Wolf Shadow - Blutmagie - Eileen Wilks - E-Book

Wolf Shadow - Blutmagie E-Book

Eileen Wilks

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Beschreibung

Die Hochzeit der FBI-Agentin Lily Yu mit dem Werwolfprinzen Rule Turner steht kurz bevor. Doch die Familien der beiden sind von der Verbindung alles andere als begeistert. Diese Schwierigkeiten treten allerdings in den Hintergrund, als San Diego von einem unvorstellbar mächtigen magischen Geschöpf heimgesucht wird, das sich an Lilys Familie rächen will. Lily und Rule sind die Einzigen, die ihm Einhalt gebieten können, bevor es die ganze Stadt vernichtet.

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Inhalt

Titel

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Danksagung

Impressum

EILEEN WILKS

BLUTMAGIE

Roman

Ins Deutsche übertragen von Stefanie Zeller

 

1

An einem glühend heißen Mittag Ende Juli bot der Balboa Park in San Diego viel Grün für sonnenmüde Augen. Die Wege im Palm Canyon waren mit die schönsten des Parks, auch wenn es jetzt, da die Sonne hoch am Himmel stand, nur ein paar wenige Schattenflecke zu Füßen der gebogenen Palmenstämme gab.

Auf einem dieser Wege schlenderte einsam ein hochgewachsener Mann, von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet.

Sein Haar war dunkel, seine Haut leicht gebräunt. Die Augen waren hinter einer teuren Sonnenbrille verborgen. Von Weitem sah er aus wie ein Schatten, der seine lichteren Verwandten entlang des hellen Weges besuchte.

Rule Turner fasste sich an die Sonnenbrille, obwohl sie tadellos saß. Er berührte sie einfach gern, denn es war ein Geschenk. Lily hatte ihn damit überrascht, als sie gestern zusammen mit seinem Sohn aus North Carolina zurückgekommen waren. Sie hatte sogar ein kleineres, aber sonst identisches Modell für Toby gefunden, das der Junge nun ständig trug. Wenn Rule die Brille anfasste, dachte er dabei an Toby und Lily und daran, warum er hier war.

Zwei Männer bogen in den Weg ein und kamen auf Rule zu.

Keiner von beiden trug eine Sonnenbrille. Der Ältere sah aus wie ein Schmied oder wie eine ungeschlachte Erdgottheit – bärtig und so stämmig, als könne er jeden Moment aus Hose und Hemd platzen. Sein Bart und sein Haar waren rotbraun und von grauen Strähnen durchzogen; seine Augen hatten die Farbe gerösteter Nüsse. Das gebräunte Gesicht war zerknittert, ein Zeichen, dass er oft und gerne lächelte.

Jetzt lächelte er nicht.

Der andere Mann sah jünger und gefährlicher aus – was auch in gewissem Sinn stimmte. Benedict war in der Lage, schneller und sicherer zu töten als jeder andere, den Rule kannte. Er war ebenso muskulös gebaut wie sein Begleiter, aber gute zwölf Zentimeter größer als dieser. In Benedicts hohen Wangenknochen und dem breiten Mund spiegelte sich das Erbe seiner Mutter, und sein schwarzes Haar war lang genug, dass er es in einem kurzen Zopf zurückbinden konnte.

Um seine dunklen Augen spielten keine Lachfältchen. Er bewegte sich mit der Sparsamkeit eines Athleten oder eines Kampfsportlers, der er auch war, und trug Sportschuhe, Jeans und darüber ein locker fallendes Khakihemd.

Das Hemd passte nicht zu seiner Figur oder seinem Teint, aber darauf würde Benedict nie Wert legen. Für ihn war Kleidung, wie die meisten anderen Dinge auch, ein rein taktisches Mittel. Das Hemd passte zur Umgebung und verbarg die Waffen, die er mit sich führte. Messer, sicherlich. Und wahrscheinlich eine Handfeuerwaffe.

Keiner von beiden sah aus wie Rule. Sie ähnelten sich alle drei nicht sehr. Ein Fremder hätte niemals vermutet, dass es sich um einen Vater und seine beiden Söhne handelte.

Der Ältere von ihnen blieb in ungefähr fünf Meter Entfernung stehen. Benedict blieb ein Stück hinter ihm zurück, um ihm den Rücken zu decken. Rule näherte sich ihm bis auf einen Meter und blieb dann ebenfalls in abwartender Haltung stehen.

„Kniest du nicht nieder?“, fragte Rules Vater.

„Ich möchte wissen, wer mich grüßt.“

Das entlockte seinem Gegenüber ein Lächeln. Ein schwaches nur, aber es erreichte die nussbraunen Augen. „Dein Rho.“

Sofort fiel Rule auf ein Knie und neigte den Kopf, um den Nacken darzubieten. Er spürte die Finger seines Vaters über seinen Nacken streichen, und in seinem Inneren antwortete der Teil der Macht, der zu seinem Geburtsclan gehörte – dem Clan der Nokolai.

Die andere Macht – die er ganz besaß – blieb ruhig. Ein Leidolf antwortete keinem Nokolai.

„Erhebe dich.“

Rule gehorchte. Und wartete wieder. Isen Turner mochte in seiner anderen Gestalt ein Wolf sein, aber sein Sohn fand, er ähnele mehr einem Fuchs – schlau, gerissen und sehr wendig. Isen hätte selbst Machiavelli in seinen Winkelzügen übertroffen, deshalb versuchte Rule erst gar nicht, sie zu durchschauen.

Doch heute fragte ihn Isen ohne Umschweife: „Warum hast du die Macht der Leidolf angenommen?“

Rule hatte ihm bereits erzählt, wie es passiert war, wenn auch nur am Telefon. Einige Monate lang hatte Rule, durch eine Intrige des vormaligen Rho der Leidolf, die Macht des Thronfolgers der Leidolf in sich getragen. Dann war Lily von einem Widergänger besessen gewesen, der früher ein Leidolf gewesen war, und Rule hatte die ganze Clanmacht benötigt, um den Widergänger zu bezwingen und Lily zu retten. Als er sich die Macht dann nahm, hatte er dabei den ehemaligen Rho getötet – und das hatte ihn zum Anführer der Feinde seines eigenen Clans gemacht.

Aber wenn jemand den Unterschied zwischen der Abfolge von Geschehnissen und einem Beweggrund verstand, dann war es Isen Turner. Deshalb fiel Rules Antwort nur kurz aus: „Um Lily zu retten.“

„War das der einzige Grund?“

„Nein.“

Isen räusperte sich. Dann sagte er: „Du hast viel von mir gelernt. Nun gut. Weitere Gründe willst du mir nicht nennen. Liegt es daran, dass sie die Leidolf betreffen?“

„Zum Teil. Aber vor allem, weil ich durch ein Versprechen gebunden bin.“

Isens buschige Augenbrauen hoben sich. Sein Erstaunen war möglicherweise sogar echt. „Ein Versprechen! Natürlich kann ich dich nicht fragen, was für ein Versprechen es ist, aber wem du es gegeben hast, das geht mich etwas an, denn ich bin dein Rho. Also: Wem hast du dieses Versprechen gegeben?“

Rule hatte sich bereits überlegt, was er auf diese Frage antworten würde. Er würde sein Versprechen halten, aber seinem Vater trotzdem etwas zum Nachdenken geben. Cullen wäre sicher damit einverstanden. „Ich kann dir den Namen nicht sagen, aber er ist ein Nokolai, und über die Information, die er mir gegeben hat, verfügst du bereits. Möglicherweise hast du sogar schon dieselben Schlussfolgerungen wie er daraus gezogen.“

„Ach ja?“ Die buschigen Augenbrauen wurden zusammengezogen, doch nachdenklich, nicht ärgerlich.

Wann es Zeit war, das Thema zu wechseln und auf welche Weise, war etwas, das Rule von seinem Vater gelernt hatte. „Benedict ist böse auf mich.“

Isen winkte ab. „Das geht nur euch Brüder etwas an, nicht den Clan. Wie kannst du gleichzeitig der Rho der Leidolf und der Lu Nuncio der Nokolai sein?“

Nur unter großen Schwierigkeiten. „Falls du meinen Rang meinst, würde ich ein paar Grundregeln vorschlagen. Wenn ich mich auf dem Clangut der Nokolai aufhalte, bin ich dein Lu Nuncio. Außerhalb bin ich der Rho der Leidolf.“

„Dann gehst du wohl davon aus, dass du mein Lu Nuncio bleibst?“

Zum ersten Mal lächelte Rule – ein schwaches, halbes Lächeln, aber es war echt. „Ich gehe nur davon aus, dass du deine Entscheidung nicht aus Ärger oder Zuneigung triffst, sondern weil du glaubst, es sei das Beste für die Nokolai. Du hast mich gefragt, wie ich beides sein kann. Das ist meine Antwort.“

„Richtig, richtig – aber das ist nur ein kleines Stückchen der Antwort, verglichen mit der Größe des Problems. Oder siehst du etwa einen Vorteil für uns darin, dass mein Thronfolger der Rho eines anderen Clans ist?“

„Selbstverständlich. Die Leidolf werden nicht mehr versuchen dich zu töten.“

Isen schmunzelte. „Ja, das ist eine erfrischende Abwechslung und eine, die ich zu schätzen weiß. Aber ich denke doch, dass mit dir als Rho die Leidolf mir nicht mehr nach dem Leben trachten werden, egal ob du mein Lu Nuncio bleibst oder nicht. Was noch?“

