen schicken Club. Wie ist er damit nur reingekommen? Ach verdammt, wäre ich nicht so irritiert und auf der Suche nach meiner Freundin, hätte ich ihn vielleicht in ein Gespräch verwickelt. Jetzt ist er weg. Ich überlege für einen Moment, ob ich ihm hinterhergehen sollte. Fuck, vielleicht ist er mit Freunden da, möglicherweise sogar mit seiner Freundin. Wäre oberpeinlich, da jetzt einfach so rein zu platzen.

Okay, zurück zu meiner Verabredung. Wo steckt Hailey?

Ich mache mich auf den Weg zur oberen Etage des All in. Von dort habe ich einen besseren Überblick und entdecke sie vielleicht in der Menge.

Die Treppe nach oben ist am Ende der Bar und theoretisch gar nicht weit weg.

Theoretisch.

Verschwitzte und bebende Körper streifen den meinen, als ich mich an den Gästen vor der Bar vorbeischiebe. Ein paar sind nicht gerade amüsiert und werfen mir funkelnde Blicke zu. Ich versuche, mich zu entschuldigen, aber mehr als einen flüchtigen Blick hat dann doch keiner mehr für mich übrig. Warum ist es heute nur so voll?

Endlich erreiche ich die Treppe nach oben. Mit jedem Schritt hinauf wird die Luft ein wenig kühler. Wow, mir war gar nicht bewusst, wie heiß es dort unten war. Oben angekommen stelle ich mich an die Balustrade und lasse meinen Blick über die Menge schweifen.

Die Menschenmenge auf der Tanzfläche unter mir bebt. So aufgeheizt habe ich den Club lange nicht erlebt. Der DJ in seinem Gitterkorb über der Tanzfläche gibt heute echt alles. Und es wirkt. Kaum jemand kann Füße und Körper still halten. Die Menge tanzt und die Luft scheint in den wirren Lichtern zu flirren. War das Chris da unten zwischen den Tanzenden? Hatte er gerade zu mir hoch gestarrt? Ach Quatsch, Hannah, nur weil dir ein süßer Typ einen Drink spendiert, muss das noch lange nicht heißen, dass er auf dich steht. Außerdem hatte er dich praktisch über den Haufen gerannt, also war der Drink fast schon Pflicht gewesen.

Ich nippe an meinem Glas und merke, dass mein Stempel am Handgelenk angefangen hat zu brennen. Verdammte Industriefarbe. War ja klar, dass ich darauf allergisch reagiere. Ich betrachte den Stempel genauer. Komisch ... Im Schwarzlicht des Clubs sieht er aus wie ein Strichcode. Ich zucke mit den Schultern und nippe erneut. Der Drink tut gut. Hailey sagt immer, ein Gin Tonic wäre ein viel zu hartes Getränk für eine so zarte Person wie mich. Meine Antwort darauf lautet meistens, dass Bier auch nicht gerade ein typisches Frauengetränk ist. Und dann lachen wir.

Sehen kann ich sie von hier aus leider auch nicht. Etwas besorgt setze ich mich wieder in Bewegung und gehe direkt an der Balustrade einmal um die obere Etage herum. Nichts. Na gut. Dann eben ab in die Menge. Mit etwas Glück begegne ich ihr einfach auf der Tanzfläche. Ich leere mein Glas, stelle es auf den nächsten Tisch, gehe die Treppe herunter und stürze mich ins Getümmel. Als ich die Tanzfläche betrete, spielt der DJ einen meiner Lieblingssongs. Hell yes ...

Bed, stay in bed

The feeling of your skin locked in my head

Smoke smoke me broke

I don’t care, I’m down for what you want

Ich gebe mich dem Beat hin, lasse alles los und tanze. Verliere mich im Rhythmus, im Takt der Menge und des Songs. Meine Füße tragen mich wie von selbst.

Daydrunk into the night, wanna keep you here

Cause you dry my tears

Yeah, summer loving and fights

How it is for us, and it’s all because

Ich fühle mich wie berauscht. Als würde der Song mich ausfüllen. Durch meinen Körper fluten. Ein Lächeln legt sich auf meine Lippen.

Now if we're talking body

You got a perfect one, so put it on me

Swear it won't take you long

If you love me right

We fuck for life, on and on and on

Plötzlich packt mich jemand grob am Ellenbogen. „Wir müssen hier raus!“

Chris.

„Los, Hannah, wir haben keine Zeit zu verlieren! Wir müssen gehen!“

Was zur Hölle redet er da? Und woher weiß er meinen Namen? Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich mich vorhin nicht vorstellt hatte, was ich zugegebenermaßen ein wenig bereut habe.

Ich starre ihn ungläubig an. Nur langsam realisiere ich, dass er im Inbegriff ist, mich von der Tanzfläche zu ziehen. Endlich gehorchen meine Sinne mir wieder und ich kann mich losreißen.

„Hey, was soll das? Spinnst du? Ich will noch nicht gehen!“

Wir stehen immer noch mitten auf der Tanzfläche. Ich verschränke die Arme vor der Brust und er sieht mich völlig entgeistert an. Hatte er etwa damit gerechnet, dass ich ihm einfach so folgen würde?

Gerade will ich mich wieder unter die Tanzenden mischen, da packt er mich erneut am Arm: „Hannah, bitte, wir müssen gehen. Jetzt!“

Bevor ich die Zeit finde, ihn zu fragen, woher er meinen Namen kennt, und was zur Hölle das hier soll, sehe ich sie in seinen Augen: Angst.

