Wolf Shadow - Unsterbliche Bande - Eileen Wilks - E-Book

Wolf Shadow - Unsterbliche Bande E-Book

Eileen Wilks

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Beschreibung

Lily und Rule sind auf der Suche nach einem gestohlenen magischen Artefakt. Dabei stoßen sie auf die Spur eines gefährlichen Mörders, der ein Anhänger jenes uralten übernatürlichen Geschöpfes ist, gegen das die Werwölfe schon seit Jahren kämpfen.

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EILEEN WILKS

Wolf Shadow

Unsterbliche Bande

Roman

Ins Deutsche übertragen

von Stefanie Zeller

Zu diesem Buch

Da ihr Leben in Gefahr ist, wohnen die FBI-Agentin Lily Yu und ihr Verlobter Rule seit Kurzem auf dem Clangut der Nokolai. Da bricht eines Nachts auf dem Anwesen ein Feuer aus – das sich allerdings schnell als Ablenkungsmanöver herausstellt. Ein Dieb hat ein magisches Artefakt entwendet, das der Magier Cullen Seabourne entwickelt hat. Der Apparat könnte in den Händen von Feinden zu einer gefährlichen Waffe werden. Doch ebenso besorgniserregend ist die Tatsache, dass überhaupt ein Außenstehender von Cullens Arbeit wusste. Es scheint einen Verräter in den Reihen der Lupi zu geben. Lily und Rule nehmen die Fährte des Diebes auf. Doch bevor sie etwas unternehmen können, meldet sich dieser selbst bei ihnen. Seine Identität ist ein Schock für Rule, doch schlimmer noch – der Dieb wurde selbst zum Bestohlenen, und es scheint, als hätte ein alter Erzfeind seine Hände im Spiel: Robert Friar ist ein Anhänger jenes uralten übernatürlichen Geschöpfes, gegen das die Werwölfe schon seit Jahren kämpfen, und Lily und Rule haben mehr als nur eine Rechnung mit ihm offen …

1

Eigentlich hatte Lily Yu nicht vorgehabt, den Friedhof bei Sonnenuntergang zu besuchen. Es hatte sich einfach so ergeben.

Das Haupttor von Mount Hopes schloss um halb vier, aber die Eingangspforten für die Fußgänger blieben auch danach noch geöffnet. Weil die Leute gern noch nach der Arbeit vorbeikämen, hatte der Mann im Friedhofsbüro gesagt, vor allem am Geburtstag des Verstorbenen oder zu anderen wichtigen Ereignissen. Zu dieser Uhrzeit war kein freier Parkplatz mehr zu finden, es sei denn, man erwischte noch einen am Straßenrand.

Dort hielt Lily nun mit ihrem Dienstwagen, einem Ford, und warf einen Blick in den Rückspiegel. Der weiße Toyota, der ihr gefolgt war, kam näher und fuhr dann vorbei. Sie würde warten. Wenn sie ausstieg, bevor sie geparkt hatten, versetzte sie sie nur unnötig in Aufregung. Es war schon schlimm genug, dass sie sie hierhergeschleppt hatte, da das Licht bereits nachzulassen begann.

Nicht, dass sie sich vor dem Sonnenuntergang gefürchtet hätten. Ebenso wenig wie sie. Vor den Toten brauchte man keine Angst zu haben. Es waren die Lebenden, vor denen man auf der Hut sein musste.

Während der Toyota nach einem Parkplatz suchte, nahm Lily ihre Stiftlampe aus der Handtasche und steckte sie sich in die Hosentasche. Der Tag glitt langsam in die Dämmerung hinüber, und sie misstraute dem Zwielicht. Bei Tageslicht weiß man immer, wo man ist, und sieht, wohin man geht. Doch bei Nacht kann man nichts sehen, zumindest nicht ohne Hilfsmittel – elektrische Hilfsmittel vor allem, die Lichter der Stadt, eine Taschenlampe, was auch immer. Und da man das weiß, trifft man entsprechende Vorkehrungen.

Zwielicht lässt die Grenzen verschwimmen. In der Stunde der Schatten täuscht man sich leicht in dem, was man zu sehen glaubt, macht schnell einen falschen Schritt, weil man gedacht hatte, das Licht reiche noch aus. Als sie noch bei der Mordkommission war, hatte Lily Menschen verhaftet, die genau diesen verhängnisvollen Schritt zu viel gemacht hatten, irregeleitet durch ihr eigenes Zwielicht von Drogen oder Gefühlen. Menschen, die sonst nie zu Mördern geworden wären.

Aber manche machen diesen Schritt auch absichtlich. Manche wissen sehr wohl, wo die Grenze verläuft, und übertreten sie ganz bewusst. Wie der Mistkerl, bei dessen Anhörung sie heute als Zeugin ausgesagt hatte.

Gottverdammte Trittbrettfahrer.

Ein Stück weiter die Straße hinunter setzte der Toyota in eine Lücke zwischen einem Geländewagen und einem Pick-up zurück. Lily nahm ihre Handtasche, vergewisserte sich, dass kein Auto kam, und stieg aus. Der Verkehr war nicht sehr dicht, sodass sie sofort die Straße überqueren konnte. Bis sie auf der Straßenseite angekommen war, an der der Friedhof lag, waren dem Toyota zwei Männer entstiegen.

Einer war schlank und blass, hatte ein rundes Gesicht und trug eine Brille. Er hätte fast ein Computernerd sein können. Der andere war einen Kopf größer, vierzig Kilo schwerer und sah aus, als hätte er ein paar Tattoos und ein Vorstrafenregister. Der Nerd trug ein billiges Sporthemd, der Abgebrühte ein schwarzes T-Shirt. Beide hatten Jeans, Laufschuhe und ein Sakko an.

Auch Lily hatte sich für eine Jacke entschieden, aus demselben Grund. Es war zwar Ende Dezember, aber dies war San Diego. Die Luft war zwar frisch, aber nicht kalt. Doch die Leute regten sich leicht auf, wenn man sein Schulterholster allzu offen zeigte.

Die Männer überquerten die Straße zwischen einem schwarzen Sedan und einem Lieferwagen. Der Nerd gab plötzlich ein Zeichen mit der Hand, woraufhin der Abgebrühte – auch bekannt als Mike – mit lockerem, schnellem Schritt auf die Pforte zustrebte. Als Lily ihm nachging, folgte der Nerd ihr.

Sie wurden nicht beschattet, doch es war möglich, dass ihre Feinde wussten, dass sie kommen wollte und sie bereits erwartet wurde. Unwahrscheinlich, aber möglich. Theoretisch hätte Friar erfahren haben können, dass sie sich vor einem Monat den Friedhofsplan geholt hatte, und seitdem den Friedhof überwachen lassen.

Das hatte zumindest Scott gesagt, als sie ihm von ihrem geplanten Besuch erzählt hatte. In Lilys Augen war es die wohl sicherste Sache, die sie in letzter Zeit durchgeführt hatte. Friars Organisation hatte im Oktober einen schweren Schlag erlitten, als er es geschaffte hatte, viele Menschen in den Tod zu schicken, aber dann erleben musste, wie seine lang gehegten Pläne zunichtegemacht worden waren. Sie bezweifelte, dass er noch die Mittel besaß, einen Scharfschützen einen Monat lang rund um die Uhr vor Ort einzusetzen. Und eigentlich bezweifelte sie noch mehr, dass er überhaupt wusste, dass sie sich den Plan besorgt hatte.

