Wind und Wolkenlicht - Lewis Grassic Gibbon - E-Book

Wind und Wolkenlicht E-Book

Lewis Grassic Gibbon

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Beschreibung

Lewis Grassic Gibbon (1901–1935) schrieb mit "Wind und Wolkenlicht" die Geschichte von Chris Guthrie aus "Lied vom Abendrot" fort. Nach dem Tod ihres ersten Mannes heiratet Chris den Idealisten Robert Colquohoun und zieht mit ihm und ihrem Sohn Ewan in die Kleinstadt Segget, wo Robert eine Pastorenstelle annimmt. Chris hadert mit ihrer Rolle als Pastorenfrau, die Sehnsucht nach der weiten Landschaft ihrer Kindheit, die ihr Freiheit und Ungebundenheit bedeutet, lässt sie nicht los. Gibbon entwirft in dem kleinstädtischen Segget eine Galerie eigenwilliger Charaktere: darunter der frömmelnde Postmeister MacDougall Brown, Klatschbase Ag Moultrie, Großbauer Dalziel und nicht zuletzt die Arbeiter der Jutespinnerei, die gegen unumstößlich scheinende Hierarchien aufbegehren. Vor dem Hintergrund des gescheiterten Generalstreiks 1926 zeichnet Lewis Grassic Gibbon mit liebevoller, oft harscher Komik das Bild einer Gesellschaft im Netz von tradierten Privilegien und Unterdrückung. Die ungewöhnliche kollektive Erzählstimme treibt den Fluss der Geschichte voran und schaut den Figuren in die Köpfe. Klatsch, Gerüchte und persönliche Animositäten bestimmen in rhythmischen Satzketten, im Original teilweise im schottischen Dialekt, das Miteinander und stellen vor allem eines in Frage: historische Wahrheit. Esther Kinsky bietet in ihrer prachtvollen, vielstimmigen Übersetzung Klänge, Farben, Derbheiten und zarte Schönheiten des Deutschen auf, von denen wir gar nicht wussten. Es ist diese überwältigende, reiche Sprache, die im Roman die sozialen und politischen Spannungen einer Gesellschaft im Wandel überwindet.

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Lewis Grassic Gibbon

WIND UNDWOLKENLICHT

Aus dem schottischen Englischund mit einer Vorbemerkung von Esther Kinsky

Mit einem Nachwort von Claire-Louise Bennett

VORBEMERKUNG ZUR ÜBERSETZUNG VON WIND UND WOLKENLICHT VON LEWIS GRASSIC GIBBON

Wind und Wolkenlicht, im Original Cloud Howe, ist der zweite Band der Trilogie A Scots Quair, des Schottischen Buches von Lewis Grassic Gibbon. Was die drei Bände verbindet, ist die Hauptperson, die junge Frau Chris und ihr Lebensweg, doch lässt sich jeder Band auch als eigenständiger Roman lesen. Lewis Grassic Gibbons Vorstellung und Ziel war es, mit einem großen Werk das Schottland seiner Zeit – die ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts – in Dorf, Kleinstadt und Großstadt darzustellen, die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse und Machtstrukturen und die an das Trauma des Weltkriegs anschließenden wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen. Der erste Band, Lied vom Abendrot, spielt in einem kleinen Dorf aus verstreuten Höfen, der zweite Band, Wind und Wolkenlicht, in der Kleinstadt Segget, die von der für Schottland so typischen Jute-Industrie geprägt ist und deren Bevölkerung zu einem großen Teil aus Arbeiterproletariat besteht. Wer den ersten Band kennt, der auf Deutsch 2018 erschienen ist, wird sich vielleicht des besonderen Idioms erinnern, der vielen plattdeutschen Wörter, die das unenglische, mit dem Skandinavischen verwandte Scots-Vokabular der Ostküste wiedergeben sollten. Im zweiten Band ändert sich der Ton. Es kommen kaum noch Personen zu Wort, die dem Land verbunden sind und mit dem Idiom der Gegend aufwuchsen, auch Chris, nun mit einem studierten Pastor verheiratet, hat sich dem Englischen zugewandt, wenngleich sie sich – und das ist wichtig zu wissen – nie ins ausgesprochene Bildungsenglisch verirrt. Kennzeichnend für diesen zweiten Band ist eine eher vom regionalen Tonfall geprägte Umgangssprache, die sich weniger im direkten Austausch als in der indirekten Rede der Klatschgeschichten manifestiert, einer kollektiven Stimme des Ortes. Dabei geht es nicht nur um die kollektive Bereitschaft zu Häme und Missgunst, sondern auch um eine Form der Dissoziation, eine Entfremdung von der Gemeinschaft, von einer gemeinsamen Vision, zu der Sprache als Benennung der Dinge gehört. Lewis Grassic Gibbon arbeitet sprachlich sehr bewusst, er zieht unzählige kleine Register im Tonfall, und auch wenn manches zur Parodie verzerrt wirkt, geht es nie ums bloß Komische. Das Tragische ist nie fern. Als Übersetzerin kann man immer nur hoffen, dass die Wahl, die man für solche Idiosynkrasien trifft, überzeugt und das Sprachgebilde des Originals in seiner Vielschichtigkeit abbilden kann. Ich habe mich an vielen Stellen, an denen es um die besagte indirekte Rede geht, zu grammatisch inkorrekten Formen entschlossen, um ein annähernd ähnliches Maß an Differenzierung zu erhalten, und ich bitte, das nicht als Fehler zu lesen.

Esther Kinsky, Friaul, Juni 2021

KLEINE AUSSPRACHEHILFE

Colquohoun wird Ca-huun ausgesprochen,

Dalziel wird wie Dεl-yel oder Dii-yel ausgesprochen,

Segget mit einem kurzen, harten g in der Mitte.

Für George Malcolm Thomson

PROEM

Die Gemeinde Segget liegt unter dem Mounth, auf seiner südlichen Seite, im Howe an den Mearns; Fordoun ist nah, und Drumlithie noch näher, die Lichter von Laurencekirk sieht man des Nachts schimmern und glimmern, während die Nebel herabwallen. Steigt man die Vorhügel hinauf zur Ruine des Kaimes’, der erbaut wurde, wie Segget erst bloß ein Ort war, wo die Menschen der Vorzeit ein Lager mit Erdwällen ringsum und mit Grenzmauern aus Sandstein errichtet hatten, dann waren sie gestorben und hinterließen ihr Lager, das unter wucherndem Ginster und Gras verwitterte – stiege man also an einem Wintermorgen zum Kaimes hinauf und blickte man nach Osten und hielte den Atem dabei an, dann würde man vielleicht das Rauschen der See hören, ein Seufzen, das sich durch den Morgendämmer vernehmen ließe, oder man sähe einen Schweif von Funken, wenn ein Zug von Stonehaven her durch den Wald gerattert käme, selten genug hielte er in Segget an, dann räusperten sich die Fahrer und spuckten aus, und die Wärter grinsten, als wär es ein Witz.

Doch weiß bloß der Himmel, was man allein dort am Kaimes suchen mochte, andere sind schon dort gewesen und hatten nach Schätzen gegraben, nichts haben sie gefunden als ein paar verrostete Schwerter, bestimmt in den Kriegen geschmiedet, die damals tobten, als die Frau vom Sheriff der Mearns, Finella hat die geheißen, dem König eine Falle stellte, König Kenneth dem Dritten, wie er auf einem Jagdausflug durch die Gegend kam. Kenneth hatte nämlich ihren Sohn töten lassen, und sie schwor, dass sie sich dafür rächen würde; gemächlich jagte er auf dem waldigen Howe, Winter wars, wie es heißt, und in jenen Zeiten damals waren die gewundenen Wege nichts als eine Reihe Pfützen voll Matsch, der spritzte den lang beschweiften Pferden bis auf den Rumpf. Und Finellas Männer hörten, er sei im Anritt, wie es dieser dröge Schreiber Wyntoun in seiner Sage erzählt:

Wie eines Tages durch die Mearns

Der König selbst geritten kam

Allein und fern von seinem Tross

Da kreuzte ihm den Weg eine Schar

Bei der Stadt mit Namen Fethyrkerne

Mit ihm zu kämpfen war ihr Ziel

Tapfer führte er den Kampf

Doch traf ihn zuletzt der Todesstoß.

Kenneth also war tot, und Kriege folgten, Finellas Burschen errichteten den Kaimes, lange Wehrmauern unten am Hang, halbwegs auf der Höhe stand ein Rundturm, der aus noch früheren Zeiten war, ein Broch aus den Tagen der Pikten; dort lagen sie verschanzt und hielten viele Monate denen stand, die kamen, um sich für den Tod des Kenneth zu rächen; und dann wird es dunkel um sie und ihr Warten und Kämpfen und all die üblen Dinge, die sie erlitten und taten.