Rule wusste, er bewegte sich jetzt auf dünnem Eis, aber er ließ sich nichts anmerken. Zweifel waren vernünftig, aber sie zu zeigen war selten nützlich. „Seit über dreitausend Jahren war kein Lupus mehr Träger zweier Mächte. Unser Erzfeind rührt sich wieder. Die Zeiten ändern sich. Ich glaube, dies ist der Wille der DAME. Es ist ihr Wille, dass wir die, deren Namen wir nicht aussprechen, besiegen.“

Dieses Mal war Isens Erstaunen zweifellos echt. Erst schossen beide Brauen in die Höhe – um sich gleich darauf missbilligend zusammenzuziehen. „Glaubst du etwa, du kennst jetzt den Willen der DAME?“

„Ich stelle natürlich nur Vermutungen an. Falls die DAME zu einer der Rhejes gesprochen hat, dann haben sie es uns nicht gesagt. Aber meine innere Stimme sagt mir, dass es so ist. Mein …“ Rule zögerte und tat dann sein Bestes, etwas in Worte zu fassen, für das es keine Worte gab. „Die Mächte, die ich in mir trage, sind mit der Situation zufrieden. Sie … helfen mir. Sie erleichtern es mir, meine beiden Rollen zu trennen.“

„Hmmm.“ Isen sagte lange Zeit nichts. Dann fragte er: „Und wirst du beide Clanmächte behalten können? Wenn ich jetzt tot umfalle, kannst du dann die ganze Macht der Nokolai übernehmen?“

„Wenn ich nicht davon überzeugt wäre, würde ich dich bitten, mir auf der Stelle den Machtanteil der Nokolai abzunehmen. Ich würde niemals das Wohl des Clans aufs Spiel setzen.“

„Eine gute Antwort, aber ein einfaches ‚Ja‘ wäre noch besser gewesen.“

„Ein einfaches ‚Ja‘ hätte bedeutet, dass ich meine Meinung für eine Tatsache halte.“

„Deine Meinung?“

„Ja. Die allerdings auf einer einzigartigen Erfahrung beruht. Die Clanmacht der Leidolf anzunehmen, war …“ – er hielt inne auf der Suche nach den Worten, die das, was er fühlte, am besten ausdrückten – „einfach. Nicht leicht, nein, aber viel einfacher als damals, als ich gezwungen wurde, die beiden Mächte zu übernehmen. Jetzt ist da … Platz. Sie sind beide schon da. Ich habe keinen Grund anzunehmen, dass es über meine Kräfte gehen könnte, die ganze Macht der Nokolai zu übernehmen.“

Isen nickte langsam. „Nun gut. Ich vertraue deinem Urteil. Ich werde jetzt noch keine endgültige Entscheidung treffen, aber bis auf Weiteres bleibst du mein Lu Nuncio. Das Protokoll wird so sein, wie du vorgeschlagen hast, aber die Bedingungen werden andere sein. Auf dieser Seite des Landes bist du mein Lu Nuncio, auf der Seite der Leidolfs bist du ihr Rho.“

„Nein.“

Dieses Mal schoss nur eine Augenbraue in die Höhe. „Nein?“

„Wenn du und ich uns auf der Straße treffen und ich mich dir unterwerfe, werden die anderen Clans nicht deinen Lu Nuncio sehen, der sich unterwirft. Sie sehen den Rho der Leidolf. Das kann ich nicht akzeptieren.“

„Mit wem spreche ich jetzt – mit meinem Lu Nuncio oder dem Rho?“

„Mit beiden. Die anderen Clans sind beunruhigt, weil die Nokolai an Einfluss gewinnen. Dieser Besorgnis sollten wir lieber keine neue Nahrung geben.“

Ein Lächeln breitete sich auf Isens Gesicht aus und legte es dort in Falten, wo sie hingehörten. „Du bist gut“, sagte er zufrieden. „Du bist verdammt gut. Ich habe dich gut erzogen. Ja, ich stimme dir zu. Einige Bedingungen müssen noch festgelegt werden – die Klärung aber sollte zwischen dem Leidolf Rho und dem Nokolai Rho erfolgen.“ Seine Augen glitzerten. „Mit Ersterem spreche ich später. Jetzt möchte ich erst einmal meinen Sohn umarmen.“

Isens Umarmungen waren Weltklasse. So sehr er sich auch zurückhielt, wenn er Rule als Rho gegenübertrat, so liebevoll, fürsorglich und überschwänglich war er, wenn er die Rolle ablegte und nur noch Vater war.

Als sie sich voneinander lösten, lächelte Rule so herzlich wie sein Vater. Er wappnete sich – und da kam er, der Schlag auf die Schulter, so nachdrücklich, dass jeder, der nicht darauf vorbereitet war, ins Taumeln geriet. „Lily geht es doch gut, oder?“, fragte Isen. „Und Toby? Ich kann es gar nicht erwarten, den Jungen wiederzusehen. Bring ihn recht bald zum Clangut. Heute noch.“

Isen hätte Toby auch besuchen können, aber diesen Vorschlag machte Rule nicht. Das heutige Treffen war eine große Ausnahme. Sein Vater verließ selten das Clangut – doch das konnte sich jetzt, da die Leidolf keine Gefahr mehr waren, möglicherweise ändern. „Das werde ich. Er freut sich darauf, dich und seinen Onkel Benedict zu sehen.“ Rule sandte dem stummen Mann einen Blick zu, der immer noch hinter dem Vater Wache stand. „Da wir gerade vom Teufel sprechen …“

Isen drückte Rules Arm. „Lass ihn. Er grübelt. Er hat schon immer sehr viel gegrübelt, mein Sohn Benedict. Lass ihn erst mal in Ruhe.“

Rule betrachtete das undurchdringliche Gesicht seines Bruders. „Ich hätte nicht gedacht, dass es ihn so sehr stört, dass ich jetzt der Rho der Leidolf bin.“

„Nein, nein. Er hält es für einen klugen Schachzug. Es ist deine Verlobung, mit der er ein Problem hat. Also, wann bekomme ich meinen Enkel zu sehen? Er wird den Rest des Sommers auf dem Clangut verbringen“, verkündete Isen. „Und wenn die Schule anfängt, sehen wir weiter. Jetzt haben wir jedenfalls noch Sommer.“

Das war alles, was er zu Rules kommender Hochzeit sagte. Sie gingen noch eine halbe Stunde lang als Vater und Sohn nebeneinander her, unterhielten sich und planten Tobys Aufenthalt auf dem Clangut – auch wenn er nicht so ausgedehnt sein würde, wie Isen es sich wünschte. Und dabei kam Rules Vater nicht noch einmal auf Rules Absicht zu sprechen, das größte Tabu seines Volkes zu brechen. Als Rule das Thema anschneiden wollte, wich Isen aus.

Es wäre schön gewesen, dachte Rule, als er zu seinem Wagen zurückging, wenn er hätte annehmen können, dass dieses Schweigen Zustimmung bedeutete oder wenigstens, dass er nichts dagegen unternehmen würde. Aber ein Isen Turner hielt immer mit etwas hinter dem Busch.

 

2

Drei Wochen später

San Diego glitt vom Juli in den August wie ein Backblech mit Keksen, das der Bäcker in den Ofen schiebt – schnell und fließend, gefüllt mit frischen Tagen, um sie knusprig zu backen. Die Wetterexperten brummten etwas von „Inversionslage“, aber eigentlich wusste niemand so richtig, warum die Stadt unter dieser noch nie da gewesenen Hitze litt. Die Verkaufszahlen von Kohle und Grillzubehör gingen in den Keller, die von Alkoholika stiegen. Genauso wie die Zahl der Vergewaltigungen, häuslichen Schlägereien, Suizide und Autounfälle.

Und der Morde, selbstverständlich. Den Leuten war es zu heiß, um draußen zu grillen, aber nicht, um sich gegenseitig umzubringen. Lily Yu ging über den heißen Betonboden, ihre neuen roten Lackledersandalen in der Hand statt an den Füßen, und dachte darüber nach, was für ein seltsames Gefühl es war, in keiner dieser Schießereien, Stechereien oder Schlägereien zu ermitteln. Kurz vor der klebrigen roten Schicht, die auf der Straße backte, blieb sie stehen. Außer der Hitze und dem Splitt spürte sie nichts an ihren nackten Sohlen, und dabei hatte sie die Straße schon vier Mal überquert.

Aus der Schar der Schaulustigen, die sich auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt an der Ecke versammelt hatten, machte ihr ein Mann laut ein respektloses und reichlich unrealistisches Angebot. Lily seufzte.

„Bei der Hitze kommen die ganzen Verrückten aus ihren Löchern“, sagte der uniformierte Polizeibeamte, der neben dem Streifenwagen stand.

„So ist es“, sagte Lily und bückte sich, um erst in die eine, dann in die andere Sandale zu schlüpfen. Ihre Füße waren schmutzig, aber in ihrer Handtasche hatte sie Erfrischungstücher, sodass sie sie in ein paar Minuten würde säubern können. „Hier scheint es nichts für mich zu geben.“

Der Beamte nahm seine dunkelblaue Kappe ab, wischte sich mit dem Unterarm über die Stirn und setzte die Kappe wieder auf. „Tut mir leid, dass Sie bei dieser Hitze hier rauskommen mussten, aber man hatte uns gesagt, wir sollten Ihren Leuten Bescheid sagen.“

„Das haben Sie ganz richtig gemacht. Mir war es wichtig, eines von diesen Ereignissen zu überprüfen, kurz nachdem es passiert ist.“ Nur nicht gerade heute, verdammt.

