Wissen im Wandel - Günther Meinhold - E-Book

Wissen im Wandel E-Book

Günther Meinhold

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Beschreibung

Die rasante technische Entwicklung lässt unser Wissen explosionsartig anwachsen. Doch gerade deswegen werden Menschen unwissender. Denn weil sie nicht mehr benötigte Fertigkeiten verlernen oder weil sie erprobtes Wissen gegen unterhaltsameres Halbwissen eintauschen, können sie dem Wissensfortschritt nicht folgen. Und weil man im Internet neben Wissenschaftlichkeit, Weisheit und Klugheit in gleichberechtigter Weise auch Unvollkommenheit, Irrtum, Propaganda, Täuschung, Lüge, Aberglauben und Unsinn findet, macht auch die wachsende Informationsfülle die Menschheit nicht automatisch klüger, sondern führt zu einer neuen Art von Unwissenheit und Dummheit. Deren Ursache ist nicht Informationsmangel, sondern das Übermaß an Information. Um den Wandel des Wissens in einer Zeit des Umbruchs zu beschreiben hat Günther Meinhold ein Zustandsmodell der Wissensqualität - den Wissenswürfel - definiert. Anhand des Wissenswürfels zeigt er die Möglichkeiten auf, wie aus Unkenntnis wertvolles und weniger wertvolles Wissen entsteht, und ebenso beleuchtet er die zahlreichen Wege, auf denen Wissen verloren geht, und wie man die Irrwege vermeiden kann.

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Seitenzahl: 174

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Inhalt

Wissen im Wandel

Der Wissenswürfel - Ein Zustandsmodell der Wissensqualität

Der Zustandsraum des Wissens

Die charakteristischen Zustände des Wissenswürfels

Der Zustandsraum der Unwissenheit

Zustandsübergänge im Wissenswürfel

Bewertung der Wissenszustände

Wege durch den Wissenswürfel

Wachstum und Verlust von Wissen

Der Aufstieg des Wissens

Fortschritt durch Wissenschaft und Technik

Fachwissen und Erfahrung: ein Auslaufmodell?

Naturwissenschaft und Technik – wir vergessen was uns reich machte

Die Natur, das unbekannte Wesen

Das Übersinnliche

Wissensverlust durch Automatisierung und Digitalisierung

Softwareentwicklung im Modell des Wissenswürfels

Die Phasen des Softwareentwicklungsprozesses

Der Königsweg: Benutze Softwarearchitekturen und Softwaremodelle

Das Wissen von morgen

Literaturverzeichnis

1. Wissen im Wandel

Der Fortgang der wissenschaftlichen Entwicklung

ist im Endeffekt eine ständige Flucht vor dem Staunen.

Albert Einstein

Mit der Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens.

Schiller, Die Jungfrau von Orleans

Angetrieben vom wissenschaftlich-technischen Fortschritt, dem Motor unserer technischen Zivilisation, vermehrt sich das Menschheitswissen in wachsendem Tempo. Kaum mehr erinnern wir uns an eine Welt ohne Internet, wie sie vor 25 Jahren noch Normalität war. Und was wären wir ohne Smartphone, Laptop, Notebook und PC? Nicht auszudenken, auf einer Schreibmaschine mit Tippex, das ein miserabler Ersatz für die Del- oder Entf-Taste ist, zu schreiben oder ohne „intelligente“ Haushaltsgeräte, Kameras und Autos den Alltag zu meistern; waschen sie doch unsere Hemden, Pullover und Kleider flauschig weich, berechnen Entfernungen und Belichtungszeiten oder helfen, den Elchtest zu bestehen.

