Wolf Shadow - Magische Versuchung - Eileen Wilks - E-Book

Wolf Shadow - Magische Versuchung E-Book

Eileen Wilks

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Beschreibung

In ihrem neuen Job als Agentin in einer Spezialeinheit des FBI zur Aufklärung von magischen Verbrechen hat Lili Yu alle Hände voll zu tun. Sie soll den charismatischen Anführer eines Kults aufspüren, der eine uralte böse Macht beschwören will. Als dieser Lili in eine Falle lockt, gerät ihre ganze Welt aus den Fugen. Ihre einzige Hoffnung ist Rule Turner, mit dem sie eine besondere Magie verbindet. Trotz der Leidenschaft, die beide füreinander empfinden, weiß Lili nur wenig über den gut aussehenden Werwolf. Doch ihr bleibt keine andere Wahl, als ihm zu vertrauen, wenn sie ihr Leben retten und den Fall lösen will. "Eileen Wilks ist eine bemerkenswert talentierte Autorin. Sie verspricht einer der ganz großen Namen in der Frauenunterhaltung zu werden." Romantic Times

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Seitenzahl: 619

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Inhalt

Titel

Widmung

Prolog

1

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Epilog

Impressum

 

MagischeVersuchung

Roman

Ins Deutsche übertragen von Stefanie Zeller

 

Dies Buch ist meiner Lektorin Cindy Hwang gewidmet, die nicht nur brillant, kompetent, mitfühlend und so geduldig ist, dass jeder Autor, der mit Abgabeterminen zu kämpfen hat, davon nur träumen kann, sondern auch einen ausgezeichneten Filmgeschmack hat.

Danke Cindy – für alles.

 

Prolog

Die Besucherhalle war gewaltig. Hier drinnen war es heiß und lärmend wie in einem dröhnenden Ofen, der sich in den Überresten eines alten Vulkans befand. Gan huschte über den steinigen Boden, so schnell ihn seine kurzen Beine trugen, und hielt Ausschau nach Schatten. Von Zeit zu Zeit verschoben sich die Felsspalten. Wo gestern noch ein harmloser Schatten gewesen war, ging es heute womöglich senkrecht in die Tiefe. Und man machte sich lächerlich, was fast genauso schlimm war.

Die Halle hatte kein Dach. Die Wände stiegen steil in die Höhe, hoch in den offenen Himmel, der schwarz und leer über dem Rand des Kraters stand. Diese Leere ließ Gans Haut kribbeln, obwohl er wusste, dass Xitils Lieblinge ihn nicht behelligen würden. Nicht dieses Mal.

Er traf auf Höflinge, die miteinander plauderten oder sich zwischen den gemeißelten Säulen zankten, die vom Boden emporragten – hier ein vierzehn Fuß hoher Granitphallus, dort ein klaffendes Maul aus Onyx, groß genug, um einen Ochsen zu verschlingen.

Nicht, dass auch nur die Hälfte dieser Dummköpfe gewusst hätte, was ein Ochse ist, dachte Gan mit einem Naserümpfen und umrundete ein Paar rosige Lippen aus Bergkristall. Gan dagegen wusste es sehr wohl. Er war vielleicht jung, er war vielleicht klein, aber er wusste mehr über die Welt der Menschen als jeder Einzelne von ihnen.

Eben aus diesem Grund hatte man ihn gerufen. Eine Mischung aus Furcht und Vorfreude jagte Gan einen Schauer über den Rücken. Es war gefährlich, die Aufmerksamkeit der Gefürchteten auf sich zu ziehen.

Aber, oho, es versprach interessant zu werden.

Gan war so sehr mit seiner Vorfreude beschäftigt, dass er ein wenig zu eilig um eine eisenharte Kralle herumtrabte – und vornüber zu Boden stürzte. Seine Herzen schlugen heftig vor Entsetzen.

Ein langer Schlangenschwanz, stachelig und todbringend, peitschte über seinen Kopf hinweg.

Dummkopf!, schalt sich Gan stumm. Wie konnte er nur in der Halle mit offenen Augen träumen! Schließlich war er ein ausgewachsener Dämon und kein zwei Jahre alter Kobold. Beinahe wäre er gegen eine von Xitils Klauen geprallt. Man vermied es tunlichst, eine Klaue aufzuschrecken. Ihre Reflexe waren so flink, wie ihr Verstand langsam.

Wenigstens hatte Gan einen echten Zusammenstoß gerade noch vermeiden können, denn berührt hatte er die Klaue nicht.

„Was haben wir denn da?“, tönte eine schrille Stimme hoch über Gans Kopf. Diese Klaue war weiblich, zu einem großen Teil zumindest, entschied Gan. „Ein Insekt?“

Gan hielt den Blick fest auf den staubigen Steinboden gerichtet, aber aus den Augenwinkeln sah er einen schuppigen Fuß, so lang wie einer seiner Arme. Die Krallen, die aus den vier dicken Zehen ragten, waren dick, gelb und scharf.

Nicht atmen – noch nicht, sagte er sich. Die unmittelbare Gefahr war vorüber, aber Xitils Klauen waren nicht nur leicht beleidigt, sondern auch dumm.

„Vielleicht.“ Die zweite Stimme war rauer, möglicherweise männlich und kam links von der ersten. Gan, der so weit wie möglich nach rechts schielte, konnte nur einen kurzen Blick auf ein weiteres Paar Füße mit dicken Krallen werfen. „Oder irgendein Parasit. Tritt lieber drauf.“

„Erhabene“, quiekte Gan, „ich bitte tausendfach um Entschuldigung. „Ich verdiene es, zertreten, ja, platt getreten zu werden, weil ich Euch gestört habe, aber ich bitte Euch, haltet Euren Fuß zurück. Ich bin gerufen worden.“

„Gerufen worden?“ Ein Fuß mit langen Krallen legte sich um Gans Rippen. Träge rollte die Klaue Gan auf den Rücken. Nun starrte er hoch in das goldene Schimmern ihres vorstehenden Augenpaares. „Glaubst du, er ist dumm genug, in solch einer Angelegenheit zu lügen?“

„Er sieht so dumm aus, dass ich ihm fast alles zutrauen würde. Tritt lieber drauf.“

„Oh, Erhabene, in der Tat war ich dumm, weil ich Euch beleidigt habe. Aber ich wäre nicht so hirnlos zu lügen, wenn es um die Gefürchtete geht. Wenn ich nicht die Wahrheit spreche, dann straft mich zweimal, dreimal – straft mich endlos –, aber jetzt lasst mich ihrem Ruf nachkommen.“ Du großer, blöder Trottel! Wenn ich dumm wäre, könnte ich doch nicht lügen. Auch nicht mit Worten. Und wenn Xitil unzufrieden ist, weil ich mich verspäte, dann wird sie auch unzufrieden sein, weil du mich aufgehalten hast.

„Falls er lügt, wird nicht viel übrig bleiben, was man bestrafen kann“, gab die Klaue zur Linken zu bedenken. „Wir zertreten ihn lieber gleich. Oder reiß ihm wenigstens diesen mickrigen Schwanz raus.“

Gan war empört. Er war recht stolz auf seinen neuen Schwanz, der vielleicht nicht so lang und gelenkig wie der der Klaue war, aber wunderbar kräftig und mit hübschen Stacheln versehen.

„Nein“, sagte die Erste bedauernd. „Wenn Xitil Verwendung für dieses Insekt hat, wird sie wollen, dass er seinen jämmerlichen Stummelschwanz behält. Später“, entschied sie. „Ich werde ihn später bestrafen. Wie ist dein Rufname, Insekt?“

„Man ruft mich Gan, Erhabene.“ Mögen die Würmer dich fressen.

„Du hast Glück, Gan, weil ich mich der Laune der Gefürchteten beugen muss, die dich vielleicht unversehrt bevorzugt. Ich lasse dich frei.“

„Danke, Erhabene.“ Gan rappelte sich auf und entfernte sich langsam, rückwärts gehend und sich immerzu verbeugend. „Mögen Eure Krallen stets wachsen und schärfer werden, damit Ihr Eure Beute aufs Trefflichste zerreißen könnt.“ Und möge Eure Beute sich nicht totlachen über Eure Dummheit.

Endlich außer Reichweite der Klauen, gab Gan besser auf seine Umgebung acht, während er zum Ende der Halle eilte, wo es am heißesten war. Hier glühten in einem dumpfen Rot die Felsbrocken, die in einem kunstvollen Durcheinander um den Eingang zu dem Tunnel arrangiert waren, der zu Xitils privaten Gemächern führte. Höflinge fanden sich an diesem Ende der gewaltigen Halle nicht. Wenn Xitil ihre Untertanen zu sehen wünschte, dann kam sie zu ihnen. Und ungeladen würde sie keiner aufzusuchen wagen.

Gan war geladen. Ängstlich und mit stolzgeschwellter Brust im Bewusstsein seiner eigenen Wichtigkeit – ganz zu schweigen von sehr heißen Füßen – trat Gan über die Schwelle.

Sofort fühlte er sich besser, denn die unbehauene Felsendecke des Tunnels war nirgendwo höher als zwanzig Fuß. Es gab nur eine zur besseren Verteidigung angelegte scharfe Biegung – ein Zeichen von Xitils Selbstbewusstsein. Seit langer, langer Zeit hatte niemand mehr versucht, sie zu entthronen.