Fuck.

Damit hatte ich nicht gerechnet. Und bevor ich auch nur ein Wort erwidern kann, zieht er mich weiter durch die Menge.

„Chris, warte, ich kann nicht so schnell!“

Doch anstatt langsamer zu gehen, hebt er mich kurzerhand hoch und trägt mich dicht an seinen Körper gepresst gezielt von der Tanzfläche. Ich frage mich lieber erst gar nicht, warum er so stark ist. Ich fühle mich etwas schwummerig und kann gar nicht sagen, ob das vom Drink kommt oder von der völlig absurden Situation, in der ich mich gerade befinde.

„Der Ausgang ist aber da vorne“, ist alles, was ich noch herausbringen kann.

„Wir nehmen den Hinterausgang. Schnell jetzt!“

„Und meine Jacke?“

Himmel, Hannah! Kannst wieder nur an dein Hab und Gut denken ... „Die hab ich hier schon.“ Er hält sie hoch.

Wir sind am Ende der Tanzfläche angekommen. Vorsichtig stellt er mich wieder ab und wir drängen uns weiter durch die umstehenden Gäste, die uns nur widerwillig durchlassen. Endlich wird es leerer.

„Wir sind gleich da.“ Er nimmt meine Hand und zieht mich einen langen Gang hinunter. In diesem Teil des Clubs war ich noch nie. Ist vermutlich für Personal oder so.

„Hey! Was ist mit Hailey? Ich kann sie hier nicht alleine lassen!“ Hailey, oh mein Gott, wo war sie nur? Sie hat keine Ahnung, dass ...

„Hailey ist nicht da. Ihr hättet euch längst gefunden.“

Bitte? Woher wusste er das?

Völlig perplex stolpere ich vor mich hin, während er unnachgiebig an mir zieht.

„Zieh deine Jacke an!“ Er wirf sie mir zu.

Am Ende des Ganges beschreiten wir eine Kurve und stehen prompt vor dem größten Türsteher, dem ich je begegnet bin.

„Hey Chris, wohin des Weges?“, fragt dieser in tiefem Bass.

„Hey Tyler. Wir müssen leider los“, erwidert Chris schnippisch.

„Und das große Finale verpassen? Ist doch sonst nicht deine Art.“ Ein süffisantes Grinsen legt sich auf Tylers Gesicht.

Das gefällt mir gar nicht. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Kommen wir etwa nicht raus? Verdammt! Was ist hier nur los?

„Ja, normalerweise schon. Aber heute sehen meine Pläne halt anders aus.“ Chris deutet mit einem Augenzwinkern zu mir und in Tylers Gehirn scheint es zu funken.

„Ah, heute also To Go?“ Er zieht den letzten Teil des Satzes ekelhaft in Länge.

Bitte was? Was meint er damit? Ich bin doch nicht ...

Gerade als ich tief Luft holen will, um meine Empörung zum Ausdruck zu bringen, drückt Chris sehr bestimmt meine Hand und schiebt mich vorsichtig hinter sich.

„Ja, so etwas in der Art“, erwidert Chris in einem Tonfall, der keine Widerworte zulässt.

Tylers gehässiges Grinsen verschwindet aus seinem Mondgesicht und weicht einem verständnisvollen Nicken.

„Na dann will ich euch zwei Hübschen mal nicht aufhalten. Viel Spaß!“ Er öffnet die schwere Brandschutztür und wir treten hinaus.

Kühle Luft schlägt mir ins Gesicht, während hinter uns die Tür zuknallt und eins zu werden scheint mit der schwarzen Wand, aus der wir gerade getreten sind.

2 Kapitel

Einen Moment lang fühle ich mich wie benommen. Dann finde ich endlich meine Worte wieder.

„Was zur Hölle war das denn?“, fahre ich Chris an.

Chris. Erst jetzt fällt mir auf, dass er schwer atmend mit den Händen auf den Knien gestützt vor mir steht. Mit dem Hintern lehnt er an der schweren Eisentür. Langsam hebt er den Blick und da sind sie wieder, diese Augen. Im Club schienen sie noch dunkel. Jetzt leuchten sie in einem strahlenden Blau.

Er drückt sich vorsichtig von der Wand ab und kommt auf mich zu. Ein leichter Windstoß fegt durch seine dunkelblonden Haare. Mit einer fließenden Handbewegung streicht er sie aus seinem Gesicht.

Ich schlucke.

„Hannah, bitte, ich kann dir alles erklären. Lass uns aber zuerst von hier verschwinden.“ Seine Stimme klingt sanft, vertrauenswürdig. Doch ich bin nach wie vor wie berauscht und kann kaum einen klaren Gedanken fassen.

Ich stütze mich vorsichtig an der Wand ab.

„Wohin willst du denn gehen?“, bringe ich noch lallend heraus, bevor ich schwankend in mich zusammensacke.

Mit einem langen Schritt überwindet Chris die Distanz zwischen uns und zieht mich vorsichtig hoch.

„Sorry, ich bin wohl etwas betrunken. Der Gin Tonic haut heute ganz schön rein“, versuche ich meinen Zustand zu erklären.