Vor einhundert Jahren - und die restlichen Jahrtausende Menschheitsgeschichte davor - gab es die meisten der heute selbstverständlichen Produkte und Dienstleistungen noch nicht. Erst im Industriezeitalter entstanden in historisch kurzer Dauer die Grundelemente einer technischen Infrastruktur und eine Vielzahl technischer Erzeugnisse. Das jetzige Angebot ist jedoch nicht nur reichhaltiger als früher, sondern auch qualitativ anders. Denn neben materiellen Produkten enthält es zunehmend immaterielle Güter wie Computerprogramme, Apps, Filme, Handy-Klingeltöne oder Finanzprodukte. Der Stoff, soweit dieses Wort überhaupt angebracht ist, aus dem diese geistigen Erzeugnisse bestehen, sind Daten, Informationen und Wissen. Und ein neuer Industriezweig, die IT-Industrie, ermöglicht und automatisiert ihre weltweite Verarbeitung. Die „alte“ Industriegesellschaft hat sich verändert und muss der Informations- und Wissensgesellschaft und der Digitalisierung - wie das neueste Schlagwort für den Umbruch lautet - Platz machen.

Im Gegensatz zur industriellen Warenproduktion mit ihren Anlagen, Fabriken, Verkehrsinfarkten, der Lärmbelästigung und Luftverschmutzung scheint Wissen sauber zu sein. Von einer Wissensgesellschaft erhofft man sich deshalb den materiellen Wohlstand der Industriegesellschaft ohne negative Nebenwirkungen. Was eine Wissensgesellschaft ausmacht und wann die Industriegesellschaft zur Wissensgesellschaft wird, wurde noch nicht abschließend definiert. Trotzdem oder gerade deshalb wird der Begriff gern benutzt, um Fortschritt und Aufbruchstimmung zu signalisieren.

Doch nicht Namen sind wichtig, sondern der gesellschaftliche Prozess, der eine stetig wachsende Menge an Wissen hervorbringt und eine technische Zivilisation entstehen ließ, die ohne dieses Wissen nicht funktionieren würde. Und weil die meisten Menschen lieber im warmen Wohnzimmer bei einer Flasche Rotwein sitzen, anstatt in einer zugigen Höhle am Knochen zu nagen, möchten wir den Fortschritt nicht mehr missen. Wissen empfinden wir deshalb als etwas Positives und sein Fehlen als Mangel. Die allgemeine Wertschätzung des Wissens an sich, fernab von jeder konkreten Ausprägung, drückt sich unter anderen darin aus, dass kaum ein Mensch von sich behauptet, unwissend zu sein. Dumm sind scheinbar immer nur die Anderen.

Doch trotz der rasanten technischen Entwicklung und des explosionsartig anwachsenden Wissens oder gerade deswegen werden Menschen unwissender. Denn sie können dem Wissensfortschritt nicht folgen, weil sie nicht mehr benötigte Fertigkeiten verlernen oder weil sie erprobtes Wissen gegen unterhaltsameres Halbwissen und Unwahrheiten eintauschen. Der anhaltende Aufstieg des Menschheitswissens geht deshalb einher mit der Rückkehr der Unwissenheit. Denn weder die “intelligente” technische Infrastruktur noch schnelle Computer mit jederzeit verfügbaren Programmen machen die Menschen automatisch wissender und erst recht nicht weise. Schließlich verbessern bequeme Fortbewegungsmittel wie Züge, Autos und Flugzeuge auch nicht die Kondition und Geschmeidigkeit ihrer Nutzer. Das Gegenteil ist der Fall. Bewegungsmangel führt zu körperlicher Schlaffheit und zum Verlust motorischer Fähigkeiten. Wieso soll es bei den Denkbequemlichkeiten, die uns Computer zu bieten haben, anders sein?