Der Kaimes blieb kahl und bloß zurück, die Wälle eingestürzt, wie Iohannes de Fordun es seinerzeit berichtete, ein Fordouner Bursche war er, und hätte er etwas Verstand gehabt, hätte er diese Tatsache verborgen, anstatt sie überall zu verbreiten. Eine Art Kirchenmann war er in der damaligen Zeit, gleich nachdem der Bruce die Englischen vertrieben hatte, mag sein, dass Fordoun weniger in üblem Geruche stand, als Iohannes die Stadt an seinen Namen hängte. Der Kaimes jedenfalls lag dort zu Iohannes’ Zeiten, erzählt er doch, die Skoten hätten dort einmal des Nachts Halt gemacht, als sie zur Schlacht von Bara zogen. Und einer bei den Skoten, ein Lombarde wars, der schaute sich um an jenem Morgen, als die Armee sich erhob und die Hörner am Fuße der Hügel ertönten, und er sah die Nebelschwaden, die vorüberschwebten, und zu seinen Füßen die Sonne kam schnell hervor um den Hang, wo ein Bächlein an einem verfallenen Lager vorüberfloss. Und das rührte sein Herz, und er nahm es als Omen, denn in seinem fernen Heimatland, da gab es Lagerstätten dieser Art, und er schwor bei sich, wenn er die Schlacht überleben sollte, dann würde er hierher zurückkommen und um den Titel auf das Land ersuchen.

Hew Monte Alto, so hieß der Lombarde, und er kämpfte wohl tapfer in der Schlacht von Bara, und wie diese vorüber und der Bruce der König war, da erbat er sich von Bruce das Land, das am Fuße des Kaimes lag auf dem windigen Howe. Dieses Land hatte den Mathersleuten gehört, doch diese hatten mit Edward dem Ersten Frieden geschlossen und hatten ihm Obdach gegeben und ihn zur Nacht willkommen geheißen, wie er bei seiner Reise durch den Norden in den Mearns Halt gemacht hat. Also nahm der Bruce das Land den Mathers weg und gab es dem Hew, und der war ordentlich zufrieden, nur ärgerlich, dass er von keinem adeligen Blut abstammte. Da schickte er einen Burschen zum Lord Mathers, um zu fragen, ob der eine heiratsfähige Tochter habe, für die Ehe mit ihm, und er schickte einen alten Burschen los, den er gut entbehren konnte, falls die Mathers ihn bei lebendigem Leib häuten sollten.

Die Mathers nämlich, die waren so stolz, als hätte Gott ihr Fleisch aus andrem Dreck gemacht als die Menschen, doch zu diesem Zeitpunkt hatten sie eine rechte Durststrecke da auf ihrer vermodernden Burg Fettercairn, wo der Helm des braven König Grig hing, der die Mathers zuerst hier angesiedelt hatte und den Ersten von ihnen zum Merniae Decurio erhoben hatte, dem Anführer des ganzen Landes der Mearns. Jedenfalls ließ der alte Lord den Burschen Hew ungeschoren und schickte ihm die Nachricht zurück, er habe mehr als eine Tochter, und der Lombarde möge kommen und sich die aussuchen, welche ihm am besten gefiele. Und Hew ritt dorthin, und er traf seine Wahl, und so wurde er Mann einer Mathers-Dirn und teilte mit ihr das Bett.

Doch kurz war die Zeit, die er zur Wonne hatte, denn wieder kamen die Englischen nach Norden, um Krieg zu führen. Die Skoten sammelten sich unter der Anführung des Bruce an einer Enge, wo ein schwarzes Fließ strömte, das war der Pass von Bannock-Burn. Und Hew verstand sich aufs Kriegen, er ritt sein Ross aufgezäumt ins Lager, und König Robert hielt ihn an, die Gräben auszuheben und die gestachelten Krähenfüße auszulegen und mit Erde zu bedecken, Fallen für den Ansturm der englischen Pferde sollten sie sein. So tat er es auch, und am nächsten Tag, da kamen sie an, die Englischen, sie stürmten wacker drauf los und wurden dann von den Gräben verschlungen. Doch Hew wurde von einem englischen Pfeil getötet, als er unbehelmt ausritt, um nach seinen Gräben zu gucken.

Bevor er noch nach Süden ritt, hatte er eine Burg innerhalb der Wälle des alten Kaimes erbaut und hatte aus seiner fernen lombardischen Heimat eine Handvoll Weber herangeführt, Leute von seinem Geblüt. Sie erbauten ihre Häuser unten, unterhalb des Kaimes’, im grün umringten Kreis des alten Lagers, sie rissen die Mauern dieses heidnischen Ortes ein und legten ihre Straße am Seggeter Fließ an, und sie ließen sichs gut ergehen, wiewohl sie fremd und unverständig waren und auch schwer geduldet vom sturen düstern Piktenvolk der Mearns. Doch das gab sich mit der Zeit, indem die Rassen sich vermischten, und die Stadt namens Segget wurde zu Ehren des Hew, der am Fließ gefallen war, zum Marktflecken gemacht.

So wurden die Monte Altos zu Mowats und mischten sich mit der Mathers-Sippe, und der Nächste, von dem sich eine Geschichte überliefert hat, ist jener, welcher mit den Mathers Freund wurde, als diese sich mit drei anderen Herren gegen den Lord Melville zusammengetan hatten. Denn er setzte ihnen wohl schlimm zu, der Sheriff von den Mearns, und die vier schickten Beschwerde um Beschwerde an den König, und der König war ordentlich wütend, und er zerrte an seinem Bart: Herrje, soll er doch gesotten sein, der Sheriff, gesotten und mit der Brühe gelöffelt! Er sprach diese Worte in einem Augenblick der Wut, gedankenlos, und dann vergaß er sie, doch die Herren, die behielten es im Gedächtnis, und sie gaben ihren Pferden die Sporen, zurück auf den Howe.

Und wie sie’s geplant, so führten sie’s aus, die vier, der Sheriff ging auf die Jagd mit den vier wütigen Herren, Arbuthnott, Pitarrow, Lauriston, Mathers, und sie packten ihn und fesselten ihn und trugen ihn den Garvock hinauf, zwischen zwei Steinen war ein großer Kessel aufgehängt, und sie zogen ihm die Kleider vom Leib und warfen ihn hinein, ins Wasser, das gerade zu sieden begann, und sie sahen zu, wie ihm das Kreischen langsam verging, er heulte wie ein Wolf im heißer werdenden Wasser, dann wie ein Kind, das an der Pest erstickt, und sein Körper schwoll auf und war rot wie Lehm, bis sich das Fleisch von seinen siedenden Knochen löste, und die vier Herren nahmen ihre von Horn gemachten Löffel aus den Gürteln und schlürften die Sheriff-Brühe und erfüllten so die Worte, die der König gesprochen.

Gesetz und Kirche jagten sie erbittert, der Mathers flüchtete sich auf den Kaimes und versteckte sich dort, sein Verwandter Mowat verrammelte seine Tore und trotzte den Leuten des Königs, die kamen. Da belagerten sie die Burg Kaimes, doch die Ratsherren von Segget sandten auf einem geheimen Weg, der hintenherum um die Hügel führte, Speise auf die Burg, und zu guter Letzt traf die Begnadigung für den Mathers ein, das Heer zog ab, und der Mathers kam heraus, und er schwor, wenn er jemals im Leben wieder Brühe schlürfen oder zwischen Mauern wohnen würde, dann sei es jedermann verstattet, mit ihm so zu verfahren wie er mit dem Sheriff Melville.

Ab dann liegt die Sage von Segget lange Zeit im Dunkeln, bis zu den Jahren des Großen Tötens, und die beiden Burns’ – James und Peter hießen sie – wurden nach Edinburgh verschleppt und verhört, und ihnen war abverlangt, dem Covenant und Gott abzuschwören. Peter war alt, die Qualen setzten ihm zu, doch neben ihm lag sein Sohn James auf die Folter gespannt, und selbst wenn die Daumenschrauben arg schmerzten und Peter schon den Mund öffnen wollte, um abzuschwören, kam ihm sein Sohn immer noch zuvor mit einem Psalm, den er so laut sang, dass er Peters Stimme übertönte; und so starb der alte Mann, doch mit James ging es nicht so schnell, schließlich warfen sie ihn in eine Zelle, etliche seiner Knochen waren gebrochen, dort fraßen die Ratten ihn bei lebendigem Leib; und mag sein, dass es in Segget wackrere Leute gegeben hat, doch bestimmt keinen mit mehr Mumm als diesen.