„Nein, Sweety, das ist das Serum, das dich so benommen macht.“

Serum? Was redet er denn da schon wieder? Himmel, dieser Abend ist echt eine Katastrophe. Erst komme ich nur mit Mühe und Not in den Club, dann finde ich Hailey nicht und treffe stattdessen diesen heißen Typen, der mir prompt 'nen Drink spendiert, nur um mich kurze Zeit später mit einem mysteriösen „Wir müssen hier raus!“ aus dem Club zu ziehen? Oh nein, er hatte doch nicht ...

„Fuck. Du hast mir was in den Drink getan?“ Panik steigt in mir auf und entfacht glücklicherweise genug Adrenalin, um mich von ihm loszureißen.

„Ich gehe dann jetzt!“ Tränen steigen mir in die Augen und ich marschiere schwankend los.

„Hannah, warte!“ Chris kommt hinter mir her und fasst mich erneut am Ellenbogen. „Ich kann dir alles erklären, bitte!“

Wütend drehe ich mich zu ihm um und kann nichts weiter tun, als mit dem Kopf zu schütteln.

„Der ganze Abend war ... Ich weiß auch nicht. Nichts war so, wie es sonst war. Alles war irgendwie ... Himmel, was hast du mir gegeben? Ich kann überhaupt nicht klar denken.“ Ich reibe mir über die Schläfen.

„Es tut mir leid. Wirklich. Nicht ich habe es dir in den Drink getan, sondern der Barkeeper. Die geben das allen.“

„Allen? Was ist das für ein Zeug? Und warum bist du eigentlich nicht so benommen? Ich fühle mich, als hätte ich zwei Promille oder so. Als wäre ich nicht ich selbst.“

„So reagiert ihr nun mal darauf. Uns stört das Zeug nicht.“

Ihr? Uns? Fuck, was sollte das denn schon wieder bedeuten?

„Was soll das denn heißen? Ach Scheiße, erzähl's mir lieber nicht. Ich will einfach nur noch nach Hause.“

Taumelnd setze ich mich wieder in Bewegung, komme aber nicht weit. Ein paar starke Arme halten mich zurück.

„Komm mit. Du brauchst nen Kaffee. Dann geht’s dir gleich besser, versprochen.“ Schelmisch zeigt er mir ein schiefes Grinsen und für einen Moment kommt es mir total vertraut vor. Seltsam ...

„Mit dir mitkommen? Ernsthaft? Das kannst du vergessen!“, bringe ich lallend hervor. „Gott weiß, was du mit mir vorhast!“ Ich stütze mich an einer Parkbank ab. „Bitte, ich will mir einfach nur noch ein Taxi suchen.“ Meine Stimme klingt flehender, als ich beabsichtige.

Er lockert seinen Griff. „Ich werde dir nichts tun, Hannah, bitte glaub mir. Lass uns zusammen nen kleinen Latte holen und dann versuche ich, die Situation zu erklären, okay?“

Nur widerwillig gebe ich nach. Meine Alarmglocken sollten eigentlich in den höchsten Tönen schrillen, bleiben aber eigenartigerweise ziemlich ruhig.

„Meinetwegen. Du hast einen Kaffee Zeit, dann bin ich weg. Und woher weißt du eigentlich, dass ich immer nen kleinen Latte bestelle?“

„Geraten.“ Er zwinkert mir zu.

Na klar. Geraten.

Wir schlendern aus der Gasse heraus, in der sich der Hintereingang zum All in befindet, und gehen ein Stück weit die Hauptstraße herunter. Nicht weit entfernt ist ein Coffee to Go Stand, an dem wir uns mit Heißgetränken versorgen.

Keiner von uns sagt ein Wort, nur meine Gedanken rasen. Und schwanken.

Verdammt.

Ich starre auf den Kaffeestand.

To Go.

Was der Türsteher wohl meinte? Chris würde mich in Kürze aufklären. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich das alles überhaupt noch würde fassen können. Ich kann ja kaum noch meinen Kaffeebecher halten.

„Komm“, sagt Chris beruhigend, „lass uns ein wenig auf die Brücke gehen.“

Nicht weit von uns entfernt befindet sich hinter einer leichten Biegung der Aufgang zu einer schmalen Fußgängerbrücke. Mein Joggen hatte mich oft hierher geführt und ich hatte nicht selten angehalten, um dem sanften Plätschern des Wassers zu lauschen.

Die kühle Nachtluft in Kombination mit dem heißen Koffein mildern allmählich meinen Rausch. Das Schwindelgefühl lässt endlich nach und ich fühle mich ein wenig mehr wie ich selbst.

Mitten auf der Brücke bleibt Chris stehen. „Hannah, ich ...“

„Woher kennst du eigentlich meinen Namen?“, falle ich ihm ins Wort. „Ich kann mich nicht erinnern, dass ich mich vorhin vorgestellt hätte.“

Durchdringend schaut er mich an. „Wir kennen uns schon etwas länger.“

„Wir? Du meinst wohl, du kennst mich, denn sorry, aber an dich würde ich mich erinnern.“ Ich nehme einen Schluck Kaffee und warte auf seine Antwort.

„Nein“, nimmt er seine Erklärung wieder auf, „wir kennen uns. Du weißt es nur nicht mehr.“

Ich ziehe die Augenbrauen kraus und schaue ihn fragend an. „Aber ... Woher ...“, bringe ich stockend hervor.