Schließlich wurde der Gang schmaler; nur wenige ihrer Höflinge und keiner der Adeligen konnten ihre Gemächer in aufrechter Haltung betreten. Gan dagegen schon. Mit gerunzelter Stirn trottete er auf das pinkviolette Licht am Ende des Ganges zu. Pink bedeutete für gewöhnlich, dass sie gut gelaunt war, oder vielleicht auch lüstern. Violett dagegen …

Gan trat aus dem heißen, trockenen Tunnel in dampfenden, pinkfarbenen Nebel, als wenn die Luft selber in der Hitze, nach der es Xitil verlangte und die sie verströmte, schwitzte. Der Boden aus poliertem Obsidian war nass und glitschig. Und dort, auf viele Kissen gebettet, lag Xitil, die Gefürchtete – Felsformerin und Tyrannin, Wettermeisterin und Höllenfürstin –, und sah ihn an. Ehrfurcht und Lust gleichermaßen überkamen Gan, und er blieb wie gebannt stehen.

„Gan.“ Ihre Stimme schnurrte durch den Nebel wie eine Liebkosung. „Komm her.“

Vor Furcht und Erregung zitternd, gehorchte er.

Ihre enorme, wellige Gestalt glitzerte in dem diffusen Licht, das Fleisch so rosig und feucht wie eine erregte Vulva. Und in jeder ihrer Rollen und Falten witterte Gans üther-Sinn viele köstliche Leben. Ihre vordersten Arme waren gebeugt, damit sie sich darauf stützen konnte. Die mit Juwelen besetzten Krallen hatte sie halb eingezogen.

Seit Kurzem hatte Xitil eine Vorliebe für Brüste. Sie hatte sich sechs davon wachsen lassen, und das oberste Paar war nackt. Die Brustwarzen waren harte kleine Knöpfe, umrahmt von einer Aureole, so rot wie ihre Augen – die sie nun amüsiert zusammenkniff.

„Gan“, flüsterte sie, „du hast meinen Gast nicht begrüßt. Tu es.“

Erschrocken hielt er inne und sah sie aus mit vor Angst geweiteten Augen an. Würde er bestraft werden? Zwar hatte sie ihm befohlen, zu ihr zu kommen, aber … gehorche, Dummkopf, sagte Gan sich. Er riss seinen Blick von Xitil los und staunte, als er erkannte, wer – oder was – sich links neben Xitils Ruhebett befand.

Ein Mensch. Wie seltsam. Von Zeit zu Zeit ließen sie sich blicken – viele der Höflinge hatten private Abmachungen mit einem oder mehreren dieser Art –, aber warum wollte Xitil, dass Gan die Bekanntschaft eines Menschen machte?

Nein, korrigierte er sich eine Sekunde später. Dies war kein Mensch, auch wenn sie diese Form angenommen hatte. Sie hatte ihre Energien verhüllt, so dass Gan nur wenig davon wahrnehmen konnte … aber das, was er wahrnahm, ließ ihn erneut erschaudern.

Die Gerüchte stimmten also. Xitil hatte eine sehr merkwürdige Verbündete.

Oder hatte sie vor, sie zu verspeisen? Sicher würde selbst sie es nicht wagen … aber Gan war befohlen worden, den Gast der Gefürchteten zu grüßen, nicht Vermutungen anzustellen. Er räusperte sich und verbeugte sich tief. „Verehrte, vergebt mir, wenn ich Euch in meiner tiefen Unwissenheit falsch anspreche.“

Das Mädchen – denn so sah sie aus, wie ein braunhaariges Mädchen mit braunen Augen von vielleicht fünfzehn Jahren – lächelte ihn freundlich an. „Viele aus diesem Zyklus kennen mich nicht. Es sei dir vergeben.“ Sie warf Xitil einen Blick zu. „Seid Ihr sicher? Dieser hier sieht recht …“

„Er sieht wenig anziehend aus?“ Xitil lachte leise. Das tiefe Grollen ließ ihre Brüste beben. „Er ist jung und schwach und neugieriger als ihm gut tut, aber Ihr braucht ja keinen Krieger. Gan hat genau die Fähigkeiten, die Ihr benötigt. Er kann von einer Seite auf die andere wechseln, ohne gerufen worden zu sein, und ich kann ihn benutzen, um Eurem Werkzeug Anweisungen und Informationen zu übermitteln.“

„Ah. Und das andere Werkzeug, um das ich gebeten hatte?“, fragte das Mädchen.

Träge ließ Xitil eine Kralle über ihre massige Hüfte gleiten. Dabei teilte sich der Schleier und gab flüchtig den Blick auf die üppigen Locken ihrer Schambehaarung frei. „Das war ursprünglich Teil unseres Plans. Doch Ihr habt weder das Tor geöffnet, noch wart Ihr gewillt, meiner persönlichen Bitte zu entsprechen.“

Drohung, Herausforderung, Macht durchzuckten die Luft, eine Macht, so gewaltig, wie Gan sie bisher noch nicht erlebt hatte. Mit einem Schlag verlor er das Gleichgewicht, als die Schwerkraft an ihm zerrte, losließ und wieder nach ihm griff. Seine Herzen hörten gleichzeitig auf zu schlagen.

So schnell, wie der Sturm gekommen war, verzog er sich auch wieder.

Das Mädchen lachte leicht und sorglos. „Oh, seht doch nur, wir haben den armen Gan geängstigt. Es wäre doch schade, wenn er durch unsere Kabbeleien einen Schaden davontrüge, nicht wahr? Aber wirklich, Xitil, es ist nicht schön von Euch, mich aufzuziehen, wenn es um Sex geht. Ihr wisst genau, wie ich empfinde.“

Oh. Oh! Also das war sie …

Xitil zuckte mit den Achseln und gab keine Antwort.

Das Mädchen, das kein Mädchen war, wandte sich um und betrachtete Gan eingehend. „Ich nehme an, solche Werkzeuge sind nicht im Überfluss vorhanden. Aber er ist so klein. Gerade so groß wie ein Menschenkind. Ganz gleich, wie er die Form verändert, er wird nicht die Gestalt annehmen können, die ich brauche.“

„Glaubt Ihr?“ Xitils Augen glühten. „Gan.“

Gans Aufmerksamkeit war nun ganz auf seine Fürstin gerichtet, denn in der einen Silbe seines Rufnamens klang sein wahrer Name mit.

„Wachse.“

Unglücklich legte Gan sein Gesicht in Falten und gehorchte – ein wenig zögernd vielleicht, aber sie hatte nicht gesagt, er solle sich beeilen. Er war mittlerweile zwölf Fuß groß und fühlte sich alles andere als wohl in seiner Haut, als Xitil das nächste Mal sprach.

„Halt.“

Gan gehorchte dem Befehl nur zu gern und bemühte sich, still zu stehen, während das Mädchen, das keines war, ihn prüfend ansah.

„Erstaunlich“, sagte sie schließlich. Ihre Stimme drang nur leise zu ihm hoch. Gans Gehör war zu geschwächt, um sie deutlich vernehmen zu können. „Ich hatte ja keine Ahnung, dass du dich so ausdehnen kannst.“ Sie legte den Kopf schief. „Ich kann durch seine Hände sehen.“

Xitil lachte leise. „Armer Gan. Für mehr reicht seine Substanz leider nicht, aber für deine Zwecke wird es genau richtig sein. Kehre wieder in deine alte Größe zurück, Gan.“

Mit einem Seufzer der Erleichterung schrumpfte Gan wieder auf sein normales Maß zusammen.

„Ich habe einen Auftrag für dich“, sagte sie zu ihm. „Was hältst du davon, ein bisschen Blut zu trinken?“

„Das würde ich gern tun“, sagte er ehrlich. „Wessen Blut?“

„Das eines Menschen. Er wird hierhergebracht werden.“

Hierhergebracht? Gans Augen wurden groß. Dies war der Grund, verstand er jetzt, warum Xitil sich mit der, die wie ein braunäugiges Mädchen aussah, verbündet hatte. Ein Teil des Grundes jedenfalls. Xitils Absichten waren nie simpel. Xitils Gast würde einen Menschen hierherbringen, damit Gan … Gan flüsterte: „Ihr wollt, dass ich den Menschen in Besitz nehme, Gefürchtete?“

Mit einer rubinbesetzten Kralle strich sich Xitil glättend über das Haar, das über einer ihrer Brüste lag. „Na also. Ich wusste, dass du nicht dumm bist. Schließlich hast du den alten Mevroax gegessen.“

„Und … der Mensch wird wieder in seine Welt zurückkehren?“ Gans Gedanken wirbelten durcheinander. Er würde die Welt der Menschen als ein Mensch kennenlernen können – er würde essen und trinken und Sex machen wie die Menschen und so viel zu sehen bekommen! Mehr als jemals zuvor in seinem Leben …

„Hier wird diese Person mir kaum von Nutzen sein. Natürlich wird sie zurückgebracht. Aber du wirst sie nicht sofort in Besitz nehmen können, Gan. Sie ist eine Sensitive.“

Gans Mund öffnete sich. Gerade rechtzeitig schloss er ihn wieder. Die Gefürchtete musste einen Weg kennen, die Sperren einer Sensitiven zu überwinden, sonst hätte sie Gan nicht kommen lassen. Sie in Frage zu stellen war keine gute Idee.

„Eine kluge Entscheidung, Gan.“ Glücklicherweise war Xitil eher amüsiert als verärgert über den Fauxpas, den Gan beinahe begangen hätte. Was auch immer sie mit dem Menschen vorhatte, es versetzte sie offensichtlich in Hochstimmung. „Doch deine Gedanken sind dennoch richtig. Die Sperren einer Sensitiven zu durchbrechen würde normalerweise ein Problem sein, doch darum wird sich mein Gast kümmern.“

Gan wandte den Blick wieder dem braunäugigen Mädchen zu. Er schluckte. Xitil trug zu Recht den Namen „Die Gefürchtete“. Aber dieses Mädchen hier …

Das Mädchen lächelte süß. „Mach dir keine Sorgen, Gan. Um den Menschen zu öffnen, werde ich nichts unternehmen, was dir schaden könnte. Dämonen können keine Schuld empfinden.“

Gan durchfuhr eine Welle der Erleichterung. Das stimmte. Die Menschen mit ihren lästigen, geheimnisvollen Seelen waren anfällig für Schuldgefühle. Selbst eine Sensitive wurde angreifbar. Nicht für einen Dämon natürlich, aber doch sicher für Götter, die sich auf Seelen und Schuld und Verehrung und solche Dinge spezialisiert hatten.