Doch da er über ein Mittel verfügte, das sie weder vorhersehen noch in irgendeiner aussagekräftigen Form einschätzen konnte, war es auch möglich, dass sie sich irrte. Nun, wenn es so war, dann hatte sie jedenfalls Verstärkung dabei.

Manchmal ist eine Bezeichnung ausschlaggebend.

Monatelang hatte sie nicht akzeptieren wollen, dass sie Leibwächter brauchte. Nein, berichtigte sie sich, als sie einen schmalen Weg einschlug, der sich durch den Friedhof in die Richtung schlängelte, in die sie gehen musste. Sie hatte allein schon den Gedanken daran gehasst. Die Wachen überallhin mitnehmen zu müssen, die fehlende Privatsphäre … und ganz besonders schlimm war ihr die Vorstellung gewesen, dass einer von ihnen vielleicht sein Leben für sie würde geben müssen. Ja, sie brauchte Leibwächter, daran gab es nichts zu rütteln, doch das zu akzeptieren war ihr äußerst schwergefallen und hatte sich in Reizbarkeit und dem ein oder anderen unfreundlichen Wort bemerkbar gemacht.

Letzte Woche, als sie sich wieder einmal beschwerte, hatte Rule den Kopf geschüttelt und gesagt: »Ich verstehe dich nicht. Hast du denn nie um Verstärkung gebeten, als du noch ein normaler Cop warst? Das ist dir doch auch nicht auf die Nerven gegangen.«

»Verstärkung«, hatte sie langsam wiederholt. Und sagte es noch einmal, als sich die Last langsam von ihr hob, nicht ganz, aber doch so, dass sie angenehmer zu tragen war, so als würde sie einen BH oder ein Schulterholster überstreifen. »Verstärkung, keine Leibwächter. Sie sind meine mobile Verstärkung.«

Gefolgt von der einen Hälfte ihrer mobilen Verstärkung – dem Nerd, alias Scott White, der sich sehr viel mehr für Schusswaffen und Messer interessierte als für Computer –, trat Lily nun von dem Weg ins weiche Gras und ging zwischen den Ruhestätten der Toten weiter.

Ihr Ziel lag im neuesten Abschnitt der Anlage. Für diesen Teil des Landes war Mount Hope ein alter Friedhof, eine Ansammlung von Gräbern, deren Pflege die Stadt im Laufe der Jahre übernommen hatte, mit vielen eingewachsenen Bäumen und altmodischen Grabsteinen. Hier an dieser Stelle jedoch war alles im sogenannten Gartenstil gehalten, mit ordentlich gemähtem Rasen und flachen, in die Erde eingelassenen Platten, in denen sich kleine Einsätze für Blumen befanden.

Das Gras war feucht und federte unter ihren Schritten, und sein Duft erfüllte die Luft. In anderen Teilen des Landes dachten die Leute beim Geruch von frisch gemähtem Gras an Sommer. Für Lily rief es Erinnerungen an Winter wach. Da kam der Regen, und das Gras wurde saftig und grün und musste geschnitten werden. Dieses Jahr war der Dezember ungewöhnlich nass gewesen und hatte sie mit fast einhundertsiebenundzwanzig Millimeter Niederschlag beglückt. Lily ging auf dem weichen Gras zwischen den Gräbern der vielen Unbekannten hindurch bis zu dem Grab der einen, die sie gekannt hatte.

Sie hatte keine Blumen mitgebracht. Blumen auf das Grab einer Frau zu legen, die man selbst getötet hatte, wäre geschmacklos gewesen. Vor allem, wenn man es nicht bereute.

Lily zählte erst die Reihen, drehte sich dann um und zählte die Gräber. Mike konnte sie nirgendwo entdecken, aber das hatte sie auch nicht erwartet. Lupi verstanden es ausgezeichnet, sich unsichtbar zu machen.

Und da war es. Lily blieb stehen.

Offenbar hatte aber jemand anders Blumen gebracht.

Keinen teuren Strauß. Eher die Art, die man im Supermarkt bekommt, mit ein paar gefärbten Nelken und Schleierkraut als Beiwerk. Rosa und rote Nelken in diesem Fall. In dem Glaszylinder, in dem der Strauß steckte, standen ein paar Zentimeter Wasser.

War dies das richtige Grab? Vielleicht hatte sie sich verzählt. Sie kniete sich neben die Grabplatte, betrachtete stirnrunzelnd den unerwarteten Blumenschmuck und las dann mithilfe der Stiftlampe die Inschrift des Steins:

HELENANNABELLEWHITEHEAD

Als Lily Helen vor etwas mehr als einem Jahr getötet hatte, kannte sie ihren Nachnamen nicht. Außer den wenigen wichtigsten Fakten hatte sie gar nicht viel über sie gewusst. Helen war der allgemein gängigen Vorstellung von Telepathen gerecht geworden – sie war total wahnsinnig gewesen. Sie folterte und tötete, versuchte ein Höllentor zu öffnen und wollte Lilys Geliebten an die Große Alte verfüttern, der sie gedient hatte.

Außerdem hatte sie alles darangesetzt, auch Lily zu töten, bevor diese ihr schließlich das Handwerk gelegt hatte.

Also … empfand sie keine Reue, nein. Lily hatte getan, was sie hatte tun müssen. Und Helen hatte keinen Mann, Geliebten oder noch lebende Familienmitglieder gehabt, um die sich Lily hätte Sorgen machen müssen, weil der Verlust sie möglicherweise gegrämt hätte.

Trotzdem war sie nun hier. Warum, wusste sie nicht so recht. Auf irgendeine dunkle, schwer fassbare Weise hing es mit dem zusammen, was sie gestern getan hatte, als sie und Rule in der ellenlangen Schlange vor dem Büro des County Clerks angestanden hatten, um eine Heiratserlaubnis zu bekommen, die neunzig Tage gültig war.

Die Hochzeit würde im März stattfinden – in zwei Monaten, einer Woche und zwei Tagen.

Etwas war wohl gestern der unmittelbare Auslöser für diesen Besuch gewesen, aber der Entschluss, hierherzukommen, war schon in den letzten Monaten in Lily gereift. Wo Helen lag, hatte sie bereits im Juni in Erfahrung gebracht, doch erst letzten Monat war sie im Büro des Mount Hope vorbeigefahren, um sich den Weg erklären zu lassen und den Plan zu holen, allerdings ohne ihr Grab zu besuchen. Sie war noch nicht dazu bereit gewesen.

Bereit wofür? Das fragte sie sich. Und jetzt war sie hier und wusste immer noch nicht, warum.

Seit über hundertfünfzig Jahren war Mount Hope nun schon der städtische Friedhof von San Diego. Raymond Chandler war hier begraben, genauso wie Alta Hulett, die erste weibliche Anwältin in Amerika, der Mann, der den Balboa Park entworfen hatte und zahlreiche Veteranen. Auch Ah Quin, einer der Gründerväter der Stadt … zumindest in den Augen der chinesischen Bevölkerung. Und die, die mit städtischen Mitteln beigesetzt wurden, obwohl heutzutage aufgrund der Budgetkürzungen eher verbrannt als beerdigt wurde.

Helen war als Jungfrau und als Mörderin gestorben und ohne ein Testament zu hinterlassen. Aber trotzdem hatten die Steuerzahler nicht für die Beseitigung ihrer sterblichen Überreste aufkommen müssen. Das hatte der vom Richter bestimmte Treuhänder erledigt, indem er alles aus ihren Hinterlassenschaften bezahlte.

