Wissenschaft, Politik, Verfassungsgericht - Ernst-Wolfgang Böckenförde - E-Book

Wissenschaft, Politik, Verfassungsgericht E-Book

Ernst-Wolfgang Böckenförde

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Beschreibung

Der Staatsrechtler und ehemalige Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde ist nicht zuletzt durch das sogenannte Böckenförde-Diktum, daß der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann, zu einem der einflußreichsten Juristen der Bundesrepublik geworden. Der Band verbindet Aufsätze Böckenfördes zur Verfassungslage, zum Verfassungsrecht und zur Ordnung Europas mit einem großen biographischen Interview, in dem er über seinen Werdegang, seine intellektuelle Prägung und wissenschaftliche Forschung, seinen Katholizismus, seine Mitgliedschaft in der SPD und seine Zeit als Verfassungsrichter spricht. Ein substantieller Beitrag zur Ideen- und Zeitgeschichte der Bundesrepublik.

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Wissenschaft, Politik, Verfassungsgericht

Aufsätze von Ernst-Wolfgang Böckenförde

Biographisches Interview von Dieter Gosewinkel

Suhrkamp

Zur Gewährleistung der Zitierbakeit zeigen die grau hinterlegten Ziffern die jeweiligen Seitenanfänge der Printausgabe an.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2011 © Suhrkamp Verlag Berlin 2011 Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. eISBN 978-3-518-75220-3 www.suhrkamp.de

7Erster Teil

Ernst-Wolfgang Böckenförde Aufsätze

9Vorwort

Der Aufsatzband Staat, Verfassung, Demokratie mit Studien zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht erschien zuerst 1991 und bald danach in zweiter Auflage. Er ist seit über 10 Jahren vergriffen, ohne daß der Verlag sich zu einer Neuauflage im ganzen hat entschließen können. Um so erfreuter bin ich, daß sich nunmehr in Verbindung mit dem umfangreichen biographischen Interview, das Dieter Gosewinkel angeregt und durchgeführt hat, die Möglichkeit ergibt, etliche Stücke dieses Bandes, die seinerzeit lebhafte Diskussionen ausgelöst haben und auch heute noch aktuell sind, erneut zu veröffentlichen. Sie werden ergänzt durch eine Anzahl neuerer Beiträge, die – zumeist von aktuellen Fragen angeregt – in den letzten 12 Jahren entstanden sind. Einige von ihnen sind auch Bezugspunkte für das biographische Interview.

Thematisch ergibt sich für diesen Aufsatzteil eine Dreigliederung. Im ersten Abschnitt geht es um Analysen und Reflexionen zur derzeitigen Verfassungslage. Dabei wird Verfassungslage nicht in einem engeren, auf die normative Verfassung gerichteten Sinn verstanden, vielmehr auf den geistigen wie politisch-sozialen Gesamtzustand des Gemeinwesens und dessen Probleme bezogen.

Der zweite Abschnitt wendet sich grundlegenden verfassungsdogmatischen Fragen zu. Hier stehen der Rechtsgrund, der Charakter und die Interpretation der Verfassung zur Debatte. Ist die Verfassung primär nur eine Rahmenordnung, gerichtet auf das Grundverhältnis von Bürger und Staat sowie die Konstituierung, die Befugnisse und die Machtverteilung der obersten Staatsorgane, deren weitere Ausfüllung originär dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber obliegt? Oder ist sie die wertbezogene Grundordnung des Gemeinwesens insgesamt, die in nuce bereits das Grundgefüge der Rechtsordnung in sich enthält, so daß der demokratische Gesetzgeber sie weniger originär gestaltet als sie vielmehr im Sinne des grundlegenden Wertgehalts der Verfassung nur näher konkretisiert? Damit werden entscheidende Fragen der Verfassungsinterpretation wie auch der Verfassungsstruktur berührt bis hin zur Stellung und Aufgabe der Verfassungsgerichtsbarkeit im demokratischen Staat.

Der – kürzere – dritte Abschnitt zielt auf die gerade wieder in 10fließender Umgestaltung befindliche Ordnung Europas. Dessen Beiträge führen die Überlegungen über den Weg Europas weiter fort, wie ich sie in dem Band Staat, Nation, Europa entwickelt habe. Sie sind derzeit nicht ohne Aktualität. Überschneidungen in den ersten beiden Beiträgen erklären sich aus deren thematischer Nähe.

Das Verbindende der Beiträge insgesamt liegt darin, einerseits die juristisch-dogmatische Bearbeitung des Verfassungsrechts auf der Grundlage einer dem Geltungsanspruch des positiven Rechts verpflichteten Methode ernst zu nehmen, sie jedoch durch geistes- und verfassungsgeschichtliche wie auch verfassungstheoretische Analysen und Reflexionen, die auf die umgebende Wirklichkeit bezogen sind, zu ergänzen bzw. sie in diese einzubetten. Verfassungsrechtliche wie verfassungstheoretische Arbeit darf nicht in eine Engführung hineingeraten, muß sich vielmehr nach Anspruch und Vollbringen als Teil einer internationale und globale Entwicklungen mit einbeziehenden gesamten Staatswissenschaft erweisen.

Herzlich zu danken habe ich an erster Stelle Frau Eva Gilmer vom Suhrkamp Verlag, die die Publikation eines neuartig – mit Aufsatzteil und biographischem Interview – zusammengefügten Bandes in der stw-Reihe beherzt ergriffen hat; sodann meinem Kollegen und Schüler Dieter Gosewinkel, der mit seiner Initiative, der Durchführung und umfassenden Bearbeitung des biographischen Interviews, das mir selbst mein Berufsleben erst nachhaltig bewußt gemacht hat, allererst die Voraussetzung für das Zustandekommen dieses Bandes geschaffen hat; schließlich in besonderer Weise Frau Martina Griesbaum, die für mich nun seit Jahren mit größter Sorgfalt und unermüdlichem Einsatz alle noch verbliebenen Sekretariatsaufgaben erledigt.

Au/Freiburg, im März 2011

Ernst-Wolfgang Böckenförde

11I. Zur Verfassungslage

131. Vom Wandel des Menschenbildes im Recht [1]

In welcher Weise läßt sich von einem Menschenbild im Recht sprechen? Das Recht regelt das äußere Zusammenleben der Menschen. Es tut dies nicht nur als Angebot, sondern verbindlich, das heißt mit einem normativen Anspruch, der auf Befolgung zielt. Das Recht ist darauf angelegt und angewiesen, daß es im Streit- oder Weigerungsfall auch durchgesetzt werden kann. Mit den subjektiven Rechten und Ansprüchen, die es verleiht, den Geboten und Verboten, die es ausspricht, mit den Verfahrensregeln, die es festlegt, und den Institutionen, die es gestaltet und normativ unterfängt, betrifft es die Lebenswelt der Menschen und ist ein Teil davon. In der Art, wie das Recht dies alles tut, läßt es ausdrücklich oder indirekt eine Vorstellung vom Menschen erkennen: als wer ist er anzusehen und was kommt ihm zu, worin ist er zu schützen, was ist ihm zu ermöglichen und wovon ist er fernzuhalten. Dieses Bild vom Menschen findet seinen Ausdruck sowohl in konkreten Regelungen und Festsetzungen des Rechts wie auch in den tragenden Prinzipien einer Rechtsordnung und der philosophischen Reflexion, die diesen zugrunde liegt. Zugleich sind das Recht und die Rechtsordnung, die die Menschen umgibt, weil es sich um einen Teil ihrer Lebenswelt handelt, ein Faktor ihrer Selbsterfahrung; als solcher wirken sie auf das Selbstverständnis der Menschen ein und bestimmen damit auch das Bild der Menschen von sich selbst mit.

Ich möchte im folgenden diesem Bild vom Menschen im Recht etwas nachspüren und dabei den Blick besonders darauf richten, in welcher Weise und in welchem Umfang hier ein Wandel stattgefunden hat. Natürlich kann das im Rahmen eines Vortrags nicht umfassend geschehen, ich muß mich zum einen auf das Recht im alten Reich und später in Deutschland beschränken, zum anderen darauf, die wichtigen Stufen und Einschnitte hervorzuheben und zu analysieren. In einem ersten Teil werde ich nach dem Menschenbild fragen, wie es dem Recht Alteuropas, insbesondere vom 16. bis 18. Jahrhundert zugrunde liegt und in ihm zum Ausdruck kommt, in einem zweiten Teil nach der grundlegenden Veränderung des 14Menschenbildes im Recht, die mit den Gedanken der Aufklärung und den Ordnungsideen der Französischen Revolution hervorgetreten ist und sich im 19. und in das 20. Jahrhundert hinein weiter entfaltet hat, im dritten Teil danach, welches Bild vom Menschen in der gegenwärtigen Rechtsordnung zum Ausdruck kommt.

I.

Für die Frage nach dem Menschenbild im Recht mit dem 16. bis 18. Jahrhundert einzusetzen rechtfertigt sich unter anderem deshalb, weil zu dieser Zeit auch im weltlichen Bereich ein folgenreicher Wandel hin zu bewußter Gestaltung des Rechts stattfand. Das kündigt sich mit den Rechtsreformationen in den Städten, den Landrechten in den Territorien und den mannigfachen Polizeiordnungen, die seit dem 16. Jahrhundert ergehen, an und zeigt sich schließlich im 18. Jahrhundert an mehreren großen Gesetzgebungswerken. [2] Wird nämlich das Recht nicht mehr als Teil einer selbstverständlich tradierten Lebensform verstanden, der durch Konsens und Herkommen Legitimation findet, sondern mit dem Ziel der besseren oder anderen Ordnung der Lebensverhältnisse bewußt gestaltet und autoritativ festgelegt, prägt sich in ihm eine bestimmte Vorstellung vom Menschen, seinem Wesen, seinen Aufgaben und Lebensformen auch deutlicher aus.

