Winterwassertief - Lilly Lindner - E-Book

Winterwassertief E-Book

Lilly Lindner

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Beschreibung

Mit sechs wiederholt vergewaltigt, mit 13 an Magersucht erkrankt, mit 21 ausgerechnet in einem Bordell Zuflucht gesucht: Lilly Lindners wortgewaltige Autobiographie "Splitterfasernackt" nahm unzähligen Menschen den Atem. In "Winterwassertief" erzählt sie, was danach kam: Von der Schwierigkeit, mit ihrer nackten Geschichte plötzlich in der Öffentlichkeit zu stehen, von der Ambivalenz ihrer eigenen Gefühle – aber auch von den berührenden Begegnungen, die sie seit dem Erscheinen von "Splitterfasernackt" hatte: mit Menschen, die ähnliche Schicksale haben wie sie, die sich ihr anvertrauen und denen sie mit ihren Worten helfen konnte. Für Lilly Lindner wurde der Schritt in die Öffentlichkeit zur Zerreißprobe. Am Ende ist sie daran gewachsen und schöpft heute Kraft daraus, für andere da zu sein, zuzuhören und Mut zu machen. »Verletzlich und zart im Ton.« Fokus »Beeindruckend.« Petra

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Seitenzahl: 317

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Lilly Lindner

Winterwassertief

Knaur e-books

Über dieses Buch

Mit sechs wiederholt vergewaltigt, mit 13 an Magersucht erkrankt, mit 21 ausgerechnet in einem Bordell Zuflucht gesucht: Lilly Lindners wortgewaltige Autobiografie Splitterfasernackt nahm unzähligen Menschen den Atem. In Winterwassertief erzählt sie, was danach kam: von der Schwierigkeit, mit ihrer nackten Geschichte plötzlich in der Öffentlichkeit zu stehen. Aber auch von den berührenden Begegnungen: mit Menschen, die ähnliche Schicksale haben wie sie und denen sie mit ihren Worten neuen Mut geben konnte.

Inhaltsübersicht

WidmungMottoPrologWas ist Glück?WortgewandChaseEinmal im Leben will [...]HerbstBreathing underwaterZeitEntfernungenDie Minuten schlagen dich,MünchenWie zögerlich sie ihre [...]SchattenSpaltungenVerlagDu kannst sie flüstern [...]EchoI never meant to [...]FehlerLiteraturWorteUnantastbarAbgeschiedenheit ist ein Mahnmal,SchönheitLebkuchenWahrheitIch verliere mich im [...]VereintAchtsamkeitSiehst du den Frühling? [...]WortgrundlageAugenblickeGezeitenAustralienKein Tag, der nicht [...]Standbilder»Ana?«, flüstere ich. »Bist [...]NachrufSchadenSchnittmusterKinderheimIn this silence can [...]VerantwortungFluchtPiratenLautlos die Berge am [...]UnterwegsDu stehst in meinem [...]WellenWerden wir verweilen?SplitterfasernacktSterben. Leben.Was die Zeit nicht [...]BestehenWunderwesenResignationSie halten dein unbedecktes [...]StilleUnd wenn es regnet. [...]DaseinSo weit unten.Bevor ich falleAbschiedNichts ist realer als [...]BuchmesseSchriftstellerFallbeispielDu versuchst zu erzählen, [...]MeerVerfassungDu weißt nicht, wie [...]AngstEines Tages wirst du [...]WortgewaltStraight to the point: [...]WirThere you are – waiting [...]SplitterFlüsternGeheimnisseRaum ist Zeit. Und [...]AntwortenInterpretationsfreiraumProstitutionAufeinanderzugehenIch lag in dem [...]AnfangWintermädchenHeimspielCourageEs ist eine Geste [...]Lesungen ILesungen IILesungen IIILesungen IVLesungen VLesungen VILesungen VIILesungen VIIIDamalsDie erste Vergewaltigung, damals [...]GrenzenWinterKrokodileDie Stille kennt deinen [...]GlückWinterwassertiefUnd da stehst du [...]EndspielEpilogYou will be, you [...]Danksagung
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unrape me

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Vielleicht stehst du da und fragst mich, wo ich gewesen sei,

vielleicht beißt du dir auf die Lippe, bis du mein Blut schmeckst.

Vielleicht weinst du zum Abschied,

vielleicht lachst du dem Ende entgegen.

Vielleicht läufst du davon, vor meinen weißen Gebeinen,

vielleicht stolperst du, über mein nacktes Gesicht.

Vielleicht ist all das.

Die Wahrheit.

 

Und die Zeit dazwischen

ist eigentlich gar nicht hier.

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Prolog

Am Abend vor Chase’ erstem Tag in der Schule saßen wir gemeinsam auf seinem bunten Spielteppich und taten so, als wäre alles wie immer. Ich schob Eisenbahnwaggons durch die Gegend, und Chase belud sie mit einem Gabelstapler. Dann schob ich sie in eine andere Gegend, und Chase entlud sie mit einem anderen Gabelstapler. Es war eines der besten Spiele, die ich kannte, weil Chase’ Spielzimmer so groß war, dass es ziemlich viele Stationen gab, und außerdem hatte er mehr Waggons, als ich zählen konnte. Und obwohl ich erst drei Jahre alt war, konnte ich schon ziemlich gut zählen, was wohl hauptsächlich daran lag, dass Chase seit meinem ersten Tag im Kindergarten mein bester Freund war und ich dementsprechend möglichst schnell laufen, sprechen und denken lernen musste, um wenigstens halbwegs mit ihm mithalten zu können.

Nachdem wir unsere vierte Verladestation erreicht hatten, ging die Tür auf, und Chase’ Mutter kam mit zwei Tassen heißem Marshmallow-Kakao zu uns herein. Sie strich mir über mein Haar, wie sie es so oft tat, weil sie das bei Chase nicht mehr machen durfte, seit er vier war, und warf anschließend einen stolzen Blick auf den blauen Schulrucksack, der neben dem Bett bereitstand. Chase wollte keinen Schulranzen wie die anderen Erstklässler tragen, er hatte ganz entsetzt geguckt, als seine Mutter ihn danach gefragt hatte.