Milliarden Menschen haben heute per Internet und Smartphone Zugang zu ungezählten Text- und Tondokumenten, Bildern und Filmen, die sie dank preiswerter Software lesen, hören, anschauen, kopieren, verändern und kombinieren können. Auf diese Weise entstehen mühelos neue Aufzeichnungen, die das weltweite Angebot vergrößern. Je nach Absicht und Können der Verfasser sind deren Beiträge von unterschiedlicher Qualität. Es stehen Wissenschaftlichkeit, Weisheit und Klugheit neben Unvollkommenheit, Irrtum, Propaganda, Täuschung, Lüge, Aberglauben und Unsinn. Und statt der klaren Trennung zwischen Wissen und Unwissen sowie Wahrheit und Lüge finden wir gleitende Übergänge zwischen diesen Extrema. Die wachsende Informationsfülle macht die Menschheit deshalb nicht unbedingt klüger, sondern führt zu einer neuen Art von Unwissenheit und Dummheit. Deren Ursache ist nicht Informationsmangel, sondern das Übermaß an Information. Allein die Menge des wirklichen und vermeintlichen Wissens, auf das man per Internet zugreifen kann, relativiert den Nutzen der Einzelinformation. Denn wer auf eine Frage mehrere, für ihn gleich plausible, aber sich widersprechende Antworten erhält, weiß genau so viel wie vorher.

Je mehr Menschen ihre Meinung weltweit äußern können und je leichter es wird, Informationen professionell darzustellen, desto kritischer muss man deren Gehalt sehen. Um zwischen charakteristischen Arten von Wissen und Falschinformationen zu unterscheiden und deren Wert oder Schädlichkeit zu analysieren, habe ich ein Zustandsmodell der Wissensqualität definiert. Ich nenne das Modell „Wissenswürfel“, da seine Wissenszustände von der Tiefe, Breite und Strukturiertheit des Wissens abhängen, also von drei Dimensionen, wie sie auch ein Würfel besitzt.

Anhand des Wissenswürfels werde ich die Möglichkeiten aufzeigen, wie aus Unkenntnis wertvolles und weniger wertvolles Wissen entsteht, aber auch die nicht minder zahlreichen Wege beleuchten, auf denen Wissen verloren geht und Strategien vorschlagen, um dem entgegenzuwirken.

Im folgenden Kapitel des Buches beschreibe und erläutere ich den Wissenswürfel als Zustandsmodell des Wissens und seine Erweiterung für korrespondierende Zustände der Unwissenheit und Falschheit. Das darauffolgende Kapitel zeigt – zunächst am Modell und dann anhand von Beispielen und Einzelthemen – auf welchen Wegen sich das Wissen vermehrt und wie parallel zum explosionsartigen Wachstum des Menschheitswissens neue Formen der Unwissenheit um sich greifen und längst überwunden geglaubte, unwissenschaftliche oder schlicht unsinnige Meinungen und Ansichten auferstehen. Insbesondere betrachte ich in diesem Kapitel den Wissensverlust (der Menschen) durch Automatisierung und Digitalisierung und den Wissenstransfer zu Softwaresystemen. In einem weiteren Kapitel untersuche ich die Irr- und Königswege der „Softwareentwicklung“ und ihr Abbild im Wissenswürfel. Im letzten Kapitel werfe ich einen Blick auf das Wissen von morgen.

2. Der Wissenswürfel - Ein Zustandsmodell der Wissensqualität

Alles Gescheite ist schon gedacht worden,

man muss nur versuchen, es noch einmal zu denken.

Goethe, Sprüche in Prosa: Maximen und Reflexionen

Wir verwenden den Begriff “Wissen” ohne darüber nachzudenken, wie ihn Philosophen, Wissensmanager oder Naturwissenschaftler definiert haben. Wozu auch! Denn aus dem Zusammenhang eines anschaulich geschilderten Sachverhaltes verstehen wir meist, was ein Gesprächspartner, Autor oder Redner meint. Das ändert sich erst, wenn man Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten, die über die Beschreibung von Einzelbeispielen, Ereignissen oder Fakten hinausgehen, erkennen und diskutieren will. Dann kommt man ohne Begriffsdefinition nicht aus. Es gibt jedoch keine einfache Erklärung des Begriffs „Wissen“, weshalb man es lieber sortiert oder klassifiziert. Hier einige Beispiele:

Wissen, welches man aufschreiben kann wie eine Bauanleitung oder ein Kochrezept wurde von Michael Polanyi [

1

] „

explizit“

genannt. Im Gegensatz dazu besteht das

implizite Wissen

aus Fertigkeiten und Fähigkeiten, die wir beherrschen, ohne genau sagen zu können, wie und warum sie funktionieren.