Sein Sohn war noch ein Grünschnabel, wie er starb, er hatte einen kleinen Hof auf Mowats Grund. Doch dann zog er nach Glenbervie, dort nahm er Wohnung, und mit seinen Leuten ging es mal auf und mal ab, wie es der Weg allen Fleisches ist, bis der Vater von Robert Burns heranwuchs und des Ortes überdrüssig wurde und davonging nach Ayr, und dort wurde der Dichter Robert geboren, ebender, welcher bei beinah so vielen Frauen gelegen hat wie Salomon, aber nicht mit allen auf einmal.

Doch ein paar von den Burns’ weilten noch in Segget. In den ersten Jahren der Herrschaft von König William war einer von ihnen Anführer der Fehde, die die Leute von Segget mit den Mowats führten. Denn ihnen gehörte immer noch der größte Teil von Segget, den Mowats, eine krumme alte Frau war die Dame Mowat damals, alle ihre Söhne waren in den Französischen Kriegen gefallen, der Verstand hatte sie fast verlassen; sie wusch sich selten, war von übler Natur und roch auch so. Und Simon Burns und der Pastor von Segget, die stachelten die Leute von Segget gegen sie auf; die Weberfamilien bezahlten nicht ihre Pacht und machten keinen Diener, wenn die alte Frau mit der langen Mowat-Nase auf der Ausfahrt in ihrem Wagen an ihnen vorbeikam.

Und schließlich sahen die Leute weit weit über Segget hinaus, wie eines Nachts plötzlich in den Hügeln ein Lichtschein auffuhr; das Licht flackerte und zitterte dort weit durchs Dunkel, und als der Dämmer anbrach, da kamen von nah und fern Gruppen von Leuten gezogen, die nachsehen wollten, was das dort auf den Hügeln für ein Feenspuk war. Und was sie dann sahen, das war der qualmende Kaimes, ein großes mächtiges Feuer hatte sich in der Nacht erhoben, und die Burg war bis auf die Grundfesten abgebrannt, kaum ein Stein war auf dem anderen geblieben, und die Seggeter schworen, sie hätten alle so fest geschlafen, dass das Feuer schon vorbei war, als sie erwachten. Und das mag auch so gewesen sein, doch viele Jahre lang, bevor die Alte Königin ihr Leben beschloss und die Weberei gar nichts mehr einbrachte und die Leute allmählich von den Mearns fortzogen, da hatten in manchem Seggeter Haus doch mächtige Standuhren geprangt, und über die Betten waren Decken gebreitet, die gingen bis auf den Boden, und die Glocke, die morgens den Webern zum Wecken läutete, war einst eine große Handglocke aus dem Festsaal der Mowats hoch oben auf dem Hügel Kaimes gewesen.

Ein Mowatscher Vetter erbte den Kaimes, er schaute sich die Ruine an und sah, dass nichts mehr zu machen war, so überließ er die Reste dem Regen und Wind und baute sich ein Haus weiter unten am Hang, Segget zu seinen Füßen, Eiben ringsum, und Bluthunde ließ er sich kommen, die streiften wachsam an den Einfriedungen entlang, er würde nicht riskieren, dass noch einmal des Nachts ein irrwegiger Funke aufstieg. Doch die Weber gaben sich jetzt mit anderen Dingen ab, die waren Schmiede und Zimmerleute, oder sie führten kleine Läden für die Leute von den Höfen, die verstreut ringsum lagen. Und die Mowats betrachteten das Seggeter Fließ, wie es nach Westen zum Bach von Bervie strömte, und es verdarb ihnen die Laune, dass es so ganz verschwendet sein sollte. Doch das ging nicht lange so, der Jutehandel war im Schwange, die Eisenbahn kam, die beiden Jutespinnereien wurden errichtet, ein Stück abseits der Eisenbahn, im Süden der Stadt, und das Fließ trieb sie an. Die Seggeter ließ das kalt, die Mowats mussten bis Bervie gehen, um Spinner zu werben, und eine ganze Schar kam an wie die Kesselflicker, und der Ort war voll von ihnen, sie tanzten und stritten und ließens hoch hergehn, und Segget sah zu, so wie ein Mann einer Schar Läuse zuschauen würde, und Leute vom alten Schlag zogen fort und bauten sich ihre Häuser am East Wynd entlang, das nannten sie dann Neustadt und redeten von dem Pack, das sich in der Altstadt herumtrieb, dort in der Gegend vom West Wynd.

Die Ankunft der Spinner brachte wohl Betrieb und Handel in die Stadt, doch der Rest von Segget wollte immer noch so tun, als wären die Spinner nur von ihren Gnaden dort, diese Kesselflicker mit ihren üblen Reden, mit ihren Muffs und Schals; die Frauen waren so schlimm wie die Männer oder noch ärger, wenn sie da auf dem Marktplatz von Segget kreischten und feilschten, und wenn sie mal auf eine Bauersgattin trafen, die nach Segget gefahren kam, um Besorgungen zu machen, und die hübsch und adrett und vielleicht ein bisschen stolz aussah, dann schrien sie sofort: Weg mit dir, nach Hause, du Bauerntrampel!

Die Mowats indessen, die machten Geld wie Heu. Sie ließen eine neue Kirche erbauen, als die alte einstürzte, breit und behäbig, obwohl sie keinen Glockenturm hatte; und sie lebten und starben und gingen ins Grab, und man hörte das Stampfen der Spinnerei mit ihren Maschinen, die jahrelang in Gang waren, bis ans Ende der Jahre, die den großen Weltkrieg brachten, und auch der ging vorüber, und Segget hatte ihn überstanden und überlebte alle, trotz dem Vers, den so ein grober Lump von einem Spinner gesponnen hatte:

Oh, Segget ist ein Sudelsumpf

Nicht mal ein Turm an der Kirche,

Vor jeder Tür liegt Mist herum

Die Leute grob wie Viecher.

INHALT

VORBEMERKUNG ZUR ÜBERSETZUNG

PROEM

I CIRRUS

II CUMULUS

III STRATUS

IV NIMBUS

ANHANG

KARTE VON SEGGET

ANMERKUNGEN

NACHWORT

BIOGRAFIEN

I

CIRRUS

Segget war dabei zu erwachen, als Chris Colquohoun den Kiespfad vom Pfarrhaus hinunter kam. Hier standen die Eiben dicht, erfüllt von einem Starenschwarm, deren schläfrigem Tschiepen auf der Grenze zum Morgengrauen, doch unten im Dunkeln, da sah man, kaum dass man die Straße erreicht hatte, schon hier und da ein Licht blinzeln, dort in den Häusern von Segget, in den Spinnergassen, mit dem Geruch nach Haferbrei und Windeln in der Luft. Doch dem schenkte sie kaum Beachtung, die Chris, sie ging rasch, den Blick auf den Himmel im Osten geheftet, die Mailuft streifte lau ihr Gesicht, als sie abbog, nach Norden, und die Straße Richtung Meiklebogs hinaufstieg. Die war so holprig und so tief von den Rädern der Karren gefurcht, in Segget gab es einen Spruch dafür: Ein Weg führt zum Himmel und einer zur Hölle, doch zum Teufel mit dem nach Meiklebogs!

Doch das kümmerte sie jetzt nicht, zumal sie nicht in diese Richtung ging, bald nämlich bog sie auf einen anderen Pfad, der sich dunkel längs einem verborgen im Gras rinnenden Fließ und durch ein Gatter die Hügel hinauf schlängelte. Und wie sie so behände den Hang hinaufstieg, da überkam sie seltsam und plötzlich eine Erinnerung an die Hügel oberhalb des Hofs in Kinraddie, daran, wie sie wohl manches Mal hinaufgestiegen war zu den alten Druidensteinen, und da hatte sie gestanden und der Welt dort unten gedacht und der Dinge, die dort getan, und der Tage, die hinter ihr lagen, der Freuden und der Furcht der Tage, die hinter ihr lagen. Hatte ihr deshalb der Kaimes die ganzen vierundzwanzig Stunden, die sie in Segget war, so den Himmel verstellt?

Jetzt war sie auf dem untersten Vorsprung, düster lag sie da, die alte Burg Kaimes, kaum mehr als ein paar versprengte Mauerreste, hoch türmte sich die Erde auf den Steinen, die einst Säle umgaben und männerbewachte Kammern. Eiben sprossen klein in einem Winkel draußen vor, sie winkten und regten sich, als sie Chris kommen hörten. Aber sie hatte keine Furcht, sie war vom Land, sie wanderte ein wenig umher, enttäuscht, dann lachte sie, über sich, sich zu, und der Ort wurde still. Vielleicht hielt der Ort ihr Lachen für wert, belauscht zu werden, so wie Robert Colquohoun es tat.