„Na ja, du kommst jedes Wochenende ins All in“, erwidert er, „und da ...“

„Wow, stopp mal“, unterbreche ich ihn erneut, „ich war seit Wochen nicht mehr im All in. Ich denke, ich könnte mich erinnern, wenn ich dort war und dich getroffen hätte.“ Ich lehne mich ans Brückengeländer. Provokant lasse ich meinen Blick auf ihm ruhen und verschränke die Arme vor der Brust.

Chris zeigt sich davon wenig beeindruckt. Ein entschuldigendes Grinsen legt sich auf sein Gesicht.

„Sorry, Sweety, du kommst seit Wochen jeden Samstag in den Club. Du weißt es nur nicht mehr. Vieles läuft anders, seit Eric den Laden übernommen hat.“

Ich verschlucke mich fast an meinem Kaffee. „Seit Wochen?“ Meine Stimme klingt schriller als beabsichtigt. „Was meinst du damit?“

Chris atmet tief durch. Sein Lächeln ist verschwunden. „Sie geben euch ein Serum in den Drink. So werdet ihr gefügiger und habt weniger Angst. Außerdem können wir so eure Gedanken löschen.“

Wow. Bitte was? Fuck!

Ich muss erstmal schlucken und reibe mir angestrengt über die Augen. Der Kaffee ist nur noch lauwarm, als ich erneut daran nippe. Sein Gesagtes ergab überhaupt keinen Sinn. Ich atme tief durch.

„Erklär bitte weiter. Oder versuch es zumindest, denn bisher verstehe ich nur Bahnhof.“ Ungläubig starre ich ihn an.

Zögerlich setzt sich Chris in Bewegung. Dem Fluss zugewandt lehnt er sich neben mir gegen das kalte Eisengitter. Bedächtig und unaufgeregt fährt er mit seinem Erklärungsversuch fort.

„Eric hat vor circa drei Jahren beschlossen, das Jagdrevier auf die Stadt zu verlegen und kurzerhand das All in gekauft. Oder vielmehr das All for you, aus dem dann das All in wurde. Es gibt strenge Regeln, damit wir nicht auffallen und eine von ihnen besagt, dass eure Erinnerungen gelöscht werden müssen, damit niemand erfährt, wer wir sind. Daher das Serum in den Drinks.“

Jagdrevier. Serum. Was zum ...

Ich schaue auf und suche seinen Blick. „Was bitte meinst du immer mit wir und ihr? Du sprichst, als wärt ihr irgendwelche Kriminellen mit krassen Jagdfantasien. Seid ihr ne Geheimorganisation, von der keiner wissen darf? Irgend so eine Art elitäre Verbindung? Ne Loge vielleicht?“

Für einen kurzen Moment lacht er auf, erlangt seine Fassung aber schnell zurück. Er nimmt einen letzten Schluck von seinem Kaffee und entsorgt den Becher im Mülleimer, der ein Stück von uns entfernt steht.

„Chris, was ist hier los?“ Ich will es jetzt wissen. „Ehrlich, so langsam kann ich wieder klar denken und der Kaffee ist auch leer. Und, verdammt, bisher hast du nur noch mehr Fragen aufgeworfen als geklärt. Also entweder ...“

„Hannah“, fällt er mir ins Wort und schau mich mit seinen unfassbar blauen Augen an. Fast augenblicklich fährt mein Adrenalin und meine ganze Wut und Verwirrung eine Stufe runter.

„Das ist alles nicht so einfach so erklären. Ich wünschte, es wären andere Umstände, aber die Anwesenheit von Eric heute im All in hat alles verkompliziert. Ich weiß nicht genau, wo ich anfangen soll.“

„Vielleicht ganz vorne? Oder mit einer plausiblen Erklärung bezüglich dieser Abgrenzung von diesem wir und ihr? Oder eurem Drang zum Jagen oder was auch immer?“

Zugegeben, meine Stimme klingt etwas theatralisch, aber ich habe so langsam die Nase voll. Er faselt einen Scheiß vor sich hin, den ich einfach nicht länger ertragen mag. Ja, er ist heiß. Heißer als heiß! Aber wenn er sich nun doch als irrer Freak erweisen möchte, dann doch bitte jetzt gleich. Ich würde gerne nach Hause gehen. In einem Stück.

Anstatt einer direkten Antwort hüllt sich Chris in Schweigen und schaut betreten zu Boden.

Fuck. Dann halt nicht.

Ich stoße mich vom Geländer ab und setze mich in Bewegung. Sanft greift er mein Handgelenk. Ich schaue auf.

„Hannah, wir sind Vampire.“ Ernst spiegelt sich in seinen Augen.

Ich starre ihn an. Für einen Moment schwanke ich zwischen hysterischen Lachanfall und Weglaufen. In meinem Kopf herrscht absolute Leere. Ich bin sprachlos. Mir bleibt nichts anderes, als in seine tiefen, blauen Augen zu starren.

Er meinte es ernst.

Heilige Scheiße!

Panik erfüllt mich und mein Herz beginnt zu rasen. „Ich denke, ich sollte jetzt gehen.“

„Willst du den Rest denn gar nicht hören?“ Ein unsicheres Lächeln umspielt seinen Mund.

Nein. Ich denke nicht, dass ich den Rest hören will, und schüttle den Kopf.

„Mach's gut, Chris.“ Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, marschiere ich los.