„Du wirst von einem meiner anderen Werkzeuge geleitet werden“, erklärte ihm das Mädchen. „Xitil, mit Eurer Erlaubnis …“

Xitil antwortete nicht, aber die Felsen neben dem Mädchen begannen zu ächzen und teilten sich dann, um einen weiteren Felsengang freizugeben. Ein paar Minuten später trat ein Mann aus diesem heraus. Sein Gesicht zeigte die üblichen Züge – unauffällig, fand Gan, selbst für einen Menschen. Er trug einen Anzug, der in den westlichen Ländern der Erde einen bestimmten Status bedeutete, und er trug einen schwarzen Stab, der in seiner Kopfhöhe endete.

Gan rümpfte die Nase. Von diesem Mann sollte er Befehle entgegennehmen? Schließlich war er auch nicht viel anziehender als er selbst. Seine Energie war schwach, ganz und gar nicht mächtig.

Der Stab, den er hielt, jedoch … Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete Gan den Holzstock genauer. Hm … Das war seltsam. Der Stab strahlte Macht aus, aber er schien hohl und nicht kompakt zu sein.

„Höchste“, wisperte der Mann, seine Aufmerksamkeit ganz auf die mädchenhafte Gestalt gerichtet. In seinen Augen glühte etwas, das Gan für Verehrung hielt. „Wie kann ich Euch zu Diensten sein?“

Sie lächelte ihn an. „Dieser Kleine hier wird Gan genannt. Er wird tun, was du befiehlst, wenn du zurückkehrst. Gan.“ Sie wandte sich ihm zu, immer noch lächelnd. „Dies ist der Most Reverend Patrick Harlowe. Wenn die Zeit gekommen ist, wird er dir beistehen.“

Gan wagte es, eine Frage an das braunhaarige Mädchen zu richten, und bediente sich dabei der Anrede, die der Mensch benutzt hatte. Man konnte nie höflich genug sein, wenn man mit jemandem wie Ihr zu tun hatte. „Darf ich Bedeutungsloser fragen, von wem ich trinken werde, Höchste?“

„Ihr Name ist Lily. Lily Yu.“

 

1

Das Odyssee war groß, voll und laut. Erbaut in den Siebzigern, thronte das runde Restaurant mit seinen glitzernden Glaswänden auf dem Kap über dem Ozean wie eine riesige Diskokugel, die über die Jahre immer flacher geworden war.

Die Hochzeitsgäste füllten zwei Räume und strömten auf die Terrasse, die einen großartigen Blick auf den Sonnenuntergang hinter den Wellen bot. Im großen Ballsaal versuchte sich die Musik gegen den hohen Geräuschpegel der Unterhaltungen der jungen und alten Paare zu behaupten, die auf die Tanzfläche strebten. In dem angrenzenden Speisesaal waren auf den Buffettischen Kräcker und Rohkosthäppchen, Shrimps und geräucherter Lachs, Früchte, Käse und Gebäck in mundgerechter Größe zu Pyramiden aufgetürmt. Die Reste einer riesigen Hochzeitstorte nahmen auf einem separaten Tisch einen Ehrenplatz ein.

Lily Yu betrachtete weder den Sonnenuntergang, noch naschte sie an der Hochzeitstorte. Stattdessen war sie damit beschäftigt, ihren Cousin zweiten Grades davon abzuhalten, ihr auf die Füße zu treten, und sich zu fragen, wann sie wohl gehen könnte, ohne unhöflich zu sein.

Nicht vor einer Stunde, beschloss sie. Nicht ohne andernfalls einen hohen Preis dafür zahlen zu müssen. Wenn sie sich vorzeitig davonstehlen würde, würde es ihre Mutter sofort erfahren.

Freddie unterbrach seinen Monolog über die Ungerechtigkeit der Besteuerung von Freiberuflern. „Du könntest wenigstens so tun, als würdest du dich mit mir amüsieren.“

„Warum?“

„Alle beobachten uns. Deine Mutter. Meine Mutter. Alle.“

„Heißt das, dieses Mal versuchst du nicht, mich zu betatschen?“

Sein Kinn schob sich in dieser sturen, selbstgerechten Art vor, die sie, als sie zwölf war, veranlasst hatte, Limonade in seinen Schoß zu schütten. „Du musst nicht gleich grob werden. Nur weil ein Mann versucht, freundlich zu sein …“

„Aua!“ Sie hielt im Tanzen inne.

„Ich bin dir nicht auf den Fuß getreten.“

„Nein, du hast an meinen Arm gestoßen. Der in der Schlinge ist“, sagte sie spitz.

Er machte ein schuldbewusstes Gesicht. „Tut mir leid, wirklich. Das hatte ich vergessen. Du sollest wirklich nicht tanzen.“ Er nahm sie bei ihrem unverletzten Ellbogen. „Komm, setz dich lieber.“

Freddies Angewohnheit, für sie zu entscheiden, was sie brauchte, war einer von vielen Gründen, warum sie ihm, wo es nur ging, aus dem Weg ging. Immer wieder brachte er sie damit zur Weißglut. Doch sie schaffte es, die Lippen fest aufeinanderzupressen, bis sie die Tanzfläche verlassen hatten. „Danke für dein Verständnis. Ich glaube, ich bediene mich mal vom Buffet.“

„Okay. Ich mache dir einen Teller zurecht.“

„Essen kann ich noch alleine, weißt du.“

„Du hast nur einen gesunden Arm.“ Den er jetzt fest umklammert hielt, als er sie in Richtung Speisesaal zum Buffet führte.

Lily seufzte. Sie hatte keinen Hunger. Sie hatte Freddie abschütteln wollen. Am liebsten wäre sie jetzt allein gewesen, aber da das nicht möglich war, musste sie sich wohl oder übel zusammenreißen und versuchen, gute Miene zum bösen Spiel zu machen.

„Mutter hat mir gesagt, dass du endlich deinen Job gekündigt hast“, sagte er, als sie das Buffet erreicht hatten. „Ich bin erleichtert. Genauso wie Mutter. Es ist schade, dass du erst verwundet werden musstest, bevor du erkanntest …“

„Moment mal.“ Sie entriss ihm ihren Arm. „Ich habe die Polizei nicht verlassen, weil ich angeschossen worden bin.“

„Was auch immer der Grund war, ich bin froh, dass du zur Vernunft gekommen bist. Polizistenarbeit ist gefährlich und bringt dich mit, äh … den falschen Leuten zusammen.“

Damit meinte er wohl Kriminelle, vermutete sie. Oder vielleicht andere Polizeibeamte? „Ich fürchte, deine Mutter ist nicht ganz auf dem Laufenden. Ich bin immer noch Polizistin. Bundespolizistin zwar, aber das ist schließlich auch die Polizei.“

„Bundespolizei?“ Er sah zutiefst misstrauisch aus.

„FBI. Schon mal was davon gehört?“ Sie streckte die Hand nach einem Teller aus.

Sarkasmus bemerkte Freddie nie. Deswegen runzelte er jetzt auch nachdenklich und nicht etwa beleidigt die Stirn, als er ihr Essen, um das sie nicht gebeten hatte, auf den Teller häufte. „Das ist wohl eine Verbesserung. Du wirst mehr mit Wirtschaftskriminellen und weniger mit Mördern und Schlägern zu tun haben.“

Bei dem Gedanken, dass FBI-Agenten eine bessere Klasse Krimineller festnahmen, zuckten Lilys Lippen. Sie hätte ihn aufklären können, dass sie nur ein einziges Mal im Dienst angeschossen worden war, und das, nachdem sie vom FBI angeworben worden war, nicht davor. Aber sie tat es nicht. Er würde es seiner Mutter erzählen, die es wiederum ihrer Mutter erzählen würde, die denselben Schluss wie er gezogen hatte – dass Lilys Arbeit jetzt ungefährlicher war.

Am besten, sie ließ sie in dem Glauben. Sie sah auf den Teller in ihrer Hand, auf den er genug Essen für drei geladen hatte. „Ich hoffe, das ist für dich. Ich bin allergisch gegen Schellfisch.“

„Oh.“ Er warf einen schnellen Blick auf den Teller. „Das hatte ich ganz vergessen. Nun, dann nehme ich den und hole dir einen anderen.“

„Ist schon gut.“

Selbstverständlich hörte er nicht auf sie und machte sich daran, einen weiteren Teller vollzuhäufen. „Es gibt da etwas, das ich dich fragen wollte.“

„Lass es bleiben.“

Er stockte und sah sie missbilligend an. „Wahrscheinlich bist du jetzt gebunden. An diesen, äh … Turner. Den … äh …“

Schweinsäuglein, dachte sie. Freddie hatte gierige kleine Schweinsäuglein. „Lupus. Das darf man ruhig sagen. Es ist keine Beleidigung.“

„Ich wollte taktvoll sein. Sag mal, stimmt es, dass sie …“

„Ja. Absolut.“ Sie sah sich um. Wen konnte sie als Entschuldigung benutzen, um Freddie zu entkommen?