Sie fühlte ihr Gesicht erröten bei dem Gedanken, ganz leicht nur, und sie dachte, wie ihr jetzt langsam das Blut ins Gesicht steigen würde, ein, zwei Mal hatte sie es betrachtet, ihr eigenes Gesicht, gebräunt und mit hohen Wangenknochen, die Augen ein warmes Glimmen in Graugold, sie wusste noch, wie sie früher tatsächlich gewünscht hatte, sie wären blau! Sie hob die Hand zum Haar, es war feucht, vom Tau der dunklen Bäume am Pfarrhaus, nahm sie an, es war über den Ohren zum Kranz gelegt, so trug sie es seit zwei Jahren.

Sie wandte sich um und blickte auf Segget dort unten, mit den spitzen Punkten der Paraffinlampen durchsetzt jetzt im Morgendämmer. Nach und nach gingen sie aus, während der Osten im Aufgang der Sonne bleich und blendend wurde, hinter dem Hügel gellte ein Brachvogel – im Traum hier oben, während die Welt erwachte, Robert sich unten im Pfarrhaus im Bett drehte und vielleicht die Hand nach ihr ausstreckte, um sie zu berühren, wie damals an jenem ersten Morgen vor zwei Jahren, da hatte sie es empfunden, als weckte er sie auf von den Toten …

So fremd war es ihr damals, eine lange Weile hatte sie dagelegen, beinah furchtsam vor der Hand, die sie so berührte. Dann hatte er sich bewegt, ruhig atmend im tiefen Schlaf, und die Hand war fort, sie hatte im Dunkeln ihre ausgestreckt, um die Hand wiederzufinden und zu halten, verschämt. Es war ein Morgen im Winter gewesen, sie hatten beide lang geschlafen nach ihrer Hochzeitsnacht, und während das Winterlicht grau ins feinste Schlafzimmer des Pfarrhauses von Kinraddie sickerte, hatte Chris Colquohoun, die einst mit Ewan verheiratet gewesen, und davor einfach Chris Guthrie gewesen war, dagelegen und nachgedacht, sich Ordnung im Kopf gemacht wie ein Kind, das sich den Schlaf aus den Augen reibt … Das hier war neu, es lag hinter ihr, das Leben, das sie davor gehabt hatte, mit all der Liebe zu ihrem Ewan, der tot war, verloren und vergessen im fernen Frankreich: ihr Vater, draußen im Grab auf dem alten Kirchhof, das wilde fremde Aufwallen, das sie bei der Ernte ergriffen hatte, der vorletzten damals im Krieg, als sie und der Andere – aber nein, sie mochte nicht daran denken, an diesen alten traurigen Traum, der hinter ihr lag. Hatte jener andere überhaupt noch dieses Aufwallen in Erinnerung, in der letzten Stunde seines Lebens dort in einem Schützengraben in Flandern?

Ja, vielleicht hatte er es gar nicht mehr in Erinnerung gehabt, du tatst dies und tatst jenes, und stiegst in die Hölle hinab, um die Frucht des eigenen Körpers zur Welt zu bringen, nichts bedeutete das dem Kind, das aus der Gebärmutter kam, Männern schenktest du alle Herzensliebe, sie wrangen sie aus bis auf den letzten Tropfen, zärtlich, grässlich und lieb, und tief im Innern der Seele wussten sie doch, was auch immer sie dir vorspielten, es war ihnen ein Spiel, und das Leben, das wartete heraußen auf sie.

So lag sie da und hatte ihre Gedanken, und dann schüttelte sie sich ein bisschen – dass sie solche Dinge am Morgen nach der Hochzeitsnacht dachte, während sie die Hand hielt, die sie so noch nie gehalten hatte! Und im Licht, das aufging, schaute sie auf sein Gesicht, sein Haar lag hell auf dem Kissenrand, fast weiß, so hell, seine Haut elfenbeinweiß, sie sah seine Stirn, die sich im Traum umwölkte, und den Mund, eine gerade verlaufende Linie, sie hatte seinen Mund auch gern und sein Kinn, und seine Ohren, klein und dicht am Kopf liegend, ja, und die Hand, die er im Schlaf wieder fester um ihre geschlossen hatte – ach, mehr als das, du hattest ihn ganz und gar so gern, seine noch kaum vergangenen Küsse in der Nacht, diese Küsse und die zwinkernde Strenge in seinem Blick: Doch jetzt ab ins Bett, aber nicht um zu schlafen, will ich meinen! Sie hatte gelacht, nur noch ein klein wenig verschämt: Aber Robert, das ist ja schlimm, aus dem Mund des Pastors von Kinraddie!, und er hatte gesagt: Ach, Pastoren machen so was nicht? Da hatte sie ihm ins Gesicht geschaut, ganz kurz, und dann die Augen niedergeschlagen. Vielleicht, mal sehen. Und das hatten sie dann getan.

Sie räkelte sich in Erinnerung daran, unter der Bettdecke war es warm, und ihr eigener Körper fühlte sich sonderbar an, fremd und lebendig wie neu eingesegnet, und sie lächelte bei dem Gedanken, leiblich vereint war sie nun mit einem Pastor der Kirk! Eine komische Vorstellung war das, wenn sie es recht bedachte, sie hatte einen Pastor geheiratet, das hier war das Pfarrhaus, in dem sie die Herrin war – ach!, das Leben war ein Geflatter wie im Hühnerhaus am Abend, die Türen schlugen, du flattertest hierhin und dahin, wars dein Teil oben auf der Leiter zu sitzen oder auf dem Misthaufen draußen, das konntest du von einem Abend zum nächsten nicht wissen.

Sie stand auf und zog sich an, behände und rasch, und ohne einen Blick zurück, wenn Pastoren so gerne aßen wie sie liebten, dann würde Robert beim Aufwachen wohl hungrig sein. Unten in der Küche traf sie Else Queen an, der stand der Mund offen wie eine Stalltür, doch klappte sie ihn schnell zu, die neue Magd im Pfarrhaus, ein wackeres Mädel, und sie sagte Servus! Chris spürte das Blut bis in die Spitzen der Ohren, sie sah genau, was im Kopf des Trampels vorging. Ich bin für dich Mrs Colquohoun, Else, weißt du. Und du sei bloß hellwach früh am Morgen, sonst brauchen wir bald eine andere Magd hier im Pfarrhaus.

Else wurde fahl wie die Wand und machte den Mund zu. Ja, Gnäfrau, entschuldigen Sie, und Chris kam sich dumm vor, aber sie ließ es sich nicht anmerken, und solche Dinge mussten einfach so oder so klargestellt werden. Ich heiße nicht Gnäfrau, ich bin einfach Mrs Colquohoun. Setz das Wasser zum Kochen auf, dann machen wir Frühstück. Was für einen Herd haben wir denn hier?

So war das erledigt, und sie hatte keine Schwierigkeiten mehr mit der schweren Else Queen im Kinraddier Pfarrhaus, obwohl sie in der ganzen Pfarre darüber tratschten, dass Chris Tavendale, die neue Frau vom neuen Pastor, so hochnäsig geworden war, die Magd musste jedes Mal Gnäfrau krähen, wenn sie auf der Treppe einander begegneten, ein rechtes Hundeleben hatte die Else Queen, das arme Mädel, dort, da sah man mal wieder, was mit einer passiert, wenn sie ein paar Sprossen höher klimmt im Leben. Wer war sie denn schon, dass sie so fein tun konnte, die Tochter eines Häuslers, nichts sonst, und die Frau von einem Häusler, der im Krieg geblieben war. Jawohl, und wenn man seinen Mann liebgehabt hatte, dann heiratete man auch nicht so bald nach dem Tode des ersten den nächsten, das Pfarrhaus wars und das Silberzeug vom Herrn Pastor, das die neue Mrs Colquohoun im Sinn hatte.

Chris hörte diese Geschichten in den Wochen, die kamen und gingen, solang du in Kinraddie weiltest und solange üble Geschichten über dich erzählt wurden – und der musste wahrlich ein Engel im Menschengewand sein, über den solche nicht erzählt wurden, und sogar über einen solchen, fürwahr, hätten sie erzählt, dort unter dem Gewand, da wär was im Argen –, so lange neigten sich selbst die Bäume vornüber, um es dir zuzuhecheln, und die Kühe muhten die Kunde hinter jedem einzelnen Gatter hervor. Doch sie schenkte dem keine Beachtung, sie war heiter und froh, beglückt an ihrem Robert und seiner Nähe, und auch dem kleinen Ewan. Sie zu dritt beim Feuer, so saßen sie eines Abends, und der Sturmwind kam längs und quer über den heulenden Howe durch die Bäume gesaust und gebraust. Hinter dem Haus und den Hang hinauf hörte man die Hügel ächzen, Robert hob den Kopf und lachte, die zwinkernde Strenge blitzte in seinen tiefliegenden Augen: Die Füße des Herrn auf den Hügeln, Christine!