Es hatte sich nämlich herausgestellt, dass Helen gut über eine halbe Million auf die Seite geschafft hatte. Telepathen wussten schließlich am besten, wie Menschen hereinzulegen waren. Vorausgesetzt natürlich, es gelang ihnen, lange genug die Stimmen in ihren Köpfen zum Verstummen zu bringen, um vernünftig denken zu können – was Helen gekonnt hatte, dank der Großen Alten, der sie gedient hatte. So hatte sie ihren Protegé kennengelernt, Patrick Harlowe … der ebenfalls auf unschöne Weise ums Leben gekommen war, aber nicht durch Lilys Hand. Diese Ehre gebührte Cullen Seabourne.

Aber Helen war nur die Erste gewesen, seitdem hatte Lily wieder getötet. Doch im Krieg wurde eben getötet, nicht wahr? Auch wenn die meisten Bewohner des Landes gar nicht wussten, dass sie sich in einem Krieg befanden. Doch die Lupi wussten es. Und Lily auch. Ebenso wie ihr Boss, der Leiter der Einheit Zwölf des FBI … und Leiter der sehr viel weniger offiziellen Schatteneinheit.

Bis der Krieg ausbrach, hatte Lily Dämonen umgebracht, einem Wiedergänger zum endgültigen Tod verholfen und einen vermeintlich Unsterblichen durch die kleine, dunkle Tür geleitet. Vergangenen September hatte sie versucht, einen Sidhe-Fürst zu töten, allerdings vergeblich. Und im Oktober, kurz vor der ersten offenen Schlacht des Krieges, hatte sie einen Mann erschossen. Mit einer Dublette.

Kurz zuvor hatte dieser Mann einen FBI-Agenten erschossen – eigentlich einen verlogenen, verräterischen Mistkerl von einem Agenten, der allerdings zu diesem Zeitpunkt auf Lilys Seite gewesen war. Es hatten noch andere Leben auf dem Spiel gestanden: die von vier Lupi, einem anderen FBI-Agenten und zweiundzwanzig Menschen, die die Bösen hatten abschlachten wollen. Lily hatte auf den Kopf des Schützen gezielt – sein Körper war von dem Van, den er gefahren hatte, verdeckt gewesen – und zwei schnelle Schüsse abgegeben. Sie hatte ihn mit kühlem Kopf getötet, um ihn daran zu hindern, andere zu töten.

Dazu war sie ausgebildet worden. Die meisten Cops kamen nie in die Lage, ihre Waffe einsetzen zu müssen, aber wenn man die Marke trug, war man darauf vorbereitet, dass man eventuell töten musste. Dass sie dazu in der Lage war, daran hatte Lily nie gezweifelt. Zumindest nicht seit ihrem achten Lebensjahr. Der Mann, der ihre Freundin vergewaltigt und getötet hatte, während sie zusehen musste, gefesselt und darauf wartend, dass er mit ihr das Gleiche tat, war verhaftet und verurteilt worden. Er war auf Lebenszeit ins Gefängnis gewandert, das hätte ihr als Rache genügen müssen.

Aber noch Monate später hatte sie von Mord geträumt.

Lily hatte immer gewusst, dass sie der Polizei beigetreten war, um gegen Monster zu kämpfen. Nun begann sie zu verstehen, warum sie auch das bürokratische Geschirr brauchte.

»Ganz schön morbide, was?«, sagte eine heisere Stimme. »Vor dem Grab von jemandem zu stehen, den man selbst getötet hat?«

Lily schrak zusammen und drehte sich dann mit einem Stirnrunzeln zu dem Störenfried herum. »Oh, Mist. Ich dachte, ich wäre dich los.«

»Tja, falsch gedacht.« Der Mann, der respektlos auf einem Grab ganz in der Nähe stand, trug einen schwarzen Anzug mit einem zerknitterten weißen Hemd und einer schlichten Krawatte. Er war eher mager als schlank und hatte das lichter werdende dunkle Haar straff aus der hohen Stirn zurückgekämmt. Und er war blass. Fast weiß. Und leicht durchsichtig.

Al Drummond. Ihre ganz persönliche Heimsuchung.

2

Womit hatte sie das nur verdient? Lily fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. »Geh weg.«

»Äh … Lily?«, sagte Scott.

Scott hatte natürlich weder etwas gesehen noch gehört. Für ihn sprach sie ins Leere. »Drummond stattet mir mal wieder einen Besuch ab.« Al Drummond, ehemaliger FBI-Agent … der verlogene, verräterische Mistkerl, der von dem Mann erschossen worden war, den Lily letzten Monat getötet hatte. Scott wusste über ihn Bescheid.

Die Toten flößten ihr zwar keine Angst ein, aber sie konnten verdammt lästig sein. »Wenn du hier bist, um mir wieder kluge Ratschläge zu geben –«

»Nein. Zumindest …«, er hielt unsicher inne, »… glaube ich das nicht.«

Als Lebender war Drummond vieles gewesen – aber unsicher zu sein hatte nicht dazu gehört. Das war so ungewohnt, dass sie gegen ihren Willen neugierig wurde und fragte: »Warum dann?«

»Ich weiß es nicht.« Mit gefurchter Stirn verschränkte er die Arme. »Glaubst du, ich hätte mich freiwillig an dich gebunden? Glaubst du, so verbringe ich gern die Ewigkeit – dir dabei zuzusehen, wie du dir die Zähne putzt? Was zum Teufel machst du hier überhaupt?«

Lily erhob sich. Worauf immer sie heute gehofft hatte, es würde nicht geschehen. Nicht, solange Drummond in ihrer Nähe war. »Was könnte dich das angehen?«

»Ich bin nur neugierig. Es macht die Sache einfacher für mich, aber ich glaube nicht, dass du deswegen hier bist.«

»Was meinst du damit, es machte die Sache einfacher?«

»Hier ist es einfacher, mich zu zeigen. An Orten wie diesem ist der Schleier dünn.«

Das amüsierte sie und weckte zugleich schmerzliche Erinnerungen. »Ich wünschte, Mullins könnte dich hören, wie du von dem Schleier redest wie ein Fernsehmedium.«

Er schnaubte. »Ja, das fände er richtig scheiße. Besuchst du öfter die Gräber von Leuten, die du umgebracht hast?«

»Woher weißt du, wessen Grab das ist?«

»Ich kann lesen.«

»Und du weißt natürlich, wer Helen war.«

»Glaubst du etwa, ich hätte mich nicht über dich informiert?«

Drummond mochte in spektakulärer Weise auf Abwege geraten sein, aber davor war er ein guter Agent gewesen – ausgebufft, clever und gründlich. Natürlich wusste er, wer Helen war und dass Lily sie getötet hatte. Gott allein mochte wissen, was er sonst noch über sie ausgegraben hatte. »Geh weg.«

»Nun sei nicht gleich beleidigt. Ich möchte dir einen Vorschlag machen.«

»Hat es damit zu tun, dass du mich in Ruhe lässt?«

»Und wo zur Hölle sollte ich dann hin?«

»Woher soll ich das wissen? Offensichtlich musst du ja nicht pausenlos bei mir sein. Du warst einen ganzen Monat weg.«

»Einen Monat?« Er wirkte erschüttert. »Ich war … ich glaube, ich habe geschlafen. Aber nicht die ganze Zeit. Ich war mit dir vor Gericht, als –«

Sie runzelte die Stirn. »Ich habe dich nicht gesehen.« Angeblich konnte Drummond nichts hören oder sehen, was in dieser Welt passierte, ohne sich zu manifestieren oder sich zumindest in dem Stadium schwebenden, weißen Nebels zu befinden.