Der Panik weicht Empörung. In mir steigt eine Wut auf, die ich kaum in Worte fassen kann. Er glaubte doch wohl nicht allen Ernstes, dass ich ihm das abkaufe? Vampire? Hier in der Hauptstadt? Unter uns? Absolut lächerlich!

Strammen Schrittes mache ich mich in die entgegengesetzte Richtung auf, um mir ein Taxi zu rufen. Zu Hause habe ich eine nette Flasche Chardonnay im Kühlschrank, die den Abend möglicherweise noch retten könnte.

Und Hailey. Ich muss dringend Hailey anrufen. Himmel, vielleicht war ihr was passiert?

„Hailey war heute nicht im Club“, höre ich Chris hinter mir. „Letzte Woche wart ihr zu zweit da, aber heute warst du alleine.“

Ich halte inne.

„Und Chardonnay ist zwar nicht mein Lieblingswein, aber er ist für einen Weißen ganz passabel.“

Was zum ...

Langsam drehe ich mich zu ihm um. Ich starre ihn mit offenem Mund an. „Woher ...“, flüstere ich. Mehr bekomme ich nicht raus. Wie konnte er das wissen?

„Bitte, Hannah, lass mich die Sache weiter erklären. Aber nicht hier.“

Lange starren wir uns an. Unfähig, uns zu rühren. Ich weiß, dass es von mir abhängt. Weiß, dass er mich gehen lassen würde, wenn ich darauf bestünde. Aber etwas in mir schreit danach, zu bleiben und ihn anzuhören. Etwas in mir sagt, dass ich ihm zuhören muss. Um zu verstehen. Etwas in mir erinnert mich daran, dass ich ans Schicksal glaube.

Ich nicke.

Vorsichtigen Schrittes kommt er auf mich zu. „Danke“, haucht er mir auf die Haare und drückt zaghaft meine Hand. Ohne ein Wort zu sagen, verlassen wir die Brücke.

Mein Kopf ist wie leer gefegt. Zurückgeblieben ist nur ein Gefühl von ... Wärme? Vertrauen?

Himmel ... Was war das nur für ein Serum?

Chris führt mich zu einer kleinen Bar namens Ben & Tiger‘s. In einer der dunkleren Ecken der spärlich besuchten Bar nehmen wir Platz. Chris ordert beim Barkeeper Getränke und setzt sich anschließend zu mir.

Ich bereue es erneut zutiefst, mein Handy nicht mitgenommen zu haben. Wie gerne hätte ich jetzt Hailey angerufen. Einfach nur, um zu hören, dass sie wirklich nicht im Club gewesen war und Chris tatsächlich die Wahrheit gesagt hatte.

Der Barkeeper kommt und stellt uns zwei Gläser auf den Tisch. Fragend schaue ich Chris an.

„Nein, keine Sorge. Die sind clean.“ Er zwinkert mir zu und nimmt einen Schluck. Bevor ich länger darüber nachdenke, nehme ich ebenfalls einen tiefen Zug aus meinem Glas.

Was ich augenblicklich bereue.

„Verdammt“, bringe ich hustend hervor. Schon wieder Gin. Aber dieses Mal in einem eher unüblichen Mischungsverhältnis. Mein Rachen brennt.

„Gut, oder?“

Ich nicke zustimmend „Fantastisch.“ Meine Antwort trieft geradezu von Sarkasmus. Ich bedeute dem Barkeeper, uns noch etwas Antialkoholisches zu bringen, und freue mich über das Wasser, das kurze Zeit später vor mir auf dem Tisch steht.

Chris schmunzelt und prostet mir provozierend zu.

„Also?“, fange ich schließlich an. Noch nie ist es mir so schwer gefallen, jemanden etwas zu fragen, das mir gleichzeitig so unfassbar lächerlich vorkommt. Die Röte schießt mir ins Gesicht. „Bist du so ne Art Show-Mentalist oder wie kann es sein, dass du ständig weißt, was ich denke?“

Chris schmunzelt. „Nein, ich bin kein Mentalist.“ Dann werden seine Züge wieder ernst. „Ich bin ein Vampir und kann deine Gedanken lesen.“

Ich schlucke.

„Und das funktioniert nur“, fährt er fort, „weil du meine Seelenpartnerin bist.“

„Seelenpartnerin?“ Die Antwort überrascht mich. „Also, ich hab schon von Seelenpartnerschaft gehört, dachte aber immer, das ist sowas wie beste Freunde sein oder so. Und, dass man sich dafür ja auch kennen muss. Was bei uns beiden ja wohl kaum zutrifft.“

„Du kennst mich schon“, erwidert er. „Zumindest für einen Abend. So lange bis sie dein Gedächtnis wieder löschen. Was zugegebenermaßen ziemlich oft in letzter Zeit vorkam ...“ Er nimmt einen großen Schluck von seinem Drink.

Ich verschränke die Arme vor der Brust. „Ja, das sagtest du bereits.“ Meine Gedanken wirbeln und ich brauche einen Moment, um zu realisieren, dass ...

„Wie lange komme ich schon ins All in, ohne dass ich mich daran erinnern kann?“

Chris schaut mir direkt in die Augen. „Seit etwa zehn Wochen.“

Fuck.

„Seit etwa zehn Wochen?“, bringe ich fassungslos hervor. „Himmel, was für ein Zeug hab ich denn bitte getrunken, dass ich mich nicht mehr daran erinnern kann?“

„Wir nennen es Gedächtnisserum. Du hast heute Abend einen Stempel bekommen, richtig?“

Verstohlen werfe ich einen Blick auf mein Handgelenk. Ich nicke zustimmend.