»Ich brauche keinen Plastikkasten mit Trennfächern, um Ordnung zu halten. Mir reicht ein Rucksack!«, hatte Chase sich beschwert, obwohl seine Mutter ihm vorgeschlagen hatte, den schönsten und größten von allen zu kaufen.

Und nun hatte er also einen blauen Rucksack und eine blaue Federmappe und einen blauen Radiergummi und war damit ziemlich zufrieden, wobei ihm die Farbe eigentlich egal war, weil er alle Farben mochte.

»Freust du dich schon auf morgen?«, hat Chase’ Mutter aufgeregt gefragt, während sie uns die dampfenden Becher und einen kleinen Teller voll mit Keksen auf dem Fußboden zurechtstellte.

»Ja, ja«, hat Chase beiläufig geantwortet und zwei Container von einem der Waggons geladen. »Aber ich glaube nicht, dass es ein guter Ort für mich sein wird.«

»Jeder Ort, an dem du bist, ist ein guter Ort«, hat Chase’ Mutter daraufhin lächelnd erwidert und ihm einen Kuss auf die Wange gegeben. »Ich wecke dich morgen früh mit Blaubeerpfannkuchen, du wirst sehen, mein Schatz, es wird ein wunderschöner Tag.«

»Ich weiß«, hat Chase gesagt und sich ihren Kuss mit dem Handrücken weggewischt, so wie er es immer tat. »Meine Tage sind meistens schön, nur manchmal etwas langweilig. Und du brauchst mich morgen übrigens nicht zur Schule zu bringen, ich finde den Weg alleine.«

»Aber Chase, alle Eltern bringen ihre Kinder am ersten Tag in die Schule«, hat seine Mutter erschrocken erwidert.

»Du warst doch heute bei der Einschulung – das war der erste Tag«, hat Chase daraufhin entgegnet. »Morgen ist nur ein anderer erster Tag, und du wirst nicht bei allen ersten Tagen in meinem Leben dabei sein können. Außerdem weiß ich, wie man über die Straße geht, ohne dabei überfahren zu werden, das hast du mir beigebracht, weißt du noch? Wir wohnen drei Blocks von der Schule entfernt. Ich gehe nicht verloren.«

Da hat Chase’ Mutter geseufzt und sich eine Haarsträhne aus ihrem hübschen Gesicht gestrichen.

»Du wirst so schnell erwachsen«, hat sie schließlich mehr zu sich selbst als zu Chase gesagt.

Dann hat sie uns noch eine Weile dabei zugesehen, wie wir die Eisenbahn von einer Gegend in die andere schoben und zwischendurch Marshmallows aus unseren heißen Kakaos angelten.

Sie hat gelächelt.

Gedankenversunken, aber nicht allzu tief.

Ja. Damals dachte ich, sie wäre glücklich, weil Chase einer der klügsten Jungen auf der Welt war und sich schon mit sechs Jahren ganz alleine Geschichten vorlesen konnte und niemanden brauchte, der ihn ins Bett brachte. Aber jetzt, im Rückblick, finde ich, dass sie traurig ausgesehen hat an diesem Abend, als ob sie weinen wollte. Und ich denke, vielleicht ist das so, wenn man dabei zusehen muss, wie ein Gehirn zu schnell für eine kleine Seele heranwächst.

Denn es ist schön, Intelligenz zu besitzen.

Aber es ist schwer, sie zu verwalten.

 

Und heute, über zwanzig Jahre später, an diesem Tag, an dem ich bei Chase im Wohnzimmer stehe und mich umsehe, zwischen all den lautlosen Splittern, frage ich mich, wie es wohl hätte sein können, wenn alles anders gewesen wäre. Wenn ich mit sechs Jahren nicht von meinem Nachbarn vergewaltigt worden wäre und mit siebzehn nicht von all diesen fremden Männern entführt, wenn ich nicht losgerannt wäre, um im Bordell abzutauchen und unter Wasser wieder auf.

Aber was bringt es, zu zweifeln, an einer Geschichte, die längst durch die Zeit bestätigt worden ist? Was bringt es, die Schnitte auf seinem Arm zu zählen, wenn man immer noch Rasierklingen zu Hause hat? Und dort, auf dem Sofa neben Chase, ist ein Platz, der mir gehört. Ich lasse mich fallen, lehne meinen Kopf an seine Schulter und sage: »Du und ich, wir hatten in diesem Jahr schon zweiundachtzig Lesungen. Das ist mehr als doppelt so viel, wie ich wiege.«

»Ach, Lilly«, meint Chase und lässt das Drehbuch, in dem er gerade gelesen hat, auf den Couchtisch fallen. »Die Gegenwart sollte mehr wiegen als die Vergangenheit.«

Dann zieht er mich so dicht an sich heran, dass ich keine Luft mehr bekomme.

»Au«, sage ich. »Du zerdrückst meine Hüfte.«

Chase seufzt und verknotet mich irgendwie anders zwischen seinen viel zu großen Armen, die mir Angst machen, immer wieder, auch wenn er mir noch so oft erzählt, dass sie da seien, um mich zu beschützen. Aber so ist das mit Kondomen schließlich auch, bis sie reißen.

»Autsch«, sage ich.

»Was denn jetzt?!«, knurrt Chase.

»Meine Rippen tun weh«, erkläre ich und versuche mich freizustrampeln.

»Lilly, du trittst mich«, sagt Chase.

»Entschuldigung«, sage ich und trete weiter.

»Himmel!«, meint Chase. »Wenn du mich noch einmal trittst, habe ich Sex mit dir bis zum Morgengrauen.«

Da halte ich totenstill und die Luft an.

»Ach, mein Herz«, murmelt Chase und vergräbt seinen Kopf in meinem Nacken. »Wann wirst du endlich begreifen, dass diese Zeiten vorbei sind. Du bist frei. Dein Körper gehört dir. Du entscheidest, wann und wie und wo und wie lange.«

»Oder überhaupt nicht«, sage ich.

»Auch das«, bestätigt Chase, »ist ein Recht, das dir gehört.«

»Und was ist mit dir?«, will ich wissen.

»Ich kann warten«, meint Chase.

»Für immer?«, hake ich nach.