»Du hast nicht hochgeschaut, und ich war …« Sein Mund bewegte sich weiter, aber sie hörte nichts mehr. Er hielt inne, machte ein finsteres Gesicht und setzte erneut an. Mittendrin wurden aus seinen Lippenbewegungen wieder Worte. »… mich an manchen Orten nicht ganz zeigen. Und sprechen ist auch verdammt schwer, also unterbrich mich nicht.«

»Du sprichst ja nicht richtig, weißt du. Die Luft bewegt sich nicht, deswegen hört dich auch niemand anders.« Vermutlich handelte es sich um eine Form von Gedankensprache, auch wenn es sich für ihre Ohren so anhörte, als redete er tatsächlich.

Er schnaubte. »Als wenn ich nicht von allein darauf gekommen wäre. Hör zu, ich glaube, ich weiß jetzt, was meine Aufgabe ist. Warum ich nicht einfach gestorben oder zur Hölle gefahren bin oder so.« Seine Augen leuchteten eindringlich. »Ich soll dein Partner sein.«

Das war so aberwitzig, dass sie lachen musste. »Ja, klar.« Sie winkte Scott mit einem Blick herbei und begann, zum Weg zurückzugehen. Drummond versuchte sie am Arm zu fassen, doch seine Hand glitt durch sie hindurch. Er verzog verärgert das Gesicht und ging dann neben ihr her. Wenigstens sah es so aus, als würde er gehen, weil seine Füße genauso wie ihre auf dem Boden auftrafen.

»Hör zu, ich habe verstanden, dass du mich nicht magst«, sagte er. »Na und? Ich habe mit vielen Arschlöchern zusammengearbeitet. Wenn es nötig ist, damit der Job erledigt wird, dann kann man damit leben.«

»Im Moment bist du ein bisschen limitiert in dem, was du tun kannst.«

»Vielleicht, aber ich kann Sachen machen, die du nicht kannst. Ich kann in einem Umkreis von hundert Metern die Lage checken. Auf beiden Seiten. Zum Beispiel sind jetzt gerade drei Geister hier – ziemlich zerrupft und nicht zu einer Unterhaltung aufgelegt, aber sie sind da. Und auf deiner Seite weiß ich, wo dein Wolfsmann gerade ist. Er hat sich gleich dort drüben versteckt.« Er streckte den Arm aus, um auf eine Bodensenke zu zeigen.

Der Ehering, den er immer noch an seinem Finger trug, leuchtete schwach. Er zog ihren Blick auf sich, dieser Ring. Unbewusst rieb sie mit dem Daumen über den Ring an ihrem Finger – ein Verlobungsring, kein Ehering, aber dasselbe Symbol. Rules Ring.

Sie sah weg. »Sein Name ist Mike.«

»Wie auch immer. Der Punkt ist: Ich kann dir helfen.«

Sie erreichten den schmalen Weg, der sich an den Gräbern entlangwand. »Und du findest, ich sollte dir vertrauen.«

»Ich war ehrlich zu dir. Als ich erst einmal begriffen hatte, was sie vorhatten, war ich ehrlich zu dir.«

Das stimmte. Er hatte sein Leben riskiert, um zweiundzwanzig Obdachlose zu retten, und es dann für einen Freund geopfert. Und nachdem er gestorben war, war er es gewesen, der das Todesmagieamulett gefunden hatte, sodass sie es hatten zerstören können.

Aber zuerst hatte er das FBI verraten, beinahe Lilys Boss getötet, sich der Verschwörung zum Mord an einem U.S.-Senator schuldig gemacht und ganz nebenbei fast Lilys Karriere beendet.

Lily musterte ihn einen Moment, dann holte sie ihr Handy hervor.

Er runzelte die Stirn. »Wen rufst du an?«

»Eine Freundin. Sie kann mit Toten jederzeit kommunizieren.« Lily hatte bisher nur mit einem Toten geplaudert, nämlich mit diesem hier. Was die Frage anging, warum gerade ihr diese zweifelhafte Ehre zuteilwurde … nun, die Expertin, die sie jetzt anrufen würde, hatte die Analogie eines Hauses gebraucht. Die meisten Menschen sahen und hörten die Toten nicht, weil ihre Häuser keine Fenster und nur eine Tür hatten – eine, die fest verschlossen und nur in eine Richtung zu öffnen war und auch das nur nach dem Tod. Doch weil Lily einmal gestorben war, schloss ihre Tür nicht mehr richtig, sondern stand einen kleinen Spalt offen. Normalerweise hatte das keine Konsequenzen, aber als sie Zeugin von Drummonds Tod wurde, hatten sich ihre Energien irgendwie vermischt.

Zumindest lautete so die Theorie. Alles erklärte sich damit nicht. An diesem Tag waren in Lilys Anwesenheit noch viele weitere Menschen gestorben, darunter auch der Mann, den sie erschossen hatte, und keiner von ihnen klebte ihr nun an den Fersen.

Sie scrollte in der Liste ihrer Kontakte zu »Etorri« hinunter und wählte »Rhej« aus.

Die Rhejes waren die weisen Frauen der Clans, die Geschichtsschreiberinnen und Quasi-Priesterinnen, und sie waren alle magisch begabt. Die Rhej der Etorri war ein Medium. Ihren richtigen Namen hatte Lily nie gehört, denn die Rhejes wurden nicht bei ihrem Namen genannt, doch letzten Monat war ihre Neugier zu groß geworden. Da die Rhejes selbst kein Geheimnis aus ihrem Namen machten und Lily die Telefonnummer der Rhej der Etorri besaß, hatte sie recht schnell herausgefunden, dass sie Anne hieß. Anne Murdock.

Anne ging sofort ans Telefon. Nachdem Lily sich für die Störung entschuldigt hatte, sagte sie: »Er ist wieder da.«

»Dieser Geist?« Anne war hörbar überrascht. »Wie hieß er doch gleich – Hammond?«

»Drummond. Er ist plötzlich einfach aufgetaucht. Im Moment guckt er mich böse an.«

»Ist er noch kohärent?«

»In dem Sinne, in dem du das Wort verwendest, ja.«

Anne stieß ein leises frustriertes Schnauben aus. »Ich wünschte, ich könnte mit ihm reden. Ich habe seit meinem siebten Lebensjahr keinen voll kohärenten Geist mehr erlebt, und dieser weibliche Geist ist verschwunden, nachdem meine Mutter mit ihr gesprochen hatte.«

Lily wusste, was Anne mit »kohärent« meinte, weil sie, kurz nachdem Drummond ihr das erste Mal erschienen war, darüber gesprochen hatten. Die meisten Geister waren mehr eine Gewohnheit als eine echte Person – eine tief verwurzelte Handlung oder Angst oder ein Moment, der sich immer und immer wiederholte, ein leichtes Kräuseln der Luft, das der Weggang der Seele verursachte und nicht die Seele selbst. Andere waren wie echte Menschen miteinander umzugehen in der Lage, wenn auch in begrenztem Umfang, aber oftmals wussten die wenigen Lebenden, die sie sehen oder hören konnten, nichts mit ihnen anzufangen.