„Nun, in der Stempelfarbe befinden sich Transmitter, die aktiviert werden, sobald ihr das Gedächtnisserum mit eurem ersten Drink zu euch nehmt. Beim Hinausgehen werden eure Stempel vorne wie eine Art Barcode gescannt. Und am nächsten Tag, tadda, erinnert ihr euch nicht mehr an euren Besuch im All in, habt aber das dringende Bedürfnis, in der darauffolgenden Woche wieder zu kommen.“ Er zwinkert mir zu.

„Wow. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“ Ich nehme einen Schluck aus meinem Glas. „Doch, warte. Du sagtest ihr. Das heißt ... Ich bin nicht die einzige, deren Gedächtnis gelöscht wird? Es betrifft auch andere Gäste?“

„Es betrifft fast alle Gäste. Es betrifft euch Menschen.“

Ich reibe mir angestrengt über die Schläfen. „Uns Menschen ...“

„Ja, euch Menschen. Ich sagte dir ja bereits, wer oder eher was wir sind.“ Er schaut mich durchdringend an. „Aber so richtig glauben kannst du mir nicht.“ Das war keine Frage.

Ich lehne mich auf meinem Stuhl zurück. Das war alles echt krasser Scheiß. Irgendwie ergab es schon Sinn. Aber jetzt mal ernsthaft, Vampire?

„Der Abend war mehr als miserabel“, stelle ich nüchtern fest. „Ich bin kaum in den Club gekommen, Hailey war nicht dort und die Leute, die ... Ach, ich weiß auch nicht. Alles war heute so aufgeladen. Und seltsam. Und dann kommst du und schleifst mich einfach aus dem Club. Nur um dann mit dieser fadenscheinigen Erklärung zu kommen? Du redest über Vampire und irgendein Serum und Seelenpartnerschaft als wäre es das Normalste der Welt. Und ich bin mir nicht sicher, ob das einfach mal die schlechteste Anmache der Welt ist oder ob du komplett übergeschnappt bist.“

Ich mache eine kurze Pause und warte seine Reaktion ab.

Nichts.

„Ich denke, es ist Zeit für mich, nach Hause zu fahren.“ Ich leere mein Glas und stehe auf.

„Bevor du gehst, habe ich eine letzte Frage an dich.“ Chris sieht mich gespannt an und ich kann so etwas wie Verzweiflung in seinen Augen aufblitzen sehen.

„Ich höre?“

„Fühlst du es nicht mehr?“

Fühle ich es nicht mehr? Diese Frage wirft mich völlig aus der Bahn. Ich horche stillschweigend in mich hinein.

Meine Atmung geht schwer, mein Herz rast, meine Gedanken wirbeln. Für einen Moment scheint es, als wäre die Zeit stehen geblieben. Und dann ... fühle ich es. Ein kleines Vibrieren in meinem Herzen. Ein Summen, das sich vertraut und heimisch anfühlt. Langsam breitet es sich in jede Zelle meines Organismus aus, wird durch meinen Herzschlag immer weiter und weiter gepumpt, bis es schließlich in meinem ganzen Körper ... leuchtet.

Schwankend halte ich mich am Tisch fest. Schwer atmend suche ich seinen Blick. „Was hast du mit mir gemacht?“, bringe ich flüsternd hervor.

Ein Lächeln schleicht sich auf Chris‘ volle Lippen. „Ich habe nichts gemacht“, flüstert er zurück. „Wir haben uns nur gefunden.“

„Und wie das?“ Ich bin völlig überwältigt von diesem Summen, das mich ausfüllt, mich durchströmt. Ich habe keine Ahnung, was es bedeutet, aber es fühlt sich gut an. Und richtig. Als hätte mir etwas gefehlt, ein Puzzlestück oder so, das jetzt seinen Platz eingenommen hat. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so vollkommen und sicher gefühlt, wie in diesem Moment. Langsam lasse ich mich auf meinen Stuhl zurücksinken.

Chris nimmt meine Hand. „Als du vor zehn Wochen zum ersten Mal ins All in gekommen bist, sind wir uns auf der Tanzfläche begegnet. Und in dem Moment, wo unsere Blicke sich zum ersten Mal trafen, wusste ich es.“

„Was wusstest du?“

„Dass du die meine bist.“

Alle Zweifel und Wut und Verwirrung, die vorhin noch präsent waren, sind wie verflogen. Aus einem unerklärlichen Grund weiß ich, dass er die Wahrheit sagt. Dass alles, was er mir bis dato erzählt hatte, der Wahrheit entspricht.

„Auf jeden Vampir wartet irgendwo auf dieser Welt seine Seelenpartnerin. Und da die Welt ziemlich groß ist, ist die Wahrscheinlichkeit, seine Seelenpartnerin zu treffen verschwindend gering. Umso überraschter war ich, als ich dich getroffen habe. Und dass du ein Mensch bist. In der Regel finden sich zwei Vampirseelen. Die Kombination aus Mensch und Vampir ist äußerst selten, wie du dir vielleicht vorstellen kannst, und ziemlich kompliziert.“

Ich kann mir gerade gar nichts mehr vorstellen. Dieses Summen vibriert in meinem ganzen Körper. Und gibt ihm recht.