1. Das Recht dieser Zeit geht unhinterfragt davon aus, daß der Mensch ein Geschöpf Gottes ist und in einer Beziehung zu Gott 15steht. Das folgt nicht allein daraus, daß das Recht insgesamt als Teil einer religiös interpretierten Weltordnung – die Welt als Schöpfung Gottes – verstanden und als darin gegründet angesehen wurde. Diese Einbindung des Rechts wurde etwa in den Bauernaufständen am Anfang des 16. Jahrhunderts nachhaltig aktualisiert. [3] Das religiös geprägte Menschenbild zeigt sich ebenso und konkret faßbar darin, daß und wie das Recht bestimmte Pflichten aus der Beziehung zu Gott festlegt, vor allem diejenigen, am wahren, einmal angenommenen Glauben festzuhalten, keine falschen religiösen Lehren zu verbreiten, die Gott beleidigen und die Gläubigen in Gefahr bringen, und schließlich nicht zum Lästerer gegen Gott zu werden. [4] Der Glaube wird als rechtsartiges Treueverhältnis begriffen, der Abfall vom Glauben, die Ketzerei, erscheint als Treuebruch und Verrat, außerdem als Gefahr für die Grundlage der politischen Ordnung. So ist es Aufgabe der weltlichen Gewalt, Abfall vom Glauben und die Verbreitung falscher Lehren zu hindern sowie die Lästerer gegen Gott zu bestrafen, die beleidigte Majestät Gottes zu rächen. [5] Wurden diese Vergehen und Verbrechen gesühnt und 16Gott dadurch Genugtuung geleistet, war und blieb für den bestraften Täter – das war die Auffassung der Zeit – der Weg zum Heil, zu seiner ewigen Seligkeit (wieder) offen.

Es war freilich auch dieses religiös geprägte Menschenbild, von dem im Zuge der Glaubensspaltung ein Impuls ausging, das Recht aus der Einbindung in die religiöse Wahrheitsordnung zu lösen. Veranlaßt durch die Glaubensspaltung, stellte sich für das Recht die Frage, wie die Menschen unter der Bedingung dieser Glaubensspaltung weiter miteinander leben können. Die Teilung der Christenheit war ein Dissens in der religiösen Wahrheitsfrage, und diese duldet keine Kompromisse. Die Einheit im Glauben (als den Gott geschuldeten Gehorsam) mit Feuer und Schwert zu erhalten oder wieder herzustellen wurde verschiedentlich versucht, brachte vielfaches Leid über die Menschen, erwies sich aber letztlich als undurchführbar. Und es erhoben sich dagegen Bedenken und Widerspruch auch von theologischer Seite. Erasmus und der junge Luther – beim älteren Luther liest es sich anders – stritten dafür, daß dem Irrglauben und der Ketzerei nur durch Dialog und Überzeugung, nicht aber durch das Schwert begegnet werden könne. [6] Die politische Unlösbarkeit des Glaubenskonflikts führte schließlich dazu, daß einerseits dem Landesherrn die Religionshoheit für sein Territorium (cuius regio eius religio) überlassen, andererseits aber dem einzelnen ihr gegenüber zunächst kleinste, dann sich erweiternde rechtliche Freiheitsräume zuerkannt wurden: das beneficium emigrationis im Augsburger Religionsfrieden, die »private« Glaubens- und Gewissensfreiheit im Westfälischen Frieden. [7]

So spärlich diese Rechte zunächst waren, sie bedeuteten bereits einen Paradigmenwechsel. Sie kamen dem einzelnen selbst, als In17dividuum, um seines Glaubens und Gewissens willen zu und lösten ihn insoweit aus Gemeinschaftsbindung und rechtlicher Abhängigkeit heraus. Der Grund- oder Landesherr konnte demjenigen, der um der Übung seines Glaubens willen Grundherrschaft oder Territorium verlassen wollte, nicht eine bestehende Dienst- oder Vasallenpflicht entgegenhalten, die den Wegzug nicht zulasse. Das glaubensbezogene Freiheitsrecht der Person prävalierte gegenüber allen bestehenden rechtlichen Einbindungen; nicht diese, sondern es selbst setzte sich durch. Georg Jellinek hat recht, wenn er in diesem Recht der Glaubensfreiheit, so bescheiden es zunächst war, den Ursprung der modernen, individuellen Freiheitsrechte gesehen hat, die den Einzelnen auf sich stellen und das Individuum aus bestehenden Gemeinschaftsbindungen herauslösen. [8] Der einzelne wird als Subjekt aus sich selbst, vor aller Einbindung und diese transzendierend, anerkannt. Und dies kommt ihm zu um seines Glaubens willen, der religiösen Beziehung zu Gott, der ihn geschaffen hat. Es wurde damit ein Keim in das Recht hineingesetzt, der sich ausbreitete und weit in den säkularen Bereich hinein entfaltete.

2. Im übrigen zeigt sich das Bild vom Menschen, das dem Recht zugrunde liegt, in folgender Weise: Der Mensch steht und lebt zu dieser Zeit notwendig und ungeteilt in Gemeinschaften; er erscheint als animal sociale et politicum, und zwar nicht abstrakt, im Sinn einer allgemeinen Gemeinschaftsverwiesenheit, sondern sehr konkret als Glied von Gemeinschaften. Er lebt in vielfältigen Gemeinschaftsbeziehungen, die teils herrschaftlich, teils auch genossenschaftlich strukturiert sind. Primär als Angehöriger oder auch Glied solcher Gemeinschaften hat der einzelne sein Recht und steht er im Recht; es ist durch Bindungen und Abhängigkeiten, aber auch durch geringere oder größere Freiheiten gekennzeich18net. [9] Daraus ergibt sich der rechtliche Status, der die Stellung des einzelnen innerhalb der Gesellschaft näher qualifiziert. So erscheint die Gesellschaft selbst als eine nach Ständen gegliederte und geordnete, die Stände haben nicht nur sozialen, sondern herrschaftlich-politischen Charakter; die Gesellschaft insgesamt ist eine »societas civilis cum imperio«, [10] innerhalb deren das Imperium in konkreten Herrschaftsbeziehungen gestreut ist, noch nicht bei der staatlichen Gewalt voll konzentriert, wonach diese zunehmend strebt. Wer solch statusmäßiger, gliedhafter Zugehörigkeiten entbehrt, ist in einem spezifischen Sinn recht-los, er kann für seine Teilhabe am Recht nicht zugeordnet werden, gerät leicht unter die landschädlichen Leute, die den Flugsand der Gesellschaft bilden. Um dem zu wehren, sucht man die Menschen soweit möglich ›standhaft‹ zu erfassen, erläßt Regelungen auch für die Bettler und Ordnungen für die unehrbaren Berufe. [11]

Die Aufgaben, die der häuslichen und insbesondere der politischen Gemeinschaft, der städtischen oder landesherrlich-staatlichen Obrigkeit obliegen, sind weitgreifend. Sie spiegeln die umfassende Einbindung in diese Gemeinschaften, die für die Stellung 19der einzelnen bestimmend war. Nicht nur die Herstellung und Gewährleistung von öffentlichem Frieden und Sicherheit sowie Freiheit der einzelnen und vertragliche Autonomie sind Ziel und Inhalt dessen, was das Recht gebietet und die Obrigkeiten anstreben. Vielmehr normiert das Recht in weitem, uns heute eher erschreckendem Umfang auch die gesamte jeweilige Berufstätigkeit und das persönliche Verhalten, die Lebensführung. Das Regulativ bildet die Verpflichtung auf den gemeinen Nutzen, [12] zunehmend mit der Ausbreitung polizeistaatlichen Denkens. Aber der gemeine Nutzen erstreckt sich über das gedeihliche Zusammenleben der Menschen hinaus auch auf ihr gutes Leben, die eudaimonia, verstanden als ein Leben in Sittsamkeit und Ehrbarkeit, ohne Müßiggang, Verschwendung, Rauferei und Trinkgelage; dieses Leben trägt dann seinerseits zum gemeinen Nutzen bei. Greifbar wird dies an den zahlreichen Polizei- und Landesordnungen [13] und ferner an der Polizeiliteratur. [14] Orientierungspunkt ist hier das Wohl der Bürger oder Untertanen. Es wird nicht als Ermöglichung individueller Freiheit und Autonomie verstanden, sondern als Hinführung zum tugendhaften und nützlichen Leben, an jeweils dem Ort, wo die betreffenden Menschen in der ständisch geordneten Gesellschaft 20stehen. Johann Jacob Moser zählt zur Polizei »diejenigen landesherrlichen Rechte und Pflichten  […], welche die Absicht haben, der Untertanen äußerliches Betragen im gemeinen Leben in Ordnung zu bringen und zu erhalten, wie auch ihre zeitliche Glückseligkeit zu befördern.« [15]

Die so gesehene Polizeigewalt greift weit aus. Sie umfaßt Berufspolizei ebenso wie Sitten- und Aufwandspolizei, Haus- und Wirtschaftspolizei und anderes mehr. In ihren Maßnahmen und Reglementierungen verbindet sich Sorge für die Wohlgeordnetheit mit dem Verfolg merkantilistischer Nützlichkeit. Drei Beispiele mögen das verdeutlichen.

Die Berufspolizei kann, »wenn  […] unbemittelte Manns- oder Weibspersonen aus Faulheit oder Hochmut nicht dienen wollen, sondern von ihrem Wenigen herunter zehren, indessen nichts erwerben, und endlich, wenn das Ihrige all  […], betteln müßten«, diese Personen »sehr wohl nötigen, zu dienen«. [16] Andererseits kann der Landesherr seine Untertanen einschränken, wenn sie gewisse, an sich erlaubte Lebensarten erwählen wollen, das gemeine Beste aber, den dermaligen Umständen des Landes nach, darüber Schaden leiden würde. [17] Gedacht ist konkret daran, daß sich zu viele Leute aufs Studieren verlegen und dann ihr Brot dabei nicht finden und mit oder ohne Willen Müßiggänger werden. [18]

Die Sitten- und Aufwandspolizei kümmert sich um die Kleidung der Untertanen, ihre Feste und oft allzu üppigen Mahlzeiten. Die ratio ihres Vorgehens ist, »1. damit so wenig als möglich Geld vor dieselbige zum Land hinausgehe; 2. daß überhaupt die Untertanen sich nicht durch einen das Verhältnis ihres Vermögens übertreffenden Aufwand hierin selber Schaden tun; 3. damit auch äußerlich ein Unterschied zwischen den verschiedenen Ständen und Graden der Untertanen verbleibe«. [19] Demgemäß bestimmt eine Verordnung des Herzogtums Lauenburg von 1774 bei Hochzeiten im Detail die Zahl der zugelassenen Gäste und Gerichte, unterschiedlich 21nach drei Klassen der Bewohner, und legt auch den zugelassenen Wert der Hochzeitsgeschenke fest, unterschiedlich nach Stadt und Land. [20]

Die Polizei der häuslichen Ordnung »beschäftigt sich mit allem, was von der häuslichen Gesellschaft aus auf die Staatsgesellschaft Einfluß haben kann, ohne deshalb in das Innere der Familien spionenartig einzudringen, oder überall mit Gewalt durchzugreifen«. [21] Zu ihr gehört unter anderem die genaue Aufsicht über die häusliche Ökonomie der Untergebenen und »schleunige Vorkehrung solcher Anstalten, wodurch der Zerrüttung derselben Einhalt geboten wird«. [22] H. G. von Berg verweist dafür auf die Vorschriften in badischen Landen, die alles erschöpften, was eine aufmerksame Landespolizei tun kann und darf. [23]

22Das Menschenbild, das hier Pate steht, ist deutlich erkennbar. Der Mensch erscheint als in Gemeinschaften und ihren Ordnungen stehende Person, als durch sie und das von ihnen auferlegte Recht Gebundener, in seiner Selbstbestimmung vielfach Begrenzter, indes zum ethisch-guten und nützlichen Leben Geführter, der vor den Gefahren eigener Fehlbarkeit geschützt oder auch bevormundet wird. Rechte, soweit er sie hat, sind ihm gegeben nicht als autonome Freiheitsräume, sondern um ihrer ethisch richtigen und gemeinnützlichen Ausübung willen, weshalb es kein Problem macht, diese Ausübung wiederum im einzelnen rechtlich vorzuschreiben. Es dominiert in diesen Ordnungen ein ethischer, von den Aufgaben und Pflichten her bestimmter Rechtsbegriff.