Doch es gab ein paar wenige Ausnahmen. Voll kohärente Geister, wie die Rhej der Etorri sie nannte. Die Fachleute waren sich nicht einig darüber, was sie waren oder wie sie entstanden, nur dass sie anders waren als die anderen, darin stimmten alle überein. Ein kohärenter Geist war wie die Person, die er im Leben gewesen war. Er oder sie nahm weiter die Welt der Lebenden wahr, anscheinend auch mit den gleichen Sinnen wie sie, und benutzte Sprache so wie sie. Doch eines galt auch für kohärente Geister: Sie waren an etwas gebunden – an einen Ort, einen Gegenstand oder, sehr selten, an eine Person.

Wie kam Lily nur zu diesem Glück? »Er sagt, er sei an mich gebunden, aber einen Monat weggewesen.«

»Ich fürchte, dafür habe ich keine Erklärung.«

»Er auch nicht. Außerdem sagt er, er glaube, er solle mein Partner sein.«

»Fragst du mich um Rat?«

»Kann man irgendwie gute Geister von miesen, verlogenen unterscheiden?«

Anne kicherte. »Auf dieselbe Weise wie die Lebenden. Natürlich kannst du herausfinden, ob er lügt. Aber er könnte ebenso gut die Wahrheit sagen oder das, was er für die Wahrheit hält. Wir wissen zwar nicht viel über kohärente Geister, aber es gibt keinen Grund anzunehmen, sie seien nicht genauso konfus wie wir.«

Lily zögerte, ob sie die nächste Frage stellen sollte – aber sie musste es wissen. »Könnte es sein, dass er glaubt, er müsse mir helfen, weil es da noch etwas Unerledigtes gibt? Und wenn er es getan hat … kann er dann gehen?«

»Die Erklärung mit dem ›Unerledigten‹ trifft meiner Ansicht nach nicht pauschal auf alle Geister zu. Fast jeder von uns lässt etwas Unerledigtes zurück, aber kaum einer bleibt noch länger als einige Momente. Trotzdem gibt es unter den kohärenteren Geistern welche, die fest daran glauben, dass sie nicht auf die andere Seite passieren können. Entweder haben sie recht, oder ihr Glaube daran hält sie hier zurück.«

»Dann ist es also möglich, dass Drummond mit mir zusammenarbeiten soll und nicht, äh … passieren kann, bevor er das nicht erledigt hat. Oder eine Schuld beglichen hat oder so. Oder er steckt hier fest, weil er glaubt, er stecke hier fest.«

»Ungefähr so, ja. Ich bin dir keine große Hilfe, nicht wahr?«

Eigentlich nicht. »Noch eine Frage, die vielleicht nicht in dein Fachgebiet fällt, weil es eher um etwas … ich würde sagen Ethisches geht. Gilt diese Verpflichtung für beide Beteiligte? Verpflichtet mich die Tatsache, dass Drummond an mich gebunden ist, in irgendeiner Weise?«

Anne schwieg lange. »Ich kann nur weitergeben, was meine Mutter mir gesagt hat, die es von ihrer Mutter hat und so weiter, über einige Generationen hinweg. Wir schulden den Toten nicht mehr als den Lebenden. Und auch nicht weniger.«

Das war nicht das, was Lily hatte hören wollen. Trotzdem dankte sie der Rhej, legte auf und wandte sich dem Mann zu – oder was von dem Mann übrig war –, der sie mürrisch ansah.

»Und?«, fragte er. »Hat deine Freundin dir weiterhelfen können?«

»Vielleicht.« Drummond für immer loszuwerden stand ganz oben auf ihrer Prioritätenliste. Wenn er meinte, er müsste ihr unbedingt helfen … doch mit Bestimmtheit wusste sie das nun immer noch nicht. »Du sagtest, du wärst im Gericht gewesen. Dann weißt du also, was Brian Nelson getan hat.«

»Ja.« Er machte ein finsteres Gesicht. »Verdammte Trittbrettfahrer.«

Dass er exakt das aussprach, was sie gedacht hatte, war ihr unheimlich. »Das stimmt. Um Todesmagie zu gewinnen, haben er und drei aus seiner Gang zwei junge Frauen entführt und ihnen die Kehle durchgeschnitten. Sie hatten gehört, was dein Kumpel Chittenden getan hat, und wollten es ihm nachmachen.«

Seine Miene wurde ausdruckslos. »Willst du, dass ich sage, ich hatte unrecht?«

»Oh, ich denke, du weißt, dass du auf der falschen Seite warst. Ich will hören, dass du deine Ansicht über Magie und die Leute, die sie nutzen, geändert hast.«

Er schwieg.

»Ja, das habe ich mir gedacht.« Sie ging weiter.

»Okay, dann sind wir eben keine Partner. Aber ich bin immer noch ein Fundus, aus dem du nicht schöpfst. Ich habe zweimal so viel Erfahrung wie du. Das kannst du nicht einfach so vom Tisch wischen.«

Er hatte recht. Auch das war ärgerlich. Sie blieb stehen und sah ihn an. »Du bist nie lange genug da, um wirklich eine Hilfe zu sein. Du kommst plötzlich, und im nächsten Moment bist du schon wieder weg.«

»Ich … ich kann jetzt verfügbarer sein.«

Sie wartete. Da er nicht weitersprach, fuhr sie fort: »Wenn ich dich jetzt frage, warum, ist das auch eines der Dinge, die du nicht erklären kannst?«

»Da ich es selbst nicht verstehe, lautet die Antwort wohl Ja.«

»Du hast mir gesagt, du hast Friar nie persönlich kennengelernt.« Robert Friar, der einen Krieg angefangen hatte – oder einen, der vor über dreitausend Jahren begonnen hatte, weiterführte. Robert Friar, der mit Freuden den Tod von Hunderten seiner Anhänger in Kauf nahm, um die Lupi, die magisch Begabten und alle, die derjenigen, der er diente, im Weg waren, auszulöschen. Wie die Regierung der Vereinigten Staaten.

»Nur seinen Freund Chittenden.«

»Aber du hast Nachforschungen über ihn angestellt. Wenn du dich über mich informiert hast, dann doch sicher auch über ihn, bevor du dich auf seine Seite geschlagen hast.«

»Klar, ich bezweifle, dass ich mehr weiß als du. Ich habe die FBI-Akten genutzt und mit ein paar Leuten geredet.«

»Ich habe nach deiner beruflichen Meinung, nicht nach den Details deines Background-Checks gefragt. In Anbetracht dessen, was du damals in Erfahrung gebracht hast und was du jetzt weißt, würdest du sagen, er ist ein Soziopath?«

»Hm.« Angestrengt dachte er nach. »Könnte sein. In den Unterlagen steht zwar nichts über die üblichen Anzeichen, wie das Foltern von Babyhäschen, als er noch ein süßer, kleiner Junge war. Aber nicht alle Soziopathen sind gleich. Er könnte das sein, was man ›hochfunktional‹ nennt.«

»Du meinst, er kann seine wahre Natur sehr gut verbergen?«

»Ja, das, und er hat eine bessere Impulskontrolle. Die meisten Soziopathen können sich nur schwer beherrschen.«

»Die meisten, die uns bekannt sind. Die, die wir wegsperren.«

»Auch wieder wahr.« Er legte den Kopf schief. »Du versuchst, Friar besser zu verstehen?«

Sie nickte und ging weiter, aber langsam. »Ihn und die, der er dient.« Die Große Alte, die die Herrschaft der Welt an sich reißen und sie nach ihren Vorstellungen umgestalten wollte. Die, deren Namen sie niemals nannten, weil das vielleicht ihre Aufmerksamkeit erregt hätte. Ihre Erzfeindin, die nur durch einen Stellvertreter agieren konnte, weil sie aus dieser Welt verbannt war, Gott sei Dank. Oder den Großen Alten sei Dank, die sich ihr entgegengestellt hatten, so wie die Dame der Lupi, die damals auch für sie selbst die Tür zugeschlagen hatte, um sie auszusperren.