Ryle [

2

] unterscheidet folgende drei Arten von Wissen: das Wissen über Tatsachen und Sachverhalte, das er „

Faktenwissen“

nennt, das Wissen über Abläufe und Algorithmen mit der Bezeichnung „

Anwendungswissen

und das „

Handlungswissen“,

das für individuelles Können steht und dem impliziten Wissen ähnelt.

Eine verbreitete, formale Klassifizierung von Wissen erhält man durch die alphabetische Sortierung von Themen und Sachverhalten.

Über die Qualität des Wissens und dessen Brauchbarkeit für einen bestimmten Zweck sagen die obigen Kategorien zunächst nichts aus, es sei denn man setzt stillschweigend voraus, dass das Wort „Wissen“ Brauchbarkeit impliziert.

Doch Wissen hat mehr Zustände als Sein oder nicht Sein. Es entwickelt sich allmählich und verschwindet nicht plötzlich. Fast unbemerkt kann es entgleiten, und mitunter bleibt wie bei einem glänzenden, aber wurmigen Apfel nur der äußere Schein zurück.

Wissenshüllen wie Phrasen, leere Wahlversprechen oder Handbücher zur vollkommenen Erleuchtung; Seminarangebote und Preisliste – ohne Mehrwertsteuer – inbegriffen, gaukeln Kompetenz und Weisheit vor. Gemeinsam ist ihnen die Oberflächlichkeit und Vordergründigkeit der Meinungen und Aussagen. Es fehlen Tiefe und Substanz.

Durch die Tiefe seines Wissens zeichnet sich der Spezialist aus. Seinem Gegenpart - dem Generalisten - bescheinigt man hingegen ein breites Wissen. „Breite“ und „Tiefe“ sind geometrische Begriffe, mit denen man die Dimensionen des Raumes bezeichnet. Wir kennen noch eine dritte räumliche Dimension, die Höhe. Dieser ordne ich ein weiteres Wissensmerkmal zu: die Strukturiertheit. Denn strukturiertes Wissen ist von höherem Wert als unstrukturiertes, weshalb man die Einträge in einem Wörterbuch, einem Lexikon oder Telefonbuch auch alphabetisch sortiert. Anderenfalls wäre das dort gespeicherte Wissen nutzlos, da man schlimmstenfalls alle Einträge lesen müsste, um den gesuchten zu finden.

Die drei Größen “Breite”, “Tiefe” und “Strukturiertheit” definieren einen Zustandsraum von Wissenszuständen. Der „räumliche“ Zusammenhang zwischen allen Zuständen ermöglicht „gleitende“ Übergänge zwischen den verschiedenen Arten und Qualitäten des Wissens. Die Gesamtheit aller möglichen Wissenszustände kann man als Würfel darstellen, weshalb ich das skizzierte Zustandsmodell “Wissenswürfel” nenne. Der Wissenswürfel vereint viele bislang nur einzeln betrachtete Erscheinungen im Rahmen eines gemeinsamen Modells, anhand dessen sich vielfältige Formen und Spielarten der Wissensentwicklung und des Wissensverlusts klassifizieren, bewerten und diskutieren lassen.

Im Modell unterscheide ich zwischen wahren und unwahren Informationen. Denn zu jedem Wissenszustand existiert ein Zustand der Unwissenheit, so dass dem Wissenswürfel - als sein Spiegelbild - ein Zustandsraum der Unwissenheit gegenübersteht. Das Gesamtmodell ermöglicht die gemeinsame Sicht auf Prozesse, die das Wissens mehren, und auf Erscheinungen und Vorgängen, die zum Verlust von Wissen führen oder dessen Aufbau hemmen.