3. Fragt man nach dem geistig-philosophischen Hintergrund, auf dem das so geprägte Recht aufruht und von dem es womöglich inspiriert ist, liegt das Denken des Aristoteles nicht fern. Der Mensch, seiner Natur nach zoon politikon, kommt gerade im und durch das Leben in Gemeinschaften, vorab in oikos und polis, zu sich und seiner eudaimonia. Sein Natur-telos ist darauf gerichtet, als Glied und Teil solcher Gemeinschaften zu leben. [24] Dieses Denken hat seit der Rezeption des Aristoteles im 12. und 13. Jahrhundert die Rechts- und Staatsphilosophie in Europa bekanntlich nachhaltig bestimmt, es wurde – in Städten wie an Höfen – weithin zur Basistheorie für die Ausrichtung und Rechtfertigung politischen Handelns. Seine Wirkung blieb über die Reformation hinaus auch in protestantischen Territorien erhalten, hier war Melanchthon der Brückenbauer zu einem protestantischen Aristotelismus. [25] Der vom einzelnen Individuum ausgehende Denkansatz zur Erklärung und Begründung sozialer und politischer Gemeinschaften, wie ihn die Theoretiker des Vernunftrechts, voran Thomas Hobbes und John Locke, vertraten, vermochte dieses Modell nicht sogleich, sondern erst allmählich und stückweise zu verdrängen. Samuel von Pufendorf, der die Lehren des Hobbes kannte und teilweise übernahm, legt ungeachtet seines individualrechtlichen Ausgangspunktes ein Sozial- und Ordnungsbild zugrunde, das viel stärker 23aristotelisch als etwa hobbesianisch und daneben eher lutherisch geformt ist. Der imbecillitas, der Bedürftigkeit des Menschen, die ihn auf das Leben in Gemeinschaft angewiesen sein läßt, stellte er die socialitas, die Bereitschaft zur positiven Hilfe für den andern, gegenüber, nicht die bloße Abgrenzung individueller Freiheitssphären. [26] Und den Rechten des einzelnen stehen die Pflichten voran, Pflichten gegenüber Gott, gegenüber sich selbst, gegenüber den Mitmenschen allgemein und in den verschiedenen Lebenskreisen. [27] Das Naturrecht erscheint als Gebotsrecht, nicht als Freiheitsrecht, es umfaßt die Regeln des Gemeinschaftslebens, »wie sich ein jeder betragen muß, um ein nützliches Glied der menschlichen Gesellschaft zu sein«; sein Grundprinzip ist: »Jeder muß die Gemeinschaft nach Kräften schützen und fördern.« [28] Es differenziert sich nach dem Stand, den der Mensch in der Gesellschaft einnimmt, dem natürlichen Stand als Mann und Frau, Eltern und Kind und den ererbten oder erworbenen Ständen. [29] Aufgabe der staatlichen Gesetze ist es, dem so gesehenen Naturrecht, das die meisten Menschen nicht von selbst befolgen, Wirksamkeit zu verleihen und dadurch zu erreichen, daß überall das Leben im Staat in den Bahnen der Sittlichkeit verläuft. [30] Aristoteles begegnet uns auf Schritt und Tritt, ein autonomiegeprägtes Menschenbild ist noch fern.

Auch im preußischen ALR, das schon vom Gedanken der Aufklärung und des Vernunftrechts mit geprägt ist, wirkt dieses 24Konzept noch fort und verleiht ihm die oft hervorgehobene Zwischenstellung. [31] Sein zweiter Teil ist ganz nach den Gesellschaften aufgebaut, in denen der einzelne lebt und steht: Von der Ehe geht es über die Familie, Herrschaft und Gesinde zu den einzelnen Ständen, Bauern-, Bürger- und Adelsstand, die im wesentlichen noch herrschaftlich-politisch begriffen werden, zu den Kirchen und geistlichen Gesellschaften. Die neue staatsbürgerliche Ordnung kündigt sich in dem dazwischen geschobenen Beamten- und Militärstand als dem eigentlichen Staatsstand an und ebenso in der doppelten Bestimmung des Bürgerstandes. [32] Sie kündigt sich ferner in der Veränderung des Polizeibegriffs an, der nicht mehr die gute Ordnung der Politia insgesamt im Sinne der eudaimonia umfaßt, sondern auf die Erhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung ausgerichtet wird (§ 10 II 17). [33] Und was sich hier erst ankündigte, war andernorts in der Französischen Revolution zur gleichen Zeit bereits grundlegend geschehen.

II.

Was in der Französischen Revolution zur Wirklichkeit drängte, war ein grundlegender Paradigmenwechsel für die Gestaltung des Zusammenlebens der Menschen und das Bild vom Menschen, das sich darin näher ausformt. Über Frankreich hinausgreifend, bildete 25dieser Paradigmenwechsel den ersten Höhepunkt einer fortschreitenden Individuation des Menschen, die sich im Europa der Neuzeit insgesamt beobachten läßt. [34] Die Inhalte dieses Wandels, die sozialen und politischen Ordnungsideen der Französischen Revolution, waren philosophisch vorbereitet im Denken insbesondere der französischen Aufklärung und den Theorieentwürfen des Vernunftrechts, wie sie seit dem 17. Jahrhundert entwickelt wurden. Einmal proklamiert, wirkten sie nachhaltig auf die Gestalt und den Inhalt des Rechts ein, formten es Stück um Stück im Sinne des ihnen zugrundeliegenden Menschenbildes.

1. Der Ausgangspunkt für die Theorie des Vernunftrechts war die Vorstellung vom Menschen als einzelnem, freiem, auf sich gestelltem Individuum, das als solches Subjekt, auch Subjekt des Rechts ist und als dieses allen sozialen und sonstigen Gemeinschaftsbeziehungen vorausliegt. [35] Beziehungen und Bindungen sind nicht vorgegeben, sie können nur aus dem freien Willensentschluß der einzelnen hervorgehend gedacht werden, geschaffen für die Zwecke individueller Selbsterhaltung und -entfaltung. Dieses Bild vom Menschen wird dem überkommenen Bild des von Natur und ursprunghaft in soziale und politische Gemeinschaften eingebundenen und als deren Glied existierenden Menschen entgegengestellt. Das darin enthaltene emanzipatorische Potential war enorm. Es verlor auch nicht deshalb an Kraft, weil seine Prämissen konstruierte waren, das einzelne, auf sich gestellte Individuum in der realen Welt so gar nicht vorfindlich ist. Denn es gehörte gerade zur Eigenart dieser geistig-politischen Bewegung, daß in ihr, um 26Hegels Wort aufzunehmen, »der Mensch sich auf den Kopf, d. h. auf den Gedanken stellt und die Welt nach diesem erbaut«. [36]

Dieses emanzipatorische Potential drängte gegen die bestehende Ordnung an, delegitimierte sie und brachte einen neuen Begriff der Freiheit des Menschen hervor. Der fand seinen emphatischen Ausdruck in der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Art. 1 dieser Erklärung stellte lapidar fest: »Tous les hommes naissent et demeurent libres et egaux en droits.« Art. 2 erklärt zum Endzweck jeder politischen Vereinigung die Erhaltung der natürlichen und unveräußerlichen Menschenrechte, und Art. 4 formuliert das Grundmodell für die künftige Gestaltung der Rechtsordnung: »Die Freiheit besteht darin, alles tun zu können, was einem anderen nicht schadet. Die Ausübung der natürlichen Rechte eines jeden Menschen hat nur die Grenzen, die den anderen Gliedern der Gesellschaft den Genuß der gleichen Rechte sichern; diese Grenzen kann allein das Gesetz festlegen.« [37] Dies hat wegweisende Bedeutung. An die Stelle der konkreten Freiheiten innerhalb von sozialen und politischen Gemeinschafts- und Herrschaftsbeziehungen tritt die allgemeine abstrakte Freiheit des auf sich gestellten Individuums. Diese Freiheit, als autonome Freiheit der Einzelperson, wird der Ausgangs- und Bezugspunkt der Rechtsordnung, um sie herum wird nun die Rechtsordnung gebaut, auch soweit sie Bindungen und Verpflichtungen auferlegt. Es ist eine Erhabenheit des einzelnen Menschen, seine Herauslösung aus vielfachen Abhängigkeiten, seine Freisetzung zur Selbstbestimmung, die hier zum Ausdruck kommt. Das war zunächst als Programm formuliert, die Umsetzung in die einzelnen Bereiche der Rechtsordnung hinein erfolgte über ein Jahrhundert lang mit unterschiedlicher Intensität und nicht ohne Überwindung von Widerständen; zugleich wurden dadurch neue Probleme heraufgeführt.