»Deswegen bist du hergekommen.« Drummond klang zufrieden, als hätte er ein Puzzleteil herumgedreht und sähe nun, wohin es passte. »Nicht um in deiner eigenen Psyche zu stochern, sondern um zu versuchen, ihre zu verstehen. Helen Whiteheads. Whitehead war auch eine Anhängerin dieser Alten, von der du mir erzählt hast.«

»Das war sie. Und sie schien ebenfalls eine Soziopathin gewesen zu sein.«

Drummond zog die Augenbrauen hoch. »Ach, ja?«

»So wie möglicherweise Patrick Harlowe … der andere Stellvertreter, von dem ich weiß.«

»Das sagt nichts Gutes über die Alte.«

»Nein, nicht wahr? Wenn –« Ein gedämpftes Geräusch drang aus ihrer Handtasche – der Klingelton für Anrufe, die von ihrer Büronummer weitergeleitet wurden. Sie fischte das Telefon heraus. »Agent Yu.«

Es war T.J., alias Detective Thomas James, ihr Ausbilder, als sie ganz neu bei der Mordkommission gewesen war. Während er sprach, warf Lily einen sehnsüchtigen Blick auf ihre Armbanduhr. Doch sie schuldete T.J. sehr viel mehr als ein spätes Mittagessen, deswegen sagte sie knapp, als er eine Pause machte: »Klar. Ich bin in fünfzehn Minuten da.« Sie steckte das Telefon weg und warf einen Blick über die Schulter nach Scott, der einige Schritte hinter ihr stand. »Hast du alles gehört?«

»Nur was du gesagt hast und dass der Anrufer ein Mann war.«

Wenn Scott ein bisschen näher gewesen wäre, hätte er T.J. sehr gut gehört, doch auch Lupiohren hatten ihre Grenzen. Nach und nach lernte sie, wo diese Grenzen waren. »Einem alten Freund aus der Mordkommission wurde ein verdächtiger Todesfall gemeldet. Er will, dass ich prüfe, ob Magie im Spiel war, aber inoffiziell.« Lily war eine Berührungssensitive, das hieß, sie konnte Magie ertasten und oftmals auf diese Weise feststellen, um welchen Typ es sich handelte. Doch sie selbst war unfähig, Magie zu wirken, und auch immun dagegen. Wenn sich an der Leiche oder am Tatort Magie befand, würde sie es herausfinden. »Ich fahre zur 1221 Hammer, Apartment 717.«

Beim Verlassen des Friedhofs informierte sie Rule per SMS darüber, dass sie später kommen würde. Mike überholte sie, noch ehe sie am Tor war, in einem für Lupi lockeren Laufschritt – mit anderen Worten, so schnell, wie sie sprinten konnte. Und zu ihrem Ärger schwebte eine durchsichtige weiße Gestalt neben ihr her. Als sie an ihrem Wagen ankam, verfestigte sie sich – sozusagen.

»Hört sich an, als hätten wir einen Fall«, sagte Drummond.

»Einer von uns, möglicherweise.« Sie schloss die Autotür auf und stieg ein.

»Ich kann dir doch helfen, verdammt.«

»Oder du stellst mir ein Bein und lachst mich aus, wenn ich falle.«

Seine Miene wurde noch saurer als gewöhnlich. »Ich bleibe in der Nähe, für den Fall, dass du deine Meinung änderst. Äh … auf dem Clangut kann ich mich nicht manifestieren, es sei denn, du rufst mich.«

Manifestieren. Ein solches Wort aus Drummonds Munde, das wäre unmöglich gewesen, als er noch am Leben gewesen war. »Geht es dort nicht?«

»Nein. Es ist, als …«, seine Finger öffneten und schlossen sich, als würde er an der Luft kratzen, »als wäre es für mich verschlossen. Es sei denn, du rufst mich. Egal, wo du bist, wenn du mich rufst, kann ich mich manifestieren.«

»Hm.« Seit Neuestem wohnten sie und Rule auf dem Clangut. So wie viele andere auch.

Dass Rules Volk verfolgt wurde, war nichts Neues, doch ihre Kinder hatten sie immer in Sicherheit gewusst. Selbst in den schlimmsten Zeiten der Verfolgung hatten die Kinder der Lupi unerkannt unter den Menschen gelebt, die sie zusammen mit den Hexen ins Feuer geworfen hätten, wenn sie gewusst hätten, wer sie waren. Auch in den Auseinandersetzungen zwischen den Clans waren Kinder stets tabu. In all den Jahren, die die Leidolf und die Nokolai verfeindet gewesen waren, hatte keiner der beiden Clans je befürchtet, der andere könne sich an seinen Kindern vergreifen. Sogar der gemeine, alte Victor Frey, der Rho der Leidolf, der Rule durch einen Trick dazu gebracht hatte, die Macht seines Clans zu übernehmen, und dann gestorben war, bevor er sie zurücknehmen konnte, hatte Toby unangetastet gelassen.

Obwohl Letzteres, vermutete Lily, wohl eher daran lag, dass Victor sich gut in ihrer Geschichte auskannte. Vor vierhundert Jahren hatten die Leidolf und die Nokolai zusammen mit den Wythe in seltener und vollständiger Übereinstimmung gehandelt. Und mit dem Rückhalt aller anderen Clans … außer einem. Der Clan der Bánach hatte mit dem Clan der Cynyr in Fehde gelegen. Die Bánach nahmen den achtjährigen Sohn des Rho der Cynyr als Geisel – ohne ihm etwas anzutun, doch sie weigerten sich, ihn freizulassen, bis die Cynyr sich ergeben hatten.

Den Clan der Bánach gab es nicht mehr.

Victor Frey war bösartig und am Ende seines Lebens wahnsinnig, aber er war auch ein Rho. Kein Hass, egal auf wen oder wie tief er saß, war so wichtig wie das Überleben des Clans. Die ersten acht Jahre seines Lebens hatte Toby in North Carolina verbracht, mitten im Revier der Leidolf, und dennoch hatte Victor ihn nicht angerührt.

Robert Friar dagegen würde sich ohne mit der Wimper zu zucken an Kindern vergreifen. Er würde nicht zögern, sie zu töten. Auf den Kundgebungen der Humans-First-Bewegung waren auch Kinder gewesen. Dass keines ums Leben gekommen war, war reines Glück gewesen – und der grimmigen Verteidigung ebenjener Lupi geschuldet, die die Leute von Humans First am liebsten kastriert, im Gefängnis oder tot gesehen hätten.

Deshalb hatten die Nokolai neben zusätzlichen Kämpfern auch so viele Kinder wie möglich auf das Clangut geholt – die Kinder und manchmal auch ihre Mütter und die Kinder der ihnen unterstehenden Clans in Nordamerika, Laban und Vochi, die beide nicht ausreichend Unterkünfte und Mittel zur Verfügung hatten, um ihren gesamten Nachwuchs auf ihren eigenen Clangütern unterzubringen, wenn auch aus völlig unterschiedlichen Gründen.