Ewan blickte auf, ruhig und mit durchdringendem Blick: Wer ist der Herr?, und Robert ließ sein dickes Buch sinken und schaute ins Feuer. Das ist eine schwere Frage, Ewan. Aber Etwas ist Er, und ganz gewiss ist Er uns Vater und Mutter und Ende und Anfang.

Ewan machte die Augen noch größer bei diesen Worten. Meine Mutter ist da, und mein Vater ist tot. Robert lachte und stieß den Stuhl zurück. Ein Skeptiker von Natur aus! Komm runter vom Stuhl, zu viele deiner Art hocken schon auf dem Hintern dort auf den Thronen der Mächtigen!

Dann krauchten die beiden zusammen auf dem Boden herum und knurrten und spielten Tiger und andere knurrige Tiere, Ewan hatte allen Ernst und alle Nüchternheit verloren, Robert war ärger als ein Kind, Chris saß da und schaute ihnen zu, ein Buch in der Hand, oder mit Strick- und Stopfzeug, Letzteres jedoch nur selten. Robert wurde ärgerlich, wenn er sah, dass sie dasaß und stopfte. Was vergeudest du dein Leben, wenn du bald im Grab liegen kannst? Für mich wirst du nicht fronen, mein Mädchen! Und sie darauf: Sind dir Löcher in den Socken lieber? Dann lachte er: Wenn sie Löcher haben, kaufen wir neue. Komm raus, stapfen wir eine Runde, der Sturm hat sich gelegt.

Und hinaus gings, der kleine Ewan lag im Bett, die Nacht war schwarz unter ihren Füßen wie kaltes Pech, umrauscht vom Heulen und Stöhnen der Bäume, bis sie das Pfarrhaus hinter sich gelassen hatten und am Gutshaus entlang bergauf stiegen, durch den Geruch nach Dung vom warmen Viehstall und nach den Holzfeuern in den Kaminen. Danach sahst du kaum noch was um dich herum, nur ihr beiden wart da im Aufstieg auf den Hügel im Dunkeln, bis der Wind euch in die Kehle fuhr, wenn ihr am gewölbten Rand des Hangs angelangt wart.

Rings um sie herum und trocken das Pfeifen des Ginsters, seltsame Gestalten, die sich erhoben und im Dunkel verflogen, dann blieb Robert stehen und machte sich an ihrem Kragen zu schaffen, dabei tat er so, als wollte er sie nur vor der Kälte bewahren. Doch sie kannte ihn nun gut genug und wusste, was er wollte, nämlich dass sie die Arme fest um seinen Hals legte und ihn umarmte, halb verschämt, sie war immer noch halb verschämt. Das hatte er ihr einmal gesagt, und Chris war empört da in seinen Armen liegend, einen Augenblick lang hatte sie ihn mit ihrem Mund berührt, heftig und in einem plötzlichen Feuer, das ihr aus dem Herzen gelodert war, tief aus der Zeit, bevor sie verheiratet war; ihm verschlug es den Atem, und sie hatte gelacht, Nennst du das verschämt? Dann hatte sie sich beinah geniert, aber sie war auch froh dabei, und sie schlief ein und schlief fest bis zum Morgen; sie wachten beide auf und schauten einander an, sie werde rot, sagte er, da verbarg sie ihr Gesicht und sagte, einer von ihnen beiden müsse närrisch sein.

Am schönsten von ihren Spaziergängen zur Nacht aber war ihr immer der erste erschienen, der sie hinauf in die Hügel führte, es war eine tosende Nacht gegen Ende Dezember. Schließlich gelangten sie auf den Hang von Blawearie, außer Atem blickten sie hinunter auf die windgebeutelten Mearns, die Lichter von Bervie glommen fern im Osten, Laurencekirk glosend wie verstreute Reisigfackeln, die verschwimmenden Sterne der Lichter von Segget, das waren die Lampen der Jutespinnereien. Lange blieben sie an der Stelle stehen und schauten hinab, Kinraddie lag dort unten glücklich im Schlaf, und Robert stand versunken und verträumt, wie es ihn oft ankam, gedankenverloren. Chris sagte nichts, durchfroren, doch zufrieden, nach einem Blick auf die Stille neben ihr. So sonderbar war es mit ihm hier auf dem Hang von Blawearie, das einst ihr Eigen war, wenn sie über den Kamm dort gingen, kämen sie an den See und die Aufrechten Steine, wo sie so oft Zuflucht gesucht hatte, Sicherheit, Mitgefühl, so oft, als sie noch eine Dirn war.

Sie roch den Wintergeruch der Erde und der Schafe, die jetzt auf Blawearie weideten, auf den Feldern, wo früher üppig das Getreide stand, das Ewan gesät und sie beide geerntet hatten, wo ihre Pferde gegrast hatten, die Kühe, ihr Vieh. Und sie gedachte der Nächte in den Jahren im Krieg, Nächte wie diese, wenn sie im Bett lag und sich die Zeiten vorstellte, die wiederkehren würden, wenn Ewan zurück sein und alles wieder so sein würde wie vorher, wie sie für den kleinen Ewan arbeiten und zusammen alt werden würden, Blawearie in ihrem Besitz, und sie beide glücklich bis ans Ende der Tage. Und jetzt stand sie neben einem Fremden, in dessen Bett sie schlief, er liebte sie, sie ihn, war seinem Geist näher, als sie jemals jenem gewesen war, dem in jenem Körper, der dort in Frankreich verwesend lag, still und reglos, der sich unter Küssen geregt hatte, der in ihren Armen und unter ihren Blicken regsam und froh gewesen war, der den peitschenden Schauer im Gesicht gespürt hatte, wenn er die steilen Gewannen von Blawearie pflügte und dann mit diesem Lächeln im Gesicht von der Arbeit geschritten kam, mit seinen unbeholfenen Händen und seiner scheuen Zunge, die mied, was seine Augen so heiter zu flüstern verstanden. Tot, still und stumm, nicht mal ein Körper mehr, Staub und Erde war er, mit dem sie gedacht hatte, ihr Leben und alle zukünftigen Tage zu verbringen.

In zehn Jahren von jetzt an – was könnte dann alles geschehen sein? Sie mochte auf diesem Hügel stehen, sie mochte in einem Grab verwesen, es würde keine Rolle spielen, die Welt würde sich weiter drehen; der junge Ewan mochte tot sein, wie sein Vater tot war, oder weit fort von hier, fern von Kinraddie: ach, einst, erinnerte sie sich, da hatte sie in diesen Feldern die Wahrheit gesehen, die einzige Wahrheit, die es gab, dass nur der Himmel und die Jahreszeiten blieben, im langsamen Wandel, das Heulen des Regens, das Pfeifen der Ginsterbüsche in einer Winternacht unter der schaukelnden Sichelschneide des Monds –

Und plötzlich, wie dösig, merkte sie, dass sie weinte, leise, sie meinte, es wäre nicht zu hören, doch Robert merkte es, und sein Arm legte sich um sie.

Wars wegen Ewan? Ach Chris, er wird mir deinetwegen nicht grollen!

Ewan? Es war die Zeit selbst, die sie gesehen hatte, die mit unstetem Tritt durch die Spuren geisterte, die sie hinterließen.

Doch der Frühling, der kam. Du schautest vom Pfarrhaus auf die Hügel, wie sie sich regten und veränderten, jeden Tag mehr, Schneematsch und Winterdunkel waren fast weg, das Grün spross rasch, und weit weg auf den Gipfeln wurde das Schimmern der weißen Schneehauben schwächer; Schwalben kreiselten um die Bäume am Pfarrhaus, und unten, von den Feldern des Herrenhauses, ließ sich das Klacken und Stoßen eines Traktors vernehmen, und hoch oben auf den Weiden von Upperhill stieg das Määh der Schafe empor, die sie nun auf Bridge End züchteten. Wenn diese ersten Frühlingstage kamen, dann hatte Chris das Gefühl, nur mit dem Haus und sonst nichts würde sie sich zu Tode langweilen, so ganz ohne Felder, Felder, die ihrer Hilfe harrten, Hilfe beim Säen, beim Ausbringen des Dungs, und die Kühe, die morgens auf die Weide geführt werden mussten, während die Hühner wie verrückt nach ihrem Futter gackerten, all das Gewusel und Gedränge, das auf dem Hof von Blawearie geherrscht hatte. Doch wenn sie jetzt auf das Land blickte, das so fremd war mit den Traktoren und den Schafen, dann kam sie fast eine Sehnsucht an, fortzugehen. Es war vorbei für sie, dieses Leben, das sie gehabt hatte, und jetzt war das ihr Leben: Bücher, ihr Robert, der kleine Ewan, den sie zu unterrichten hatte, und eine feine glatte Decke musste sie über den Tisch im Pfarrhaus breiten und sich in die kleine Kammer oben verziehen, um Roberts Socken zu stopfen, wenn er es nicht sah.