2. Bevor ich auf diese Entwicklung einen Blick werfe, sei noch auf zwei Eigentümlichkeiten des hier hervortretenden Menschenbildes hingewiesen. Zum einen erscheinen, der eben zitierte Art. 4 27bringt es zum Ausdruck, der Mitmensch und das Netzwerk sozialer Beziehungen, in denen der Einzelne lebt, nicht als Bedingung des eigenen Menschseins und seiner Entfaltung, sondern als eine Grenze, die Grenze der eigenen Ausdehnung und Freiheitsbetätigung. Karl Marx hat das in seiner Kritik an der Menschenrechtserklärung von 1793 früh erkannt und auf den Begriff gebracht. Zu dem bereits angeführten Art. 4 bemerkt er:

Die Grenze, in welcher sich jeder dem anderen unschädlich bewegen kann, ist durch Gesetz bestimmt, wie die Grenze zweier Felder durch den Zaunpfahl bestimmt ist. Es handelt sich um die Freiheit des Menschen als isolierter, auf sich zurückgezogener Monade.  […] das Menschenrecht der Freiheit basiert nicht auf der Verbindung des Menschen mit dem Menschen, sondern vielmehr auf der Absonderung des Menschen von dem Menschen. Es ist das Recht dieser Absonderung. [38]

Um kurz rückzublenden: Es fehlt in diesem Konzept die ›socialitas‹, das positive Orientiertsein und unterstützende Handeln auf den andern hin, wie wir es bei Pufendorf fanden, als strukturierendes und organisierendes Rechtsprinzip. Zwar wird socialitas nicht ausdrücklich negiert, aber sie wird abgedrängt in den Bereich des Ethischen. Sie mag am Rande zur Festlegung einzelner Solidaritätspflichten führen, strukturiert aber die an die Autonomie des einzelnen Individuums anknüpfende Rechtsordnung nicht.

Zum andern geht der Mensch in das Recht nicht mit seiner metaphysischen oder transzendenten Bestimmung ein. Ob er Geschöpf Gottes ist, eingebettet in eine vorgegebene göttliche Weltordnung als deren Teil, bleibt dahingestellt, es kommt darauf nicht (mehr) an. Das Recht erfaßt den Menschen als das in Freiheit gesetzte autonome Individuum, das seine Bestimmung selbst suchen und wählen, aber auch verfehlen kann, ohne vom Recht eine Vorgabe für diese Wahl zu erhalten. Das Woraufhin der Freiheit bleibt vom Recht unbeantwortet, es formuliert und verwirklicht um der subjektiven Freiheit und der Autonomie des einzelnen willen keine verbindliche positive Sozialidee, wie sie vorher in der eudaimonia bestand. An die Stelle des ethisch-materialen Rechts, wie es zur 28Ordnung Alteuropas gehörte, tritt das formale, Freiheit und Autonomie ummantelnde Recht, [39] das auch zur Beliebigkeit freisetzt. Das zeigt sich auch und gerade an den Grundrechten als den Panieren der Freiheit. Sie haben nicht eine verbindliche Zielausrichtung der Freiheit auf Religion, auf Bildung, Kunst usf. zum Inhalt, sondern die Freisetzung von Religion, Bildung, Kunst usw. Diese sollen von den Menschen frei ergriffen werden können, sind ihnen aber nicht mit Verbindlichkeit vorgegeben.

3. Die Entwicklung, die das Recht im 19. Jahrhundert nahm, ist nun dadurch gekennzeichnet, daß sich die neue Gestalt des Rechts und das in ihr zum Ausdruck kommende Menschenbild zunehmend ausbreiten. Das vollzog sich in Frankreich, begründet durch den Impetus der Revolution, schneller, bereits im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts kam es zu den Kodifikationen des code civil und des code de commerce. Auf dem Boden des alten Reichs vollzog es sich nach dem Anlauf des österreichischen AGBGB von 1811 langsamer. Zu nennen sind die preußischen Reformen der Jahre 1807 bis 1815, die wirtschaftsliberalen Reformen – mit unterschiedlicher Intensität betrieben – in der Vormärzzeit [40] und der Schub zur näheren Ausgestaltung einer liberalen Erwerbsgesellschaft, der nach der steckengebliebenen Revolution von 1848/49 einsetzte, schließlich die grundlegende, zugleich nationale und liberale Gesetzgebung, die nach der Gründung des Norddeutschen Bundes und des Bismarckreichs anhob und im Bürgerlichen Gesetzbuch von 1896/1900 ihre Vollendung fand. [41] Das 19. Jahrhundert war, wie mein Lehrer 29Franz Schnabel zu Recht gesagt hat, ein juristisches Jahrhundert. Auf diese Weise wurde die Rechtsordnung zunehmend ›bürgerliche‹ Rechtsordnung in dem Sinne, daß sie auf der Subjektstellung des einzelnen, verbunden mit den Prinzipien der Rechtsgleichheit – Abbau und Einebnung aller ständischen Rechtsunterschiede; der allgemeinen Erwerbs- und Vertragsfreiheit –, Abbau ständischer Berufsschranken, Gewerbemonopole und Vorzugsrechte, Öffnung der Wirtschaft für Wettbewerb und Konkurrenz, der Freiheit und Garantie des erworbenen Eigentums einschließlich des Erbrechts aufbaute. [42] Leitbild war die einzelne, rechtlich freie und gleiche, erwerbstätige und kapitalbildende Persönlichkeit, die ihr Leben weithin autonom gestaltet vermittels der Vertragsfreiheit und freien vertraglichen Bindung sowie der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Vereinigungsfreiheit. In dem, was sie so als Eigentum erwirbt oder was ihr als Erbe zuwächst, wird sie geschützt, einschließlich der freien Verfügungsmacht darüber. Die Rechtsordnung schafft den Rahmen dafür, stellt Vertragsformen und Rechtsinstitute bereit und setzt die Grenzen fest, damit Freiheit und Eigentum gegen Verletzungen und vor Übergriffen geschützt sind.

Dieses so konzipierte Modell von Recht erstreckte sich auf die Bereiche des bürgerlichen, des Handels-, Gesellschafts- und Wirtschaftsrechts; auf das Verwaltungs- und Polizeirecht wirkte es insofern ein, als an die Stelle des bevormundenden Vorsorgegedankens und der Verantwortung für die gute Ordnung im Laufe der Zeit zunehmend die bloße Gefahrenabwehr und allenfalls subsidiär die Wohlfahrtsförderung trat. [43] Es war das Recht der bürgerlichen Er30werbsgesellschaft, das sich, für das erwerbende Bürgertum geschaffen, dem Konzept nach als das Ganze setzte.

Seine Grenzen fand es längere Zeit noch im Familienrecht. Dieses auf natürliche Gemeinschaftsverhältnisse und entsprechende Bindungen bezogene Rechtsgebiet konnte sich dem Autonomie- und Vertragsmodell nicht fügen, ohne in seinem hergebrachten Inhalt aufgelöst zu werden. Hier lebte auch das alte Menschenbild und der Gedanke des ethisch-moralisch gebundenen, pflichtbezogenen Rechts noch fort, weshalb gerade an dieser Front beharrliche Abwehrkämpfe bis weit in das 20. Jahrhundert hinein geführt wurden. Gleichwohl gerieten das Familienrecht, ebenso wie andere verbliebene Restbestände alteuropäischen Rechts, [44] sowohl politisch wie auch rechtssystematisch in die Defensive. Denn das neue Rechtsmodell und das darin sich ausprägende Menschenbild gewannen systemprägende, das gesamte Recht einbeziehende und seine Dogmatik formende Kraft. Das sei an zwei Beispielen erläutert.

Friedrich Carl von Savigny, dem für die dogmatische Erfassung des Rechtssystems im 19. Jahrhundert weittragende Bedeutung zukommt, bestimmt das Recht einer Person als »die der einzelnen Person zustehende Macht: ein Gebiet, worin ihr Wille herrscht, und mit unserer Einstimmung herrscht«. [45] Daran knüpft sich die bis heute jedem Juristen geläufige Definition subjektiven Rechts als »rechtlich geschützte Willensmacht«. [46] Die Rechtsordnung und die einzelnen Rechtsverhältnisse bilden sich für Savigny daraus, daß in der Berührung zwischen den Menschen als freie Wesen eine Grenze anerkannt wird, »innerhalb welcher das Daseyn und die 31Wirksamkeit jedes Einzelnen einen sichern, freyen Raum gewinne« und das Recht die Regel ist, wodurch jene Grenze und damit dieser freie Raum bestimmt wird. [47] Recht und Rechtssystem werden ganz deutlich von der Prämisse der einzelnen, freien, auf sich gestellten Person und ihrer Autonomie her konstruiert, die auf der Ebene des Rechts als geschützte Willensmacht erscheint, nicht mehr hingegen von den Lebenszwecken und natürlichen Pflichten der Menschen, damit sie diese erreichen oder erfüllen können. Darin ist die prinzipielle Scheidung von Recht und Sittlichkeit angelegt, der Abschied vom ethisch bestimmten Rechtsbegriff und Rechtsinhalt. Savigny hat dies selbst gesehen und gerechtfertigt. »Das Recht dient der Sittlichkeit, aber nicht indem es ihr Gebot vollzieht, sondern indem es die freye Entfaltung ihrer, jedem einzelnen Willen innewohnenden, Kraft, sichert.« [48] Und wenn diese Kraft sich nicht entfaltet? – Es kann dahinstehen, ob und inwieweit Savigny hierbei Kant folgte, von Fichte beeinflußt war oder einfach die materialen Gehalte des Vernunftrechts – bei aller äußeren Ablehnung desselben – als systembildendes Element aufnahm, [49] entscheidend ist, 32daß und wie die neue Sicht vom Menschen, die mit der Französischen Revolution zuerst in die Wirklichkeit überführt wurde, sich Bahn bricht und systembildend auf das Recht wirkt, allem persönlichen Konservativismus Savignys und anderer juristischer Akteure im 19. Jahrhundert zum Trotz.