»Für im Meer«, murmelt Chase. »Das weißt du doch – all die Gezeiten, die Tiefen, die Wellen, die hungrigen Haie, die verteerten Robben, die Bohrinseln. Alles das. Und du.«

»Bist du dir sicher?«, will ich wissen.

»Herrgott, Lilly! Was meinst du, warum ich seit einem Jahr mit dir durch Deutschland toure, von einer Schule zur nächsten? Meinst du etwa, es macht mich glücklich, an diesen bildungsverseuchten Unheilstätten abzuhängen und Literatur zu verbreiten, unter linguistisch verkümmerten Xboxfreaks, die Kafka für eine moderne Art zu kiffen halten? Nein, verdammt! Ich stehe dort an deiner Seite, weil es keinen besseren Standpunkt gibt, den ich vertreten könnte. Und ja, ich liebe es, dich aufzufangen, wenn du von Tischen springst und fällst und stolperst. Denn ich weiß, was es bedeutet, dabei sein zu dürfen, wenn du dem Schweigen widersprichst.«

»Also bin ich dein Mädchen?«, frage ich.

»Du bist meine Frau«, erwidert Chase.

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Was ist Glück?

Abzüglich Verstand.

Immer noch Glück?

Oder nichts weiter.

Als belangloses Treiben.

Davontreiben.

Im Nachspiel.

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Wortgewand

Im Spätsommer 2010 wollte ich sterben. Nicht wirklich, aber genug, um meinen vorläufig erreichten Lebensumfang in sinnvoll genutzte Zeitabschnitte umzurechnen. Es war erschreckend, wie wenig unterm Strich übrig bleibt, wenn man auf dem Strich gestanden hat.

Also habe ich meine Worte genommen und sie zusammengefügt, als wären sie ich. Als könnte ich mich auf diese Art wieder zusammenpuzzeln. Ich habe geschrieben und geschrieben, bis ich leerzeichenbesessen und buchstabenverwandt war.

Ich wusste: Worte sind zum Sätzemachen da.

Und wenn man keine Stimme hat.

Dann nimmt man eben Papier.

 

Anschließend lagen die Worte auf meinem zweifelhaften Untergrund. Ich wollte sie gerne wieder loswerden, aber ich wusste nicht, wie. Doch da ich wusste, dass ich sowieso nur noch ein paar Monate leben würde, dachte ich, es wäre klug, meine Geschichte irgendwem anzuvertrauen, damit ich mich nicht zu Tode schweigen muss.

Ich habe kurz darüber nachgegrübelt.

Und dann noch etwas länger.

Nach einer Woche ist mir schwindlig geworden, das lag wohl daran, dass ich Essen und Nachdenken nicht miteinander verbinden konnte. Jedenfalls bin ich umgekippt und auf meinem blutverschmierten Fußboden wieder aufgewacht.

Mein Kopf hat weh getan.

Er hat geknirscht wie ein kaputtes Triebwerk.

Aber auf einmal war alles gut, ich musste sogar lächeln, denn mir ist klargeworden, dass es dauert, bis ein Buch erscheint. Ungefähr ein Jahr.

Ein ganzes Jahr.

So viel Zeit.

Hatte ich ganz bestimmt nicht mehr.

Also würde ich sowieso nicht dabei sein müssen – im kreischenden Wortgeschehen, im hinterfragten Satzverlauf, im hässlichen Nachhall, im interpretierten Buchstabentakt.

Ich wäre auf und davon.

Gekommen.

Ja. So einfach sind todesnahe Gedankengänge. Sie machen keine großen Umwege und steuern direkt ins Ziel. Also habe ich aufgehört zu denken und die ersten achtzig Seiten meines Manuskripts an einen Literaturagenten geschickt.

 

Eine Woche später saß ich in seinem Büro und hätte einiges dafür gegeben, woanders zu sein. Eigentlich wollte ich aufspringen und wegrennen, aber gleichzeitig wollte ich auch nicht als tragische Ansammlung verschwendeter Hautfetzen enden.

Also bin ich geblieben.

Und habe gelächelt, als wäre alles okay.

Das mache ich schon mein ganzes Leben lang; ich kenne den Text der unzweifelhaften Glückseligkeit längst in- und auswendig. Und wer würde schon mein bezauberndes Lächeln hinterfragen?

Niemand.

Der nicht die richtige Antwort weiß.

Und der Wortagent wusste nur, dass ich Buchstaben auf Papier häufen kann, bis das Blatt voll ist. Außerdem hat er wahrscheinlich geahnt, dass ich mehr Schwachsinn angestellt habe, als in ein Buch passt. Aber er hat trotzdem nichts Unfreundliches zu mir gesagt.

Er war so diskret, dass ich unsicher geworden bin. Normalerweise musste ich mit allen Männern schlafen, die ich besucht habe, aber der Literaturagent wollte nur den Rest meines Manuskripts haben. Und weil in seinen Augen geschrieben stand, dass er an erster Stelle die Menschlichkeit vertritt und sich erst dann Gedanken über den dazugehörigen Papierkram des paragrafeninfizierten Marketing-Zeitalters macht, habe ich ihm meine Worte gegeben.

Damals wusste ich noch nicht, dass er derjenige sein wird, der mich einbindet.

In ein Buch.

Und in das Leben.

 

Anschließend bin ich wieder nach Hause gegangen und habe mich unter mein Bett gelegt. Ich hatte noch nie zuvor meine Geschichte aus den Händen gegeben, ich hatte noch nie ein Wort über meine Entführung verraten, und nun hatte ich schreckliche Angst davor, dass der Literaturagent anrufen würde, um zu sagen: »Es tut mir leid, aber eine derartige Aneinanderreihung gestörter Verhaltensweisen und sexuell bedenklicher Verfehlungen will kein Mensch lesen.«

Doch als ich zwei Tage später wieder in seinem Büro saß und versucht habe, mich hinter einem der roten Sofakissen zu verstecken, hat er mir nur ein paar Kürzungsvorschläge gemacht, weil mein Manuskript deutlich mehr Umfang hatte als ich, und dann hat er mir noch einen Haufen Kommata dazugeschenkt und mich wieder nach Hause gehen lassen. Ganz ohne mich zu vergewaltigen.

Ja. So etwas fällt mir jedes Mal auf.