Er war stets unterwegs in Gemeindeangelegenheiten, dieser musste getraut, jener begraben werden, und er taufte die Seelen, die voller Hoffnung neu auf die Welt gekommen waren und ihrerseits Trauung und Begräbnis entgegengehen würden. Todmüde kam er zurück von eines Tages Arbeit. Chris hörte, wie er in der Diele seinen Stock hinwarf und rief: Else, lässt du mir bitte ein Bad ein! Und wegen dieser seltsamen, düsteren Stimmungen, in denen sie ihn gelegentlich angetroffen hatte, kam Chris ihm jetzt selten auf der Treppe entgegen, sie wartete, bis er sich umgekleidet hatte und wieder ihr Robert war, dann kam er zu ihr und erzählte ihr, was es Neues gab, und er schnappte sich Ewans Buch, das der Junge im Erker hockend hielt und las. Ein Musterknäblein! Ein Bücherwurm!, rief Robert aus, indem er das Buch in die fernste Ecke des Raumes schleuderte, und Ewan lächelte langsam und umdüstert, wie es seine Art war, und dann stieß er einen Schrei aus, und die beiden balgten eine Weile, während Chris nach unten ging und das Abendbrot richtete. Von diesem Zimmer aus sah man tagsüber ganz Kinraddie, und wenn es dunkel wurde, sah man alle Lichter von Kinraddie funkeln, Robert stieß einen tiefen Seufzer aus, wenn er sich hinsetzte, und wandte den Blick von Chris auf Kinraddie dort unten. Müde?, fragte sie. Herr im Himmel, und ob!, sagte er und lachte dann: Überall Blicke, von denen die Milch sauer werden könnte. Doch meine Aufgabe ist die Seelsorge, und ich werde für Seelen sorgen, bis die Kirche von Kinraddie so hohl ist wie ihr Kopf. Er wurde nachdenklich. Lange wirds nicht mehr dauern.

Fürwahr! Das stimmte wohl, und daran war nichts wunderlich, bei kaum einer Gemeinde in Mearns war es anders, der Krieg hatte den Leuten die Neigung zur Kirche verdorben, das wusste jeder Pastor. Warum zum Teufel sollte man seine Zeit in der Kirche verschwenden, wenn man jung war, man war nur einmal jung, unten in Dundon gab es das Kino, oder man ging irgendwo tanzen, oder sonst wohin, wo es Spaß gab, und man traf sich mit seinem Mädchen und musste sich ihre Klagen anhören, weil sie nicht auf den Ball in Fordoun ausgeführt wurde. Man schnalzte die Pferde an und grinste vor sich hin, wenn man den Pastor sah, wie er auf seinem Fahrrad vorbeisauste, mit fliegenden Rockschößen und seinem kleinen flachen Hut auf dem Kopf; und abends im Hüsselhus würde der eine oder andere Bursche nachmachen, wie er sprach und ging. Zum Teufel mit Pastoren und feinen Pinkeln dieser Art, die hielten zu den Großbauern, das wusste man schon.

Alle Bauern von Kinraddie waren jetzt Großbauern, doch sie hatten für Pastor Colquohoun und seine Sprüche genauso wenig übrig wie die im Hüsselhus. Wer wollte denn am Sabbattag hinauf in die Kirche gehen und sich in die Bank setzen, um beleidigt zu werden? Man ging zur Kirche, um mal eine Predigt über Paulus zu hören und das, was er den Korinthern geschrieben hatte, lauter Leute, die schon längst tot und unter der Erde waren. Doch der Pastor von Kinraddie der versuchte einen glauben zu machen, dass man selbst, geboren in Fordoun als Sohn braver Eltern, eine Art Korinther sei, der die Bedürftigen unterdrücke, und damit meinte er diese faulen Knochen, die Ackerknechte. Von wegen, so blöd war man wohl kaum, sich das gefallen zu lassen, da nahm man lieber die Frau mit auf eine Spritztour, über den Howe, zu ihrem Vetter in Brechin, der hatte ihr neues Auto noch nicht gesehen, oder man blieb einfach im warmen Bett liegen und frühstückte, las über all die Scheidungen in England, zum Teufel, die hatten es gut, diese englischen Lumpen! Da ließ man sich doch nicht den Kopf in der Kirche verdrehen, zum Teufel mit Pastoren wie dem Colquohoun, so einer hielt ja doch zu den Knechten, das wusste man schon.

Und Chris stand derweil im Chor und sang, und manchmal schaute sie auf das Blatt in ihrer Hand und dachte an die Tage, als sie in Blawearie an die Kirche nie auch nur gedacht hatte, so sehr hatte sie damit zu tun gehabt, das Leben zu leben, das jetzt war, und an das zukünftige Leben hatte sie keinen Gedanken verschwendet. Andere im Chor, die mal einen Gottesdienst ausgelassen hatten, wandten sich an sie mit so einem verlegenen Lächeln, Es tut mir so leid, Mrs Colquohoun, ich war zu spät dran, und Chris sagte dann, sie sollte sich deshalb nicht den Dassel zerbrechen, wenn sie es in Scots sagte, dann dachte die Frau, Ist das nicht ein vulgäres Frauenzimmer dort im Pfarrhaus, und wenn sie es auf Englisch sagte, würde es überall heißen, die Frau des Pastors käme sich wohl wie was Besonderes vor.

Robert bekam nur dreihundert Pfund als Jahresgehalt, als er das Chris gegenüber zum ersten Mal erwähnte, hielt sie es für sehr viel, und tief im Innern gab es ihr einen Stich, weil er so viel bekam, während die Leute draußen auf den Feldern, die doch all die Arbeit taten, die wirklich Arbeit war, nicht mal ein Drittel davon hatten, obwohl ihre Familien dreimal so groß waren. Doch bald stellte sie fest, dass ihr das Geld durch die Finger rann, das Hausmädchen musste unterhalten werden und sie selbst ja dazu, dann gab es diesen und jenen wohltätigen Zweck, von dem die Leute fanden, der Pastor solle ihn nicht nur unterstützen, sondern sich selbst seiner annehmen. Und sie lebten nicht im Überfluss, Robert hätte das letzte Hemd gegeben, jawohl, wenn Chris ihn nicht davon abgehalten hätte, und seine Jacke noch dazu. Wenn er von einem Häusler hörte, der in Not war oder krank, dann schob er sein altes Fahrrad heraus und sauste die Wege hinunter, die Bremsen waren alt und versagten manchmal, dann bremste er mit einem Fuß am Reifen, seine Gedanken waren weit weg, während er so durch das Schmuddelwetter rollte, dass er sich nicht das Genick brach, war schieres Glück. So war er nun mal, und das gefiel Chris an ihm, obwohl sie selbst nie auf diese Art und Weise geradelt wäre, genauso wenig wie sie von dem ollen Turm bei der Kirche gefallen wäre und dabei ins Glück vertraut hätte, auf den Füßen zu landen.

Jedenfalls gelangte er so – und wahrscheinlich ganz mit Schlamm bespritzt – an das Haus, wo der Mann krank lag, und er klopfte und rief: Na, bist daheim?, und trat ein. Und er setzte sich an das Bett des Kranken und erzählte ihm eine Geschichte, um ihn zum Lachen zu bringen, ohne je Gott zu erwähnen, außer, wenn er danach gefragt wurde, und das war selten genug, einer wurde ja nur rot, wenn man Gott erwähnte. Robert redete also von der Ernte und davon, wie teuer alles war, und er fragte: Wo ist deine Tochter jetzt in Stellung?, und sagte: Deine Frau sieht aber gut aus!, und: Ich muss jetzt los. Und wenn er dann ging, steckte er dem Kranken eine Pfundnote zu, der nahm sie und errötete, brummig, und sagte: Danke, und kaum war Robert raus, da sagte sie: Was ist schon ein Pfund? Von einem, der so viel verdient!