»Bist du mir deswegen diesen Monat nicht auf die Pelle gerückt?«, fragte Lily. »Weil ich auf dem Clangut wohne und du dich dort nicht manifestieren kannst?«

»Nein.« Er zuckte steif mit den Schultern. »Es gibt vieles, das ich noch nicht vom Totsein weiß, aber das ist nicht der Grund, warum ich weg war. An manchen Orten manifestiere ich mich leichter als an anderen, aber wenn du mich rufst, geht es so gut wie überall.«

Sie musste sich auf den Weg machen. Trotzdem hielt sie noch einmal inne und betrachtete den Geist des Mannes, der einmal ihr Feind gewesen und nun fest entschlossen war, ihr Partner zu werden. Oder was auch immer. »Verrate mir eines.«

Er machte ein argwöhnisches Gesicht. »Wenn ich kann.«

»Du hast diese Frau getötet oder irgendwie ihren Tod arrangiert. Die mit der Feuergabe. Die, die deine Frau getötet hat.«

Sein Gesicht veränderte sich nicht, aber für einen langen Moment dachte sie, er würde nicht antworten. Als er endlich etwas sagte, war seine Stimme ganz neutral. »Ja, das habe ich.«

»War es ein gutes Gefühl?«

Dieses Mal war die Pause sogar noch länger und seine Stimme anders. Heiser. »Oh, ja Und wie.«

3

Tot zu sein war echt scheiße.

Missmutig sah er zu, wie sie in den Wagen stieg. Man sollte meinen, der Flug zurück aus D.C. wäre schlimmer gewesen, aber aus irgendeinem Grund schuf ein Flugzeug – zumindest ein großes wie die 757, mit der sie geflogen war – einen Raum für sich, einen geometrischen Ort, in dem er sich halten konnte.

Autos waren sehr viel unangenehmer. Al Drummond segelte hinter dem weißen Ford her, als wäre er an der Stoßstange festgebunden. Anstrengen musste er sich nicht dabei, das war nicht das Problem. Er brauchte sich nur zu entspannen, dann zog sie ihn einfach mit sich mit.

Er spürte nicht den Wind, den Druck der vorbeisausenden Luft an seinem Haar, seinem Gesicht, seiner Haut, bis seine Augen tränten. Das wäre okay gewesen. Das wäre sogar sehr schön gewesen, aber er fühlte die Luft nicht mehr. Es war die Geschwindigkeit, die ihm zu schaffen machte, die aus ihm etwas machte, das nicht fühlte, keine Augen hatte, die tränten, keine Ohren, die hörten, ohne irgendeine andere Möglichkeit, seine Umgebung wahrzunehmen. Die meiste Zeit hatte er das Gefühl, als hätte er einen Körper, wenn auch nicht denselben wie vor seinem Tod. Aber nicht, wenn Yu in einem verdammten Auto herumflitzte.

Du warst über einen Monat weg …

Er hatte sie angelogen. Doch das bereitete ihm keine Sorgen. Er war ein guter Lügner. Dazu reichte es nicht, ein ausdrucksloses Gesicht aufzusetzen. Das konnte jeder Blödmann lernen, aber ein guter Cop lernte auch, zu lügen. Doch dass sie ihm diese spezielle Lüge abgenommen hatte, war Glück gewesen, kein Geschick. Er hatte sich seine Erschütterung anmerken lassen, deshalb hatte sie sein Zögern darauf geschoben.

Und wenn sie es nicht getan hätte? Na und! Er würde ihr ohnehin nicht sagen, wo er gewesen war.

Yu hatte recht, verdammt. Er hatte sich auf die falsche Seite geschlagen.

Siebenundzwanzig Jahre im Polizeidienst. Siebenundzwanzig Jahre Observierungen, schlechtes Essen und langsames, mühsames Zusammentragen von Beweismaterial für Fälle, die dann irgendein Arschloch von Anwalt auseinandernahm. Dazwischen viele Fehlschläge, aber auch einige Triumphe. Er war ein guter Cop gewesen.

Und dann hatte er all das einfach weggeworfen. Ausradiert. Man brauchte kein Genie zu sein, um zu erkennen, wann und warum. Es war der Job gewesen, in der Person von Martha Billings. Der Job hatte Sarah auf dem Gewissen. Er hatte sich nur revanchiert. Die meisten würden sagen, das war der Moment, als er vom rechten Weg abgekommen war, als er die Entscheidung traf, die ihn zerstörte. Der Meinung war er nicht. Er hatte nicht das Gefühl gehabt, als hätte er eine Wahl gehabt, so wie wenn man eine Entscheidung für oder wider etwas zu treffen hatte. Martha Billings hatte Sarah getötet. Martha Billings musste sterben.

Und sie war gestorben. Im Feuer verbrannt. So wie Sarah.

Und Yu wollte wissen, ob es ein gutes Gefühl gewesen war. Die Erinnerung daran war der einzige helle, warme Punkt der Freude in dem endlosen Grau, zu dem sein Leben in dem Moment geworden war, als er erfuhr, dass Sarah tot war.

Nein, Billings getötet zu haben war nicht der Moment gewesen, an dem er begann abzurutschen. Die Tat war vielleicht falsch gewesen, aber unvermeidlich, so wie man sich nicht aussuchen kann, ob man an Krebs erkrankt. Aber danach weiter seine Arbeit zu tun, zu vertuschen, was er getan hatte – das hatte ihn verrückt gemacht. Er hätte das Richtige tun und sich stellen müssen. Damals hatte er geglaubt, wenn er sich verhaften ließe, würde er Billings damit post mortem den Sieg gönnen. Damals hatte er gedacht, es wäre nicht genug gewesen, Billings unschädlich zu machen, dass er auch alle anderen, die so waren wie sie, unschädlich machen müsste.

Damals war er völlig neben sich gestanden. Deswegen hatte er auch nicht erkannt, dass es noch einen Grund gab, warum er weiter seine Arbeit machte. Damit er darauf scheißen konnte.

Die Arbeit hatte Sarah umgebracht, und nun wollte er sich an ihr rächen. Nur dass er es damals nicht erkannt hatte, erst vielleicht einen Monat nach seinem Tod, als er das getan hatte, von dem er Yu gegenüber behauptet hatte, es sei unmöglich. Er war weggegangen.

Aber wirklich und richtig zu sterben war schwerer, als er angenommen hatte.

Er hatte zwar nicht geglaubt, Auslöschung wäre die einzige Möglichkeit, aber er war davon ausgegangen, dass das passieren würde. Seine Welt – das, was ihm von der Welt noch geblieben war – maß zweihundert Meter im Durchmesser. Sobald er sich weiter von Lily entfernte, verschwamm alles um ihn herum. Wenn er dann weiterging, wurde es … nicht dunkel. Dunkelheit war das Fehlen von Licht, und dort draußen im Grau war es, als hätte das Auge die Fähigkeit zu sehen verloren. Dort draußen war nichts. Gar nichts.

Das Nichts – das klang gut, dort wollte er enden. Als er Yu verließ, hatte er erwartet, nichts zu werden, obwohl er auch nicht überrascht gewesen wäre, dieses weiße Licht zu sehen, von dem die Leute ständig redeten, das, was nicht gekommen war, als Big Thumbs den Abzug gedrückt hatte. Oder vielleicht …

An das »Vielleicht« zu denken, hatte er sich nicht gestattet. Er verdiente es nicht. Aber es war wie ein Seil – es gab zwei Enden, und wenn das Ende, das er hielt, schwarz und schmutzig von Schuld war, dann war das andere glänzend und richtig, so wie die Engel, an die er nicht glaubte.