„Du hast mich nicht einmal ausreden lassen!“

„Nicht?“ Ah, Beth redete mit einem von Susans Ärztefreunden. Lily gelang es, Blickkontakt mit ihrer kleinen Schwester herzustellen, aber Beth grinste nur, verdrehte die Augen zu einem Schielen und wandte ihr dann den Rücken zu.

Die miese kleine Verräterin. Beth war schon immer viel zu sehr verwöhnt worden.

„Ich will, dass du weißt, dass ich dir dein Verhältnis mit Turner nicht übel nehme“, verkündete Freddie. „Ich bin fair. Was dem einen recht ist … und so weiter. Und, äh … ich weiß, dass seine Art … äh, dass sie eine gewisse sexuelle Anziehungskraft hat. Trotzdem war ich überrascht, als ich hörte, dass du … aber es ist ja nicht deine Schuld.“

Ruckartig wandte sie ihm wieder den Blick zu. „Wovon redest du nur, verdammt noch mal?“

„Deine Affäre mit Turner. Wirklich, Lily, muss ich etwa alles noch einmal sagen? Es ist unhöflich, nicht zuzuhören.“

„Oh, ich habe zugehört. Ich dachte nur, ich hätte mich verhört, weil mein Privatleben dich doch eigentlich nichts angeht.“

„Wir sind Cousin und Cousine. Und eines Tages, wenn du genug herumexperimentiert hast und erwachsen geworden bist …“

„Ich bin achtundzwanzig, nicht achtzehn.“ Verärgert schüttelte sie den Kopf. Wenn Freddie sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte man ihn nur noch mit einem scharfen Skalpell davon befreien. „Muss ich es dir buchstabieren? Wir werden nicht heiraten. Niemals.“

Sein Lächeln war geduldig. Verständnisvoll. „Deine Mutter will es aber. Und meine auch.“

„Meine Mutter will, dass ich heirate. Punkt. Du hast das richtige Geschlecht, du bist Chinese, du hast ein gut laufendes Geschäft. Das reicht ihr, aber sie ist ja auch schon verheiratet. Gib auf, Freddie. Du willst mich nicht heiraten. Du magst mich ja nicht einmal.“

„Natürlich mag ich dich. Sogar sehr. Du bist meine Cousine.“

Er meinte, was er sagte. Oder glaubte es wenigstens, was fast dasselbe war. Sie seufzte. „Ich finde, deine Mutter hat recht – du solltest wirklich heiraten. Bald. Nur nicht mich.“ Sie reichte ihm ihren Teller, klopfte ihm tröstend auf den Arm und ergriff die Gelegenheit zur Flucht, solange er die Hände voll hatte.

Verwandte konnten manchmal eine rechte Plage sein. Sie würde noch ein wenig tanzen, beschloss sie, als sie wieder in den anderen Raum hinüberwechselte. Das würde sie zwar nicht ganz vor neugierigen Fragen nach ihrer Schulter, ihrem neuen Freund oder ihrem Jobwechsel bewahren – dazu sahen sich zu viele der Anwesenden berechtigt, ja sogar gezwungen. Aber sie würden weniger Gelegenheit dazu haben.

Der DJ spielte gerade „I Want You to Want Me“, und der Ballsaal war voller Menschen. Lily stand am Rande der Tanzfläche und wippte mit dem Fuß, mehr aus Ärger als im Takt.

Freddie war nicht gerade mit einem großen Einfühlungsvermögen gesegnet, was die Tatsache, dass er mit seinen Worten ins Schwarze getroffen hatte, umso ärgerlicher machte. Sie war gebunden, das stimmte. Doch manchmal schien es ihr eher, als sei sie gefesselt.

Ihr Blick wanderte durch den Raum über Cousins und Fremde, Bekannte, Familienfreunde und Neuangeheiratete hinweg und blieb dann an Tante Mequi hängen, die gerade mit Lilys Vater tanzte.

Mequi Leung war die Schwester ihrer Mutter. In der Familie ihrer Mutter waren alle groß gewachsen, und Mequi war dünn von Kopf bis Fuß – dünner Körper, dünnes Gesicht und ein dünnes Lächeln, das aussah wie ein Pflaster über etwas, das Schmerzen bereitete. Lilys Lippen zuckten. Tante Mequi hasste es, sich lächerlich zu machen, und Edward Yu reichte seiner Schwägerin kaum bis zur Schulter.

Ihm machte das nichts aus, das wusste sie. Ihr Vater besaß die wunderbare Fähigkeit, alles, was er für unwichtig hielt, zu ignorieren. Wahrscheinlich sprach er gerade über den Ausübungspreis von Optionen, Vertical-Spreads und andere geheimnisvolle Dinge aus der Welt der Broker.

Sicher konnte Lily das allerdings nicht wissen, denn sie waren mehr als vier Meter entfernt. Durch das Stimmengewirr konnte sie nicht hören, was sie sagten.

Vor drei Wochen wäre das noch anders gewesen.

Sie spürte Erleichterung, gemischt mit einem Hauch von Enttäuschung. Für eine Weile war ihr Gehör durch das Band des Gefährten genauso scharf wie das von Rule gewesen. Doch das hatte nicht angehalten. Sie wusste nicht, wie es überhaupt geschehen konnte oder warum es wieder verschwunden war. Ein übermenschlich gutes Gehör konnte von Zeit zu Zeit sehr praktisch sein, doch in ihrem Leben hatte sich so vieles in kurzer Zeit verändert, dass sie eigentlich ganz froh war, dass wenigstens etwas wieder wie vorher war.

Natürlich bestand die Möglichkeit, dass es wiederkam.

Lily berührte den kleinen Anhänger, der an einer goldenen Kette um ihren Hals hing. Das toltoi war das nach außen hin sichtbare Symbol für diese Veränderungen, das Zeichen, das ihr überreicht worden war, als sie in aller Form die Mitgliedschaft in Rules Clan angenommen hatte. Ihr Fuß wippte immer schneller und verlor nun ganz den Takt der Musik.

Rule war der Überzeugung, dass das Band auf Gefahr reagierte, indem es die Grenzen zwischen ihrer beider Fähigkeiten verwischte. Damals, als sie ganz ohne Zweifel in Gefahr gewesen waren, hatte er ein wenig von ihrer Immunität gegen Magie empfangen. Eine verrückte Telepathin hatte versucht, sie ihrer Göttin zu opfern.

Aber Rules Theorie machte aus dem Band der Gefährten ein fühlendes Wesen, etwas wie eine medial begabte Schlange, die sie mit ihrem Körper einmal fester, dann wieder lockerer umschlang. Das Nichtwissen war es, was Lily am meisten ärgerte. Es gab ganz eindeutig zu viele Geheimnisse um dieses Band.

Vielleicht würde sie schon bald mehr herausgefunden haben. In wenigen Tagen hatte sie eine Verabredung mit der „Rhej“ der Nokolai– Rhej war wohl eine Stellung oder ein Titel. Rule hatte ihr gesagt, die Frau sei Priesterin, Historikerin und Dichterin zugleich. Jetzt, da Lily Mitglied des Clans war, wollte sie auch mehr über dessen Geschichte wissen.

Sie hoffte, dass diese Person – diese Rhej – ihr einige wichtige Fragen beantworten konnte. Denn es drängte sie sehr danach.

Wie von einem geheimnisvollen Magneten durch das wogende Meer der Tanzenden angezogen, richtete sich Lilys Blick auf einen Punkt in der Nähe der handrunden Fensterfront.

Rule war da.

Sehen konnte sie ihn nicht, denn sie war ebenso klein wie ihr Vater, und zwischen ihnen befanden sich zu viele Menschen. Aber sie musste ihn nicht sehen, um zu wissen, wo er sich gerade befand. Das tat sie immer, wenn er nahe genug war … neununddreißig Meter, um genau zu sein. Danach war sie sich nicht mehr sicher. In der Woche zuvor hatte sie ihn dazu gebracht, es auszutesten.

So war es nicht immer gewesen. Noch vor drei Wochen wäre sie nicht fähig gewesen, diese Distanz zu ertragen. Immer wenn sie sich zu weit von ihm entfernt hatte, hatte sie beinahe das Bewusstsein verloren. Rule war der Meinung gewesen, das sei normal für ein frisch gebundenes Paar.

Er hatte überhaupt eine merkwürdige Vorstellung von dem, was normal war. Aber das Band war lockerer geworden, genauso, wie er es vorausgesagt hatte. Sie wusste nicht, wie weit diese Verbindung tatsächlich reichte, aber sie war entschlossen, es herauszufinden. Bald.

Die Musik war verstummt, und einige der Paare begannen, die Tanzfläche zu verlassen. Nun sah Lily den Mann, der seit Kurzem in das Zentrums ihres Lebens gerückt war. Oder der, wie Rule sagte, von der Dame seines Herzens dorthin gedrängt worden war.

Er hatte mit einer Frau getanzt, die Lily nicht kannte. Jemand aus der Familie des Bräutigams wahrscheinlich, da sie aussah, als sei sie Chinesin. Sie war ungefähr so alt wie Lily, hatte kurzes Haar und trug ein elegantes blaues Kleid, das ihre Figur geschickt zur Geltung brachte.

Kein kotzgrünes Brautjungfernkleid. Lily schnitt eine Grimasse. Das Band der Gefährten machte es Rule unmöglich, sich mit einer anderen Frau einzulassen. Das hieß aber nicht automatisch, dass er nicht auf die Idee kommen würde …

Die Frau hatte die Hand auf Rules Arm gelegt. Sie lächelte auf eine Art, die Lily mittlerweile nur allzu bekannt war. Lily fragte sich, ob sie selbst genauso aussah, wenn Rule sich ihr zuneigte, so wie er es jetzt auch tat, um seiner Tanzpartnerin zuzuhören.