Überwältigt von meinen Gefühlen und völlig überfordert mit der Situation stehe ich schließlich auf. Ich nehme meine Jacke und taumle nach draußen. Ich werde mir vage bewusst, dass Chris mir irgendetwas nachruft, der Barkeeper mich verwundert anschaut und auch die anderen Gäste kurz ihre Köpfe heben, bis ich schließlich das Ben & Tiger‘s verlassen habe und die Straße herunter gehe.

Was auch immer ich heute im Drink hatte, es konnte seine Wirkung noch nicht verloren haben, oder? Das war doch alles ein schlechter Witz? Vampire in der Hauptstadt. Ein elitärer Vampirclub, der das Gedächtnis seiner menschlichen Besucher mittels eines Serums löschen lässt. Seelenpartnerschaft.

Das war mir alles zu viel. Summen hin oder her. Verstand? Wo ist mein Verstand?

Fuck ...

Alles dreht sich ...

Ich bin von einem lauten Rauschen umringt und kann nicht mehr ausmachen, ob es der Nachtwind ist oder eine Nachwirkung des Serums. Aus dem Augenwinkel sehe ich Chris noch auf mich zustürzen. Besorgnis spiegelt sich in seinem Blick.

Was zum ...

Meine Sicht verschwimmt. Das Letzte, was ich vor mir ausmachen kann, ist der Asphalt. Und der ist genau vor meinem Gesicht.

3 Kapitel

Verdammte Scheiße!

Ich haste nach vorne und versuche noch, sie aufzufangen. Doch ich bin zu spät. Ihr Körper fällt ungebremst auf den harten Asphalt.

Fuck!

Ich stoße einen rüden Fluch aus und hebe sie vorsichtig hoch. Wie leicht sie doch ist. Und wie zerbrechlich.

Ach, Hannah ...

Ein metallischer Geruch steigt mir in die Nase.

Nein, das konnte nicht wahr sein!

Über ihrer rechten Schläfe ist eine tiefe Wunde zu sehen. Eine tiefe blutende Wunde. Meine Sinne reagieren prompt.

Verdammt.

Nicht hier. Nicht jetzt. Nicht so.

Ich versuche, mich zu beruhigen, tief durchzuatmen. Leicht ist das nicht gerade. Ich beiße meine Kiefer fest aufeinander und versuche, mich auf meinen Herzschlag zu konzentrieren. Er rast.

Fuck!

Hannah war schon immer das Köstlichste, was mir je begegnet ist. Und jetzt rinnt ihr Blut keine zwanzig Zentimeter von meinen voll ausgefahrenen Reißzähnen entfernt ihre Schläfe herunter. Wenn das mal keine Zerreißprobe ist.

Vorsichtig trage ich sie zu meinem Audi, den ich nicht weit von hier geparkt habe. Die Luft ist geschwängert vom Duft ihres Blutes.

Konzentrier' dich, Chris!

Wie leicht es wäre, einfach in einer Seitenstraße zu verschwinden und mir das zu nehmen, was ich jetzt am dringendsten bräuchte.

Fuck!

Ich hätte vielleicht doch nicht Nein sagen sollen zu dem Blutbeutel, den Liam und Angel mir heute Morgen angeboten hatten. Seit ein paar Tagen schon hatte ich nichts mehr getrunken. An sich kein Problem, denn heute war ja der Tag. Doch alles war etwas anders gelaufen, als geplant. Was musste Eric auch ausgerechnet heute Nacht hier auftauchen? Das Gemetzel, das er jedes Mal zulässt, wenn er im All in ist, wollte ich ihr nun wirklich ersparen. Außerdem wurde es vielleicht langsam Zeit, dass ich sie über ihr Schicksal aufkläre. Verdammt, daran konnte ich jetzt nicht auch noch denken.

Behutsam setze ich sie in mein Auto, schnalle sie an, stelle den Sitz so weit wie möglich zurück. Blut tropft auf ihre Jacke. Ich schlucke.

Ich fahre auf direktem Weg zu unserer Wohnung. Die Fahrt dauert nicht lange und doch kommt es mir vor wie eine Ewigkeit. Ihr Geruch ist überall. Hat sich in meiner Nase festgesetzt. Auf meinen Lippen. Ich schlucke.

Bleib bei der Sache, Chris!

Ich parke das Auto in unserem Hinterhof und trage sie vorsichtig nach oben. Sie hat sich bisher immer noch nicht gerührt. Ihre Atmung geht flach, aber gleichmäßig.

Meine Sorge frisst mich fast auf. Hoffentlich hat sie keine Gehirnerschütterung oder so.

Ich knalle die Tür zu unserer Wohnung auf. Liam und Angel kommen gackernd aus ihrem Zimmer. Nackt. Provokativ lehnen sie sich in den Türrahmen, ohne ihre Blöße zu verstecken. Auf dieses Spiel hatte ich nun wahrlich keinen Bock.

„Na, Bruderherz, was bringst du denn da mit nach Hause?“ Amüsiert mustert uns Liam von oben bis unten.

„Endlich bringst du sie mal mit“, zwinkert Angel mir zu. „Allerdings ... Wow, Chris ist alles okay?“ Besorgnis schleicht sich in ihren Blick, als sie die reglose Hannah in meinen Armen erblickt.

Als schließlich auch Liam meine dunkel verfärbten Augen erkennt, schalten sie beide. Angels Pupillen weiten sich. „Fuck, sie blutet.“

Ich nicke. Meine Kiefer mahlen aufeinander. Nur mit Mühe kann ich an mich halten. Angespannt lehne ich mich an die Wand.