Genau genommen hätte sie gar nicht sofort vor Ort sein müssen. Heute war Samstag, und es war nach fünf Uhr – niemand hätte ihr einen Vorwurf gemacht, wenn sie bis morgen gewartet hätte. Niemand außer ihr selbst. Manchmal war es ganz schön lästig, gewissenhaft zu sein.

Lily betrachtete das verdrehte Fahrgestell des kleinen Honda, das die Auseinandersetzung mit dem Pick-up ganz offensichtlich verloren hatte. „Ich muss mir auch ihren Wagen ansehen. Das Steuer, das Armaturenbrett – alles, womit die Fahrerin in Kontakt gekommen sein könnte.“

„Nur zu. Wahrscheinlich müssen Sie so gründlich sein.“ Er schüttelte den Kopf. „Sie haben schon einen etwas seltsamen Job.“

„Ja“, sagte sie trocken und ging zu dem zerknautschten Honda.

Officer Munoz war klein und stämmig und hatte ein rundes, fröhliches Gesicht, dem ein Schnurrbart tapfer ein wenig Würde zu verleihen versuchte. Und er war jung. Schrecklich jung in Lilys Augen – was beinahe genauso beunruhigend war wie die Tatsache, dass sie Anrufen von Verrückten nachging, statt in Mordfällen zu ermitteln. Sie war selbst noch nicht einmal dreißig, herrje. Erst in acht Monaten.

Nein, in sieben Monaten. Du liebe Zeit. Das war nicht mehr lang hin. Sie runzelte die Stirn, als sie um das hellrote Getriebeöl herumging, das auf der Straße trocknete. Dann streckte sie die Hand nach der Fahrertür aus. „Na so etwas.“

Die Fahrerin war auf der anderen Seite aus dem Auto gezogen worden. Die Tür war ganz offensichtlich nicht mehr zu öffnen, aber Lily versuchte es trotzdem.

„Sie hatten wohl andere Pläne“, bemerkte Officer Munoz. „Sie haben so ein hübsches Kleid an.“ Er machte ein erschrockenes Gesicht. „Das hätte ich wohl nicht sagen sollen, was?“

„Schon gut. Ich fahre gleich weiter zu einer Babyparty. Ich bin eine der Organisatorinnen.“ Sie zog fester am Griff, aber die Tür rührte sich nicht.

„Echt?“ Seine Miene hellte sich auf, als er auf die Beifahrerseite ging. „Meine Frau und ich erwarten im Januar Nachwuchs.“

Dieses Kind war verheiratet? Hör auf damit, sagte sie sich, da kam ihr ein neuer Gedanke. Sah auch Rule sie manchmal an und fand, dass sie schrecklich jung war? Der Altersunterschied zwischen ihnen war sehr viel größer als der zwischen ihr und dem ernsthaften jungen Beamten. „Herzlichen Glückwunsch. Junge oder Mädchen?“

„Es wurde noch kein Ultraschall gemacht. Ich hätte ja gerne einen Jungen, aber … na, Sie wissen schon, solange das Kind gesund ist …“ Er riss die Beifahrertür auf. „Die hier funktioniert noch.“

„Ja. Danke.“ Aber jetzt müsste sie über den Vordersitz krabbeln, und dafür war sie nicht angezogen. Sie sah an ihrem cremefarbenen Trapez-Kleid mit den hübschen bronzefarbenen Streifen am Ausschnitt und am Saum hinunter. Sie hatte es extra für den heutigen Tag gekauft.

Wenigstens saß es locker. Vielleicht würde es ihr gelingen, auf allen vieren zu krabbeln, ohne dass Officer Munoz die Farbe ihres Slips erfuhr.

Ein schwarzer Mercedes hielt auf der anderen Seite des Streifenwagens. Die Wagentür öffnete sich, und ein hochgewachsener Mann in Jeans und einem schwarzen Hemd stieg aus. „Brauchst du Hilfe?“

Ihr Herz machte einen kleinen Hüpfer. Komisch, es reichte schon aus, ihn einfach nur zu sehen. Sie schüttelte den Kopf. „Selbst du könntest diese Tür nicht öffnen. Ich klettere von der anderen Seite hinein.“

Er lächelte sie an. „Du machst dein hübsches Kleid schmutzig.“ Natürlich hatte er Munoz’ Bemerkung gehört. Er kam langsam auf sie zu. „Mal sehen, was ich tun kann.“

„He!“, sagte Munoz. „Sie sind dieser Lupus!“

Alles in Lily spannte sich an, aber Rule hatte auch für ihn ein Lächeln. „Ich bin ein Lupus.“

„Nein, Sie sind dieser Prinz! Der, den man immer in diesen Magazinen sieht, der mit den vielen … ich meine …“ Munoz holte Luft. Wäre sein Teint ein wenig blasser gewesen, wäre er wohl rot geworden. „Egal.“

Er hatte die Unmengen schöner Frauen gemeint, mit denen Rule von der Presse abgelichtet worden war. Allerdings nicht in letzter Zeit. In letzter Zeit hatten alle Artikel nur von ihm und Lily gehandelt – viel zu viele Artikel. Sie berührte die kleine Erhöhung unter ihrem Kleid: Es war ihr Verlobungsring, den sie an einer Kette um den Hals trug, zusammen mit dem toltoi, den sie als Auserwählte bekommen hatte.

Solange die Verlobung nicht offiziell verkündet worden war, trug sie den Ring so, dass man ihn nicht sah.

„Äh … Turner, richtig?“ Munoz lächelte hoffnungsvoll.

Lily hatte Mitleid mit ihm, weil er so verlegen war. Er meinte es gut, anders als viele andere Polizisten. Nicht mit Lupi. „Officer Munoz, dies ist Rule Turner. Rule, Officer Jesse Munoz.“ Sie sah den jungen Streifenpolizisten an. „Aber Rule hat recht. Ich würde mein Kleid lieber nicht schmutzig machen. Außerdem sind dort Glasscherben. Haben Sie irgendetwas, das ich auf den Sitz legen kann?“

Rule legte ihr die Hand auf den Arm. „Gib mir einen Moment. Du weißt doch, wie gerne ich etwas für dich verbiege.“

Sie schüttelte den Kopf, trat aber zurück, um ihm Platz zu machen. „Sieh nur zu, dass du dich nicht verletzt. Ich finde es schrecklich, wenn du blutest.“

Rule lächelte sie flüchtig an, stellte sich vor die Tür, konzentrierte sich einen Augenblick und ruckte. Metall stöhnte, aber nichts geschah. Er runzelte die Stirn. Dann stemmte er sich mit dem Fuß gegen den Rahmen und zog. Mit einem lauten Kreischen öffnete sich die Tür. Er stand immer noch fest und sicher da.

„Danke. Die meisten Männer öffnen Gurkengläser.“

„Wie gut, dass ich das auch kann.“

Sie lächelte und warf einen Blick zu dem Supermarkt hinüber, wo die dort versammelten Schaulustigen plötzlich ganz aufgeregt wurden. „Pass lieber auf. Ich glaube, da drüben hat dich jemand erkannt.“ Und nicht jeder geriet über Lupi so in Begeisterung wie Officer Munoz … der schon wieder seine professionelle Würde vergaß.

„He, das war cool! Sie haben sie einfach aufgezogen. Ich habe ja gehört, dass Lupi stark sind, aber das … Mannomann.“ Munoz schüttelte bewundernd den Kopf. „Das ist cool.“

Lily ließ Rule mit seinem Ein-Mann-Fanklub allein und machte sich an die Arbeit. Die manchmal, wie Munoz gesagt hatte, tatsächlich etwas seltsam war.

Bis letzten November war Lily Mordkommissarin hier in San Diego gewesen. Jetzt arbeitete sie für die Einheit 12 der Magical Crimes Division, der FBI-Abteilung für magische Verbrechen. Das, was in dem Wrack des Honda von dem Fahrersitz noch übrig war, mit den Händen abzutasten, gehörte zwar nicht zu ihrer täglichen Arbeit, aber auf bloßen Füßen musste sie sehr oft herumlaufen.

Denn Lily war eine Sensitive. Für sie fühlte sich Magie wie etwas Stoffliches an, ohne aber eine Wirkung auf sie zu haben. Wenn die örtlichen Behörden den Verdacht hatten, Magie oder ein Andersblütiger könnte an einem Verbrechen beteiligt sein, riefen sie die MCD – die die Ermittlungen dann meistens an die Einheit weitergab.

In der letzten Zeit war sie oft gerufen worden. In diesen heißen Sommertagen sahen die Bürger von San Diego viele Monster. Große, haarige Monster mit Tyrannosauruszähnen. Grinsende Dämonen, die vor einem Fenster zwitscherten. Lepröse Untote, die ein Haus überfielen.

Jedes Mal, wenn ein Spinner die Polizei rief, rief die Polizei sie. Und jedes Mal musste sie die Sichtung übernehmen. Weil es nämlich in letzter Zeit immer mal wieder möglich gewesen wäre, dass die Verrückten recht hatten.

 

3

Als die Energiestürme während der Wende die Grenzen zwischen den Welten niedergerissen hatten, waren Kreaturen hierher geweht worden, wie man sie seit Hunderten von Jahren auf der Erde nicht mehr gesehen hatte.