Ein äußerst eleganter Kopf. Sein dunkles Haar war länger, als es die Mode vorschrieb, aber es stand ihm gut. Sein Gesicht war schmal, die Haut lag glatt und straff über den wie vom Wind geformten Wangenknochen. Ihr Schwung passte exakt zur Linie seiner dunklen Wimpern.

Er trug Schwarz – selbstverständlich. Er trug immer Schwarz. Und unter dem teuren Anzug war ein Körper, der sie immer wieder aufs Neue faszinierte. Während sie ihn jetzt betrachtete, kam ihr der verrückte Gedanke in den Sinn, dass er seine Umwelt nicht nur mit den Ohren, sondern auch mit Oberschenkeln und Bizeps erfassen konnte und sie nicht nur mit den Augen, sondern auch mit Kopfhaut, Nacken sowie Fußsohlen und Kniekehlen gleichermaßen beobachtete.

Seine Kniekehlen … sie wusste genau, wie seine Haut dort schmeckte.

Er wandte den Kopf, und ihre Blicke trafen sich.

Oh. Sie fasste sich ans Herz. Normalerweise passierte das nicht, nicht seit dem ersten Mal. Aber ab und zu durchfuhr sie ein leichter Ruck, wenn sich ihre Blicke trafen. Als wenn sie mit einer Feder gestreichelt würde, dachte sie. Erschreckend, denn sie fühlte es an einer Stelle, für die sie keinen Namen hatte. Eine Stelle, von der sie nicht gewusst hatte, dass sie dort überhaupt berührt werden konnte.

Warum passierte es aber nur manchmal und nicht immer? Sie machte ein ratloses Gesicht. Ein weiteres Geheimnis um das Band der Gefährten. Nummer dreihundertsechsundsiebzig.

Als wenn er ihre Gedanken gelesen hätte, zuckten seine Mundwinkel nach oben. Die kühnen Augenbrauen hoben sich fragend. Sie zwang sich zurückzulächeln und schüttelte den Kopf: Nein, ich brauche dich nicht. Mir geht es gut.

„Nicht so, du Dummchen“, sagte eine Stimme auf der Höhe ihres Ellbogens. „So geht das.“

Lily drehte sich um. Beth machte einen Kussmund in Rules Richtung.

Rule grinste und warf Lilys kleiner Schwester eine Kusshand zurück.

„Siehst du?“ Beth wandte sich ihr zu. „Einen so gut aussehenden Mann guckt man nicht so mürrisch an.“

„Ich habe gelächelt. So sehe ich aus, wenn ich mürrisch gucke!“

Beth betrachtete sie prüfend. „Herrje, du hast recht. Obwohl der Unterschied nicht so deutlich ist, wie er sein sollte. Was ist los mit dir?“

„Wie schön, dass das mal jemand fragt, dem ich sagen kann, er soll sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern.“

„Hat die Familie dir arg zugesetzt? Das war eine rhetorische Frage“, fügte sie schnell hinzu und hakte sich bei Lily unter. „Natürlich hat sie das. Du hast wieder einmal all ihre Erwartungen gesprengt. Komm schon. Lass mal sehen, ob wir uns irgendwo auf der Terrasse verstecken können.“

Ihr blieb nur die Wahl, mit Beth mitzugehen oder von ihr zu Boden gerissen zu werden. Also ging Lily mit. „Dort draußen hält Großmutter Hof.“

„Richtig. Dann eben das Buffet“, sagte sie und änderte den Kurs. „Ich glaube, ich kann noch ein bisschen Schokolade vertragen.“

„Hältst du es für eine gute Idee, wenn wir uns direkt neben das Buffet stellen? Manche Menschen haben schwache Mägen.“

Beth sah auf ihr Brautjungfernkleid herunter, dasselbe Modell wie Lilys. „Und ich dachte immer, Susan könnte mich leiden. Von mir braucht sie doch keine Konkurrenz zu befürchten. Mein ganzes Leben lang hat sie mich ausgestochen.“

„Vielleicht ist sie farbenblind geworden.“ Nun begann Lilys steife Schulter doch zu schmerzen. Eventuell würde sie das als Entschuldigung vorbringen können, wenn sie jetzt ging, aber dann würden ihre Mutter und ihre Tanten wieder damit anfangen, ihr Essen nach Hause zu bringen. Und bleiben, um an ihr herumzumäkeln … Wieder einmal.

„Das erklärt nicht, warum Mutter dabei mitgemacht hat“, sagte Beth düster.

„Über Mutters Motive darf man prinzipiell nicht nachdenken, die sind unergründlich. Ich dachte, das wüsstest du.“

Lily rief sich in Erinnerung, dass sie keinen freien Arm benötigen würde. Auf der Hochzeit ihrer großen Schwester würde sie wohl kaum eine Waffe ziehen müssen. Selbst ein Faustkampf war höchst unwahrscheinlich.

Dennoch war es eine Erleichterung, als sie das Buffet erreichten und Beth sie losließ, um sich auf den Nachtisch zu stürzen. „Es sind keine Schokoladenkekse mehr übrig“, sagte sie traurig und griff nach einem Keks in Form einer Hochzeitsglocke. „Wie lange hat Freddie dieses Mal für seine Frage gebraucht?“

„Er macht mir keine Anträge mehr. Er redet einfach über unsere Heirat, als hätte ich bereits zugestimmt. Du hättest mich ruhig retten können.“

„Ich wollte euch Turteltäubchen nicht stören. Da wir gerade davon sprechen … warum gehst du denn Rule aus dem Weg?“

„Du kannst einem ganz schön auf die Nerven gehen, weißt du das?“

Beth nickte und schlang die andere Hälfte ihres Kekses hinunter. „Du willst nicht über deine Beziehung mit deinem gelegentlich vierbeinigen Freund reden. Das verstehe ich. Und ich verstehe, warum du Mutter so wenig von ihm erzählt hast. Das würde wohl jeder tun. Aber mir gegenüber hast du auch keinen Ton gesagt.“

Trotz des scherzhaften Tons hörte Lily, dass ihre Schwester verletzt war, und lenkte ein. „Wir haben uns gestritten, okay? Kein schlimmer Streit. Ich bin nur im Moment nicht sehr zufrieden mit ihm.“

Beth warf ihr einen beunruhigten Blick zu.

„Es geht nicht um eine andere Frau“, sagte Lily ungeduldig. „Wenn das das Problem wäre, würde ich bestimmt nicht sagen, dass der Streit nicht schlimm war. Und ich würde ihm wohl kaum zulächeln.“

„Stimmt auch wieder.“ Beth war erleichtert. „Klar. Obwohl ich nicht verstehe, warum du … schon gut, schon gut, sei nicht gleich so aufgebracht. Oho, da ist ja noch ein bisschen von der Schokoladensoße! Reich mir mal eine von den Erdbeeren rüber.“

Lily wusste, was Beth dachte und warum. Und vielleicht verdiente ihre Schwester eine bessere Erklärung. Aber nicht jetzt.

„Also, wirst du mir sagen, worüber ihr euch gestritten habt?“

„Nein. Triffst du dich noch mit dem Oktopus?“

„Wenn du Bill meinst, der ist schon lange abgeschossen. Sag mir wenigstens, ob Rule so unglaublich im Bett ist, wie ich vermute.“

Gegen ihren Willen musste sie lächeln. „Besser.“

Beth tunkte ihre Erdbeere in Schokolade, während sie darüber nachdachte. Dann schüttelte sie den Kopf. „Das ist unmöglich, aber allein die Vorstellung ist aufregend. Hast du daher die dunklen Ringe unter den Augen? Weil ihr pausenlos wilden, hemmungslosen Sex habt, statt zu schlafen? Oder hält dich deine Schulter wach? Oder liegt es an etwas anderem?“

Lily zuckte mit der gesunden Schulter. „Ich träume schlecht. Das geht vorbei. Willst du das essen oder Sex damit haben?“

Beth leckte weiter Schokolade von der Erdbeere. „Das eine schließt das andere nicht aus. Wenn man bedenkt, was dir passiert ist, wundert es mich nicht, dass du schlecht träumst. Nicht dass ich genau wüsste, was passiert ist. Ich nehme nicht an, dass du darüber reden willst?“

„Ich finde, heutzutage wird viel zu viel geredet.“

„Ach, echt?“ Endlich ließ Beth die Erdbeere in ihrem Mund verschwinden.

Da nun ihr Mund eine Weile beschäftigt sein würde, wanderten Lilys Gedanken zurück zu dem Streit, den sie und Rule letzte Nacht gehabt hatten. Er wollte, dass sie bei ihm einzog. Bisher hatte er sich – für seine Verhältnisse – geduldig gezeigt, aber sie war für einen solchen Schritt noch nicht bereit. Sie brauchte Zeit, um sich an die vielen Veränderungen in ihrem Leben zu gewöhnen. Und einen Teil dieser Zeit wollte sie allein verbringen.

Das verstand er nicht. Nettie hatte ihr erklärt, dass ein Lupus, wie ein Mensch auch, mal extrovertierter, mal introvertierter war. Aber im Großen und Ganzen brauchten sie mehr Nähe, mehr Berührung, mehr Kontakt mit anderen als der durchschnittliche Mensch. Der Wolf war nun einmal ein Rudeltier.