Chris wusste, dass sie so redeten. Else erzählte ihr davon, wenn sie zusammen in der Küche arbeiteten; Chris wusste auch, wie alle Kunde aus dem Pfarrhaus hinausgetragen und wie über jedes Ding berichtet wurde: über Ewan, ihren Sohn, wie er gekleidet war, was er sagte, und was sie sagten und was sie sangen und wie viel sie aßen und was sie wohl trinken mochten; wann sie ins Bett gingen und wann sie aufstanden, und wie der Pastor seine Frau küsste, ganz ohne Scham, vor den Augen des Dienstmädchens. O ja, Chris wusste das meiste, und den Rest konnte sie erraten, und Kinraddie wusste besser als sie, wie viel sie und Robert im Bett beieinander kuschelten, und sie hielten höhnisch Ausschau nach Anzeichen für einen Sohn … Und irgendwie, nur einmal, würdest du sie gern dafür hassen.

Du kanntest dich doch aus damit, es war dumm, sich zu ärgern, du konntest nicht ein Dienstmädchen nehmen und eine Heilige erwarten, erst recht kein Mädchen aus einer Häuslerkate, und Else war nicht schlimmer als manche andere. Mit der Zeit gewöhntest du dich also daran, du wusstest, dass jede Kleinigkeit, die du tatest – wenn du dich anders frisiertest oder Ewan ausschimpftest oder abends hinaufgingst, um ein anderes Kleid anzuziehen –, bald in ganz Kinraddie bekannt sein würde, je nach Geschmack noch mit anderen Einzelheiten ausstaffiert. Und wenn dir mal nicht gut war, was wahrhaftig alle Jubeljahre mal vorkam, dann wuchsen der Neuigkeit Flügel, und der ganze Howe wusste es: Was Kleines war unterwegs, alle wusste schon, wann, sie musterten dich genau, wenn du im Chor standest, und sahen, dass du doch ganz schön rundlich geworden warst in der letzten Woche, und ihnen wuchs der Tratsch auf den Kanten ihrer Zähne, und die schabten ihn zuschanden wie ein Hund seinen Knochen.

Doch Chris putzte und kochte neben Else Queen an ihrer Seite, und sie begann sie sogar zu mögen trotz ihrem Tratsch; seit diesem ersten Mal hatte sie keine Allüren mehr gezeigt, stattdessen war sie mehr als eifrig immer mit ihrem Gnäfrau!, Chris versuchte nicht einmal, es ihr auszureden, sie wusste gut genug, dass sie in vielerlei Hinsicht für Else eine große Enttäuschung war.

In anderen Häusern, wo ein Mädchen in Anstellung sein mochte, bei den geizigen Grundbesitzern hier und da auf dem Howe oder bei den Schnöseln von Stonehaven, die sich an der Armut stießen, da wäre die Herrin erpicht auf Neuigkeiten, würde hören wollen, was an diesem oder jenem Ort da draußen passierte, du hättest die Kunde ja ganz frisch von einem anderen Dienstmädchen. Doch Mrs Colquohoun, die hörte nur zu und nickte höchstens mal, irgendwie höflich, das schon, aber irgendwie wars nicht Fleisch nicht Fisch als Antwort. Am Anfang mochtest du als Dienstmädchen wohl meinen, die Frau wolle nur fein tun, ganz die Pastorenfrau, doch dann merktest du, dass es sie einfach nicht interessierte, das Heiraten und Sterben, das Küssen und Schmusen, die Schläge und Flüche, die Burschen, die verschwunden waren, und die Bauern, die pleite waren, und was dieser Häusler zu seiner Frau gesagt und was für Worte die Frau dem Häusler an den Dassel geworfen hatte. Das war ein ordentlicher Schock, das war doch nicht natürlich, du warst schon drauf und dran, zu kündigen und woanders in Stellung zu gehen, wo du nicht so allein wärst.

Und das hättest du wohl auch getan, wär da nicht Ewan gewesen, das Kerlchen, das aus ihrer ersten Ehe da war, so ein ganz ruhiger und lustiger, doch ein schlauer kleiner Kerl, manchmal kam er herunter und saß in der Küche und sah dir zu beim Kartoffelschälen fürs Mittagessen, und dabei erzählte er dir Dinge, die er in seinen Büchern gelesen hatte, und er fragte: Wie sieht denn eine jungfräuliche Prinzessin aus, Else, so wie – wie du?

Und als du gelacht und gesagt hast: Oh, die ist viel hübscher!, da hat er die Stirn gerunzelt: Das mein ich nicht, ist sie unter den Kleidern so wie du, mein ich?

Da bist du rot geworden, Ich glaub schon, hast du gesagt, und er schaute dich so stiekum an, als könnte er kein Wässerchen trüben. Das ist bestimmt sehr schön – so höflich war er, du wolltest ihn knuffeln und hast das auch gemacht, und er stand stockstill und ließ es geschehen, dann drehte er sich um und ging hinaus und schlug dann auf einmal über die Stränge, wie er es so an sich hatte, er pfiff, und wie ein Pferd polterte er die Treppe hinauf, machte einen Lärm und ein Getöse, dass man hätte taub werden können, aber trotzdem, war schon gut so, du mochtest ein Haus ja gern, wenn ein Kind dort spielte, bloß so ein verdammichter Lärm, das war auch nicht nötig.

So bliebst du also am Pfarrhaus, und der Sommer verging, und es gefiel dir immer besser, und manchmal hieltest du inne – beim Erzählen der einen oder anderen Begebenheit vom Pfarrhaus –, wenn du draußen unterwegs warst oder für einen Tag daheim –, und dann tat es dir plötzlich leid, dass du die Geschichte angefangen hattest. Dein Vater, der knurrte: Und dann? Was war dann?, und du sagtest: Ach, eigentlich nischte, und sahst dabei aus wie ein Dösel, und wer dir grad zuhörte, der war bitter enttäuscht. Aber dir machte es plötzlich was aus, wenn du an das Gesicht der Gnädigen Frau dachtest, oder an den jungen Ewan, so höflich, wie er war, und der fand, dass du schön aussahst, und auf einmal kam es dir nicht mehr anständig vor, über die Geschichten zu erzählen.

Und dann bist du im August so krank geworden, aber sie haben dich nicht zurück nach Haus geschickt, wie die meisten andern es getan hätten, weil die Familie für dich sorgen sollte. Meiner Treu!, hast du fast gedacht, wie die Gnäfrau selbst hereinkam und dir die Medizin verabreichte und die Kissen aufschüttelte und dir Frühstück brachte und Mittagessen und Abendbrot, und es schien ihr recht Spaß zu machen, die ganze Arbeit allein zu tun, du hörtest sie singen beim Wischen der Stiege, der Pastor selbst half ihr in der Küche, das hast du durch die angelehnte Tür gehört, und sie haben gelacht, wie die Frau ihn mit Wasser bespritzte, und dann das Trappeln von Füßen, als er ihr hinterherlief, um sich zu revanchieren. Als dann Mittagzeit war, kam der Pastor selbst mit dem Tablett herein, die Hemdsärmel hatte er aufgekrempelt, du bist ganz rot geworden und wolltest dein Nachthemd bedecken, aber er rief: Keine Gefahr, Else, brauchst nicht genant zu sein! Ich bin alt und verheiratet, auch wenn du hübsch genug bist.

Aber so was erzählte man draußen doch irgendwie nicht, die Leute würden dann sagen, dass er als Nächstes wohl bei dir gelegen hätte. Da warst du also im Bett und konntest dich fein ausruhen, aber dass sie dir grad so mit Büchern zusetzen mussten, lesen solltest du, und ganze Stapel haben sie dir ans Bett getragen, und sie selbst waren so eifrig dabei, es hat dich ordentlich krabitzig gemacht, sie lasen dir vor, die Frau oder der Pastor, manchmal beide zusammen, dabei hast du doch dein Leben lang für Bücher nichts übrig gehabt. Du konntest nie richtig reinfinden oder durch die langen Wörter durchfinden, etwas war immer da, das stand fest zwischen dir und dem Buch, da konntest du die Stirn runzeln, so viel du wolltest, und dich mit aller Kraft anstrengen. Und nach einer Minute legtest du das verflixte Buch wieder hin und hörtest lieber den Vögeln in den Bäumen zu, während der Abend kam und sie im Schlaf leise zirpten, und den Kühen, die auf den Weiden vom Herrenhaus muhten, und schautest durch das schwingende Sprossenfenster bis zum Schein des brennenden Ginsters auf den Hügeln und rochest – mit dem Körper ganz und gar – das Prickeln und Wogen des Erntelands. Und dann lagst du müde da, und halb im Schlaf fragtest du dich, was Charlie wohl an dem Abend machte, hatte er eine andere Dirn mit ins Kino genommen, oder saß er irgendwo am Feuer in einem Hüsselhus? Und würde er zu Besuch kommen, so, wie er geschrieben hatte?