Die Energiestürme hatten sich gelegt, dem Himmel sei Dank. Und die Fachleute versicherten immer wieder, dass es ohne diese völlig undenkbar sei, hier herüber zu wechseln, und ebenso, dass jede Passage die Energie eines Netzknotens freisetze. Und der Coven in D.C., der eine hoch entwickelte Karte für Simulakren überwachte, beteuerte, es habe in der letzten Zeit keine nennenswerten Netzknotenaktivitäten gegeben. Zwar gab es ein Tor zwischen der Erde und einer anderen Welt – Edge –, doch das befand sich am anderen Ende des Landes und wurde von beiden Seiten mit Bannen geschützt und streng bewacht. Dort würde sich nichts durchschleichen können.

Aber undenkbar hieß nicht unmöglich, und Lily war von der Kompetenz der Fachleute nicht überzeugt. Deshalb folgte sie jedes Mal dem Ruf der Cops und untersuchte den Tatort.

Zuerst ließ sie die Hände über jeden Zentimeter des Steuers gleiten, von dem der schlaffe Airbag hing wie das größte Kondom der Welt. Das Monster des Tages war heute eine riesige Schlange gewesen, so dick wie eine Kuh, die, wie die Fahrerin des Honda schwor, plötzlich mit vor Gift triefenden Fängen vor ihrem Auto hochgeschossen sei. Natürlich war sie ausgewichen – und mit einem Pick-up zusammengestoßen.

Die Fahrerin des Honda hatte noch Glück gehabt, dass sie sich auf einer ruhigen Straße in einem Wohngebiet befunden hatte und der Fahrer des Pick-ups sehr schnell reagiert hatte. Sie war in die Notaufnahme gebracht worden, aber die Sanitäter glaubten nicht, dass sie schwer verletzt war. Der Pick-up-Fahrer behauptete steif und fest, er habe nicht einen Kratzer abbekommen.

Und – Überraschung, Überraschung! – er habe auch keine Schlange gesehen, weder riesig noch klein. Und auch Lily fand keine Spuren von Magie auf der Straße, wo die Schlange angeblich gewesen war.

Und hier auch nicht. Sie begann, das Armaturenbrett abzutasten.

Nicht, dass sie nichts Besseres zu tun gehabt hätte. Sie war gerade dabei, einen Betrugsfall unter Dach und Fach zu bringen, den sie zusammen mit der hiesigen Zweigstelle bearbeitet hatte, und war eben aus einer kleinen Stadt namens Eagle’s Nest zurückgekommen. Die dortigen Ermittlungen hatten glücklicherweise nicht lange gedauert, denn sie hatte recht bald den angeblichen Lupusangriff an die Kollegen vor Ort übergeben können. Das Opfer war, wie sich herausgestellt hatte, betrunken gewesen und der Angreifer ein Bär, der die Mülltonnen auf der Suche nach Nahrung durchwühlt hatte.

Auch am Armaturenbrett war keine Magie zu spüren, also nahm sie sich den Krimskrams vor, den die Frau in ihrem Auto angesammelt hatte – eine leere Limodose, eine Zeitung, zerknüllte Rechnungen.

Ein Soziologe hätte den plötzlichen Anstieg von verrückten Anrufen wohl hochinteressant gefunden, und wer weiß? Vielleicht waren sie tatsächlich das Resultat der Kollision von Vernunft und Magie in der kollektiven Psyche. Die Wende hatte Angst in den Menschen hervorgerufen, daran gab es keinen Zweifel. Aber Lily zog konkrete Erklärungen vor – wie eine neue, nicht nachweisbare Droge. Oder ein neuer, nicht nachweisbarer Zauber.

Wenn es Letzteres war, dann war es ihr Job, ihn zu finden, verdammt. Doch sie fand nichts.

Sie rutschte vom Sitz herunter und ging in die Hocke, sodass sie mit den Händen über und unter den Fahrersitz fahren konnte. Sie erwartete nicht, etwas zu finden. Die Fahrerin hatte sie bereits überprüft, bevor die Sanitäter sie weggebracht hatten. Wenn die Frau verhext oder verzaubert war, hätte Lily es gespürt.

Auch auf dem Sitz fand sich nichts. Sie erhob sich, wobei sie darauf achtete, ihr Kleid nicht mit den schmutzigen Händen zu berühren.

Rule reichte ihr das Päckchen mit Erfrischungstüchern aus ihrer Handtasche. Sie nahm eines und lächelte ihn an. „Ich wusste doch, dass du dich noch mal nützlich machen würdest.“

„Vergiss nicht die Gurkengläser.“

Ihr wurde warm ums Herz. Als er ihr einen Heiratsantrag gemacht hatte, hatten sie Gurken gegessen. Und Blinis und Käse. Dazu hatten sie einen köstlichen Dom Pérignon getrunken, aber dass er an die Gurken gedacht hatte, hatte sie gerührt. Sie lächelte, sagte aber nichts – konnte nicht sagen, was sie wollte, weil Munoz neben ihnen stand – und wischte sich die Hände ab. „Officer, mehr kann ich hier nicht tun. Es ist Ihr Fall. Vielen Dank für Ihre Kooperation.“

Ihre Haut kribbelte schwach, als würden sich bei einer statischen Ladung die kleinen Härchen auf den Armen aufstellen. Automatisch hob sie den Kopf.

„Was ist?“

„Nichts.“ Das Prickeln wurde von Sorcéri – wie Cullen sie nannte – verursacht, kleine Fetzen reiner, ursprünglicher Magie, die frei umherschwirrten, bis sie absorbiert wurden. Sie wurden vom Ozean, von Netzknoten oder von Gewittern abgegeben und von Drachen angezogen. Sie suchte den Himmel nach Sam ab – der oftmals Sorcéri hinterließ –, aber der Himmel war so leer und blau wie ein abgestürzter Computerbildschirm.

Doch meist wollte Sam auch gar nicht gesehen werden. Cullen behauptete, dass Drachen sich nicht wirklich unsichtbar machen konnten; es handle sich um eine Phasenverschiebung, so wie bei Dämonen. Was auch immer das heißen sollte. „Schicken Sie mir bitte eine Kopie Ihres Berichts.“ Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Mist. Rule, wir müssen los.“

Die Party fing zwar erst um sieben Uhr an, aber sie fand auf dem Clangut statt, das zwanzig Minuten Autofahrt von der Stadt entfernt lag. Und sie hatte noch einiges zu erledigen; die Babyparty war nur ein Teil der Festivitäten.

Rule war den ganzen Tag auf dem Clangut gewesen und hatte alles für den anderen Teil der Feier vorbereitet. Er war nur zurück in die Stadt gekommen, um sie abzuholen, weil sie weder ihr Privatauto noch ihren Dienstwagen zur Verfügung hatte. Ihr sechs Jahre alter Toyota brauchte ein neues Getriebe, und der Dienstwagen war immer noch in Eagle’s Nest, wo es eine kleine Werkstatt gab.

Wie sich nämlich herausgestellt hatte, mochte der Bär den Geruch von Lupi nicht. Und ein zweihundert Kilo schwerer Schwarzbär kann, wenn er das Dach eines Wagens als Trampolin benutzt, erstaunlich viel Schaden anrichten.

Als Lily in Rules Mercedes einstieg, war sie schon dabei, die Nachrichten auf ihrem iPhone abzufragen. Die Babyparty mit einer traditionellen Lupus-Babyfeier zu kombinieren, hatte sie zuerst für eine gute Idee gehalten.

Selig sind die Unwissenden. Und die Wirklichkeit war ernüchternd.

Keine dringenden Nachrichten, deswegen tippte sie schnell ein paar Fakten über den Unfall ein, als sie vom Tatort wegfuhren. Langsam wurde sie richtig gut im Simsen. Nicht so flink wie ein Teeny, aber geschickt genug, um sich Notizen zu machen. „Was machen die Rippchen?“, fragte sie Rule, ohne aufzusehen. „Es schadet doch nichts, dass wir ein bisschen später kommen, oder?“

„Sie sind noch im Grill. Isen fängt mit dem Huhn schon ohne mich an, mit ein bisschen Hilfe von Toby. Er freut sich schon auf heute Abend.“

„Gut.“ Sie hob den Blick. „Gut für Toby, meine ich, und dass dein Vater dich tatkräftig unterstützt. Wenn der Rho beim Barbecue mitmacht, ist das doch gut für den Status, oder?“

Er trommelte mit den Fingern auf dem Steuer. „Ich weiß gar nicht mehr, warum ich dir eigentlich die politischen Dimensionen einer Kindsfeier erklärt habe.“

„Weil ich dir keine andere Wahl gelassen habe.“

„Oh, ja, jetzt erinnere ich mich wieder. Um deine Frage zu beantworten: Nein, Isen ist mein Vater, was allgemein bekannt ist, deshalb hat die Tatsache, dass er mir dabei hilft, ein Huhn zu grillen, keine besondere Bedeutung. Es soll vorkommen, dass Väter ihren Söhnen zur Hand gehen.“

Sein humorloser Ton irritierte sie. „Wie soll ich verstehen, was für die Rangfolge von Bedeutung ist, wenn ich nicht frage?“ Sie legte das Telefon weg. „Glaubst du, wir haben genug Rinderbrust? Und Rippchen? Wir können noch welche von Johnny’s mitnehmen. Die machen gute Rippchen.“

„Meine sind besser, und wir haben genug.“

„Gastgeschenke“, sagte sie plötzlich und drehte sich um. Auf dem Rücksitz lag ein großes Geschenkpaket neben zwei prallen Einkaufstaschen. „Ich kann sie nicht sehen. Rule …“

„Sie sind im Kofferraum, wo du sie gestern verstaut hast, damit du sie nicht vergisst.“

„Richtig. Stimmt ja. Ich rufe lieber noch mal Beth an. Sie bringt den Kuchen mit.“ Sie tippte die Nummer ihrer Schwester. „Ich hatte keine Zeit, ihr die Quittung zu schicken, deshalb will ich sichergehen, dass man ihr den Kuchen nicht ein zweites Mal in Rechnung stellt. Es ist wirklich lästig, dass ich mein Auto nicht habe. Ich … Mist. Besetzt.“ Sie schrieb eine SMS.