Der Zustandsraum des Wissens

Von der Stufenleiter zum Zustandsraum

Wissenskategorien teilen Wissen nach bestimmten Merkmalen ein:

dokumentierbar – nicht dokumentierbar

Prozesse – Fakten

Fragewörter: Was, Wie, Wozu, Wo, Wer, Wann

Die qualitative Entwicklung vom Nicht-Wissen zum vollständigen Wissen kann man anhand dieser Klassifizierungen nicht aufzuzeigen. Dazu braucht man zumindest Wissensstufen, die den erreichten Status anzeigen. Bohn [3] beschreibt auf diese Weise die Wissensentwicklung für das technologische Wissen zur Prozessbeherrschung.

Nr.

Stufe des technologischen Wissens zur Prozessbeherrschung

1

Vollständige Ignoranz

auf dieser Stufe liegt noch keinerlei Wissen vor

2

Bewusstsein

es erwächst ein Bewusstsein für die Existenz von Prozessvariablen

3

Messen

Prozessvariable können gemessen, aber nicht kontrolliert werden

4

Mittelwertkontrolle

Prozessvariable können wenig präzise kontrolliert werden

5

Prozessfähigkeit

Exakte Kontrolle der Prozessvariablen

6

Prozessbeschreibung

das Wissen, wie sich kleine Änderungen der Prozessvariablen auf das Ergebnis auswirken (Know-how)

7

Wissen weshalb

Verständnis des Prozesses in einem größeren Zusammenhang. Interaktionen zwischen den Prozessvariablen und anderen Einflussgrößen sind bekannt

8

Vollständiges Wissen

Prozessvariablen und Umwelteinflussgrößen sind vollständig bekannt. Jegliche Probleme können bereits vor ihrer Entstehung gelöst werden.

Tabelle 1 Entwicklung des technologischen Wissens zur Prozessbeherrschung

In den folgenden Kapiteln werde ich Wissen gleichfalls in seiner Entwicklung betrachten. Allerdings nicht anhand von Wissensstufen, sondern innerhalb eines dreidimensionalen Zustandsraumes. Wie in einem richtigen Raum gibt es dort weitaus mehr Bewegungsfreiheit als auf einer Stufenleiter.

Steigt man auf einer gedachten Wissensleiter nach oben, führt der nächste Schritt zu einem höheren Wissensniveau. In Räumen ist das anders. Dort gibt es viele Richtungen. Und wenn die Richtung nicht stimmt, geht man vorwärts und entfernt sich dennoch weiter vom Ziel. Anhand eines räumlichen Modells kann man deshalb die vielfältigen Wege, auf denen sich Wissen entwickelt oder vergeht, anschaulich beschreiben.

Zustandsmodelle öffnen den Blick fürs Ganze

In der Praxis hat die Wissensentwicklung viele Gesichter. Und diese scheinen sich allein schon wegen der unermesslich großen Zahl an Wissensgebieten, Einzelheiten, Fakten und Informationen sowie der ebenso großen Zahl potenzieller Wissensträger einer Bewertung im Großen zu entziehen. Wir befinden uns diesbezüglich in einer ähnlichen Situation wie die Physiker, wenn sie die Beschaffenheit eines Gases oder Körpers mit den Eigenschaften seiner Atome und Moleküle in Beziehung setzen wollen.

Als Hilfsmittel zur Beschreibung von Festkörpern oder Gasen benutzen Physiker Zustandsgrößen wie Temperatur, Druck und Volumen. Deren Werte sagen zwar nichts über das einzelne Atom oder Molekül aus, jedoch über den Zustand des Körpers oder Gases als Ganzes und dessen Zustandsänderungen. Die Temperatur eines Gegenstandes ist zum Beispiel ein Maß für die mittlere Bewegungsenergie seiner Atome. Erhitzt man ihn, dann haben die Atome eine im Mittel größere Energie, die man als Temperaturerhöhung messen oder fühlen kann.