Das zweite Beispiel zeigt die umprägende Wirkung, die von dieser dogmatischen Systembildung auf überkommene Rechtsinstitute im Sinne des neuen Menschenbildes ausgehen konnte. Im 19. Jahrhundert stellte sich als eine Folgefrage das Problem, wie nun die Ehe und familienrechtliche Institute (wie die väterliche Gewalt, das Recht der Eltern – oder damals des Vaters – gegenüber den Kindern) begrifflich erfaßt und interpretiert werden konnten. Ließ sich etwa – und wie lange noch – die Ehe rechtsdogmatisch als überindividuelle Institution erfassen und begründen, die den Ehegatten aus sich heraus und vorab Bindungen auferlegt, der Verfügbarkeit ihrer rechtlich geschützten Willensmacht entzogen, oder mußte sie, als Selbstzweck, willensgetragene und in der Liebe gegründete Vereinigung freier Personen gesehen, notwendig zum frei gestaltbaren und dann auch auflösbaren Vertrag tendieren? [50]

Am deutlichsten wird es bei der väterlichen bzw. elterlichen Gewalt. Sie erscheint als subjektives Recht in der Form eines sachenrechtsähnlichen Herrschaftsrechts (ius in re), das Kind als Gegenstand dieses Herrschaftsrechts, Objekt der rechtlich geschützten freien Willensmacht des Vaters bzw. der Eltern, wofür die Figur der römisch-rechtlichen patria potestas als Anknüpfungspunkt diente. 1910 sieht kein Geringerer als Andreas von Tuhr die juristische Struktur der elterlichen Gewalt, wie sie das Bürgerliche 33Gesetzbuch regelt, in ihrem eigentumsähnlichen Charakter: »Das Kind ist den Eltern nicht zu Leistungen verpflichtet, sondern ihrer Macht unterworfen. Diese Durchsetzung des Gehorsams ist, wie bei der Sache, prinzipiell der Eigenmacht des herrschenden Subjekts überlassen.« [51] Und ganz entsprechend heißt es noch 1959 im Lehrbuch von Enneccerus-Nipperdey, »die in einem direkt gegen die Person gerichteten Beherrschungsrechte enthaltenen Befugnisse auf ein bestimmtes Verhalten dieser Person, z. B. das Recht des Vaters auf Gehorsam des Sohnes, sind  […] keine Ansprüche  [gegenüber der Person als Rechtssubjekt]  […], sondern nur Bestandteile des Beherrschungsrechts selbst«. [52] Welches Bild von Eltern und ihren Befugnissen wurde hier produziert und welche Selbsterfahrung dadurch ausgelöst?

Savigny war zwar solchen Konstruktionen abhold. Für ihn sind Ehe und Familie ein natürliches und zugleich sittliches Verhältnis, das vom Recht nicht inhaltlich normiert, sondern lediglich in den Bedingungen seines Daseins festgelegt wird. [53] Damit wird dem Recht, auch der gesetzlichen Regelung, der Zugang zur inhaltlichen Regelung verwehrt. Das hört sich ethisch-sittlich erhaben an und entsprach Savignys konservativer Denkungsart. Es hatte aber 34die Folge, daß die Gewalt des Vaters gegenüber dem Kind rechtlich gesehen umfassend und allenfalls dort begrenzt und kontrolliert ist, wo das Strafrecht eingreift. So heißt es, daß das Erziehungsbedürfnis seine Befriedigung in der väterlichen Gewalt finde, »aber nicht eigentlich in der rechtlichen Seite derselben, sondern in der rechtlich unbestimmten Macht, die der Vater ohnehin über das Kind  […] hat«. [54] Auch so wird das Kind zum ›Gegenstand‹, zwar nicht eines dinglichen Herrschaftsrechts, wohl aber einer faktisch und in ihrer sittlichen Dignität unangreifbaren Machtstellung – das juristische Ergebnis ist nahezu identisch. [55] Pflichtgebundene und um der Erfüllung von Pflichten willen gegebene Rechte ließen sich im dogmatischen System des bürgerlich-autonom konzipierten Rechts nicht mehr abbilden.

4. Das so gestaltete und dogmatisch erfaßte Recht ließ von seinem Bauprinzip her Probleme außer sich, die es selbst produzierte. Zwar mochte man meinen, ein Recht, das die freie, autonom handelnde Person in den Mittelpunkt stellt und korrekt die Grenzen der gleichen Freiheit aller festlegt, so daß die Freiheit des einen mit der des anderen zusammen bestehen kann, habe das Notwendige und Richtige für das gedeihliche Zusammenleben der Menschen getan; es komme nur darauf an, das so Geschaffene festzuhalten und in die Lebenspraxis hinein umzusetzen. Aber das war ein undialektisches Denken, das übersah, welche wirtschaftliche und gesellschaftliche Bewegung eine solche Rechtsordnung freisetzte. Eine Rechtsordnung, die ihre Grundverfassung in der Rechtsgleichheit und Freiheit der Person, in der allgemeinen Erwerbs- und Vertragsfreiheit und der Garantie des erworbenen Eigentums einschließlich des Erbrechts hat, ist keineswegs in sich abgeschlossen. Sie setzt vielmehr, wird die Freiheit betätigt, dynamische Erwerbsprozesse in Gang, in denen gerade die natürliche und besitzbestimmte Ungleichheit der Menschen – die Ungleichheit an Begabung, Bildung, Arbeits- und Einsatzbereitschaft – zur vollen Entfaltung gelangt. Die Garantie des erworbenen Eigentums sichert den unterschiedlichen Ertrag dieser Entfaltung, das Erbrecht übermittelt ihn in die nächste Generation. Soziale Ungleichheit unter den Menschen ist somit die notwendige Folge einer im Ansatz auf Freiheit und 35Rechtsgleichheit aufgebauten Rechtsordnung. [56] Im Zuge der industriell-technischen Entwicklung, die durch Kapitalbesitz praktisch umgesetzt wurde, befestigte und verstärkte sich diese Ungleichheit und führte den sozialen Antagonismus, die Klassenspaltung der Gesellschaft herauf: Für eine wachsende Zahl von Menschen wurde die allen gewährleistete rechtliche Freiheit zur leeren Form, weil ihnen die sozialen Voraussetzungen zur Realisierung dieser Freiheit fehlten; soziale Ungleichheit ging über in soziale Unfreiheit. [57]

Das war eine Entwicklung, die sich im 19. Jahrhundert nicht nur in Deutschland vollzog; das Schicksal der Lohnarbeiterschaft gibt den sprechenden Beweis dafür ab. Für sie mußte die Proklamation der rechtlich freien Persönlichkeit, die in den Grenzen des für alle gleichen formalen Rechts autonom handelt, um ihre Lebenszwecke zu verfolgen, je länger je mehr als blanker Hohn erscheinen. Das Recht konnte darauf nicht mit Schweigen reagieren. Denn schließlich hat es, Leitbilder und Freiheitskonzepte hin und her, doch immer wieder mit der Herstellung der Gerechtigkeit zu tun, jedenfalls mit der Abwehr elementarer Ungerechtigkeit. Von politischen Impulsen mit angetrieben, geschah dies bekanntlich zunächst im Arbeitsschutzrecht mit der Einschränkung der Zulässigkeit von Kinderarbeit – ein Eingriff in die Bestimmungsmacht des Hausvaters über das seiner Herrschaftsgewalt unterliegende Kind – sowie der Begrenzung der Arbeitszeit von Kindern auf zunächst 10 Stunden – Eingriff in die Vertragsfreiheit; [58] es folgten, neben anderem, die Anerkennung der Koalitionsfreiheit und die Anfänge der Sozialversicherung als Alters-, Invaliden- und Krankenversicherung, endlich kam es zur Entwicklung eines Arbeitsrechts als 36eigenes Rechtsgebiet neben dem BGB. [59] So entstand eine Art Nebenrechtsordnung neben dem allgemeinen bürgerlichen Recht. In ihr kam freilich ein anderes Menschenbild zum Tragen. Nicht die auf sich gestellte, im Rahmen des für alle gleichen formalen Rechts autonom handelnde Persönlichkeit steht im Vordergrund, sondern der auch schutzbedürftige Mensch; schutzbedürftig gegenüber sozialer, besitzbestimmter Übermacht, schutzbedürftig gegenüber den Lebensrisiken, für die er allein keine Vorsorge treffen kann, schutzbedürftig sogar im Hinblick auf die mögliche Wahrnehmung seiner Lebenschancen durch soziale Ausgleichsmaßnahmen. Entsprechend bildeten sich neue, nicht mehr primär dem Willensdogma folgende Rechtsformen und Rechtsfiguren heraus; sie orientierten sich stärker an realen Lebenslagen und den sich einspielenden funktionalen Abläufen der wachsenden Industriegesellschaft, die sich zur Massengesellschaft hin bewegte. [60] Diese Entwicklung wirkte in gewisser Weise auf das allgemeine bürgerliche Recht zurück und hat bis in die Gegenwart hinein ihre Bedeutung behalten. Es wird insoweit häufig von einer stückweisen »Re-ethisierung« des Rechts gesprochen, indem dem Bürgerlichen Gesetzbuch über partielle Änderungs- und Ergänzungsgesetze und eine veränderte Ausfüllung und Handhabung der Generalklauseln ein anderes, nicht mehr genuin liberales Sozialmodell unterlegt wird. [61]

37III.

Fragen wir nach dem Bild vom Menschen im gegenwärtigen Recht, muß die Zeit nach 1945 zum Ausgangspunkt genommen werden. Die Erfahrung von Unrechtsherrschaft und Terror während des NS-Regimes brachte eine bewußte meta-positive Fundierung der Subjektstellung des einzelnen im positiven Recht selbst. Art. 1 des Grundgesetzes, der sich wie eine Präambel zum Grundrechtskatalog liest und auch als solche konzipiert worden ist, [62] spricht sie aus: »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.« Weiter heißt es, daß ebendarum sich das deutsche Volk zu unveräußerlichen und unverletzlichen Menschenrechten bekennt und die nachfolgenden Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht binden – nicht nur als Programmsätze für den Gesetzgeber. Das sind starke Worte, die deutlich auf den Menschen als freie Person mit eigener unantastbarer Würde Bezug nehmen. [63] Hinzu tritt die oft zitierte Sentenz des Bundesverfassungsgerichts, das Menschenbild des Grundgesetzes sei »nicht das eines isolierten souveränen Individuums«; das Grundgesetz habe vielmehr »die Spannung Individuum – Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten«, [64] wofür zur Begründung auf eine

38»Gesamtsicht« mehrerer Grundrechte und der Staatsstrukturbestimmung des Art. 20 GG verwiesen wird.

Ist damit, so läßt sich fragen, das Problem des Menschenbildes nicht durch die Verfassung selbst gelöst und in der Sache eine Synthese gefunden zwischen dem aristotelisch geprägten Menschenbild im Recht Alteuropas und dem individualistischen Menschenbild, wie es in der Folge der Französischen Revolution im Recht vorherrschend wurde? Das könnte so sein. Aber es bleibt die Aufgabe, genauer hinzusehen, ob und inwieweit dieses zunächst als Proklamation auftretende Menschenbild auch in die Regelungen und die Handhabung des Rechts eingegangen ist, das Recht inhaltlich geformt hat. Es könnte ja auch sein, daß dieses proklamierte Menschenbild ein abstraktes Postulat geblieben ist, dem die Wirklichkeit des Rechts und das sich in ihr konkret ausprägende Menschenbild mehr oder minder entglitten sind.