„Lily, entspann dich. Es ist eine Party. Du sollst dich amüsieren.“

„Gastgeber amüsieren sich nicht. Gastgeber geben die Party.“

Er lachte fast lautlos.

Sie schickte Beth die SMS und warf ihm einen bösen Blick zu. „Du lachst nicht mit mir. Das weiß ich, weil ich nämlich nicht lache.“

Er streckte die Hand aus und massierte sanft ihren Nacken. „Dass Gastgeber sich nicht amüsieren dürfen – das ist etwas, das von deiner Mutter stammen könnte.“

Verflixt. Er hatte recht. „Na gut. Wenn ich mich amüsieren soll, dann mache ich das. Nachdem die Party angefangen hat. Bis dahin darf ich mir noch Sorgen machen.“

„Warum habe ich den Eindruck, als hättest du gerade im Geiste ‚muss mich amüsieren‘ auf eine To-do-Liste geschrieben?“

„Weil ich klug genug bin, es nicht vor deinen Augen auf eine echte Liste zu schreiben.“ Apropos … Wieder wühlte sie in ihrer Handtasche, zog ein kleines Spiralbüchlein heraus, klappte es auf und überflog die Liste mit der Überschrift Babyparty/Kindsfeier. „Jetzt fühle ich mich besser.“

„Gut.“ Er drückte ihre Schulter und ließ die Hand sinken. „Bitte mach dir keine Sorgen um die politischen Aspekte. Darum kümmere ich mich schon.“

„Das kannst du vergessen.“ Sie betrachtete nachdenklich ihre Liste. Bis auf das Decken der Tische und das Arrangement des Buffets war alles erledigt, und dafür hatte sie eine separate Liste. Sie blätterte auch diese auf. „Ich habe Angst, ich könnte den Kuchenheber vergessen oder das Gästebuch irgendwo liegen lassen, aber ich will trotzdem alles über diesen politischen Kram und über die Sache mit dem Status und so wissen. Das muss ich, weil ich es nicht verstehe.“ Sie sah ihn an. „Ich lasse mich nicht von dir ausschließen.“

Er streckte die Hand nach ihrer aus, und sie überließ sie ihm. Er schwieg noch einen Moment, dann sagte er: „Ich will dich nicht ausschließen. Das ist wie ein Reflex.“

„Ich weiß. Aber du hast vor, dich zu bessern, nicht wahr?“

Er lächelte. „So ist es.“

Seine Berührung beruhigte sie. Wie immer. Das war das Magische am Band der Gefährten, das das Bedürfnis nach körperlichem Kontakt steigerte, doch gleichzeitig auch seinen positiven Einfluss. Sein Volk glaubte, dass das Band ein Geschenk der DAME war, ein Glaube, der sich in dem Titel widerspiegelte, den sie Lily gaben: die Auserwählte. Auserwählt von der DAME, meinten sie, denn weder sie noch Rule hatte eine Wahl gehabt. Zu Beginn zumindest nicht.

Aber das Wohltuende seiner Berührung war auch noch in einem archaischen, universellen Zauber begründet. Die meisten Menschen, dachte Lily, fühlen sich besser, wenn sie die Hand eines geliebten Wesens halten.

An einigen ihrer Sorgen, das gab sie gerne zu, war sie selbst schuld. Cynna war eine gute Freundin, und sie war schwanger, deshalb war es nur natürlich, dass Lily angeboten hatte, eine Babyparty für sie auszurichten. Niemand hatte sie dazu gezwungen, dies zur gleichen Zeit mit der Feier zu tun, die Rule und die Rhej der Nokolai für den Vater des Kindes abhielten – Cullen Seabourne, Zauberer und ehemaliger einsamer Wolf und der erste Lupus, der je geheiratet hatte. Aber sie hatte es für eine gute Idee gehalten. Lilys Wissen über die Nokolai und ihre Sitten hatte immer noch Lücken, aber in den neun Monaten, in denen sie mit Rule zusammen war, hatte sie schon an einigen Kindsfeiern teilgenommen. Und nie war es eine große Sache gewesen.

Aber dieses Mal war es anscheinend anders. Ganz anders.

Die meisten von Cynnas Freunden und Bekannten, die ihr etwas für das Baby geschenkt hatten, arbeiteten mit ihr und Lily zusammen in der Einheit. Sie lebten nicht in der Nähe, deswegen war die Zahl der Gäste der Babyparty klein und überschaubar.

Ganz anders die Kindsfeier. Die Rippchen, nach denen sie Rule gefragt hatte, waren ein gutes Beispiel. Es ging nicht allein darum, dass jeder, der erschien, auch genug zu essen bekam. Nein, die Sache war um einiges komplizierter. Es mussten Reste übrig bleiben. Denn die Gäste durften, laut Rule, nicht das Gefühl haben, der Gastgeber habe sich für sie in Unkosten stürzen müssen. Aber wenn zu viel übrig blieb, war das auch wieder nicht gut. Der Gastgeber könnte sich beleidigt fühlen, weil nicht genug Gäste gekommen waren. Oder geriet in den Verdacht, sich für wichtiger zu halten, als er tatsächlich war, was als Schwäche ausgelegt wurde. Und der Lu Nuncio des Clans durfte nicht schwach sein.

Die Rippchen waren der große Test. Sie waren besonders beliebt und gingen deswegen schnell weg. Das Ziel war es, sagte Rule, dass es, wenn alle Teller gefüllt waren, keine Rippchen mehr gab und vielleicht auch keine Rinderbrust, aber immer noch Hühnchen und Würste und Beilagen.

Das Problem war, dass Lupi nicht auf ein „u.A.w.g.“ reagierten. Sie verschickten auch keine schriftlichen Einladungen, wenigstens nicht zu Kindsfeiern. Nein, der gesamte Clan fühlte sich eingeladen, und so konnten sie nichts anderes tun, als die abzuziehen, die schon vorher ein Geschenk geschickt hatten, und die Anzahl der infrage kommenden Gäste grob zu schätzen.

Die Schätzung war in der Tat recht grob gewesen – und von großer politischer Bedeutung, verdammt. Lily hasste Politik. Ihre Großmutter fand, dass diese Haltung naiv war, dass man genauso gut das Wetter hassen könnte. Beides war sinnlos, denn beides war unausweichlich.

Aber die Politik der Lupi war so verdammt … Sie war eben wie alles bei den Lupi.

Die Kindsfeier bot Rule die Gelegenheit abzuschätzen, auf wie viel Widerstand seine umstrittenen Entscheidungen der letzten Zeit stießen – die Macht eines anderen Clans anzunehmen und sich außerdem zu verloben. Gleichzeitig hatte er vor, diesen Widerstand zu schwächen, indem er es so aussehen ließ, als sei der Widerstand schwach.

Das genügte, um Kopfschmerzen bei ihr hervorzurufen.

Die Teilnahme an einer Kindsfeier war eine Frage des Rangs und der Freundschaft. Cullen war neu bei den Nokolai, er war erst vor weniger als einem Jahr in den Clan aufgenommen worden, deswegen wären normalerweise nicht sehr viele Gäste ihm zu Ehren erschienen. Er hatte nicht viele enge Freunde, und sein Rang war eigentlich nicht klar. Aber Rule war der Lu Nuncio und Lily seine Auserwählte, deswegen hatten sie beide einen hohen Rang. Hochrangige Gastgeber, das bedeutete eigentlich: viele Gäste.

Aber indem er eine Frau geheiratet hatte, die von ihm schwanger war, hatte Cullen ein großes Tabu gebrochen. Und auch Rule hatte vor zu heiraten. Möglicherweise würden viele Clanmitglieder durch ihre Abwesenheit ihrer Missbilligung Ausdruck verleihen.

Doch Rule nahm nicht an, dass das passieren würde, denn die dritte Gastgeberin war die Rhej der Nokolai. Eine Rhej war so etwas Ähnliches wie eine Priesterin oder eine Bardin. Sie bewahrte die Erinnerungen des Clans und war, in seltenen Fällen, das Sprachrohr der DAME – die angeblich keine Göttin war, aber sicher in dieser Liga spielte. Der Rang der Rhej war der gleiche wie der des Rho … und Cynna war seit Kurzem ihre Schülerin.

Zur selben Zeit hatte Cynna auch angefangen, sich die Erinnerungen anzueignen – ein Vorhaben, das sogar noch ein bisschen geheimer war als die Codes, die nötig waren, um die Nuklearwaffen der Vereinigten Staaten zu aktivieren. Wie auch immer dieses Lernen aussah, die Folge war eine erschöpfte, zu schweigsame Cynna.