Im Modell des Wissenswürfels wird der Zustand einer großen, aus vielen Einzelinformationen bestehenden, Wissensmenge ebenfalls durch wenige Zustandsgrößen - Tiefe, Breite und Strukturiertheit - beschrieben. Ordnet und sortiert man chaotische Informationen, erhöht sich die Strukturiertheit der Wissensmenge und ihr Zustand ändert sich. Diese Veränderung kann man bemerken – und mitunter sogar messen - ohne die Eigenschaften und Inhalte der Einzelinformation kennen zu müssen. Denn für viele praktische Zwecke reicht es völlig aus, die Zustandsgrößen und ihre Veränderungen zu ermitteln oder zu prognostizieren. Außerdem kann ein Ensemble aus sehr vielen Teilen völlig neue Eigenschaften, die sich erst aus dem Zusammenhang und den Beziehungen der Teile ergeben, besitzen. Zustandsvariable sind deshalb unter anderem ein Mittel, um die Detailfülle zu reduzieren, und so den Blick frei zu machen, für größere und qualitativ andere Zusammenhänge.

Klimaforscher simulieren beispielsweise die Erwärmungs- und Abkühlungsprozesse der Erdatmosphäre und versuchen, mit immer aufwändigeren und reichhaltigeren Modellen vorauszusagen, wie sich das Klima entwickeln könnte und welche Temperaturverteilung sich aus ihren Modellannahmen auf der Erde ergibt. Und, fast noch wichtiger, bemühen sie sich, diejenigen Prozesse und Ursachen zu erkennen, die das künftige Erdklima destabilisieren könnten. Denn dort sollten die heute lebenden Menschen mit Sachverstand und Augenmaß und ohne Panikmache und ideologische Verblendung ansetzen, um das Risiko einer künstlichen, negativen Klimaveränderung zu begrenzen.

Will man die Chancen und Risiken der Wissensentwicklung in Unternehmen, Institutionen oder der Gesellschaft untersuchen, kann man sich die Klimaforscher zum Vorbild nehmen und sich auf diejenigen Prozesse, Erscheinungen und Bedingungen konzentrieren, die den Wissenszustand von Menschengruppen verändern.

Die Einzelphänomene, in denen man einen Verlust an Wissen zu erkennen glaubt, lassen sich mit Hilfe des Zustandsmodells des Wissens in ein gemeinsames Schema einordnen. Auf diese Weise kann man nicht nur feststellen, von welcher Art der Wissensverlust ist, sondern auch die Qualität dieses Verlustes ermessen, und vor allem verstehen, wie sich gewünschte und unerwünschte Änderungen des Wissenszustandes beziehungsweise der Wissensqualität auswirken.

Je konkreter das Wissensgebiet ist, desto präzisere Aussagen sind möglich. Zum Beispiel kann man mit Hilfe des Wissenswürfels sehr anschaulich demonstrieren, warum bestimmte Methoden der Softwareentwicklung erfolgreich sind und weshalb andere zu gescheiterten Projekten oder schlechten Produkten führen. Ich werde darauf noch in einem späteren Kapitel zurückkommen.

Die Definition der Wissenszustände

Wenn man nichts weiß, befindet man sich im Zustand der Unkenntnis. Weiß man hingegen alles, dann hat man den Zustand des Umfassenden Wissens erreicht. Bohn bezeichnet die entsprechenden Wissensstufen gemäß Tabelle 1 als vollständige Ignoranz beziehungsweise vollständiges Wissen. Zwei Zustände sind allerdings zu wenig für ein brauchbares Zustandsmodell.