„Dann ist das mein Stichwort.“ Ohne auch nur einen weiteren Blick auf uns zu werfen, verschwindet Angel in Liams Zimmer. Ich kann es ihr nicht übel nehmen. Verzweifelt wende ich mich an Liam.

„Ich zieh' mir was an.“

Dankbarkeit durchflutet mich in kühlen Wellen, als Liam mir nach einer gefühlten Ewigkeit in Trainingshose entgegenkommt und Hannah aus meinen Armen nimmt.

„Sie ist auf den Asphalt gestürzt. Hat sich verletzt“, bringe ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Mein ganzer Körper zittert. Ich halte mich an der Wand fest. Ihr Blut hat eine so verdammt krasse Wirkung auf mich.

„Schon gut. Ich kümmere mich um sie. Geh duschen. Und trink endlich was!“ Mit diesen Worten trägt Liam sie in mein Zimmer.

4 Kapitel

Ich erwache in einem Zimmer, das ich nicht kenne. In Bettwäsche, die nicht nach mir riecht. Und in einem riesigen Shirt, das nicht mir gehört. Vorsichtig setze ich mich auf. Der spitze Schmerz in meinem Kopf verheißt nicht Gutes. Als würde sie mich verhöhnen, scheint auch noch die Sonne in voller Pracht ins Zimmer.

Wo zum Teufel war ich?

Als hätte jemand meine Gedanken gehört, klopft es auch schon an der Tür.

Chris.

Behutsam guckt er ins Zimmer, sieht, dass ich wach bin, und tritt schließlich ein.

„Guten Morgen, Sonnenschein.“ Dieses Grinsen. Für einen kurzen Moment kribbelt es wie verrückt in meinem Bauch.

„Morgen“, bringe ich nuschelnd hervor. „Wo bin ich?“

„Bei mir zu Hause. Kaffee?“

Ich nicke.

„Brauchst du Milch?“

Ich nicke erneut. Und starre ihn an. Hatte er gestern auch schon so gut ausgesehen? Diese Augen. Diese Gesichtszüge. Diese Wangenknochen. Und diese verdammt vollen Lippen, eingerahmt von einem leichten Dreitagebart, der einen etwas dunkleren Ton aufweist als seine dunkelblonden Haare, die er auch heute leicht nach hinten gestylt hat. Ich schlucke.

„Bin gleich wieder da.“

Ich reibe mir vorsichtig über Augen und Schläfen. Was auch immer er mir gestern in den Drink getan hatte, musste echt ein fieses Zeug gewesen sein. Ich fühle mich, als hätte mich ein Bus überfahren. Moment, klebt da ein Pflaster an meiner Stirn?

Und dann fällt es mir wieder ein. Mein Abgang. Mein Taumeln. Mein Sturz. Ich brauche dringend einen Spiegel. Bitte lass mich nicht so schlimm aussehen, wie ich mich fühle.

Mit einem Ruck schwinge ich mich aus dem Bett. Und bereue es sofort. Alles dreht sich und mir bleibt nichts anderes übrig, als mich zurück ins Bett fallen zu lassen.

Fuck.

In meinem Kopf hämmert ein Presslufthammer.

„Einmal Kaffee mit Milch.“ Chris steht grinsend im Türrahmen.

Dankend nehme ich die dampfende Tasse entgegen und trinke einen kleinen Schluck. „Der Kaffee ist gut.“ Etwas Geistreicheres fällt mir im Moment nicht ein.

Chris wirkt besorgt. „Wie geht’s dir heute Morgen?“ Langsam kommt er auf mich zu und setzt sich auf die Bettkante. „Du hast gestern ganz schön was abbekommen.“

„Hmm. Das hast du mitbekommen, ja?“

„Ich stand praktisch neben dir, als du gefallen bist.“

„Und du bist nicht auf die Idee gekommen, mich aufzufangen?“ Ich bereue meine Worte augenblicklich. Er konnte ja nun wirklich nichts dafür.

Chris schnappt nach Luft. „Es ist nicht so, dass ich es nicht versucht hätte, aber du warst leider nicht ganz in Reichweite. Und ...“

„Schon gut“, falle ich ihm ins Wort. „Du trägst keine Schuld daran.“ Ich nippe an meinem Kaffee. „Danke, dass du dich um mich gekümmert hast.“

Eine leichte Röte steigt ihm ins Gesicht. War er etwa ...

„Wie spät ist es?“, frage ich nach, bevor die Situation noch unangenehmer wird. Der Sonne nach müsste es schon fast Mittag sein.

„Es ist kurz nach zehn“, klärt Chris mich auf. „Und das Serum sollte deinen Organismus bald verlassen haben.“

Ich verschlucke mich an meinem Kaffee.

Serum? Organismus?

Und dann kehren meine Erinnerungen schlagartig zurück. Das All in. Meine Suche nach Hailey. Unsere seltsame Flucht aus dem Club. Unser Gespräch auf der Brücke. In der Bar.

All das war wirklich passiert.

Und dieses Summen.

Vorsichtig horche ich in mich hinein. Es war immer noch da ...

Erschrocken blicke ich ihn an.

„Chris, ich ...“, stammle ich.

„Ich weiß. Ich ...“ Weiter kommt er nicht.