Unternimmt man dieses genauere Hinsehen, so stehen mehrere Befunde nebeneinander.

1. Neben Art 1 GG steht Art. 1 Abs. 1 des Verfassungsentwurfs von Herrenchiemsee. Er formuliert eine Grundprämisse, von der nicht nur die Arbeit des Parlamentarischen Rates, sondern auch die Interpretation und Handhabung des Grundgesetzes geleitet wurde: »Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen.« [65] Diese Grundaussage drängte sich nach dem Machtmißbrauch und der totalitären Unterdrückung durch das NS-Regime gewissermaßen auf. Aber sie bedeutet in der Sache die Negation des Menschenbildes, wie es der Politik des Aristoteles zugrunde lag und das Recht Alteuropas bestimmte, daß nämlich der Mensch erst durch die und in der Gemeinschaftsbindung, einschließlich der politischen Gemeinschaft, zu sich selbst und der Entfaltung seines Menschseins kommt. Zudem ist die Parallelität mit Art. 2 der französischen Rechte-Erklärung von 1789 [66] unübersehbar: Der Staat erscheint als Instrument menschenrechtlicher subjektiver Freiheitsgewähr. Daß der Mensch auch für die politische Gemeinschaft da ist und erst dadurch zur Verwirklichung dessen kommt, was seine Natur ausmacht, gilt nicht mehr.

Davon ging ein nachhaltiger Anstoß zur Ausdehnung der Frei39heit des einzelnen im Sinne selbstbezogener subjektiver Freiheit aus – ein Schub zur Individualisierung aller Lebensverhältnisse. Die Effektuierung der Grundrechte, die nun auch den Gesetzgeber banden, war ein wichtiger Schritt auf diesem Weg. [67] Denn diese Grundrechte sind als subjektive Freiheitsrechte des einzelnen konzipiert, nicht als Freiheitsrechte von Gemeinschaften oder sozialen Netzwerken, und sie gewährleisten gegenüber der staatlichen Gewalt einen Raum autonomer Freiheit, deren Ausübung rechtlich in das Belieben des einzelnen gestellt ist, gebunden zwar an die äußeren Grenzen dieser Freiheit, nicht aber an inhaltliche Anforderungen oder Vorgaben. Die in den Grundrechten ausgesagte Bestimmung des Menschen ist seine Freiheit, aber Freiheit nicht als metaphysische Freiheit, auch nicht als transzendentale oder als objektive Freiheit, sondern als subjektive Freiheit der einzelnen im Sinne von Wahlfreiheit und freier Selbstbestimmung. Die individuelle Subjektivität als Teil der Freiheit der Person wird vom Recht in Freiheit gesetzt und darin gehalten, ohne daß ihr aber ein An-und-für-sich-Allgemeines, wie Hegel sagen würde, also etwa die eudaimonia oder das Verpflichtetsein für andere, als Verbindlichkeit gegenübertritt.

Diese Tendenz zur Subjektivierung wurde noch verstärkt durch die vom Bundesverfassungsgericht seit dem Lüth-Urteil vorgenommene Doppelqualifizierung der Grundrechte als staatsgerichtete Freiheitsrechte und als objektive Wertentscheidungen oder Grundsatznormen, die eine normative Ausstrahlung in alle Bereiche des Rechts entfalten. [68] Das bedingte eine Ausgestaltung und Interpretation der verschiedenen Bereiche der allgemeinen Rechtsordnung in Richtung auf eine Verstärkung subjektiver Freiheitsbereiche und das Zurücktreten tradierter objektiv-inhaltlicher Rechtsbindungen.

402. Die stärkere Subjektivierung der Rechtsordnung im Namen einer als vorstaatlich gedachten individuellen Freiheit hat dabei Entwicklungen freigesetzt und normativ unterfangen, die dem Bild vom Menschen im Recht in bestimmter Richtung ein konkretes Profil verliehen haben und weiter verleihen.

a) Die grundrechtsgeprägte Verfassungsordnung erhebt den religiös-weltanschaulichen und geistig-ethischen Pluralismus zum rechtlich abgesicherten, strukturierenden Grundbestand der öffentlichen Lebensordnung. Sie verweist die durch die Grundrechte geschützten Lebens-, Denk- und Handlungsbereiche als Freiheitsbereiche zur Ausfüllung an die individuelle Subjektivität. Diese Bereiche sind nicht als gegebener Inhalt gewährleistet, sondern nur in ihrer Möglichkeit. [69] Die Menschen erscheinen in der Rechtsordnung als in Freiheit Gesetzte in dem doppelten Sinn, den dieses Wort hat. In dem, was die höhere Bestimmung des Menschen ausmacht, sind sie bewußt ohne Orientierung gelassen, aber zur eigenen Orientierungssuche in Freiheit gesetzt und in dieser Freiheit, die sie als grundlegendes Recht erfahren, geschützt. [70] Sie stehen einer Vielzahl von Angeboten gegenüber, zu denen sie sich verhalten und zwischen denen sie wählen können. Auch der christliche Glaube und sein Wahrheitsanspruch erhält im Kontext dieser Ordnung notwendigerweise den Charakter eines Angebots, das – ohne allgemeine Verbindlichkeit – in Konkurrenz mit anderen Angeboten steht.

Das wurde zunächst für einige Jahrzehnte überdeckt, solange der christliche Glaube als Orientierungspunkt und Lebensmacht tat41sächlich wirksam und wenig angefochten war. Insoweit macht sich inzwischen allerdings eine Erosion bemerkbar, und spätestens mit dem Beitritt der neuen Bundesländer ist dies offenbar geworden. Die Menschen dort waren nach dem Zusammenbruch der tragenden Ideologie, die für die große Mehrzahl von ihnen Orientierung und Halt vorgab, in eine bislang unbekannte Freiheit entlassen, ohne auf eine verbindliche Orientierung zu treffen, der gegenüber sie – bejahend oder ablehnend – Stellung beziehen konnten. Dies wird nun zunehmend die allgemeine Situation, sie ist vom Recht normativ unterfangen und getragen: Die Menschen haben, religiös-weltanschaulich, geistig-ethisch und geistig-kulturell in Freiheit gesetzt, zwar viele und weit ausgreifende Wahlmöglichkeiten. Aber es fehlt ihnen das Standhafte, der verankernde Bezugspunkt eigener Identität, von dem aus die unterschiedlichen Möglichkeiten allererst sinnvoll beurteilt und dann ausgewählt werden können. Die prekäre Situation der Erziehung, insbesondere der schulischen Erziehung, bringt es an den Tag. Erziehung ist nicht möglich ohne verbindliche Orientierung, auf die hin erzogen wird, und selbstbestimmte Freiheit steht nicht an ihrem Anfang, sondern am Ende. Woher können und sollen aber für die staatlich getragene Schule, zumal im religiös-weltanschaulich neutralen Staat und einer pluralistischen Gesellschaft, verbindliche Orientierung und die Maßstäbe der Erziehung genommen werden? [71] Trägt hier, und wie lange noch, ein kulturelles Erbe?

b) Ein ebenso aufschlußreiches Feld zeigt die Entwicklung des 42Wirtschaftslebens. Hier hat sich nicht nur durch die Entbindung der Marktkräfte und die Abwehr planwirtschaftlichen Dirigismus ein ungeheurer Aufschwung vollzogen, der Grundlage unseres materiellen Wohlstandes ist, es hat zugleich eine kontinuierliche Freisetzung und Entgrenzung der individuellen und gesellschaftlichen Erwerbskräfte stattgefunden. Sie braucht hier nicht nachgezeichnet zu werden, in den vier Freiheiten der Marktbürger, die der EG-Vertrag formuliert, kommt sie beispielhaft zum Ausdruck. [72] Auf diese Weise sind vielfältigste Dispositions- und Verfügungsmöglichkeiten eröffnet worden – ein Zuwachs an erwerbsbezogener Freiheit. Es wurde aber auch die Grundlage geschaffen für das Zustandekommen rein funktional orientierter ökonomischer und gesellschaftlicher Handlungsabläufe und Handlungssysteme, die sich den einzelnen gegenüber verselbständigen und diese, die ursprünglich als Subjekte des Wirtschaftslebens gedacht waren, ihren Funktionsbedingungen unterwerfen. Denn in dem Maß, in dem für die wirtschaftlichen Erwerbskräfte, insbesondere für das nach Rentabilität suchende Kapital und die Konkurrenz der Märkte, Freisetzungen und Entgrenzungen vorgenommen werden, und das ist durch gesetzliche Regelungen und internationale Abkommen vielfach geschehen, [73] bedeutet das die Zuerkennung einer maßgeblichen Subjektstellung für diese Kräfte und Interessen und ihre Freisetzung zu eigener Machtausdehnung.