Wenn ich die Räume eines Mannes betrete.

Und davonkomme.

Ohne Sex.

 

Ich habe meine neunhundert Seiten genommen und angefangen zu kürzen, ein paar Sätze zu verschieben, ein paar Absätze auszuweiten, die Lücken zu füllen und aus meinem zerhackten Leben und den schnell dahingeschriebenen Passagen ein richtiges Manuskript zu basteln. Fünf Tage später war ich fertig und der Agent geschockt.

Das hat er mir natürlich nicht verraten.

Wir kannten uns schließlich kaum.

Erst viel später hat er zu mir gesagt: »Weißt du, Lilly, manchmal bist du etwas zu schnell für dein verwirrtes Umfeld.«

»Warum?«, habe ich gefragt. »Bin ich ein nackter Wortsturm?«

»Eher ein sanftes Wortgewitter«, hat der Agent lächelnd erwidert.

Aber das war, nachdem wir Freunde geworden sind.

Zuerst waren wir nur eine Wortgemeinschaft.

Und so hat der Agent noch die letzten vergessenen Kommata eingefügt, dreieinhalb Männer aus meinem Leben gestrichen und mein Manuskript schließlich auf eine Sprachreise geschickt. Eine ziemlich kurze Reise, um genau zu sein, denn fünf Wochen nachdem ich zum ersten Mal bei meinem Agenten gewesen bin, haben sich schon die ersten Verlagswesen ins Flugzeug gesetzt und wollten mich kennenlernen. Da wusste ich, dass man mit den richtigen Worten Menschen in die Luft befördern kann, auch wenn sie noch so bodenständig sind.

Aber dann kamen die Fragen.

Und die Fragen.

Und Ana.

Ana kam auch.

 

Die erste Frage, die mir gestellt wurde, war, wer denn mein Ghostwriter sei. Dabei war ich ganz offensichtlich das einzige leichenblasse Gespenst im Raum. Aber keiner konnte mich sehen, ich war nur ein Ausstellungsstück im Wortmuseum. Und sogar dort war ich fehl am Platz. Denn ich sah zu jung aus zum Schreiben, kein Mensch hätte mir einen Stift anvertraut in dem Glauben, dass ich etwas damit anfangen könnte, geschweige denn Literatur erschaffen. Richtige Schriftsteller sind erwachsen und strahlen Wortweisheit und Satzruhe aus. Ich hingegen sah mit vierundzwanzig immer noch aus wie sechzehn und wurde ständig gefragt, in welche Klasse ich gehe und ob Menschen aus meiner Generation überhaupt wüssten, wie ein Buch funktioniert.

Dabei braucht man es nur aufzuklappen.

Und abzuwarten, was passiert.

Das kriegt jeder hin.

Die zweite Frage, und ganz nebenbei bemerkt, die Lieblingsfrage aller Verleger, Wortvertreter und Pressewesen, lautete natürlich: »Warum hast du dieses Buch geschrieben?«

Dabei steht die Antwort in jedem noch so fiktiven Buch. Man muss nur genau hingucken, dann findet man die flüsternden Worte, die beschriebenen Leerzeichen, die viel zu weiten Absätze. Keine Geschichte wird aus Versehen geschrieben. Aber Verleger sind auf den ersten Blick zielgruppenorientierte und satzgebundene Buchstabenbürokraten, die mehr als ein undefinierbares Wortspiel brauchen. Und während all diese Verlagswesen mich angestarrt haben, als wüssten sie nicht, dass ich unsichtbar bin, habe ich gesagt: »Ich wollte ausdrücken, wie es sich anfühlt, abseits von seinem Körper in fremden Vorgärten zu stehen und zu beobachten, wie die Zeit davonrennt. Ich wollte von Schönheit schreiben, von Glück, von der lautesten Stille, von der hässlichsten Berührung. Ich wollte meine sanftmütigen Gefühle direkt neben meine eiskalte Ausdruckslosigkeit stellen, und erzählen, von einem Schmerz, der so groß ist, dass man ihn sich in die Haut schneiden muss, um zu begreifen, wie real er ist. Ich wollte erklären, was es bedeutet, sich Ana zu nennen, obwohl man ganz genau weiß, dass Magersucht kein passender Name für ein Dasein ist, eher für ein Wegsein. Ich wollte, dass jemand meine Worte liest und einen Moment lang verharrt, in diesem Bild, das ich von mir gezeichnet habe, auch wenn ich mich nicht sehen kann.«

Dann habe ich gar nichts mehr gesagt und mich stattdessen gefragt.

Wie viel Liter Worte man braucht.

Für fließende Literatur.

 

Eine Woche später hat mir der erste Verlag ein Angebot für die Publizierung meines Buches gemacht, und ich hatte weitere Einladungen in die großen Literaturfabrikhäuser. Es war absurd, auf einmal wollten alle mein Leben lesen.

Auf einmal war ich ein Wortwesen.

Ich.

Das Satzgerippe.

Auf einmal haben alle gesagt: »Was für ein Text!« Dabei hätten sie auch das Offensichtlichere sagen können: »Mein Gott! Was hast du bloß für einen hirnlosen Mist gemacht? Wie konntest du dir das antun? Das Leben ist viel zu kurz, um vorher zu sterben.«

Aber keiner hat gebrüllt.

Und Sex wollte auch keiner.

Ich musste mit keinem Lektor, keinem Grafiker, keinem Programmleiter und keinem einzigen Verlagschef schlafen. Es war wie im Himmel. Beinahe hätte ich vergessen, dass Sex überhaupt existiert. Wenn da nicht mein dämliches Manuskript gewesen wäre.

Und obwohl ich mich gefreut habe, obwohl mir so langsam klargeworden ist, dass meine zerknickten Sätze demnächst zwischen zwei mehr oder weniger stabilen Buchdeckeln landen würden, habe ich panische Angst bekommen. Denn irgendwie war ich mir nicht ganz sicher, ob ich im Vergleich zu einem richtigen Schriftsteller überhaupt wusste, wie ein Wort aussieht.

Und wo der Unterschied liegt, zwischen mir und einem Fehler. Und einem noch größeren Fehler.

Das wusste ich auch nicht.