Um ausreichend viele Wissenszustände zu erhalten, definiere ich deshalb jeden Zustand durch drei Merkmale1:

die

Breite

des Wissens

die

Tiefe

des Wissens

die

Strukturiertheit

des Wissens

Die Merkmalswerte können jeweils zwischen den Beträgen gering und groß variieren. Die beiden Grenzzustände Unkenntnis und Umfassendes Wissen werden durch die Kombinationen

geringe Breite, geringe Tiefe, geringe Strukturiertheit beziehungsweise

große Breite, große Tiefe, große Strukturiertheit definiert.

Tabelle 2 Charakteristische Wissenszustände

Weitere Wissenszustände findet man formal dadurch, dass man die möglichen Kombinationen aus den beiden Grenzwerten gering und groß bildet. Beispielsweise:

geringe Breite, große Tiefe, geringe Strukturiertheit oder

große Breite, große Tiefe, geringe Strukturiertheit

Ein zusätzlicher Wissenszustand sei:

hinreichend große Breite,

hinreichend große Tiefe,

große Strukturiertheit

Was “hinreichend groß” in diesem Zusammenhang bedeutet, werde ich später noch erläutern, vereinfacht heißt es, von einer Sache das Wesentliche, aber keine Details zu kennen.

Jeder Wissenszustand erhält einen anschaulichen Namen. Zusammen mit einer kurzen Erläuterung sind alle Definitionen in Tabelle 2 zusammengefasst.

Mit Hilfe der auf diese Weise definierten Wissenszustände kann man Wissen nach Tiefe, Breite und Strukturiertheit klassifizieren. Die Einteilung folgt allein aus den strukturellen Merkmalen einer Wissensmenge und gilt - Im Gegensatz zu den Modellen von Polanyi[1], Ryle und Baumgartner [2] oder Bohm[3] - für jede Art von Wissen, unabhängig davon, was es beinhaltet, wer der Besitzer ist und wie es gespeichert wird.

Die Wissensmerkmale Breite, Tiefe und Strukturiertheit (=Höhe) legen es nahe, die Wissenszustände in Form eines Würfels anzuordnen. Auf diese Weise erhält man ein anschauliches Modell, das den Namen Wissenswürfel rechtfertigt. In Abbildung 1 ist der Wissenswürfel zu sehen.

Abbildung 1 Der Wissenswürfel als Zustandsraum

Die Grenzen des Zustandsraums

Für die untere und obere Grenze der Zustandsvariablen des Wissens habe ich bewusst die etwas unscharfen Bezeichnungen “gering” und “groß” gewählt. Zum einen ist das für eine qualitative Beschreibung völlig ausreichend, und zum anderen gibt es auch in der Praxis oft keine scharfen Unter- und Obergrenzen.

Nur bei messbaren Wissensmengen kann man die Grenzwerte “gering” und “groß” durch Angabe von Maßzahlen und Maßeinheiten konkretisieren. Dazu ein Beispiel.:

Die zu messende Wissensmenge bestehe aus den Kundendaten eines Unternehmens. Die Wissensbreite ist dann proportional der Anzahl an Kunden. Was das Unternehmen als geringe und große Wissensbreite festlegt, wird davon abhängigen, welche Kundenbasis benötigt oder angestrebt wird. So kann für einen kleinen Handwerksbetrieb der Wert “groß” bei > 100 Kunden liegen, für ein mittleres Unternehmen bei > 1000 und für einen global tätigen Konzern erst bei mehr als zehn Millionen. Da die Wissensbreite messbar ist, lässt sich aber in jedem Fall ein konkreter Grenzwert definieren. Für die Wissenstiefe gibt es kein allgemeines und aussagekräftiges Maß, wie es die Kundenzahl ist. Je nach Verwendungszweck muss deshalb die Skala definiert werden. Im Beispiel misst man die Wissenstiefe in fünf Stufen:

Wissenstiefe

Kundeninformation

1

Name und Adresse

2

+ Telefonnummer und E-Mail-Adresse

3

+ Alter

4

+ Beruf

5

+ Familienstand

Stufe 5 entspricht der größten Detailfülle und somit dem Attribut “groß” der Wissenstiefe. Eine entsprechende Skala für die Strukturiertheit des Wissens über die Kunden sieht wie folgt aus:

Strukturiertheit des Wissens

Kundeninformation

0

Nicht sortiert

1

Sortiert nach Namen und Adresse

2

+ Sortiert nach Beruf, Alter, Familienstand

3

+ Zusatzinformationen für regionale Zuordnung

4

+ Regeln zur Kunden- und Bedarfsanalyse

Die Strukturiertheit wächst mit steigender Maßzahl. Besitzt das Unternehmen in seinen Teilbereichen verschiedene Kundenstämme, die separat erstellt und gepflegt werden, dann werden die Bestände mit der Strukturiertheitsstufe 5 den höchsten Nutzen bringen.

Ohne die Kenntnis des Inhaltes und der Darstellung von Wissensmengen kann man Wissen nicht messen, sondern nur mehr oder weniger gut bewerten. Nicht anders als beim Messen der Temperatur mit ihren zahlreichen - von Temperaturbereich, Stoff oder Messort abhängigen – Messmethoden, wird man deshalb spezielle Messverfahren für konkrete Wissensmengen entwickeln müssen.

Ein erster Schritt in Richtung Messbarkeit besteht in der Definition geeigneter Messgrößen. Erst wenn man weiß, was man messen kann und welche Bedeutung bestimmte Konstellationen von Messwerten haben, lohnt es sich, über geeignete Messverfahren nachzudenken.

Das Modell des Wissenswürfels liefert keine Messvorschriften, aber Hinweise auf Messgrößen und deren Bedeutung.

1 Mathematiker und Physiker bezeichnen solche Merkmale als Zustandsvariable

Die charakteristischen Zustände des Wissenswürfels

Der Wissenswürfel stellt einen Raum dar – den Zustandsraum des Wissens. In Räumen kann man sich bewegen und von Ort zu Ort gehen. Im Wissenswürfel bedeutet ein Ortswechsel die Veränderung des Wissenszustandes. Alle Wege führen nach Rom, sagt das Sprichwort, aber nicht alle Wege im Wissenswürfel führen zu umfassendem Wissen und Erkenntnis. Es gibt Sackgassen und es existieren Wege, auf denen man Wissen verliert. Bevor ich näher auf die Wege im Wissenswürfel eingehe, werde ich seine charakteristischen Wissenszustände beschreiben. Ich beginne beim Zustand Unkenntnis und folge der Aufzählung von Tabelle 2.

Unkenntnis

Strukturiertheit

Breite

Tiefe

klein

klein

klein

Unkenntnis liegt vor, wenn man über ein Sachgebiet nichts oder äußerst wenig weiß. Das muss nicht der schlechteste Ausgangspunkt sein. Denn wer nichts weiß, aber neugierig und aufgeschlossen gegenüber Neuem ist, hat gute Chancen, den Zustand der Unkenntnis schnell zu überwinden. Wer in Unwissenheit verharrt und weder fähig noch willens ist zu lernen, dessen Unkenntnis muss man hingegen der Dummheit zuordnen.

Detailwissen

Die Bezeichnung „Detailwissen“ steht für einen Zustand, in welchem man über einige wenige Dinge sehr viel weiß, ohne dass die Einzelheiten strukturiert oder geordnet sind.

Strukturiertheit

Breite

Tiefe

klein

klein

groß

Die Details dürfen zu verschiedenen Sachgebieten gehören und brauchen in keinem Zusammenhang zu stehen. Detailwissens ist eine der Voraussetzungen für erfolgreiches Handeln und gebrauchsfähige, funktionierende Produkte. Mangelnde Detailkenntnisse führen zu schlechter Qualität und Oberflächlichkeit. Die Überbewertung von Details, die sich in der Detailverliebtheit äußert, versperrt hingegen den Blick fürs Ganze und hemmt die Wissensentwicklung.

Allgemeinwissen

Strukturiertheit

Breite

Tiefe

klein

groß

klein