Vor allem aber hatte er angenommen, er würde nun endgültig sterben. Seit Jahren schon glaubte Drummond nicht mehr an Gott und erst recht nicht an ein Leben nach dem Tod … auch wenn Sarah immer gesagt hatte, er sei kein echter Ungläubiger, sondern nur so böse auf Gott, dass er nichts mehr mit ihm zu tun haben wolle. Ganz unrecht hatte sie nicht gehabt. Er fand, dass jeder Gott, der die Scheiße zuließ, die er jeden Tag zu sehen bekam, nicht viel wert war. Klar, man konnte es immer auf den freien Willen schieben und sagen, Menschen seien eben Arschlöcher, aber wenn das so war, dann hatte Gott bei der Erschaffung des Menschen kräftig ins Klo gegriffen, oder nicht?

Also war er weggegangen, hinein in das Grau. War immer weitergegangen, auch als er keinerlei Gefühl mehr im Körper hatte, als keine Dunkelheit und kein Licht mehr da war, keinerlei Empfindung, nur eine ganz vage Erinnerung daran. Hatte sich weitergeschleppt, bis er nicht mehr wusste, ob er überhaupt noch vorankam, bis sogar das verfluchte Was-immer-es-war, das ihn an Yu fesselte, so schwach war, dass er es nicht mehr spürte.

Vielleicht war er da stehen geblieben. Vielleicht war er auch weitergegangen. Keine Ahnung. Aber er hatte gewartet. Und gewartet.

Irgendwann dann – ihm schien, als seien Stunden vergangen, es konnten aber auch Wochen gewesen sein oder Minuten, denn in dem Grau hatte die Zeit keine Bedeutung – hatte er gewusst, dass er sich geirrt hatte, was das »Vielleicht« anging. Darin, dass es doch möglich gewesen wäre, ein kleines bisschen. Und darin, wie verzweifelt er es gewollt hatte.

Wenn Sarah eine Möglichkeit gehabt hätte, dann wäre sie jetzt zu ihm gekommen.

Da war er zusammengebrochen. Hatte geheult wie ein Baby, ohne einen Körper und Augen zu haben, mit denen er hätte heulen können, was alles noch schlimmer gemacht hatte. Sarah war nicht hier. Er würde Sarah niemals wiedersehen.

Hier war nichts, außer ihm.

Die Menschen glaubten zu wissen, was es heißt, allein zu sein. So wie er auch. Er hatte immer gedacht, er wäre gern allein, ein Einzelgänger. Er hatte keine Ahnung gehabt. Gebrochen, der Knochen, des Atems, der Sicht, des Gehörs, des Tastsinns beraubt, hatte er begriffen, dass das Grau die Hölle war, und darauf gewartet, dass die Hölle ihn verschlang.

Sie hatte es nicht getan.

Nicht, dass er gewusst hätte, was passiert war. Vielleicht hatte er geschlafen, so wie er es Yu gesagt hatte. Irgendwann war er langsam wieder zu sich gekommen und umhergetrieben wie ein Staubkorn, so winzig, dass selbst die Luftwirbel, auf denen er schwebte, stärker waren als die Schwerkraft. Die Rückkehr war langsam und sanft gewesen. Irgendwann hatte er sich auf einem Bett in einem der Gästezimmer in Yus Haus in D.C. wiedergefunden. Und da hatte er tief in sich zwei Gewissheiten gespürt – dass jemand, während er weggewesen war oder geschlafen hatte, was auch immer, zu ihm gesprochen hatte. Nicht Sarah, und auch nicht Gott, nein, das glaubte er nicht, sondern jemand anderes. Und dass er Lily Yu helfen musste.

Auch wenn es keinem von ihnen beiden gefallen mochte.

Ich will hören, hatte sie gesagt, dass du deine Ansicht über Magie und die Leute, die sie nutzen, geändert hast.

Leute wie sie. Leute wie ihr Boss, den er versucht hatte zu töten, und ihre Kollegen in der Einheit Zwölf und dieser verdammte Werwolf, den sie heiraten wollte. Leute wie die meisten ihrer Freunde und wenigstens einer aus ihrer Familie, laut der Berichte, die er gelesen hatte, als er sie überprüft hatte.

Leute wie Dennis Parrott. Nicht, dass er von Parrotts Charisma-Gabe gewusst hatte, damals, als er so damit beschäftigt gewesen war, auf alles zu scheißen, für das er ein Leben lang gekämpft hatte. Dennis Parrott hatte in ihm ein leichtes Opfer gefunden und ihn so lange bearbeitet, bis es ihm ganz logisch vorgekommen war, Ruben Brooks zu töten, der beim FBI die Magienutzer unter sich hatte.

Was immer dazu nötig war … bis er erfuhr, dass seine Partner es für sinnvoll befanden, zweiundzwanzig Menschen zu töten, um Todesmagie herzustellen. Die Sache mit der Todesmagie hatten Parrott und Chittenden ihm verheimlicht. Das hätte eigentlich nicht passieren dürfen, aber schließlich war er ja damals nicht ganz auf der Höhe gewesen. Als er es dann doch herausfand, war es schon fast zu spät gewesen. Als er herausfand …

Al Drummond leugnete seine Schuld nicht. Er hatte die Hölle, die ihn nicht verschlungen hatte, verdient. Aber Magie verzerrte die Wettbewerbsbedingungen viel zu sehr.

Und Lily Yu wollte wissen, ob er Magie immer noch verabscheute?

Ja, bei Gott. So wie er die Waffengesetze in diesem Land verabscheute, die es den Idioten viel zu einfach machten, sich gegenseitig abzuknallen, zusammen mit jedem, der zufällig in der Nähe stand. Das hieß nicht, dass er Waffen verabscheute – nur die, die von diesen gottverdammten Losern benutzt wurden, die niemals so viel Macht in die Hände bekommen dürften.

Deswegen war er gegen Magie. Weil sie von Losern genauso wie von den Guten eingesetzt werden konnte. Weil sie, wie jede Macht, aus einem Guten einen Loser machen konnte.

Das hätte er Yu sagen sollen. Sie traute ihm nicht, was bewies, dass sie kein Dummkopf war. Aber er brauchte ihr Vertrauen. Er brauchte sie, Punkt. Mehr als den Busen seiner Mutter, als er noch ein Säugling war.

Was bewies … wenn es einen Gott gab, hatte er wirklich einen kranken Sinn für Humor.

4

»Es geht mir gut, Mutter. Wirklich.«

Beth Yu ging in die Hocke, hob die Tagesdecke ein Stück an und spähte in den dunklen, vollgestopften Raum unter dem Bett. Nein. Dort waren sie nicht. Was bedeutete, Deirdre musste sie haben … wieder einmal. »Die Wohnung ist vielleicht klein, aber du hast sie doch gesehen. Sie liegt in einer wirklich guten Gegend von San Francisco und … Ach, hat er? Nun, dann sag Onkel Feng, das gehe ihn gar nichts –«

Das war natürlich ein Fehler. Während sie der Predigt »Respekt vor Älteren« Nummer siebenundzwanzig lauschte, erhob sie sich wieder und begab sich zur Tür ihres Kleiderschranks, auch genannt Schlafzimmer. Nur dank ihrer schier übermenschlichen planerischen Fähigkeiten hatte sie es geschafft, Platz für ihren Schreibtisch zu schaffen, aber viel mehr stand auch nicht darin. Nur der Tisch, ein kleines Aktenschränkchen und das Einzelbett, das sie gegen ihr altes Doppelbett eingetauscht hatte, damit der Tisch noch hineinpasste. Wenn man von zu Hause aus arbeitete, dann brauchte man nun einmal einen Schreibtisch.

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