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Chase

Die Nächte sind zu dunkel, um einzuschlafen. Aber Chase stört das nicht. Er kann immer schlafen, tagsüber und nachts, und in jeder Minute davor und dazwischen. Also liege ich alleine wach und lausche den Regentropfen. Sie verschwimmen in der Dunkelheit, und ich verliere mich in Erinnerungen an die letzten Monate.

Ich hatte mich zusammen mit sechs fremden Männern, fünf Kostümkisten, einem zerknitterten Drehbuch, einem Boxsack und meinem Laptop in einen Tourneebus gesetzt und gehofft, dass ich unbeschadet zurückkehre. Eric, der Produzent und Hauptdarsteller dieser Theatergruppe, hatte mich auf einer Party kennengelernt und war anschließend so fasziniert von unserem Wortaustausch gewesen, dass er mich auf der Stelle engagieren wollte. Mein Job war ziemlich simpel, ich war für die Organisation der Termine und Hotels sowie die Programmhefte zuständig. Wir hatten fast jeden Abend eine Vorstellung, und während die Zeit zu einem monströsen Ungeheuer aus inszenierten Nichtigkeiten um das Leben eines verkannten Boxers geworden ist, habe ich entweder am Bühnenrand oder in irgendeiner ruhigen Ecke gesessen und im Schein des zu mir hinüberschimmernden Rampenlichts nach Worten gesucht.

Die Schauspieler und der Tontechniker waren alle aufmerksam und freundlich. Sie haben meine Programmkisten durch die Gegend geschleppt und mich vor zudringlichen Theaterfreaks und anzüglichen Bühnenarbeitern gerettet. Außerdem haben sie massenhaft belegte Brötchen um mich herum aufgetürmt und aufgepasst, dass ich nicht aus Versehen verlorengehe.

Während der Fahrt im Tourneebus saß ich meistens zwischen Jason und Mike, und manchmal habe ich meinen Kopf an eine der beiden benachbarten Schultern gelehnt und bin leise hin und her ruckelnd eingeschlafen.

Es war, als hätte die Zeit mir vergeben.

Als wäre es letztendlich okay.

Am Leben zu sein.

Aber es war ein trügerischer Frieden. Zwischen Marburg und Erfurt ist dann doch noch alles zerbrochen. Denn Eric musste mir unbedingt beweisen, dass er nicht nur auf der Bühne hervorragend im Umgang mit seinen Fäusten ist.

Auf einmal war die Gewalt.

Wieder mitten in meinem Leben.

Es hat keine sechs Monate gedauert, da habe ich das Tourneemanagement gekündigt und das weiße Licht der Scheinwerfer wieder gegen den undurchsichtigen Nebel meines Schweigens eingetauscht.

 

Meine Gedanken wären wahrscheinlich noch für den gesamten Rest der Nacht auf Tournee gewesen, wenn da nicht auf einmal dieses wohlbekannte Flüstern in meine Gehirngänge gekrochen wäre.

Sag mir, wie du heißt. Lilly? Nein. Längst nicht mehr. Vergiss, was andere zu dir sagen, vergiss, wie sie dich nennen. Zieh dich zurück, hinter die weiße Wand aus Spiegelbildern. Hier wird dich keiner finden. Am Anfang werden da vielleicht ein paar Menschen sein, die versuchen dich wachzurütteln. Sie werden dich anrufen, jeden Tag, nur um zu hören, ob dein Schweigen wieder verschwunden ist. Aber mit der Zeit werden sie aufgeben. Niemand wird um dich kämpfen. Du kennst doch dieses Spiel, es heißt Vergessen. Und du, du heißt Ana. Genau wie ich.

Also vertraue niemandem.

Denn niemand vertraut dir.

Ich blinzele in den Nachhall dieser Worte. Was für ein Schaden in mir. Fundamentale Selbsterniedrigung ist ein wunderbarer Grund, am Boden zu bleiben, nicht abzuheben, die Zeit in Plastiktüten zu verpacken. Einzufrieren. Und dann, wenn nach dem eisverfrorenen Knochenwinter doch noch ein Frühling kommt, wieder aufzutauen, dahinzuschmelzen, alles davonzuschwemmen, was nicht von Dauer ist.

Und Ana?

Sie ist beständig, auf ihren staksigen Beinen. Sie legt ihre Hände um mein Gesicht und tut so, als würde sie mich streicheln, dabei versucht sie nur meine Gedanken in ihren Griff zu bekommen und mir einzureden, dass Verhungern der einzige und wahrhaftige Grund meines Daseins ist.

Ich sage zu ihr: »Meinst du nicht, diese Zeit ist längst vorbei?«

Ana lacht und sagt: »Mädchen wie wir haben alle Zeit der Welt. Denn die Zeit hängt nicht an uns, und wir hängen nicht an ihr.«

»Du bist mein Verhängnis«, sage ich.

»Ich bin deine Beständigkeit in dieser flüchtigen Welt«, entgegnet Ana und zupft an dem roten Armband, das sie mir vor Jahren um mein Handgelenk geschlungen hat und von dem ich mich einfach nicht lösen kann. Das Armband, das so viele von uns verhungernden Mädchen tragen, nur um uns zu beweisen, dass wir nichts auf der Welt besser können, als zu verschwinden.

Wir starren uns an. Ana und ich.

Freundinnen von damals.

Befremdete im Hier.

Ich frage mich, wie der Ort wohl heißt, an dem ich mich befinde, wann immer ich meinen Verstand verliere, und wie viele Menschen sich gleichzeitig dort aufhalten können, ohne voneinander Kenntnis zu nehmen. Ich frage mich, was ich kann und was nicht, und was davon zählt. Ja. Was weiß ich eigentlich, über mich und mein Wissen und das der anderen? Nicht annähernd so viel, wie ich gerne wüsste.

Dafür habe ich gelernt, wie sehr man sich täuschen kann.

Am meisten in sich selbst.

Noch heute ziehe ich hin und wieder los und kaufe mir Rasierklingen, weil ich nicht weiß, was ich sonst tun könnte. Ana findet das gut. Aber Ana findet generell alles gut, womit man sich zerstören kann. Also sollte ich vielleicht lieber das Gegenteil tun: Rasierklingen verkaufen.