Nachdem sie die Erdbeere verputzt hatte, fragte Beth: „Okay, wenn du darüber nicht reden willst – hast du im Garten gearbeitet?“

„Ich führe Krieg gegen das Unkraut. Mit einem Arm kann ich keine Schaufel benutzen.“ Rule hatte angeboten, ein Beet für sie auf dem Clangut umzugraben, aber das wäre nicht dasselbe gewesen. Sie arbeitete im Garten ihrer Großmutter, weil sie selber keinen eigenen hatte, aber das hieß nicht …

„Hallo!“ Beth wedelte mit der Hand vor Lilys Gesicht hin und her. „Wo bist du? Du bist ja leichenblass.“

„Wie passend“, murmelte Lily.

„Was?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nicht so wichtig. Ich … ich dachte, ich hätte jemanden gesehen, den ich einmal gekannt habe.“ Jemand, der nicht hier sein konnte.

Zum einen kannte die Frau, die Lily nur unter dem Namen Helen kannte, Lilys Familie nicht. Und zum anderen war sie tot.

„Das war wohl niemand, den du mochtest!“

„Ganz recht.“ Lily starrte in die Richtung, in der die Frau hinter einer Gruppe aufgeregter Teenager verschwunden war. Sie hatte genauso wie Helen ausgesehen: klein, langes blondes Haar, Babygesicht und Augen so kalt und leer wie die einer Puppe.

Da war sie wieder und ging auf den Ausgang zu, der zu den Toiletten führte. Es schien Lily so, als werfe sich ihr Herz gegen den Brustkasten, um zu entkommen.

Es war verrückt zu glauben, dass die Frau, die sie gesehen hatte, tatsächlich Helen war. Verrückt. Und doch … „Ich muss mir mal die Nase pudern“, sagte sie zu ihrer Schwester und machte sich auf die Suche nach einer Frau, die nicht existieren konnte.

Denn vor drei Wochen hatte Lily sie getötet.

Nancy Chen liebte es ganz offensichtlich zu tanzen, und sie tanzte gut. Zudem war sie groß genug, um sich Rules Schritten anpassen zu können. Sie roch nach Tabak, was er nicht mochte, und nach Babypuder. Das wiederum mochte er. Und sie hatte einen lebhaften Sinn für Humor.

Alles in allem hätte er den Tanz mit ihr genossen, wenn sie nicht ständig versucht hätte, ihn zu betatschen. „Ähem“, sagte er und schob ihre Hand zurück in seine Taille. Nicht zum ersten Mal.

Sie grinste. „Sie können es mir nicht verübeln, dass ich es versuche. Das hübsche Ding, mit dem Sie hier sind, scheint nichts dagegen zu haben.“

„Ich glaube, da kennen Sie Lily schlecht.“

„Sie kann nicht so dumm sein, dass sie nicht über Ihre Art Bescheid weiß. Hut ab, dass sie trotzdem den Mut hatte, es mit Ihnen aufzunehmen. Ich habe gehört, dass Sie etwas mit einer Lady anzufangen wissen.“ Sie warf ihm einen koketten Blick zu … und ließ erneut ihre Hand tiefer gleiten.

Hin und her gerissen zwischen Verärgerung und Belustigung, fing er ihre Hand ab. Dieses Mal hielt er sie fest. „Ich habe den Verdacht, dass Sie zu Ihrer Zeit auch kein Kind von Traurigkeit waren“, sagte er trocken.

Nancy Chen war zweiundachtzig Jahre alt und die Großtante des Bräutigams.

Sie lachte. „Meine Zeit ist noch nicht vorbei. Sie kommt nur nicht so oft wie früher. Kapiert? Sie kommt nicht.“ Sie lachte wieder, entzückt über den eigenen Witz.

Entzückt war auch Rule, als es ihm gelungen war, für den Rest des Tanzes ihre Hände festzuhalten. Nancy erwartete nicht, dass er ihr Angebot ernst nahm – obwohl er vermutete, dass sie, sollte er sie auch nur ein kleines bisschen ermuntern, sofort bereitwillig eine Besenkammer gefunden hätte, in die sie sich hätten zurückziehen können. Aber vor allem wollte sie gern provozieren.

Manche Frauen waren so. Die Vorstellung, die Grenzen der normalen gesellschaftlichen Regeln mit jemandem, der außerhalb dieser Grenzen lebte, zu übertreten, machte sie an. Daran war er gewöhnt, genauso wie an den leisen Hauch von Angst, den die meisten Menschen verströmten, wenn sie ihm begegneten. Aber beides konnte auch sehr ermüdend sein.

Er wollte Lily. Doch sie ging ihm aus dem Weg.

Rule bahnte sich seinen Weg am äußeren Rand des Ballsaales entlang und vermied es mit allem ihm zur Verfügung stehenden Takt, mit einer anderen Frau zu tanzen, die nicht Lily war. Die Luft war erfüllt von unterschiedlichen Düften – Essen, Blumen, Kerzen, Menschen und einem leichten Hauch von Ozean. Aber es gelang ihm nicht, Lilys Spur aufzunehmen oder das Ziehen zu spüren, das ihm sagte, wo sie war.

Die Tatsache, dass das Band der Gefährten sie wissen ließ, wo der andere sich gerade befand, war für ihn nicht so offenkundig wie für sie. Wieder ein Geheimnis mehr, das ihr zu schaffen machte. Als sie es letzte Woche in ihrem kleinen Test herausgefunden hatten, hatte er vermutet, dass es ihre Gabe war, die sie empfänglicher für das Immaterielle machte.

Voller Empörung hatte Lily den Kopf geschüttelt. „Das ist keine Erklärung. Du ersetzt lediglich ein Fragezeichen durch ein anderes.“

Rules Mundwinkel zuckten amüsiert, als er den Weg in den anderen Saal einschlug. Seine nadia mochte das Unerklärliche nicht.

Er schob sich durch die Menge und hielt Ausschau nach einer kleinen, schlanken Frau mit Haar, dunkel wie die Nacht, mit Haut wie flüssige Sahne auf Aprikosen … und einem schimmelfarbenen Kleid. Sein Lächeln wurde breiter. Solch ein Kleid zu tragen bewies echte Schwesternliebe.

Doch immer noch gab es keine Spur von Lily. Zurzeit war sie nicht sehr zufrieden mit ihm. Pech. Und er war nicht sehr zufrieden mit ihr. Eigentlich hätte sie noch nicht wieder ihren Dienst antreten dürfen. Sie war immer noch nicht ganz gesund, verdammt, und warum ihre Vorgesetzten das nicht sahen, ging ihm einfach nicht in den Kopf. Aber sie würde nicht …

„Rule.“ Eine weiche weibliche Stimme hatte seinen Namen gerufen, die ihm erst seit Kurzem vertraut war. Er wandte sich um und sah Lilys Mutter, die ihm zuwinkte.

Julia Yu war eine große, elegante Frau mit schönen Händen, einem sehr kleinen Kinn und Lilys Augen unter dünn gezupften Brauen. Neben ihr standen zwei Frauen in ihrem Alter, eine Angloamerikanerin und eine Chinesin, die beide ungemein neugierig schienen, was ihn betraf, und versuchten, es nicht zu zeigen.

Rule unterdrückte einen Seufzer. Er war froh über die Gelegenheit gewesen, Lilys Familie anlässlich dieser Hochzeit kennenzulernen. Schließlich wollte er alles von ihr wissen. Am Abend zuvor hatte er ihre Eltern beim Probedinner getroffen, mit mäßigem Erfolg. Beide waren sehr höflich gewesen, aber keiner von beiden billigte ihn. Ihr Vater behielt sich sein abschließendes Urteil vor, dachte er. Ihre Mutter mochte ihn, allerdings gegen ihren Willen, und wünschte, er würde wieder von der Bildfläche verschwinden.

Aber jetzt wollte er nur Lilys Nähe. Er war die Neugier leid, die Angst, die Mutmaßungen. Obwohl er daran gewöhnt war, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, war es dieses Mal anders. Persönlicher. Seht mal her, was Lily nach Hause nachgelaufen ist. Es geht und redet wie ein echter Mensch.

Doch nach einer flüchtigen Vorstellung entschuldigte sich Julia Yu und zog Rule auf die Seite. Sie zog die dünnen Augenbrauen zusammen und fragte: „Haben Sie Lily gesehen?“

Überrascht sah er sie an. „Ich habe gerade nach ihr gesucht.“

„Ts. Wie dumm von mir.“ Sie schüttelte den Kopf. „Daran ist Beth schuld, sie hat mir das eingeredet. Und ich war so beschäftigt … Sie haben ja keine Ahnung, was für eine Arbeit es ist, eine solche Hochzeit auf die Beine zu stellen.“

Sorge schnitt tief in seinen Magen. Mechanisch antwortete er: „Das haben Sie ganz wunderbar gemacht. Die Hochzeit war fantastisch, genauso wie der Empfang. Aber was hat Beth Ihnen eingeredet?“

„So eine dumme Geschichte! Natürlich hat sie sich das alles nur eingebildet. Beth hat eine sehr lebhafte Fantasie.“ Es war unmöglich zu sagen, ob das ein Kompliment oder Kritik an ihrer jüngsten Tochter war. Das Stirnrunzeln wollte nicht weichen. „Ich habe ihr jedenfalls keine besondere Beachtung geschenkt.“

„Was für eine Geschichte?“

„Sie sagte, sie sah, wie Lily in die Damentoilette ging, und ist ihr gefolgt. Sie hatten in letzter Zeit nicht viel Gelegenheit, miteinander zu reden, also nehme ich an, dass sie … aber Lily war nicht dort.“ Julia verzog den Mund. „Sie schwört, dass Lily den Raum nicht hätte verlassen können, ohne dass sie es gesehen hätte, aber das ist natürlich Unsinn.“

Es musste Unsinn sein. Oder etwa nicht?