Durch die Globalisierung weiter angetrieben, etabliert sich so in immer größerem Ausmaß das, was Hans Freyer als das »sekundäre System« beschrieben hat. [74] Der einzelne Mensch erscheint in ihm statt als Freiheitssubjekt lediglich als Funktionsträger, nach Bedarf und Anforderung auswechselbares Werkzeug. Subjekt, der maßgebende Bestimmungsfaktor, ist das System selbst, hier der kapital- 43und profitgesteuerte, zunehmend globalisierte Wirtschaftsablauf, der das Geschehen nach seiner von ökonomischer Rationalität getragenen Funktionslogik steuert. Die Nationalökonomen sprechen inzwischen ganz ungeniert von den Menschen im Bereich der Wirtschaft als »Humankapital«. Das zeigt an, wer wie und worunter subsumiert wird. Der Wert und die Verwendbarkeit der Menschen ist an ihre Nützlichkeit, ihren Beitrag zu Produktivität, Profitabilität und Wettbewerbsfähigkeit gebunden; als Humankapital müssen sie billig, flexibel, ständig auf der Höhe der Zeit und rezyklierbar sein, als Person kommen sie nicht ins Blickfeld. [75] Die Menschen finden einerseits ein Bildungs- und Ausbildungsangebot mit einer Vielzahl von Möglichkeiten vor, andererseits erfahren sie sich in ihren Kenntnissen und Fertigkeiten als Produktionsware, die sich am Arbeitsmarkt optimal verkäuflich machen muß. [76] Dem einzelnen wird Flexibilität, lebenslanges Lernen, freiwillige Selbstoptimierung, letztlich eine totale Mobilisierung zur Erhaltung und Steigerung seiner Produktivität nach den Anforderungen des Wirtschaftsprozesses nahegelegt [77] – auch hier ein Verlust des Standhaften in jeder Hinsicht.

c) Eine weitere Variante dieser Entwicklung läßt sich im Strafrecht beobachten. Einerseits hat hier in mehreren Reformschritten eine Wendung zur Entkriminalisierung des Strafrechts stattgefunden, die im Sinne einer Liberalisierung eine deutliche Individual-Orientierung des Strafrechts verfolgte. Dies vollzog sich zum einen in einer Rückbildung des politischen Strafrechts nach dessen Ausdehnung im Zeichen des ›kalten Krieges‹, zum anderen und vor allem durch die als überfällig empfundene Reform des auf den Schutz der Ehe und auf Sexualdelikte bezogenen Strafrechts. [78]44Sittliche Lebensordnungen als solche und Moralwidrigkeiten, die nicht unmittelbar Rechtsgüter einzelner bedrohen oder verletzen, wurden bis auf vereinzelte Restbestände aus dem Kreis der Strafdelikte herausgenommen, mithin der Freiheit der einzelnen überlassen. Die der Grundlegung des Strafrechts dienende Rechtsgüterlehre sucht diese Leitlinien normativ zu unterfangen, [79] teilweise auch in die Verfassung einzuhängen. [80] Ihr Ziel, das Individuum in den Mittelpunkt eines eher liberalen Strafrechts zu stellen, grenzt sich deutlich ab gegen die Ableitung der Individualrechtsgüter aus einem allgemeine Pflichten auferlegenden Gemeinwohlgedanken, wie es etwa im 18. Jahrhundert verbreitet war. [81]

Andererseits traten jedoch ebenso die Funktionsabläufe des Wirtschaftsverkehrs und des sozialen Zusammenlebens als gefährdete und zu schützende Institutionen in den Blick des Strafrechts; das führte zu bisher unbekannten Kriminalisierungen im Bereich der (neuen) Wirtschafts-, Computer- und Umweltdelikte, die sich zum Teil auch in den Gefährdungs- und Risikobereich hinein erstrecken. [82] Die Strafbewehrung dieser sogenannten Universalrechtsgüter wird von den individualrechtlich orientierten Rechtsgutslehren mit deren Notwendigkeit und ihrem Nutzen für die freie Entfaltung der einzelnen zu begründen versucht, was dann auch eine Ausgestaltung als Gefährdungsdelikte legitimiert – der Zusammenhang von Individualisierung und Funktionalisierung 45wird deutlich. [83] Insgesamt und im Blick auf die Zukunft mag die Frage nach der Tragfähigkeit dieses Konzepts gestellt werden. [84]

3. Neben dem soeben dargelegten Befund zeigt die gegenwärtige Rechtsordnung jedoch auch das Bild des sozial geschützten einzelnen. Er ist in hohem Maß gegen die Lebensrisiken – Krankheit, Alter, Armut, Invalidität – abgesichert, in bestimmtem Umfang auch gegen Arbeitsplatzverlust und Arbeitslosigkeit. Herbeigeführt wird dies durch gesetzliche Vorkehrungen und Sicherungssysteme, nicht durch die freie Initiative der einzelnen selbst. Wie weit dies ausgreift, zeigt ein Blick auf das Sozialrecht und das Arbeitsrecht. [85] Der Mensch erscheint hier, wie erwähnt, als Schutzbedürftiger, wird gestützt und ein Stück weit von Eigenverantwortung entlastet. Ähnliches läßt sich im Hinblick auf die partielle »Re-ethisierung« des Privatrechts sagen, die ebenfalls fortgeschrieben wurde, in einer Weise freilich, die der Tendenz zur Individualisierung der Rechtsverhältnisse nicht entgegentritt, sondern zu ihr parallel läuft. So ist im Familienrecht an die Stelle elterlicher Verfügungsmacht das Wohl des Kindes als tragender Bezugspunkt getreten, und die elterliche Gewalt wurde zur elterlichen Sorge umdefiniert. [86]

Die Art, wie bei den zahlreichen Sicherungs- und Hilfesystemen, orientiert am Staatsziel des Sozialstaats, Solidarität geleistet und eingefordert wird, ist freilich auf den einzelnen als Individuum bezogen, greift nicht auf Familien oder engere Gemeinschaften zurück und nicht auf konkrete Handlungspflichten. Sie wird orga46nisiert und verwirklicht über das Medium Geld, durch finanzielle Beiträge. Auf deren Grundlage bilden sich abstrakt Organisationen und Handlungssysteme aus, die die Leistungen erbringen oder verwalten und sich dabei selbst teils als bürokratische Verwaltung, teils als Erwerbszweige organisieren. Das hat gewiß viele Vorteile; vor allem aber fügt es sich der im gegenwärtigen Recht aufweisbaren Tendenz zur Individualisierung der Lebensverhältnisse ein; es bildet kein gegenläufiges Korrektiv, sondern das Pendant zur Freisetzung der einzelnen, die Vereinzelung hervorruft. [87] Insbesondere erfassen die öffentlichen Regelungen hierzu die Menschen nur mehr in abgegrenzten Rollen und Funktionen – als Auszubildender, Wohngeldberechtigter, Arbeitssuchender, Körperbehinderter usf. In der Handhabung dieses Rechts erscheint der einzelne nur als der von den sachlichen Voraussetzungen her erfaßte Fall, der gemäß der bestehenden Regelung behandelt wird. Auch hier werden Ordnungen und Handlungsabläufe nach Art des schon erwähnten »sekundären Systems« entworfen. Die einzelnen gehen in sie nur partiell, in ihrer Verrichtung, Funktion oder Rolle als Bedarfsträger ein, die Person als solche bleibt hingegen ausgespart, womit die Lebensbezüge verdinglicht werden. Menschen erleben und erfahren sich insoweit vorrangig in Arbeits- und Systemabläufen; als Person sehen sie sich weitgehend in ihre Privatheit und Freizeit verwiesen und dort hinein freigesetzt.

4. Läßt sich nicht aber heute dennoch, aller Segmentierung zum Trotz, auf bisher nicht dagewesene Stabilisierungselemente gerade im Verfassungsrecht verweisen? Enthält nicht das Grundgesetz erstmals substantielle Festlegungen im Blick auf Institutionen und materielle Gehalte, die uns seitdem garantiert sind? Zu denken wäre zum einen an die Ordnung und Institutionen der politischen Gemeinschaft, das Zustandekommen und die Bedingungen eines 47demokratisch begründeten politischen Willens, Rechtsstaatlichkeit, Teilung der Gewalten, einschließlich der Unabhängigkeit der rechtsprechenden Gewalt, zum andern – und für unsere Fragestellung zentraler – an die besonderen Schutzgarantien für Ehe und Familie und die Achtung der Menschenwürde (Art. 6 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG). In diesen treten das Recht prägende, von ihm selbst ausgesprochene Verbürgungen hervor. Aber ist und wieweit ist ihr sachlicher Gehalt ein für allemal gewiß? Dieser Gehalt kann im Zusammenhang einer freiheitlichen und demokratisch fundierten Rechtsordnung ja nicht von einer der pluralistisch konkurrierenden Verbindlichkeiten her bestimmt werden. Das wird an den Beispielen von Ehe, Familie und Menschenwürde besonders deutlich.

Das Bundesverfassungsgericht hat schon vor Jahrzehnten dargelegt, daß die Ehe, die das Grundgesetz meint, nicht die christliche Ehe sein könne, sondern eine »verweltlichte«, sozusagen säkularisierte Ehe. [88] Man merkt dem Urteil die Unsicherheit darüber an, was denn diese weltliche Ehe eigentlich ist, wieweit ihr Wesen durch wechselnde gesellschaftliche Auffassungen geprägt wird oder davon abhängig ist. [89] Inzwischen hat die weitgehende Zulassung privatautonomer Gestaltung des Eheverhältnisses zu einer, wie ein namhafter Familienrechtler sagt, Deregulierung der Ehe geführt, die es schwermacht, überhaupt Inhalte der Ehe zu nennen, die der Regelung durch die Ehepartner noch entzogen sind. [90] Ein ehevertraglicher Totalausschluß von Zugewinn- und Versorgungsausgleich sowie von nachehelichem Unterhalt wird allgemein gebilligt, wobei ein Ausschluß nachehelicher Unterhaltsansprüche nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs selbst dann nicht sittenwidrig ist, wenn er vom Mann zur Bedingung für die Eheschließung mit der bereits schwangeren Frau gemacht wird. [91] Hier zeigt sich, wieweit die Ehe als Institution und gemeinschaftliche Lebensform zugunsten der individuellen subjektiven Freiheit zu48rückgenommen und hohlförmig geworden ist. Dem entspricht es auch, wenn nicht nur die menschliche Fortpflanzung allein als höchstpersönliche Entscheidung des Individuums angesehen wird, sondern weitergehend es dem Gesetzgeber verwehrt sein soll, die Möglichkeiten künstlicher Befruchtung auf Ehepaare, registrierte Partnerschaften oder andere Lebensgemeinschaften zu beschränken, und schließlich auch Ersatzmutterschaft, Tragemutterschaft oder Embryonenspende nicht als Verletzung der Menschenwürde erscheinen. [92]

Der Begriff der Familie ist aus nachvollziehbaren Gründen von der bei Entstehung des Grundgesetzes vorausgesetzten Verbindung mit der Ehe gelöst worden. [93] Auch die ehelose Mutter-Kind- oder Eltern-Kind-Beziehung unterfällt dem Schutzgebot des Art. 6 Abs. 1 GG. Andererseits ist dieses Schutzgebot in den rechtlichen Gestaltungen des Arbeits- und Erwerbslebens, der Schulorganisation, Kinderbetreuung und auch des Renten- und Steuerrechts bemerkenswert wirkungslos geblieben. [94] Mit eher steigender Tendenz 49muß sich die Familie heute voll den nach ökonomischer Rationalität organisierten Funktionsabläufen des Arbeits- und Wirtschaftslebens anpassen, ebenso wie den Arbeitsreglements des öffentlichen Dienstes und den Organisationsentscheidungen der Schulbehörden, anstatt daß diese von den Bedürfnissen der Familien als einer verbindlichen Vorgabe her gestaltet werden. Ebendiese Bedürfnisse aber, und nicht die ökonomische Rationalität und das Streben nach Dienstzeitregelements im individuellen Beschäftigteninteresse, verdienen, wie die Verfassung sagt, besonderen Schutz. Offensichtlich entgleitet der ureigenste Gemeinschaftsbezug, das familiäre Kind-Eltern-Verhältnis, dem Zugriff verfassungsrechtlicher Schutzgewährung.