Die Frage ist nur.

An wen.

 

Der Regen wird wieder lauter. Ich schließe meine Augen und sehe zu, wie sich die Erinnerungen an die Bordelltage mit denen an die Escortstunden vermischen. Die langen Nächte, der Einbruch des Morgengrauens, die ewigen Stunden. Manchmal versuche ich all das in meinem Kopf zu sortieren, aber irgendwie erscheint es mir sinnlos. Männer anzuordnen kommt mir vor wie Dominosteine aufstellen, eine falsche Bewegung, und sie fallen um, in Reih und Glied auf mich drauf.

Ja. Ich erinnere mich daran, unterlegen zu sein.

Und ich weiß: Die Steigerung von Selbstverletzung ist Prostitution.

Ich blinzele der Vergangenheit entgegen. Wie leicht es war, eine bezugslose Hülle zu sein, ein willenloses Ausstellungsstück, eine nackte Zeitabrechnung. Was für eine Abart, in den Tiefen meines Bewusstseins. Zeit verrechnet mit Sex, Sex ohne Seele.

Und dazwischen.

Mein Schweigen.

 

Anas Hand fährt durch mein Haar, verfängt sich in meinen Gehirnsträngen, zieht mich mit sich in die hungernde Stille. Ich versuche, mich an Chase’ ruhigen Atem zu halten. Er murmelt etwas im Schlaf. Ich öffne meine Augen und flüstere ihm zu: »Vielleicht, ganz vielleicht, wird die Luft eines Tages nach regennassen Büchern riechen. Es wird ein schöner Regen sein. Und ein wundersamer Augenblick. Und wir, wir werden dastehen und den Worten dabei zusehen, wie sie davonschwimmen, in einem Meer voller Geschichten, in dem jede Wahrheit verborgen liegt.«

Chase wacht auf und sieht mich aus verschlafenen Augen an.

»Unterhältst du dich etwa schon wieder mit Ana der Bekloppten?«, murmelt er.

»Nein«, sage ich, »mit dir.«

»Das ist gut«, gähnt Chase. »Worüber unterhalten wir uns?«

»Über das Meer«, antworte ich.

»Und was geht gerade in deinem Kopf vor?«, fragt Chase und reckt sich.

»Prostituierte haben immer das Recht zu sagen, es war ein harter Tag«, sage ich.

»Mein Herz«, murmelt Chase. »Das wissen wir beide. Und die anderen Mädchen wissen es auch. Aber können wir jetzt bitte weiterschlafen? Ich bin nämlich todmüde.«

Kurz darauf schnarcht er leise.

Und ich? Ich liege wach.

Zwischen Ana.

Und ihm.

[home]

Einmal im Leben will ich atmen wie du,

damit ich weiß, was es bedeutet,

bei mir zu sein,

ohne zu wissen, wie es ist,

ich zu sein.

[home]

Herbst

Es ist September. Wie in jedem Jahr zu dieser Zeit. Was für ein Zufall. Und ich bin am Fallen, trotz des Beifalls der letzten Tage. Meine Freunde sagen zu mir: »Lilly. Du hast deine Worte gefunden! Du hast es geschafft! Jetzt kannst du frei sein.«

Und ich lächele. Mein Herz hüpft ein bisschen vor Freude, und ich würde auch hüpfen, wenn ich nicht solche Angst vor dem Aufprall hätte.

Also sitze ich auf dem Fußboden meines Badezimmers und zeichne gleichmäßige Streifen auf meinen linken Unterarm. Neben mir steht eine Flasche mit Desinfektionsmittel, ein paar Kompressen liegen auf den Fliesen, ein Verband wartet auf seinen Einsatz.

Ich bin vorbereitet.

Auf den Verlust meiner Gedanken.

Der Schmerz ist nicht stumpf. Er ist glasklar und einfach zu verstehen. Ich betrachte das Blut. Es fließt etwas schneller, als ich gedacht hätte.

Ich beobachte mich aus den Augenwinkeln.

Ich suche mich mit geschlossenen Augen.

Ich rufe meinen Namen.

Lilly.

Lilly?

Lilly!

Aber ich höre mir nicht zu. Denn Ana stellt sich quer vor meine Verfassung und wispert mir zu, dass Verschwinden die Höchstform von Existenz sei und Todsein die Steigerung von Dasein. Sie lügt. Wie immer. Doch da ich schon so weit bin, eine Krankheit wie Magersucht liebevoll als Ana zu bezeichnen, mache ich mir darüber nicht allzu viele Gedanken. Meine Erinnerungen, sie schlingen sich um meinen Verstand wie uralte Spinnweben. Ich verheddere mich in einen toten Handlungsstrang, und alles um mich herum verschwindet.

Dann kommt sie zurück. Die Zeit.

Die damals war.

Ich stehe in einem nackten Raum und halte die Luft an. Im Nebenzimmer wartet ein Mann darauf, dass ich meine Haare zu zwei Zöpfen flechte und weiße Schleifen in die Enden binde. Ich soll funkelnden Lipgloss tragen, mit Pfirsichgeschmack, und so tun, als wäre es das erste Mal. Und wenn ich vielleicht auch noch ein Schulmädchenoutfit auftreiben könnte, mit dunkelblauem Faltenrock, schneeweißem Oberteil und Matrosenkragen, dann wäre alles perfekt.

Absolution.

In dieser Illusion.

 

Am nächsten Tag muss ich zu meinem Literaturagenten. Ich hoffe inständig, dass er keinen Laserblick hat, der sich durch meine Pulloverärmel bis hin zu meinen Armen bohren kann, sonst bin ich enttarnt.

»Geht es Ihnen gut?«, fragt mein Agent zur Begrüßung.

»Klar«, lüge ich.

Aber mein Agent sieht nicht so aus, als würde er mir glauben.

»Wirklich?«, fragt er zweifelnd.

»Ja«, lüge ich noch einmal.

Mein Agent seufzt leise und schüttelt nachdenklich seinen Kopf, schließlich fragt er: »Waren die ersten Verlagsgespräche denn okay für Sie?«

Ich nicke. »Sonst wäre ich weggerannt.«

»Sie brauchen nicht mehr wegzurennen«, sagt mein Agent. »Sie sind doch jetzt in Sicherheit.«

Das sind so Sätze.