Für einen Moment stand Rule stocksteif da. Lily war nicht weit weg. Er wusste es. Aber es war auch ihm nicht gelungen, sie zu finden, und das Leben war nicht so normal und geordnet, wie es den Anschein hatte. Die Welten waren dabei, sich zu verschieben.

Und vor drei Wochen hatte Lily eine Göttin verärgert.

„Ich werde sie suchen.“ Mit einer schnellen Bewegung wandte er sich ab. Er wusste, es war töricht, hatte aber das Gefühl, er müsste sich beeilen.

Da sie zuletzt in der Damentoilette gesehen worden war, lenkte er seine Schritte als Erstes dorthin. Die Toiletten befanden sich in einem Flur, der die privaten Esssäle mit dem öffentlichen Teil des Restaurants verband. Eine kleine Gruppe missgelaunter Frauen hatte sich vor der Tür versammelt. Er schnappte einige Gesprächsfetzen auf.

„ … jemand nach dem Manager geschickt?“

„Gibt es keine andere?“

„Es gibt genug Kabinen für alle. Kein Grund, die Tür abzuschließen.“

„ … irgend so ein Sadist, wenn ihr mich fragt!“

Jemand hatte die Tür zu den Damentoiletten abgeschlossen. Rules Mund wurde trocken. Er bahnte sich einen Weg durch das Grüppchen der Frauen, die ihm bereitwillig Platz machten, erst nur wegen seiner Körpergröße und seines Lächelns, dann, einen Augenblick später, weil sie ihn erkannt hatten. „Entschuldigung, meine Damen. Ich bitte um Verzeihung. Nein, ich bin nicht der Manager, aber wenn Sie bitte beiseitetreten wollen …“

„Shannon“, flüsterte eine von ihnen einer anderen zu. „Sieh doch mal! Das ist der Prinz der Nokolai!“

Das brachte sie für kurze Zeit zum Schweigen. „Ich kümmere mich darum, wenn Sie … Danke“, sagte er, als er an der letzten vorbei war. Ein sonderbarer Geruch hing nahe der Tür ganz schwach in der Luft. Er beugte sich vor, um zu schnüffeln, konnte ihn aber nicht identifizieren.

Lily war auf der anderen Seite. Er spürte ihre Nähe durch eine langsame Bewegung unter seinem Brustbein. Mit hämmerndem Herzen klopfte er an die Tür. Pressspan.

„Das nutzt nichts!“, schimpfte eine der Frauen. „Meinen Sie, wir hätten das nicht schon probiert?“

Der Knauf ließ sich drehen, aber die Tür bewegte sich nicht. Auf der anderen Seite verriegelt, vermutete er.

„Und das haben wir auch probiert“, sagte die Frau sarkastisch.

Rule rammte die Faust durch die Tür.

Holz splitterte. Jemand kreischte. Er griff durch das Loch und fand den Riegel. Er war glitschig von seinem Blut, aber er packte fest zu und zog daran. Er drückte die Tür auf.

Lily lag auf dem Rücken, vor den Waschbecken. Vollkommen regungslos.

 

2

„Und warum“, fragte Rule mit mühsam beherrschter Ungeduld, „hast du die Sanitäter fortgeschickt?“

Lily saß inzwischen auf dem Boden des Toilettenraums, inmitten von schimmelgrünem Chiffon, und strich zärtlich mit der Hand über die Kacheln. Im Flur vor der Tür hielt ein uniformierter Polizeibeamter die Neugierigen und Besorgten zurück, während ein anderer damit beschäftigt war, die Leute zu befragen.

Rule saß ebenfalls auf dem Boden – gegen die Wand gelehnt, in sicherer Entfernung von Lily, um nicht Spuren zu verwischen, die der Angreifer eventuell hinterlassen hatte.

Nachdenklich sah sie vor sich hin, als wäre dort eine unerfreuliche Nachricht in unsichtbarer Tinte geschrieben. „Sie wollten mich ins Krankenhaus bringen.“

Er starrte seine Herzensfrau an, die einzige Frau auf der Welt für ihn … den dickköpfigen Dummkopf, der ärztliche Behandlung abgelehnt hatte. „Unglaublich. Was hast du dir nur dabei gedacht?“

Ihre Lippen zuckten. Endlich löste sie den Blick von den offenbar so faszinierenden Kacheln. „Ich tue es später. Ich habe zwar Kopfschmerzen, aber mir geht es gut, wirklich. Im Gegensatz zu dir habe ich kein Blut verloren.“

„Deine Wunde hat sich geöffnet.“

„Aber sie hat kaum geblutet, und ich bin bereits mit Antibiotika vollgestopft. Meine Schwester hat mich untersucht.“

„Ja, und gesagt, dass du wahrscheinlich eine Gehirnerschütterung hast …“

„Nur eine leichte Gehirnerschütterung.“

„ … und dass du in die Notaufnahme fahren und dich untersuchen lassen solltest.“

„Dort würde man auch nur feststellen, dass mein Kopf schmerzt, und mir sagen, dass ich mich ausruhen soll. Und das tue ich gerade.“

„Du leitest eine verdammte Untersuchung!“

„Ich habe nicht viel Zeit, bevor die Leute von der Spusi hier auftauchen.“

„Wer taucht auf?“

Sie rollte mit den Augen. „Die Spurensicherung. Ich wollte mir einen Überblick verschaffen, bevor sie hier sind. Oder Karonski.“ Ein letztes Mal betrachtete sie nachdenklich den Boden und hielt ihm dann ihre Hand hin. „Mehr erfahre ich hier nicht. Hilfst du mir auf?“

Rasch stand er auf, ging zu ihr hinüber und ergriff ihre Hand. Mit einem kleinen Ruck war sie auf den Beinen und in seinen Armen. Er streichelte sanft ihr Haar. Ihr Duft berührte ihn in seinem Innersten und besänftigte seinen Unmut.

Doch die Furcht blieb. Er holte tief Luft und zitterte innerlich. „Verdammt, Lily. Dein Gesicht hat die Farbe von verschwitzten Sportsocken.“

„Vielen Dank, das ist gut zu wissen.“ Aber sie lehnte sich gegen ihn, und er genoss es, ihre Wärme, das Gewicht ihres Körpers zu spüren. Ihre Nähe bedeutete kribbelnde Erregung und tröstliche Verbindung zugleich. Er wusste, dass auch sie Kraft aus diesem Kontakt schöpfte. So weit hatte sie bereits das Band der Gefährten akzeptiert. Sie leugnete es nicht länger aus der Angst heraus, dass ihre eigenen Bedürfnisse sie irgendwann überwältigen würden.

Dennoch wollte sie nicht mit ihm zusammenleben. Das, versprach Rule sich selbst, würde sich ändern. Nach diesem Überfall würde selbst Lily nicht mehr darauf bestehen, sowohl sein als auch ihr Leben irgendeinem absurden Verständnis von Unabhängigkeit zu unterwerfen.

„Der Uniformierte starrt uns an“, murmelte sie.

„Hmm.“ Der Uniformierte, wie sie sich ausdrückte, war nicht glücklich über einen Lupus am Tatort. Der erste Impuls des Mannes war es gewesen, Rule schon aus Prinzip festzunehmen. Als ihm das verwehrt worden war, hatte er Rule vom Tatort entfernen wollen.

Eigentlich eine vernünftige Überlegung, vom Standpunkt eines Polizisten aus, dachte Rule. Aber er ließ Lily nicht allein. Schließlich hatte der Polizist das akzeptiert, wobei unklar blieb, ob es an Lilys frisch geprägter FBI-Marke lag, der Tatsache, dass sie früher in der Mordkommission gewesen war, oder Rules Weigerung, zu gehen.

Er rieb sein Kinn an ihrem Haar und versuchte, noch mehr von ihr einzuatmen. Und hielt inne. „Du riechst komisch.“

„Bitte!“ Sie lehnte sich zurück. „Keine Witze mehr über verschwitzte Socken.“

„Nicht auf diese Weise komisch.“ Rule beugte sich vor, schnüffelte ihre Schulter hinunter und die Schlinge entlang, die ihren linken Arm hielt. Dort war der Geruch am stärksten.

„Könntest du versuchen, dich ein bisschen weniger merkwürdig aufzuführen?“

„Stell dir vor, ich würde mit dem Schwanz wedeln, und schon sieht alles viel normaler aus.“ Er atmete tief ein und versuchte, den sonderbaren Geruch aus den anderen herauszufiltern. „Ich kann ihn nicht einordnen“, sagte er und richtete sich wieder auf. „Nicht in dieser Form.“

„Vielleicht riechst du das, was auch die Spuren hinterlassen hat, die ich auf dem Boden gefühlt habe.“

Lilys Tastsinn war außerordentlich gut entwickelt, was vielleicht eine der seltensten Gaben überhaupt war, und ungewöhnlich stark. Magie konnte ihr nichts anhaben, aber sie konnte sie spüren, selbst eine noch so schwache Spur, die ein vorbeiziehendes übernatürliches Wesen hinterlassen hatte. Er zog die Augenbrauen hoch. „Was hast du gespürt?“

„Es war sonderbar. Irgendwie … orange.“

„Was mir wenig sagt.“

„Mir sagt es auch nicht viel.“ Sie schüttelte den Kopf. „Magie fühlt sich an wie ein Stoff, nicht wie eine Farbe, und doch … ich kann es nicht erklären. Ich habe noch nie zuvor so etwas gespürt.“

Sie sah beunruhigt aus, aber Rule fühlte sich erleichtert. „Es fühlte sich also nicht wie dieser verdammte Stab an?“

Bevor sie antworten konnte, wurden sie von einer Stimme abgelenkt.