Schließlich die Menschenwürdegarantie. Zumindest sie scheint ein fester Haltepunkt zu sein. Zu ihr gehören die Anerkennung als Person, als Subjekt sui iuris, wie Kant sagte, [95] das Träger eigener Rechte und eigener Freiheit des Handelns ist, schließlich das »Dasein um seiner selbst willen«, wie es das Bundesverfassungsgericht formuliert hat. [96] Aber auch in dieser Umschreibung bleibt die Menschenwürde ein relativ offener Begriff. Denn was die Würde des Menschen erheischt oder was sie verletzt, hängt wesentlich auch davon ab, als was der Mensch denn – über die Anerkennung seiner Subjektstellung hinaus – verstanden wird, mithin vom Menschenbild. Die Gültigkeit etwa des gemeinschaftsgebundenen Menschenbildes, von Aristoteles überkommen, oder des individualistischen Menschenbildes mit dem Ziel der selbstbezogenen Entfaltung und Nutzung aller individuellen Möglichkeiten, oder auch des christlichen Menschenbildes ist durch den Würdebegriff der säkularen Rechtsordnung nicht vorentschieden; [97] vielmehr wird 50umgekehrt dieser Würdebegriff in seiner Konkretisierung durch das zugrunde gelegte Menschenbild näher bestimmt.

Unabhängig davon aber ist der Würdebegriff auch in seinem Kerngehalt, dem »Dasein um seiner selbst willen«, zunehmend Infragestellungen ausgesetzt, sei es aus der Rechtsordnung selbst, sei es durch rechtspolitische Bestrebungen. Es braucht nur auf den völlig ausgeuferten Indikationstatbestand des Paragraphen 218a Abs. 2 StGB für rechtmäßige Abtreibung ungeborener Kinder bis kurz vor der Geburt hingewiesen zu werden, der bislang von keinem der dazu Befugten zur verfassungsgerichtlichen Überprüfung gestellt worden ist, oder auf die nicht nur vereinzelt erhobene Forderung nach Freigabe der Herstellung und Verwertung von (überzähligen) Embryonen zu Forschungszwecken. [98] Ob und inwieweit hier, wie 51auch im Hinblick auf die ebenfalls nachdrücklich geforderte präimplantale Diagnostik, eine generelle oder partielle Widerständigkeit durchgehalten werden kann und wird, steht dahin.

5. Was ist das Ergebnis? Kann man noch von einem einheitlichen Menschenbild im gegenwärtigen Recht sprechen, oder sind die einzelnen Bereiche des Rechts auseinandergedriftet, geprägt von je unterschiedlichen Vorstellungen vom Menschen, die sich in ihnen ausdrücken? Vieles spricht, rekapituliert man das Vorgetragene, für letzteres. Unsere Rechtsordnung zeigt eine bemerkenswerte Heterogenität. Daß diese noch von einem (gemeinsamen) Menschenbild zusammengehalten und geprägt wird, erscheint mehr als fraglich. Soweit dies aber doch der Fall sein sollte, ist es nicht das Menschenbild, welches das Bundesverfassungsgericht 1954 programmatisch formuliert hat; beriefe man sich auf dieses, hätte das inzwischen die Funktion des ideologischen Überbaus, der die realen Verhältnisse verhüllt. Prävalierendes Menschenbild wäre allenfalls das individualistisch-autonome, das erstmals in der Französischen Revolution hervorgetreten ist und sich dann kontinuierlich ausbreitete. Die Ideen von 1789 scheinen auch insoweit gewonnen zu haben. Es kann allerdings, mit Blick auf die Zukunft, nicht mehr ausgeschlossen werden, daß dem geltenden Recht eine kohärente Vorstellung vom Menschen überhaupt abhanden kommt. Die gerade entbrannte Diskussion um Gentechnologie und Bioethik gibt dafür Anhaltspunkte. [99] Auch die zunehmen52de Resonanz, die die Systemtheorie Niklas Luhmanns findet, in der die einzelnen als Subjekte nicht mehr vorkommen, sondern nur autopoetische, miteinander kommunizierende und agierende Handlungssysteme, [100] ist insofern ein Indikator sich ausbreitender Wirklichkeit. Verblaßt aber zunehmend das Rechtsbild der Menschen von sich selbst, so verliert das Recht für die konkrete, gar die richtige Lebensführung an Orientierungskraft. Eine wichtige Sinnkomponente büßt es damit ein.

532. Wieviel Staat die Gesellschaft braucht

I.

Will man der Frage nachgehen, wieviel Staat die Gesellschaft braucht, ist es nützlich, eine dieser Frage vorausliegende Frage zu stellen: Braucht denn die Gesellschaft überhaupt den Staat? Kann sie sich nicht besser und freier selbst organisieren, in vom Konsens getragenen wechselseitigen Vereinbarungen und austarierten Netzwerken? Kann sie nicht von staatlicher Gängelung und Intervention, von den Eingriffen staatlicher Herrschaftsmacht entlastet werden?

1. Das Konsensmodell für die Organisation der Gesellschaft, wenngleich immer wieder vorgetragen und nicht ohne Charme, ist nicht tragfähig. Die Gründe liegen offen zutage. Soll eine Gesellschaft sich im Wege eines Konsenses organisieren, der sich in ihr frei bildet, stellt sich die Frage nach den Kriterien dieses Konsenses. Dieser Konsens kann sich, soll er überhaupt zustande kommen, nicht anders bilden als nach dem Spiel der Kräfte. Die Interessen der Menschen sind unterschiedlich, teilweise entgegengesetzt, die Menschen sind nach Anlage, Fähigkeiten und Durchsetzungswillen nicht gleich, sondern ungleich, die Machtkonstellationen ebenfalls. Ein herrschaftsfreier Diskurs in der Gesellschaft würde, da die Menschen nicht mehr im Paradies leben, wo jeder uneigennützig und friedliebend das Wohl des andern will, endlos dauern; auch könnte er aus sich heraus nur einstimmig, und das heißt praktisch gar nicht festlegen, ab wann für die Minderheit eine Folgepflicht gegenüber dem Konsens der Mehrheit bestünde.

Aber auch unabhängig davon: Kommt ein wie immer gearteter Konsens zustande, bedarf er der Überführung in Recht, damit er als verbindliche Regelung des Zusammenlebens und der Ordnung der Gesellschaft wirksam wird. Recht muß aber gegenüber Widerstrebenden durchgesetzt werden, kann nicht allein auf Freiwilligkeit abstellen, soll es seine ordnende Kraft nicht verlieren. Dazu ist dann eine Instanz erforderlich, die Recht durchsetzt und gewährleistet. Diese Instanz hat notwendigerweise herrschaftlichen, nicht wiederum konsensualen Charakter. Kein Geringerer als Immanuel 54Kant hat es gewußt und dargelegt: Recht fordert a priori den Staat als Institution seiner Gewährleistung. [1]

2. Was wir Staat nennen – der Staat der europäischen Neuzeit –, ist nicht zufällig oder aus einem Belieben entstanden. Er hat sich herausgebildet und ist geschaffen worden als eine Einrichtung, die gegenüber der vielfachen Bedrohung durch Gewalttätigkeit, wie sie Feudalordnung und konfessionelle Bürgerkriege mit sich brachten, den öffentlichen Frieden herstellen und sichern sollte, nicht zuletzt durch Herrschafts- und Machtkonzentration. Der Staat – und erst der Staat – vermochte es, Sicherheit, äußeren Frieden, Freiheit für die einzelnen und die Gesellschaft im ganzen zu gewährleisten, einen wirksamen Schutz zu schaffen gegen die mannigfachen Freiheitsbedrohungen und Gewaltpotentiale, die in der Gesellschaft diffus zerstreut, aber aktuell vorhanden waren. [2] Die Gesellschaft als friedliche, die sich nicht in ethnischen, religiösen oder anderen Kämpfen zerfleischt, als im und durch Recht gesicherte Gesellschaft, welche die Entfaltung von Freiheit und Wohlfahrt ermöglicht, ist erst durch den Staat heraufgeführt worden. Nur als staatlich geordnete Gesellschaft kann sie in dieser Weise existieren, sie ist auf Staat und Staatlichkeit notwendig verwiesen.

Natürlich hat dies seinen Preis. Der Staat muß, um Friedenseinheit zu sein und diese erhalten zu können, zugleich auch Entscheidungseinheit und Machteinheit sein. [3] Soll nämlich das Zusammenleben und die Austragung von Streitigkeiten zwischen Menschen und Menschengruppen friedlich vonstatten gehen, bedarf es geltender Verhaltensnormen und Verfahrensregeln – eben des Rechts. Soweit diese Normen und Regeln nicht in einem unbezweifelten Konsens präsent sind, müssen sie durch die Entscheidung einer übergreifenden Instanz festgelegt werden, einer Instanz, die schließlich auch zum ›letzten Wort‹ berufen ist, gegen das es keinen Appell mehr gibt. Und da Streitigkeiten und Friedensgefährdungen aus nahezu jedem Sach- oder Lebensbereich entstehen können, nicht von vornherein gegenständlich begrenzt sind, muß auch die Zuständigkeit dieser Instanz ebensoweit reichen, sozusagen poten55tiell nahezu allzuständig sein –, der Kern dessen, was – manchmal überhöht und überfrachtet – mit Souveränität bezeichnet wird. Das ist die Entscheidungseinheit. Hinzu tritt die Machteinheit. Es muß auch sichergestellt sein, daß die festgelegten Regeln und getroffenen Entscheidungen befolgt werden, das heißt, sie müssen gegenüber Widerstrebenden durchgesetzt, notfalls durch Einsatz von Macht kraft des staatlichen Gewaltmonopols zur Wirksamkeit gebracht werden. Erst dadurch wird der äußere Friede beständig, erhält Freiheit ihren Schutz und entsteht Sicherheit.

II.

Sind mithin Staat und Staatlichkeit für die Gesellschaft, für eine freiheitliche Gesellschaft notwendig und unverzichtbar, erhält die Ausgangsfrage ihre spezifische und aktuelle Bedeutung: Wieviel