Heute Abend sollte sie für kurze Zeit die seelischen Erschütterungen vergessen, die sie in den Erinnerungen durchlebte. Denn es war fast immer das Unglück, das in den Erinnerungen gespeichert wurde.

Der Clan würde anwesend sein, sagte Rule. Nicht alle, obwohl die meisten Mitglieder des Clans in Kalifornien ansässig waren. Denn Kalifornien war ein großer Staat. Doch jeder, der kam, würde die Rhej und Cynna ehren, und das würde auch Rule zugutekommen, weil so der Eindruck entstand, dass der Widerstand im Clan schwächer war als in Wirklichkeit.

Und wenn nicht?, hatte Lily gefragt. Was, wenn sie sich so daran stören, dass du heiratest, dass sie trotz allem nicht kommen?

Dann würde sein Vater einen neuen Thronfolger bestimmen müssen. Er würde den Clan nicht zwingen, seine Entscheidung zu akzeptieren, und damit seine Stärke aufs Spiel setzen.

War es da ein Wunder, dass sie angespannt war? Da war es besser, fand sie, an Monster zu denken. „Du hast nicht zufällig eben etwas Komisches gerochen, oder?“

Rule schüttelte den Kopf. „In dieser Gestalt ist meine Nase nicht so gut, aber Schlangen haben ein unverwechselbares Aroma – und grundsätzlich gilt: je größer das Tier, desto stärker der Geruch, den es hinterlässt. Du hast mich nicht gebeten, mich zu wandeln.“

„Vielleicht hätte ich das tun sollen, aber es erschien mir sinnlos. Niemand sonst hat diese Schlange gesehen, und ich habe nicht die Spur von Magie wahrgenommen.“ Sie runzelte die Stirn. „Massenhalluzinationen – das ist keine befriedigende Erklärung. Sie sehen nicht alle dasselbe Monster. Und nicht die richtigen.“

„Du meinst Zombies?“

„Und den Yeti, ja. Natürlich gibt es Yetis, aber sie haben keine langen, spitzen Zähne, und sie wohnen auch nicht in Südkalifornien. Außerdem sind sie friedlich, nicht aggressiv. Erinnerst du dich noch an diesen einen Fall – die Frau in Hillcrest, die schwor, ein Wolfsmann habe ihr die Tür eingetreten und sie angegriffen?“ Glücklicherweise hatte sich das schnell geklärt. Dass die Öffentlichkeit glaubte, ein Lupus könnte zu einem blutrünstigen Wesen mutieren, halb Mann, halb Tier, wie es Hollywood so liebte, konnten sie gar nicht gebrauchen. Weder die Frau noch die Tür hatten irgendeinen Schaden davongetragen.

„Die Leute sehen Filmmonster.“

„Das ergibt keinen Sinn, oder? Ein halbes Dutzend Menschen, ohne irgendeine Verbindung untereinander, leiden auf einmal unter vorübergehenden Wahnvorstellungen. Jedes Mal rufen mich die Cops, weil es der Chief so angeordnet hat. Bin ich paranoid, wenn ich denke, dass Chief Delgado das nur tut, weil er mir immer noch nachträgt, dass ich die Polizei verlassen habe? Oder überschätze ich meine Bedeutung?“

Er hob ihre Hand an seine Lippen und küsste sie. „Du weißt doch, was man sagt. Auch Paranoide können echte Feinde haben.“

„Hmmm.“ Merkwürdigerweise fühlte sie sich jetzt besser. „Oder er will sich einfach nur absichern. Für alle Fälle. Noch hat die Presse keinen Wind davon bekommen, aber wenn das so weitergeht, wird es unvermeidlich sein. Er will sagen können, dass die ach so wichtige Einheit des FBI auch nichts gefunden hat. Ich frage mich …“

„Was?“

„Wahnvorstellungen, Halluzinationen. Könnte sich um eine neue Droge handeln, aber die Cops wissen von nichts Neuem, das im Umlauf wäre. Natürlich zirkuliert das meiste von dem hippen, teuren Zeug auf Partys und in Clubs, also … Max“, sagte sie und meinte den Besitzer des Club Hell.

„Niemand ist mehr gegen Drogen als Max.“

„Aber er würde wissen, wenn es etwas Neues gäbe. Etwas Teures“, sagte sie wieder und dachte dabei an die Frau in Hillcrest. Hillcrest war keine billige Wohngegend, und die Frau war in dem Alter gewesen, in dem man viel in Clubs ging. Keines von beidem fiel in Lilys Zuständigkeit, aber trotzdem … Sie zückte ihr Handy. „Ich rufe ihn später an. Erst ist der Chief dran.“

„Willst du ihn fragen, ob er dir absichtlich zusetzt?“

Sie prustete, während sie sich durch ihr Telefonbuch blätterte. „Als wenn er mir die Frage beantworten würde. Nein, die andere Möglichkeit, die mir einfällt, ist irgendeine Art von Gift. Vielleicht haben diese Menschen etwas über das Wasser oder mit einer Tomate oder so aufgenommen. Ich will wissen, ob er das Gesundheitsamt verständigt hat. Wenn nicht, tue ich es.“ Und sie wusste, wen sie anrufen musste. Sie kannte diese Stadt. Was nach den vielen Reisen in andere Städte, die sie in letzter Zeit unternommen hatte, eine Wohltat war.

„Officer Munoz sah so jung aus“, sagte sie. Sie wählte die Nummer des Polizeichefs von San Diego.

„Hmm hmm.“

„Sehe ich in deinen Augen manchmal schrecklich jung aus?“

„In meinen Augen siehst du immer genau richtig aus.“

„Das ist keine Antwort.“

Er lächelte und sah weiter geradeaus. „Und ich bin kein Dummkopf.“

Auch Lily lächelte, als sie die vertraute Raucherstimme der Sekretärin des Chiefs hörte. Schön, wieder zu Hause zu sein.

Hinter einem 7-Eleven-Markt, neben einem vollen, stinkenden Müllcontainer krümmte sich ein kleiner Mann vor Lachen. „Oh, hast du gesehen, was die Frau für ein Gesicht gemacht hat?“, sagte er auf Chinesisch. „Hast du das gesehen? ‚Oh, Hilfe, Hilfe, die große Schlange will mich fressen!‘“, fügte er in kreischendem Falsett hinzu und schlug sich auf den Oberschenkel. „Und dann hat es bum gemacht. Bum!“

Mit seinem schütteren, glatt nach hinten gekämmten Haar sah er ein bisschen aus wie ein asiatischer Hercule Poirot, auch wenn ihm der beeindruckende Schnurrbart fehlte. Vor allem war er unscheinbar – um die vierzig, dunkle, lebhafte Augen und eine kleine Nase. Er trug Sportschuhe mit weißen Socken, weite Khakishorts und ein T-Shirt mit der Aufschrift „San Diego Chargers“.

Aus dem lauten Lachen wurde ein Kichern. „Du warst brillant, meine Liebe, brillant wie immer“, sagte er zu der Luft neben ihm. Jetzt sprach er Englisch mit einem deutlichen britischen Akzent. Er bückte sich, um die schwarze Kappe aufzuheben, die ihm vom Kopf gefallen war, als er sich vor Lachen geschüttelt hatte.

„Ach ja, hat sie das?“ Mit gerunzelter Stirn richtete er sich auf, aber die Runzeln verschwanden rasch wieder. „Das habe ich nicht gesehen. Ach, das ist das Blut, nehme ich an, oder es war einfach nur Zufall. Aber sie hat nur geguckt. Sie konnte dich nicht sehen.“

„Oh, selbstverständlich.“ Er setzte sich langsam in Bewegung, wie jemand, der nirgendwo hinmuss, und nickte dann und wann, als würde er auf das reagieren, was seine unsichtbare Freundin ihm sagte. Er kam an der kleinen Gruppe Schaulustiger auf dem Parkplatz vorbei, die sich nun, da das Spektakel vorbei war, langsam auflöste. Keiner von ihnen bemerkte ihn.

„Aber um ihn kümmere ich mich für dich, meine Hübsche“, sagte er, als er auf die Straße trat, nachdem er sorgfältig nach links und nach rechts geschaut hatte. „Das weißt du. Und bald.“ Er lächelte. „Das wird eine Überraschung! Ich wünschte, ich könnte … Nein, nein, ich werde sofort wieder gehen. Ich verstehe, dass das schwierig für dich ist. Aber“, fügte er wehmütig hinzu, „es wäre so lustig, ihre Gesichter zu sehen, nachdem ich ihn getötet habe.“

 

4

In den Bergen östlich von San Diego war es fast immer heißer als in der Stadt. Die Höhe glich die Kühle des Ozeans nicht aus. Aber jetzt war die Sonne untergegangen, und in dem kleinen Tal, in dem das Dorf des Clangutes der Nokolai lag, war die Temperatur auf angenehme fünfundzwanzig Grad gesunken.

Der Mond stand noch nicht am Himmel, aber mittlerweile achtete Lily auf solche Dinge und wusste, dass der Halbmond kurz nach Mitternacht aufgehen würde. Die Wiese, auf der sich der Clan versammelt hatte, war voller Menschen, die sangen und lachten – viel mehr, als eigentlich hier wohnten. Lily war erleichtert und sehr zufrieden mit sich.

Die Babyparty war reibungslos über die Bühne gegangen, und die Kindsfeier verlief wunderbar bisher.