Die ich mir auf mein Hirn tätowieren sollte.

Bevor ich sie wieder vergesse.

»Haben Sie noch irgendwelche Fragen?«, erkundigt sich mein Agent.

»Könnten Sie Lilly zu mir sagen?«, frage ich zurück. »Denn ich kann kaum meinen Vornamen behalten, wie soll ich mir da meinen Nachnamen merken.«

»Okay«, sagt mein Agent.

»Und könnten Sie Du sagen?«, frage ich weiter. »Ich bin nämlich noch klein.«

Mein Agent sieht mich von oben bis unten an.

»Du bist nicht klein«, sagt er dann.

»1,64«, erwidere ich.

»Das ist groß genug«, meint mein Agent. »Und du kannst übrigens auch gerne Du zu mir sagen. Ich bin Harry.«

»Ich bin Ana«, erwidere ich.

»Diesen Namen will ich hier nie wieder hören«, sagt Harry.

»Auch nicht rückwärts?«, frage ich.

»Von keiner Seite«, antwortet Harry. »Du heißt Lilly. Lilly!«

Und weil es nichts bringt, über einen längst vergebenen Namen zu streiten, nicke ich brav. Dann falle ich in Ohnmacht, und mein Agent bekommt den Schreck seines Lebens.

»Alles okay«, sage ich, als ich schließlich wieder zu mir komme, und stehe schwankend auf. »Das war nur die Schwerkraft.«

»Hast du dich verletzt?«, fragt Harry entsetzt. »Soll ich einen Arzt rufen?«

»Nein, nein«, sage ich hastig, denn wenn mich der falsche Arzt in die Finger kriegt, stellt er mich auf eine Waage, und dann lande ich höchstwahrscheinlich in einer Nahrungsmittel-Verabreichungs-Klinik. Außerdem würde meine Krankenkasse pleitegehen, wenn ich nach jedem Ohnmachtsanfall einen Krankenwagen rufe. Das gehört nun mal leider dazu, wenn man sich einmal quer durch seinen Verstand hungert und dabei ganz nebenbei seine inneren Organe in tickende Zeitbomben verwandelt.

»Du bist ganz blass«, meint Harry unruhig.

»Das ist meine Hautfarbe«, erkläre ich schnell, »die ist immer so.«

»Vorhin war sie nicht so«, entgegnet Harry.

»Das ist das Licht«, sage ich.

»Das glaube ich nicht«, erwidert Harry.

Na toll.

Jetzt muss ich auch noch ehrlich sein.

Also sage ich langsam und etwas wortverzerrt: »Vielleicht. Habe ich ein bisschen zu wenig gegessen. In den letzten Wochen. Und Monaten. Und Jahren.«

»Das habe ich gelesen«, sagt Harry und sieht mich nachdenklich an.

»Und vielleicht«, füge ich hinzu. »Auch in den letzten Tagen. Und ganz besonders gestern und heute. Und morgen.«

»Komm«, sagt Harry daraufhin und steht auf.

»Wohin?«, frage ich. »Ich will nicht in eine Irrenanstalt. Da war ich schon, das hilft nicht.«

»Wir gehen nicht in eine Irrenanstalt«, erwidert Harry stirnrunzelnd.

»Ich will auch nicht zum Arzt«, sage ich.

»Wir gehen nicht zu einem Arzt«, seufzt Harry und verdreht die Augen.

»Nimmst du mir jetzt meine Worte weg und schickst mich zurück ins Bordell?«, frage ich unsicher.

»Was?«, fragt Harry. »Lilly! Nein, natürlich nicht! Wir gehen Nudeln essen.«

»Nudeln?«, wiederhole ich.

»Ja«, sagt Harry und lächelt.

Da stehe ich auf.

Und folge ihm aus seinem Büro hinaus.

In die wartende Herbstsonne.

 

Im Restaurant stochere ich so lange in einem Stück Tomate herum, bis Ana sich weit genug von mir zurückgezogen hat, dass ich etwas essen kann. Ich pike eine Nudel auf meine Gabel und versuche widerstandslos das Leben zu schlucken. Es bleibt in meinem ausgetrockneten Hals stecken.

Aber ich schlucke und schlucke.

Und irgendwann habe ich es geschafft.

»Hast du eigentlich auch mal in einem Verlag gearbeitet?«, frage ich Harry. »Oder warst du schon immer Wortfänger?«

Harry lacht.

»Nein, ich war nicht von Anfang an Wortfänger«, sagt er dann. »Ich war früher Lektor in einem großen Verlag.«

»Und, hat dir das gefallen?«, frage ich weiter.

»Teilweise«, meint Harry. »Ich bin lieber Wortfänger.«

»Teilweise ist ein schönes Wort«, überlege ich. »Es kommt bestimmt daher, dass Teilen weise ist, meinst du nicht auch?«

Harry lacht wieder.

»War das ein dummer Satz?«, frage ich.

»Nein«, sagt Harry. »Ich fand ihn schön.«

»Wenn du magst, kann ich ein Buch daraus machen«, biete ich an. »Das dauert aber ein paar Tage.«

Harry schüttelt lachend den Kopf.

»Ein paar Tage?«, fragt er dann.

»Ist das zu viel?«, frage ich zurück.

»Eher zu wenig«, meint Harry. »Worte brauchen Zeit.«

»Meine nicht«, erkläre ich. »Die sind es gewohnt, durch die Gegend zu rennen, da können sie sich auch schnell zu einer Geschichte formatieren. Wie schreiben denn deine anderen Autoren?«

»Soweit ich weiß, formatieren sie keine Worte«, sagt Harry.

»Was machen sie dann?«, will ich wissen.

»Keine Ahnung«, meint Harry schulterzuckend.

»Weißt du, was der Unterschied zwischen einem Schriftsteller und einem Literaturagenten ist?«, frage ich.

»Nein, was denn?«, will Harry wissen.

»Der Literaturagent muss den ganzen Schwachsinn am Ende lesen«, sage ich.

»Ich lese nur die Geschichten, die ich mag«, erwidert Harry lächelnd.

»Also magst du meine Geschichte?«, frage ich.