„Tut mir leid, Ma’am, da dürfen Sie nicht rein.“

Es war der Polizeibeamte, der neben der Tür stand. Eine vertraute weibliche Stimme antwortete mit einem Wortschwall auf Chinesisch, dann ertönte eine andere vertraute Stimme – Julia Yu. „Ich habe dir gesagt, dass sie dich nicht reinlassen würden. Wenn sie nicht einmal ihre eigene Mutter hineinlassen, werden sie wohl kaum eine Ausnahme bei ihrer Großmutter machen.“

Lily seufzte und löste sich aus seiner Umarmung. „Großmutter, der Mann tut nur seine Pflicht. Du darfst ihn nicht deswegen verfluchen.“

„Ich verfluche, wen ich will. Komm jetzt da raus.“

Die alte Dame, die sich neben dem stämmigen Beamten aufgebaut hatte, war knapp eins fünfzig groß. Ihr Kleid war rot, knöchellang und von orientalischem Schnitt. Das schwarze, von Silber durchzogene Haar war straff nach hinten in einem Knoten zusammengefasst, der von zwei genau gleichen Emailstäbchen gehalten wurde, und auf dem Ring an ihrem Finger prangte ein Rubin im Cabochonschliff. Trotz ihres hohen Alters hielt sie sich gerade wie ein junger Baum, aufrecht und kraftvoll, mit dem Stolz einer Königin.

Rule konnte Madame Li Lei Yu nicht ansehen, ohne an eine Katze zu denken. Sie wusste, sie hatte das Sagen, egal was die Idioten um sie herum denken mochten. Und gerade jetzt wollte diese Katze, dass sich eine Tür für sie öffnete. Auf der Stelle.

Lily warf Rule einen resignierten Blick zu und verließ den Toilettenraum. Er folgte ihr.

Am gegenüberliegenden Ende des Flures sprach ein anderer Polizeibeamter mit einer der Frauen, die sich über die geschlossene Toilettentür beschwert hatten. Essensgerüche zogen von der nahen Küche herüber, und die Geräusche der dinierenden Gäste in den öffentlichen Räumen des Restaurants wetteiferten mit dem Gemurmel, das aus den Räumen der Hochzeitsgesellschaft drang.

Hier, unter dem misstrauischen Blick des Streifenpolizisten, bildeten drei Frauen ein Dreieck, mit der ältesten und kleinsten an seiner Spitze. Julia Yu, die mittlere, berührte mit besorgtem Blick ihre Tochter an der Schulter. Lily lächelte sie beruhigend an und wandte sich ihrer Großmutter zu. „Hier bin ich, wie befohlen.“

„Oho! Mich kannst du nicht täuschen. Du kommst, weil du ohnehin fertig warst.“

Zwei Paar dunkle Augen trafen sich – die einen von Falten umrahmt, die anderen von junger, glatter Haut. Die beiden Frauen waren fast gleich groß. Und auch in anderer Hinsicht waren sie sich ähnlich; manches davon war sogar mit bloßem Auge zu erkennen. „Du wirst doch nicht wollen, dass ich meine Pflichten vernachlässige“, sagte Lily.

„Frech“, verkündete ihre Großmutter. „Immer bist du frech.“ Sie umfasste Lilys Kinn. Die Haut auf ihrem Handrücken war so dünn und durchsichtig wie Seidenpapier, das auf eine perfekte Konstruktion aus Knochen und Sehnen gespannt war. Ihre Nägel waren rot und kunstvoll gefeilt. „Geht es dir gut, Kind?“

Lily lächelte in die Hand, die ihr Kinn umfing. „Abgesehen von dem Männchen, das von innen gegen meinen Schädel hämmert, ja.“

„Dann beruhige deine Mutter. Sie ist sehr besorgt.“

Julia Yu war entrüstet. „Du warst diejenige, die sich mit eigenen Augen davon überzeugen wollte, dass es ihr gut geht. Du wolltest mir nicht glauben. Oder Susan, die ja immerhin Ärztin ist.“

Madame Yu beachtete sie nicht, ließ ihre Hand sinken und wandte sich Rule zu. „Sie begrüßen mich nicht.“

„Ich warte nur auf die richtige Gelegenheit.“ Er beugte sich vor und küsste ihre samtweiche Wange.

Ihre Augenbrauen schossen nach oben. „Flirten Sie mit der Großmutter Ihrer Freundin?“

„Ich flirte mit Ihnen, Madame. Sie sind unwiderstehlich.“

„Gut. Ich mag Schmeicheleien, wenn sie wohl formuliert sind. Sagen Sie Ihrem seltsamen Freund, dass ich ihn zu sehen wünsche.“

„Äh … welchem seltsamen Freund?“

Sie kicherte. „Sie haben so viele, was? Dem gut aussehenden.“

„Sie meint Cullen“, sagte Lily trocken.

Natürlich meinte sie Cullen. Rule musterte die alte Dame und fragte sich, ob er wissen wollte, warum sie ihn zu sehen wünschte. Wahrscheinlich nicht, entschied er. „Ich gebe Ihnen seine Telefonnummer, aber er geht nicht immer ran.“

„Ich verabscheue Telefone. Sagen Sie ihm, er soll zu mir kommen, wenn ich zurück bin.“

„Zurück?“ Julia Yu runzelte die Stirn. „Wovon redest du? Du gehst nirgendwohin. Du hasst es, zu verreisen.“

„Morgen besteige ich ein Flugzeug. Ich fliege nach China.“

Plötzlich herrschte Stille. Rule betrachtete die Gesichter der drei Frauen. Julia Yu war schockiert. Madame Yu genoss offenbar die Reaktion ihrer Schwiegertochter. Und Lily … ihre Sorge war offensichtlich, zumindest für ihn. Er erkannte es an ihrer Reglosigkeit, ihrer Ausdruckslosigkeit, der Veränderung ihres Duftes.

Er kam näher. „Das war keine spontane Entscheidung“, sagte er ernst zu der alten Dame. „Ein Visum für China bekommt man nicht über Nacht.“

„Nicht?“ Ihr Gesichtsausdruck gab deutlich zu erkennen, dass er in Ungnade gefallen war. Sie zuckte mit den Achseln und sprach mit ihrer Enkelin. „Seit Jahren denke ich über diese Reise nach. Seit vielen Jahren bin ich jetzt in Amerika. In China gibt es Menschen und Orte, die ich wiedersehen möchte, bevor ich sterbe. Oder bevor sie sterben.“

„Du hast zwar über eine Reise gesprochen“, sagte Lily, „aber bislang nie Pläne gemacht. Warum gerade jetzt?“

„Ich bin eine alte Frau. Das wurde mir erst kürzlich in Erinnerung gerufen.“

Die unerwartete Bitterkeit in der Stimme der Großmutter ließ Rule annehmen, dass sie auf den Kampf vor zwei Wochen anspielte – in die eine Anzahl bewaffneter Azá, er selbst, Cullen, Lily, eine Handvoll FBI-Agenten, einige Wölfe … und ein sehr großer Tiger verwickelt gewesen waren.

Damals hatte Madame Li Lei Yu nicht den Eindruck einer alten Frau gemacht.

Lily hatte sich wieder gefangen. „Begleitet Li Quin dich?“

„Auch für sie gibt es Menschen und Orte, die sie wiedersehen will. Meine Gärten …“ Sie brach ab und wandte ihren Blick, Rules Beispiel folgend, dem Ausgang des Flurs zu.

Die Schritte verrieten Rule, wer sich ihnen näherte. Einen Moment später kam ein Mann um die Ecke: Abel Karonski, ehemaliger Freund, Vollzeit-FBI-Agent, Mitglied einer Spezialeinheit der Magical Crimes Division – der Abteilung für Verbrechen, die mit Magie zu tun hatte. Und seines Zeichens Zauberer. In der Tasche, die er trug, befanden sich sicher weder Akten noch Kleidung zum Wechseln.

Aber die Person, die Abel mitbrachte, war nicht sein Partner, Martin Croft. Stattdessen begleitete ihn eine große, schlaksige Frau, die silbrigblonden Haare männlich kurz geschnitten, ein halbes Dutzend Ohrringe in jedem Ohrläppchen, whiskeyfarbene, tief liegende Augen, in einem schlecht geschnittenen grauen Hosenanzug.

Die meisten Menschen würden nicht ihren Augen die größte Aufmerksamkeit geschenkt haben. Nicht als Erstes. Alles, was ihre Blicke sofort auf sich ziehen würde, waren ihre Tattoos.

„Cynna!“, rief Rule.

Zwischen den indigofarbenen Windungen, die sich von ihrer Wange bis hinunter zum Kinn schlängelten, zogen sich ihre Mundwinkel nach oben. „Hallo Rule. Du freust dich sicher, mich zu sehen, was?“

„Du hast ein paar neue.“ Rule zog sich einen Stuhl heran.

Nach einem kurzen Moment der Verwirrung hatten sich Lily, Rule, Karonski und der unerwartete Zuwachs in ihrem Team in den kleinsten der privaten Dinnerräume des Restaurants zurückgezogen. Darin befanden sich ein Tisch, sechs Stühle und eine Kaffeekanne.

„Mehr als ein paar, aber manche zeige ich lieber nicht vor so feinen Leuten.“ Die Zeichnungen auf ihren Wangen kamen in Bewegung, als sie lächelte. „Verdammt, siehst du gut aus. Du hast dich kein bisschen verändert. Vielleicht möchtest du dir später ein paar von meinen anderen neuen Tattoos ansehen?“

Lily saß auf dem Stuhl, dessen Lehne Rule umfasst hielt. Wahrscheinlich, dachte sie, tat sie gut daran, sich daran zu gewöhnen, dass Frauen Rule diese Art von Angeboten machten. Das war sicher nicht das letzte Mal, dass das passierte.