Lily schlängelte sich durch die Menge. Die meisten Gäste der Babyparty – der menschlichen Gäste – waren gegangen. Die Anzahl der erwachsenen auf dem Clangut lebenden Lupi variierte stets, aber gewöhnlich waren es um die fünfzig. Die meisten der anderen Gäste lebten in der Nähe des Clangutes, aber sie kannte nicht alle von ihnen.

Sie dagegen wussten alle, wer sie war – es war schon ein merkwürdiges Gefühl. Und so lächelte sie und nickte zurück, wenn ein ihr Fremder sie grüßte.

Auch Hunde und viele Kinder waren anwesend. Alle rannten sie in Schwärmen durch die Menge, wie Elritzen in einem lebendigen Strom. Toby war zweifellos Teil eines solchen Schwarms, aber seitdem er sein Essen hinuntergeschlungen und dann verkündet hatte, er und „die Jungs“ würden jetzt Fangen spielen, hatte sie ihn nicht mehr zu Gesicht bekommen.

Für Lupi war Fangen ein kompliziertes Spiel mit Teams, altersgerechten Regeln, vielen „Hasen“ und Möglichkeiten, sich zu verstecken. Und es wurde viel gelaufen. Sehr viel.

Für Rules Sohn die Mutterrolle zu übernehmen, war bisher fast zu einfach gewesen. Aber den Jungen von seinem Clan loszueisen, das war schwer. Lupi vergötterten Kinder jeden Alters, und sie sahen keinen Grund, warum er nicht immer auf dem Clangut leben sollte.

Eine Person war nicht mehr auf der Party. Die Rhej, die dritte Gastgeberin, hatte mit Lily, Rule, Isen und Toby gegessen, Cullen ihr Geschenk überreicht und war dann in ihr Haus zurückgekehrt, das auf der Hälfte des Weges lag, der sich die Westseite des kleinen Tals hinaufschlängelte.

Sie möge Menschen, sagte sie. Nur nicht so viele auf einmal.

Die Erwachsenen waren vor allem Männer, und die meisten von ihnen trugen nicht sehr viel auf dem Leib. Es gab dreimal mehr männliche Clanmitglieder als weibliche, und Lupi besaßen keinerlei Schamgefühl, was ihren Körper betraf. Keiner von den Männern, die Lily sah, trug ein Hemd oder Schuhe, und alle waren zwischen Bauchnabel und Knien nur notdürftig bedeckt. Abgeschnittene Jeans waren sehr beliebt.

Lily genoss den Anblick. Warum auch nicht? Hier war selbst eine graubehaarte Brust einen zweiten Blick wert. Fette, schlaffe, untrainierte Lupi gab es nicht. Das war bekannt. Ebenso wie die Tatsache, dass der Wandel erblich und nicht ansteckend war. Und dass sie immer männlich waren. Und nie heirateten. Niemals.

Lily rieb mit dem Daumen über den Ring, den sie anlässlich der Feier angesteckt hatte. Anscheinend hatten sich alle geirrt. Sie eingeschlossen. Und eben weil sie wusste, dass es unmöglich war, hatte sie nie damit gerechnet, und doch war sie jetzt verlobt mit einem Mann, dem es nicht einmal hätte in den Sinn kommen dürfen, sie um ihre Hand zu bitten.

An den Picknicktischen am Rand der Wiese saßen immer noch einige Gäste und aßen. Andere aßen im Stehen. Lily hatte als eine der Ersten gegessen, und das hatte ihr nicht besonders gut gefallen. In ihrer Welt aßen die Gastgeber erst, wenn alle Gäste sich bedient hatten. In der Welt der Lupi aßen die Gastgeber zuerst – oder beinahe, denn zuallererst kamen die Rhej, der Rho und der Lu Nuncio an die Reihe. Rule sagte, das sei so, weil das Mahl die „Beute“ des Gastgebers repräsentierte. Für einen Wolf war es etwas Gutes, für Nahrung für den Clan zu sorgen. Aber die anderen als Erste an die eigene Beute zu lassen, wäre absurd gewesen.

Auch wenn es seltsam war, verstand Lily ihn. Trotzdem hatte sie sich unwohl gefühlt, als sie sich den Teller gefüllt hatte, deswegen hatte sie auf den Nachtisch verzichtet. Doch das würde sie jetzt nachholen.

Das Gras war weich und federte unter ihren Füßen. Die Versammlungswiese wurde immer gewissenhaft bewässert, selbst während einer Trockenheit – was eigentlich für den ganzen Sommer in Südkalifornien galt. Da es im Moment in der Nähe keine Steppenbrände gab, war der Himmel hier draußen klar und dunkel und mit zigtausend glitzernden Sternen besprenkelt, mit weit mehr, als in der Stadt zu sehen waren. Obwohl der Mond nicht leuchtete, war es hell genug: Laternen auf Pfählen fügten den magischen Lichtern über ihren Köpfen das sanfte Schimmern von Kerzenflammen hinzu.

Die Feier war nicht nur schön anzusehen, sondern auch anzuhören. Inmitten der Stimmen und des Gelächters wuchs Musik empor wie Pilze nach einem Regenguss – eine Gruppe von Sängern hier, ein Geigenspieler dort. Und war das in der Ferne nicht eine Flöte?

Der rauchige Duft des Grills hing in der Luft. Als sie bei den Tischen ankam, auf denen die Speisen standen, sah sie, dass noch ein wenig Huhn und ein paar Würste übrig waren, aber keine Rippchen und keine Rinderbrust mehr.

Leise stieß sie einen Seufzer der Erleichterung aus und steuerte schnurstracks die Süßspeisen an. Zwei Brownies konnte sie sich schon gönnen, entschied sie. Schließlich hatte sie hart gearbeitet.

Als sie den zweiten aussuchte, fühlte sie eine Hand auf ihrer Schulter. „Her mit der Schokolade“, verlangte eine Frauenstimme.

Lily lächelte die Frau mit dem kurzen blonden Haar an. „Wie viele?“

„Am liebsten Tonnen.“ Cynna hielt ihr den leeren Teller hin. „Ich darf nichts trinken, also muss Schokolade dafür herhalten.“

Lily legte drei Brownies auf Cynnas Teller. „Was gibt’s Neues?“

„Wusstest du schon, dass man von mir erwartet, dass ich die Babynahrung selbst zubereite?“

Cynna war jetzt im siebten Monat und sah aus wie eine Fruchtbarkeitsgöttin – wenn diese Göttin aussah wie eine Amazone und ihre Haut gerne mit geheimnisvollen Zeichen bedeckte. Sie hatte die muskulösen Arme und Schultern einer Kriegerin, die es gewohnt war, einen Bogen zu spannen. Und dieser Amazone amputierte man keine Brust. Cynnas Brüste waren groß und wuchsen, ebenso wie ihre schwindenden Taille, noch immer, wie an dem dehnbaren roten Top deutlich zu sehen war, das sie zu einer weiten Leinenhose trug.

„So wie du aussiehst, könntest du ein halbes Dutzend Säuglinge ernähren“, sagte Lily.

Cynna wedelte ungeduldig mit der Hand. „Ich rede nicht von Milch. Das wäre ja einfach – das erledigt mein Körper von ganz allein.“ Sie stopfte sich einen halben Brownie in den Mund und schloss kauend die Augen. „Ah. Das tut gut. Ich meine die richtige Babynahrung.“

„Oh, ich verstehe.“ Lily nickte. „Du hast mit meiner Schwester gesprochen.“

Damit mehr Gäste kamen, hatte Lily auch einige Mitglieder ihrer Familie zu der Babyparty eingeladen. Die meisten der Geschenke waren per Post gekommen. Ihre Mutter hatte sich entschuldigt, was Lily nicht anders erwartet hatte; ihre Großmutter hatte vorgehabt zu kommen, doch dann war ihre Partnerin Li Qin krank geworden. Aber Lilys Schwestern waren beide gekommen, und zu Lilys Überraschung hatte Cynna sich auf Anhieb gut mit Susan verstanden.

„Na ja, sie ist doch Ärztin, oder nicht?“, sagte Cynna. „Sie kennt sich aus. Aber ich kann ja noch nicht einmal für mich selbst kochen! Eier. Ich kann Rühreier machen. Und Makkaroni mit Käse, nicht aus der Schachtel, und Cullens Chili schmeckt gut. Und sein Braten. Aber ein Säugling kann wohl schlecht Braten essen, was? Ich dachte, ich hätte noch Monate Zeit, um richtig kochen zu lernen, aber …“

„Susan ist Dermatologin, keine Kinderärztin. Außerdem ist sie perfekt. Niemand wird ihren Ansprüchen gerecht, nicht einmal Susan selbst.“ Es war schwierig gewesen, mit einer perfekten Schwester aufzuwachsen, aber Lily hatte erkannt, dass es noch schwieriger war, die perfekte Schwester selbst zu sein.