Harry hört auf zu lächeln und denkt einen Augenblick lang nach. Schließlich sagt er: »Ich bin beeindruckt von den Worten, die du gefunden hast, um deine Geschichte zu erzählen; aber was dir alles geschehen ist, was du ertragen musstest und was du dir daraufhin selbst angetan hast, das mag ich nicht. Ich würde mir wünschen, dass du eine schönere Geschichte erlebt hättest.«

»Danke«, sage ich.

»Wofür?«, fragt Harry.

»Dafür, dass du mich nicht nur als Buch siehst«, erwidere ich. »Denn manchmal vergesse ich, dass ich ein menschliches Wesen bin, und dann komme ich mir vor wie die lautlose Abspaltung einer verfehlten Zeit.«

»Du bist mittendrin in deiner Zeit«, sagt Harry. »Du hast sie nicht verfehlt.«

 

Während des Mittagessens besprechen wir noch den Ablauf eines Verlagstermins in München. Es ist das letzte Gespräch mit einem Verlag, bevor ich mich endgültig entscheiden werde. Nachdem wir alles abgeklärt haben, fällt mir auf einmal etwas ein. Eine Frage. Sie ist gewichtig. Oder vielleicht ist sie auch eher untergewichtig. So wie ich. Aber ihr Gewicht drückt auf meine knochigen Schultern, und ich muss sie stellen, damit ich im Nachhinein, wenn doch alles den Bach hinuntergeht und ich als Leiche am Bundespressestrand angespült werde, wenigstens sagen kann: »Ich habe mir Gedanken darüber gemacht. Ich habe diese Möglichkeit in Betracht gezogen. Ich habe dazugelernt. Ich weiß, wie viel Schaden ein einziger Mann anrichten kann.«

»Ich muss dich etwas fragen«, sage ich deshalb. »Aber du darfst mich anschließend nicht feuern.«

»Okay«, sagt Harry. »Ich werde dich nicht feuern.«

»Ganz sicher?«, frage ich.

»Ganz sicher«, bestätigt er.

»Also«, sage ich. »Ich. Ähm. Also.«

»Ja?«, fragt Harry.

Und da schaffen es die Nudeln auf meinem Teller, sich in drei Sekunden um das Vierfache zu verdoppeln. Ich sehe zu, wie sie sich mit leuchtend roter Tomatensoße umgeben. Blutig. Wie mein Verstand.

»Also«, wiederhole ich. »Also. Ähm. Ich.«

Harry sieht mich an und fragt sich wahrscheinlich, was das werden soll. Aber die Angst in mir, sie umspielt meine Narben, mit gezielten Stichen. Und ja, ich weiß, mein Agent ist ein guter Mensch. Ich kann so etwas beurteilen. Ich weiß, wie Sanftmütigkeit sich in die Gestik eines Menschen verirrt. Ich weiß, wie ehrliche Worte klingen, auch wenn sie ganz nebenbei fallen. Und vielleicht sollte ich einfach still sein oder noch ein paar Nudeln essen.

Aber ich muss fragen.

Ich muss doch ganz sicher sein.

Ich muss die richtige Antwort hören.

So oft, bis ich sie begreife.

»Selbst wenn niemand mein Buch kaufen wird«, fange ich schließlich zögernd an, »selbst wenn ein gesamter Verlag meinetwegen pleitegeht und alle Buchläden auf der Welt für immer schließen. Ganz egal, was passiert. Du wirst mich nie schlagen, oder?«

»Was?«, fragt Harry erschrocken.

Und der Ausdruck in seinen Augen ist Antwort genug.

»Nein!«, sagt er dann. »Nein, natürlich nicht! Warum sollte ich das tun?«

»Ich weiß nicht«, sage ich. »Manche Männer tun so etwas.«

»Ich würde dich niemals schlagen«, sagt Harry. »Und falls es dich beruhigt – ich habe noch nie jemanden geschlagen, weder einen Mann noch eine Frau.«

Ich blicke in mein Wasserglas, in dem ich mich ertränken könnte, wenn ich nicht wüsste, wie man unter Wasser atmet. Und es tut mir leid, dass ich ihn gefragt habe. Niemand sollte so eine Frage an den Kopf geschmissen bekommen. Auch dann nicht, wenn weiterführende Gedanken zu dem logischen Schluss führen, dass ich diese Frage niemals jemandem stellen würde, von dem ich denken würde, dass er mit »Ja! Natürlich werde ich dich zusammenschlagen!« antworten könnte.

Es gibt Fragen, die stellt man nur.

Wenn man die Antwort darauf schon kennt.

Wenn man weiß, dass man die Antwort bekommt, die man hören möchte.

Und meine Fragen, sie sind manchmal nichts weiter als die von Angst umhüllte Gewalt in meinem Kopf. Die Gewalt, die ihre unendlichen Bahnen zieht und mich daran erinnert, wie leicht ich zu schlagen bin. Und wenn ich meinen Mund schon nicht öffnen kann, um zu schreien, dann doch zumindest, um Vorverhandlungen über meine unbestätigten Körperrechte zu führen.

Ja. Es beruhigt mich. Dass es Männer gibt, die mich nicht schlagen wollen; dass es Männer gibt, die nicht verstehen, warum mir irgendwer etwas antun sollte.

»Ich hoffe, du glaubst mir«, sagt Harry schließlich.

Und natürlich glaube ich ihm.

Denn ich habe nie aufgehört.

An etwas Besseres zu glauben.

Als an Gewalt.

 

Es fängt an zu regnen, genau in dem Moment, in dem ich mich von Harry verabschiede. Die Tropfen trommeln unruhig an die großen Fensterscheiben, und der Himmel wird so schnell dunkel, als wäre es schon Nacht.

»Bis bald«, sagt Harry.

»Bis bald«, sage ich.

Aber mitten im Türrahmen bleibe ich stehen und drehe mich noch einmal um.

»Wenn ich es nicht schaffe«, sage ich unsicher. »Wenn ich nicht mehr da bin, im nächsten Jahr, wenn ich zu krank bin, um alles wiedergutzumachen, kümmerst du dich dann darum, dass irgendwer meine Geschichte liest? Ich meine, bei dir sind meine Worte in guten Händen. Nicht wahr?«