Er kam, am Sonntag kam er, und die Frau selbst hat ihn heraufgeführt, da stand er mit der Mütze in der Hand und wurde rot, und du auch, aber die Frau nicht.

Setz dich nur hin und redet, ihr beiden, hat sie gesagt, gleich bring ich euch Tee. Und schon war sie draußen, und du dachtest bei dir, wie so oft, dass sie auf ihre eigene Art doch hübsch war, auf eine ernste, eigene Art, mit ihrem dunkelroten Haar und den vielen Locken und die Augen so hell und der Mund wie bei einem Mann, doch die Form war klarer als bei einem Mann; du starrtest die Tür noch an, als die Frau schon längst draußen war, bis Charlie flüsterte: Meinst du, sie kommt wieder? Nein du Döskopp, hast du gesagt und ihn angeguckt ohne ein Wort, und mau wie eine Sau hat er sich umgeschaut und dich dann in die Arme genommen, und das war wohl schön, und du hättest gern eine Weile in seinen Armen geweint, denn du warst krank und schwach und nicht ganz bei Koppe. Das sagtest du zu dir selbst und schobst ihn weg, und er strich sich die Haare glatt und sagte: Du hast recht, mein Schatz, und du sagtest: Heul nicht, und er sagte: Das tu ich doch gar nicht.

Die Frau und Ewan brachten den Tee, und dann ließen sie euch beide so lang allein, ihr hättet in der Zeit fein wie Mann und Frau beieinander liegen können, und ganz kurz kam dir das sogar in den Sinn. Und du hast Charlie angeschaut, der so brav dasaß und von seiner Anstellung erzählte und der schweren Arbeit, die er dort hatte, Unanständiges kam ihm so wenig in den Sinn, wie einen Ländler zu tanzen. Wie ein Dösel warst du darüber nicht so richtig froh, natürlich wolltest du in Wirklichkeit nicht, dass etwas passierte, aber mindestens hätte er doch zeigen können, dass er es gern hätte, das war doch nur in der Natur eines Mannes, so was zu wollen, erst recht, wenn eine so hübsch aussah, wie er immer sagte. Deshalb wurdest du am Schluss ein bisschen maulig zu ihm, und er verabschiedete sich, und die Frau kam hinauf. Und auf einmal kamst du dir ganz und gar wie ein Dösel vor, du hast geweint und geweint, während sie dich im Arm hielt, ganz aufgehoben hast du dich da gefühlt und schläfrig und erschöpft. Alles ist gut, Else, hat sie gesagt, schlaf nur, alles wird gut. Du bist jetzt müde, du hast so lange mit deinem Burschen erzählt.

Aber ihrem Gesicht konntest du ansehn, dass sie mehr wusste als das, sie wusste das, was du bloß gedacht hattest, und als sie am Abend aus deinem Zimmer ging, da hast du dir gesagt: Wenn ich je wieder einen über die Colquohouns übel reden höre, dann … dann … – und bevor du noch wusstest, ob du ihnen ein blaues Auge oder einen schlechten Ruf verpassen solltest, warst du schon eingeschlafen.

Manchmal überfiel Robert eine düstere, seltsame Laune, er schloss sich stundenlang in seinem Zimmer ein, hasste Gott und Chris und sich selbst und alle Menschen, wusste, dass sein Glaube nichts anderes war als ein Wahntraum, und er sah das Grinsen des Totenschädels mit den leeren Augenhöhlen, das hinter allem Leben lauert. Wenn er auf der Treppe Chris begegnete, ging er mit kaltem, fernem Blick und verzerrtem Gesicht an ihr vorbei oder fuhr sie an in einer Stimme, die scharf wie ein Messer schnitt: Kannst du mich nicht in Ruhe lassen, musst du immer hinter mir herkommen?

Als es zum ersten Mal passierte, blieb ihr das Herz fast stehen, wie benommen vor Verblüffung fuhr sie in ihrer Arbeit fort. Doch Robert fand aus der Laune heraus und kam zu ihr, traurig und bedauernd, wegen der fremden schwarzen Bestie, die ihn in diesen unheimlichen Stunden ritt. Es sei eine körperliche Erinnerung, nichts weiter, und Chris solle sich keine Sorgen machen; sie hörte von ihm, dass er gegen Ende des Krieges dem schrecklichen Gas ausgesetzt gewesen war, das man hergestellt hatte, und Monate waren vergangen, bis er wieder richtig atmen konnte und die Schwaden dieser wogenden Angst vergangen waren. Aber manchmal kehrten die Schatten dieser Zeit zurück, obwohl es seinen Lungen jetzt gut ging, da war er sicher, doch wars in diesen Monaten seiner Qual gewesen, da hatte er gewusst, da hatte er mit einer Überzeugung, die scharf und schrecklich war wie dieser Schmerz, geglaubt, es gebe einen Gott, der lebte und erduldete, der Gequälte Gott in den Seelen der Menschen. Welcher auch weiterhin die Stadt Gottes durch Herz und Hand der Menschen guten Glaubens würde erbauen können.

Doch Chris merkte auch, dass es Robert nicht gut tat hier, wo er nie etwas, weder im Guten noch im Schlechten, würde bewirken können, in einem Landstrich, der dabei war zu sterben oder schon gestorben war. Eines Abends sah er Chris an und sagte: Herr Gott! Von dir abgesehen, Christine, war ich ein Trottel, hierherzukommen. Ich will mich um eine Pastorenstelle an einem anderen Ort bemühen, in den Städten gibt es genug zu tun. Er überlegte eine Weile, den blonden Kopf in die Hand gestützt. Würde dir eine Stadt gefallen?

Aber ja, sagte Chris und lächelte zustimmend, doch sie biss sich dabei auf die Unterlippe, und er sah es und wusste Bescheid. Na gut, dann keine Stadt. Ich versuch etwas dazwischen zu finden.

Und das tat er, als noch kein Monat um war, aus Segget kam die Nachricht, der Pastor sei gestorben. Robert kam mit der Neuigkeit nach Hause. Da werde ich mich bewerben. Segget?, sagte Chris, und Robert sagte Ja, und Chris sagte ihm den kleinen Vers auf, von dem es hieß, jemand in Segget habe ihn geschrieben.

Oh, Segget ist ein Sudelsumpf,

Nicht mal ein Turm an der Kirche,

Vor jeder Tür liegt Mist herum,

Die Leute grob wie Viecher.

Robert lachte. Wir werden schon dafür sorgen, dass sie höflich und sauber werden!, und Chris sagte: Aber du hast die Kirche doch noch gar nicht, und Robert sagte: Wart ab, bald hab ich sie.

Drei Sonntage drauf machten sie sich auf den Weg nach Segget, Robert, um zu predigen, Chris, um zuzuhören, es war April, still und braun lagen die Felder, schlummernd unter einer Decke aus Dunst, die sich auflöste, als die Sonne hervorkam und sich zu dünnen fiedrigen Wolkenkränzchen um die Hügel formte. Chris fragte nach dem Namen der Wolken, und Robert sagte: Cirrus. Sie bringen Schönwetter, und sie ziehen nicht. Auf den Höhen ist heute kaum Wind.

Auf ihrem Fahrrad fühlte sich Chris plötzlich so jung, seit Jahren hatte sie sich nicht so jung gefühlt, Robert auf seinem schrecklichen Rad machte einen Lärm wie eine Dreschmaschine, Hunde kamen hier und da aus den Höfen der Katen geschossen, doch Robert strampelte weiter und schenkte ihnen keine Beachtung, sicher war er so in seine Predigt vertieft. Aber einmal drehte er sich um: Fahr ich zu schnell?, und Chris sagte: Schnell? Es ist eher wie ein Trauermarsch!, und da tauchte er aus den Tiefen seiner Gedanken auf und lachte. Ach Chris, werd bloß nie anders und englisch-höflich! Nicht mal in Segget, wenn wir dort ins Pfarrhaus ziehen!

Und dann plötzlich, kurze Zeit darauf, sie hatten grade Mondynes hinter sich und konnten Segget schon sehen: Weißt du noch, wie Christus vom Teufel versucht wurde? So ging es mir auch, bis du eben etwas gesagt hast. Ich war fest entschlossen, ihnen mit meiner Predigt Honig um den Bart zu schmieren, bloß um aus Kinraddie wegzukommen, nach Segget ziehen zu können und dort mit meiner Arbeit etwas zu bewirken. Aber das werd ich jetzt nicht tun. Beim Himmel, die werden eine Predigt von mir kriegen!