Cynna schnaubte. „Wer im Glashaus sitzt, Lily, …“

„Oh, komm schon. So schlimm wie sie bin ich nicht.“

„Machst du Witze? Du trägst ein weißes Kleid zu einem Barbecue und …“

„Creme. Es ist cremefarben, nicht weiß.“

„… und hast nicht einen einzigen Fleck darauf. Du ordnest deine Klamotten nach Farbe und Art. Ich habe sie in deinem Schrank gesehen“, fügte sie düster hinzu. „Du hängst deine Jacken nach der Farbpalette auf – Rot, Orange, Gelb …“

„Das ist neurotisch, nicht perfekt, und außerdem besitze ich gar keine orangefarbenen Jacken. Orange lässt mich krank aussehen. Ich will ja nur sagen, dass du nicht alles glauben sollst, was Susan erzählt.“

„Tue ich auch nicht. Aber Zusatzstoffe sind böse, nicht wahr? Bio ist gut. Frisch und Bio zusammen ist sehr gut.“

„Wir leben in Kalifornien. Hier kannst du Biobabynahrung kaufen.“ Lily war sich ziemlich sicher, dass es diese im Rest des Landes auch gab, aber hier ganz sicher. In Kalifornien konnte man schließlich sogar Bioseile kaufen.

„Ach ja?“ In Cynnas Gesicht kämpfte Erleichterung mit Zweifel. Die Erleichterung gewann. „Das könnte ich machen. Und einen Mixer kaufen. Die Rhej hat mir dieses Dampfgardings geschenkt. Für Gemüse. Man muss es nur einfüllen, Wasser unten dazugeben und dann die Zeituhr stellen, und schon wird gegart. Ganz einfach. Es wäre ja wohl kein Problem, gedämpftes Gemüse zu pürieren, wenn ich mal keine Biobabynahrung mehr habe oder so.“

„Richtig.“ Lily tätschelte den Arm ihrer Freundin. „Püriertes Gemüse und Biobabynahrung, mehr brauchst du doch nicht. Es wird schon alles gut gehen.“

„Ja.“ Cynna drehte sich um, um einen Blick auf die Menge zu werfen. Einen Moment lang aßen sie schweigend Brownies.

Es war schön, Cynna so zu sehen – wenn sie sich Sorgen um Kleinigkeiten machte, wenn sie wieder sie selbst war. Die Aneignung einiger früher Erinnerungen von der Rhej hatte sie sehr mitgenommen, aber heute Abend schien sie etwas Abstand davon gewonnen zu haben.

Lily hatte als Erste aufgegessen – sie hatte sich dann doch nur einen Brownie genommen – und befühlte den kleinen Gegenstand in ihrer Tasche. Sie musste Cullen finden und ihn ihm geben. Noch in anderer Hinsicht unterschieden sich die Feiern der Lupi von denen der Menschen: Niemand packte sein Geschenk ein – typisch Mann … –, und es gab keinen festen Zeitpunkt, zu dem es übergeben wurde.

Und auch die Geschenke selbst waren anders. Lupi empfanden es als nicht richtig, ein Geschenk für ein Baby zu kaufen. Es musste entweder selbst gemacht oder geerbt oder „für das Babyglas“ bestimmt sein – also Geld. Die meisten schenkten Geld. Was Lily gut verstehen konnte. Auch in China waren Geldgeschenke Sitte, wenn auch nicht bei Babypartys, und dort wurde das Geld in rote Umschläge gesteckt, nicht in große Gläser.

Doch von den engen Freunden des werdenden Vaters wurde erwartet, dass sie entweder ein Geschenk selbst herstellten oder etwas schenkten, das eine Geschichte hatte. Die Geschichte derjenigen, die früher in dieser Wiege geschlafen, an diesen Würfeln gekaut hatten und von dieser Decke gewärmt worden waren, war Teil des Geschenks.

Dies war eine der wenigen Sitten der Lupi, die man ihr nicht hatte erklären müssen. Mit den geerbten und selbst gemachten Dingen sagte der Clan: Dieses Kind gehört zu uns. Die Gegenstände waren von Clanmitgliedern gemacht und von Clanmitgliedern benutzt worden, und sie waren mit der Geschichte des Clans verwoben. Sie kamen nicht aus der Welt da draußen, aus der Welt der Menschen – was es ihr schwer gemacht hatte, ein Geschenk zu finden, denn sie kam aus der Welt da draußen, der Welt der Menschen. Und handwerklich war sie nur so geschickt, dass sie einem Verhafteten die Handschellen richtig anlegen konnte.

Zufrieden seufzend aß Cynna den letzten Bissen Brownie. „Das hat gutgetan, aber jetzt brauche ich Flüssigkeit. Kein Wasser, keine Milch – ich will es mal krachen lassen.“

„Dr. Pepper?“ Lily lächelte über Cynnas derzeitige Vorstellung von „es krachen zu lassen“.

„Richtig. Wenn noch etwas übrig ist. Himmel, ich habe den Eindruck, es sind mehr als tausend Gäste gekommen. Komm.“

Lily folgte ihr lächelnd. Bevor sie zum FBI gekommen war, hatte Cynna nicht wie Lily die konventionelle Polizeilaufbahn durchlaufen und es deshalb auch nie gelernt, die Größe einer Menschenmenge richtig einzuschätzen. „Ungefähr halb so viele, wenn man die Kinder mitzählt.“

„Das sind aber immer noch viele. Und das bedeutet: viele Geschenke.“ Cynna klopfte leicht auf ihren runden Bauch. „Aber auch viel Arbeit für dich.“

„Nein, wirklich nicht.“ Sie waren bei den mit Eis und Getränken gefüllten Wannen angekommen. Lily nahm eine Dose Dr. Pepper für Cynna und eine Diät-Cola für sich heraus. „Es waren vor allem Rule und die Rhej, die sich um die Kindsfeier gekümmert haben.“

„Ja, aber du hast auch die Babyparty organisiert und gleichzeitig noch die ganzen Anrufe von diesen Spinnern bekommen.“

„Wenigstens waren diese Fälle schnell abgeschlossen. Ansonsten ist es recht ruhig da draußen.“

„Du weißt, dass du so etwas nicht sagen darfst.“

Lily prustete. „Bist du abergläubisch?“

„Selbstverständlich nicht, aber man darf nie sagen, dass es ruhig ist. Dann flattern einem nämlich sofort drei dringende Fälle auf den Tisch oder eine Leistungsbeurteilung, oder man wird krank oder –“

Lachend erhob Lily Einspruch. „Schon gut, schon gut. Ich nehme es zurück. Es ist viel los, und ich weiß gar nicht, wo mir der Kopf steht, und du hast recht, die Feier hat viel Arbeit gemacht. Und sie war es wert.“

„Na prima, jetzt hast du’s geschafft. Ich heule ja in letzter Zeit schon bei Fernsehwerbungen.“ Cynna schniefte, grinste und fügte hinzu: „Das war wohl eine gute Übung für deine Hochzeit. Habt ihr schon das Datum festgelegt?“

„Noch nicht.“ Sie setzte die Dose an die Lippen und trank.

„Du weichst mir aus.“

„Nein, ich habe Durst.“ Lily sah sich um. „Ich suche Cullen. Ich habe ihm noch nicht sein Geschenk überreicht.“

„Jetzt wechselst du das Thema.“ Cynna war geradezu schadenfroh. „Du fürchtest dich.“

„Ich fürchte mich gar nicht.“ Sie liebte Rule. Sie wollte nicht nur den Rest ihres Lebens mit ihm verbringen, sie musste sogar. Das Band der Gefährten ließ ihnen keine Wahl, aber damit hatte sie sich ausgesöhnt. Die Heirat würde dem, was ohnehin schon eine Tatsache war, nur noch einen legalen Anstrich geben. Es gab keinen Grund, sich zu fürchten, der lästige Kloß in ihrem Hals war keine Angst, eher … Irritation.

„Ich habe keine Furcht“, wiederholte sie. „Aber ich liebäugele mit Las Vegas. Meine Mutter ist wahnsinnig geworden.“

„Von welcher Art Wahnsinn sprechen wir hier?“

Lily schwenkte ihre Coladose. „Von jeder nur erdenklichen Art, die mit einer Hochzeit zu tun hat. Das Kleid. Das Datum. Blumen. Die Brautjungfern. Tauben.“

„Tauben? Die großen grauen Vögel?“

„Nein, weiße. Sie möchte Dutzende von weißen Tauben fliegen lassen, wenn Rule und ich uns das Eheversprechen geben. Das ist nicht gerade die richtige Botschaft, wenn der Bräutigam sich hin und wieder in einen Wolf verwandelt, oder?“

Cynna kicherte. „Das stimmt. Einige eurer Gäste dürften diese feinsinnige Botschaft wohl nicht verstehen. Sie halten die Tauben bestimmt für ein Partyspiel. Fliegende Appetizer.“

Lily stellte sich vor, wie all die gut gekleideten männlichen Hochzeitsgäste die Tauben sahen, sich wandelten und ihnen hechelnd hinterherjagten. Ein Lächeln zuckte um ihre Lippen. „Vielleicht sollte ich sie einfach machen lassen. Ihr Gesicht, wenn es dann passiert, wär’s vielleicht wert. Aber nein.“ Widerstrebend kehrte sie zurück zur Realität. „Das würden sie nicht tun. Außerdem weiß ich gar nicht, ob überhaupt ein Lupus zu unserer Hochzeitsfeier kommt.“

Cynna drückte aufmunternd ihren Arm. „Cullen kommt auf jeden Fall. Und ich wette, noch mehr, wenn sie sich erst einmal an die Idee gewöhnt haben.“

„Vielleicht.“ Sie wollte nicht darüber nachdenken, was die Heirat für Rules Status in seinem Volk bedeuten konnte, und wandte sich wieder dem zu, was in ihrer Macht stand. „Ich will bei meiner Hochzeit nicht von Vögeln vollgekackt werden.“