Wolle & andere Verwicklungen - Sandra Busch - E-Book

Wolle & andere Verwicklungen E-Book

Sandra Busch

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Beschreibung

Endlich konnte ich mir einen Traum erfüllen und die Wollfühloase eröffnen. Ärgerlich ist nur, dass auf der anderen Straßenseite ein Troll wohnt, der dort eine Werkstatt für Motorräder führt. Der war nämlich ebenfalls auf die Immobilie meines Handarbeitscafés scharf und wollte ein Bikerlokal daraus machen. Aber zum Glück habe ich ja mit Otti Wiese nichts weiter zu tun. Andererseits ist das Leben mitunter ganz schön verwickelt.

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EPUB
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Seitenzahl: 333

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Sandra Busch

Wolle & andere Verwicklungen

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2025

http://www.deadsoft.de

Kontakt für Verlag und Produktion

dead soft verlag, Querenbergstr. 26, 49497 Mettingen

[email protected]

© the author

Coverillustration: Saliha Bader

Email: [email protected]

Kontakt über Instagram: @sasually

Coverbearbeitung: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com

1. Auflage

ISBN 978-3-96089-784-2

Inhalt:

Endlich konnte ich mir einen Traum erfüllen und die Wollfühloase eröffnen. Ärgerlich ist nur, dass auf der anderen Straßenseite ein Troll wohnt, der dort eine Werkstatt für Motorräder führt. Der war nämlich ebenfalls auf die Immobilie meines Handarbeitscafés scharf und wollte ein Bikerlokal daraus machen.

Mittwoch, 03. Januar

Benedict

„Du hast was getan?“ Meine Mutter hält im Abtrocknen inne und dreht sich zu mir um.

„Ähem … Ich habe einen Laden gekauft.“

Mein Vater, der gerade einen Schluck von seinem Feierabendbier nehmen wollte, stellt das Pils auf den Tisch zurück. „Ist das dein Ernst?“

„Nimm dir gefälligst ein Glas.“ Der geliebte Hausdrachen legt den halbtrockenen Teller auf die Anrichte, reißt einen der Schränke auf, holt ein Glas heraus und knallt es auf den Tisch. Sowohl mein Vater, meine Schwester Liv als auch ich zucken zusammen.

„Das ist ein Saftglas“, wagt Paps einzuwenden und erntet einen vernichtenden Blick.

„Aber vermutlich kann man daraus genauso gut Bier trinken“, fügt er hastig hinzu.

„Woher nimmst du das Geld für diesen Laden?“, will Mama wissen.

„Von Opa. Die Erbschaft …“

Meine Mutter verdreht die Augen. „Davon solltest du dir eine Wohnung kaufen. Bei den heutigen Mietpreisen wird man ja arm. Altersvorsorge … Hast du davon schon mal gehört?“

„Ein Loft gehört zum Laden dazu“, teile ich voller Zufriedenheit mit. „Opa hätte sich für mich gefreut.“

Der hatte eine Spielhallenkette besessen und in seinem Leben selbst ganz gerne gezockt. Nach dem Tod meiner Großeltern wurden die Spielhallen gewinnbringend verkauft. Von dem Erbe konnten meine Eltern ihr Haus abbezahlen, ein neues Auto kaufen und obendrein einen wundervollen Urlaub auf den Bahamas verbringen. Liv und ich erhielten jeweils eine irrwitzige Summe aufs Konto überwiesen. Meine Schwester ist bereits auf der Suche nach einem Häuschen im Grünen und plant, dort mit mindestens zehn Bengalkatzen einzuziehen. Ach ja, ihren Freund Arnie würde sie ebenfalls in ihrem Heim wohnen lassen. Irgendwer muss doch das viele Katzenfutter schleppen.

„Ich kann mir den Vertrag gerne ansehen, bevor du unterschreibst.“ Papa, der Steuerberater von Beruf ist, zeigt sich großzügig.

„Das ist furchtbar lieb von dir, doch ich habe längst unterschrieben. Ein paar Umbauten sind natürlich noch nötig. Steckdosen, Sanitär und so. Der Bautrupp rückt morgen an.“

In der Küche herrscht schlagartig Stille. Offenbar haben meine Eltern nicht damit gerechnet, dass ich sie in dem Prozess, diese Immobilie zu kaufen, einfach übergehe. Ich dagegen bin der Meinung, mit achtundzwanzig Jahren allmählich alt genug zu sein, um eigene Entscheidungen zu treffen.

„Wow!“ Liv rührt sich als Erste. „Dann gratuliere ich dir.“

„Danke.“ Ich lächle ihr zu und lasse mich von ihr umarmen. Kurz vergrabe ich meine Nase in ihr raspelkurz geschnittenes, violett gefärbtes Haar. Es riecht nach dem Wassermelonenshampoo, auf das sie als Friseuse schwört.

„Wann hast du das denn alles gemacht?“, erkundigt sich Mama. „Die Besichtigung, den Notartermin, die Auftragsvergabe an die Handwerker …“

„Also … Die Besichtigung ist vorab online erfolgt und den Notartermin habe ich vor drei Wochen wahrgenommen.“

„Vor drei Wochen warst du bei Matteo in Bremerhaven“, erwähnt mein Vater.

„Stimmt.“ Von Matteo habe ich nämlich den Tipp für die Immobilie. Und dieser Tipp war goldrichtig. Ich habe mein persönliches Paradies erworben.

„Moment mal.“ Die Zahnrädchen in Muttis Kopf rattern. „Soll das etwa bedeuten, dass dein Laden in Bremerhaven liegt?“

„Stimmt.“

„Das … das sind vierhundert Kilometer von hier!“

„Stimmt.“

„Das geht nicht!“, heult sie los und sinkt kraftlos auf einen Stuhl nieder. „Du kannst unmöglich nach Bremerhaven ziehen!“

Ich runzle die Stirn, während sich mein Vater am Bier festhält.

„Weshalb nicht?“, will ich wissen.

„Weil … weil du mein Baby bist.“

Ich sitze wie versteinert da. Mein Vater krallt sich fester an seine Flasche und Liv bricht in schallendes Gelächter aus.

Otti

„Du bist total bekloppt, dass du dir das antust.“

Ronnys Bemerkung ignoriere ich, weil ich selbst weiß, wie bescheuert es ist, auf einer umgedrehten Bierkiste vor meinem Grundstück zu sitzen und die Handwerker gegenüber zu beobachten. Die hängen soeben ein Schild über dem Eingang auf. Es ist knallig orange und hebt sich damit wie eine überreife Südfrucht von der weißen Fassade ab. Wollfühloase steht in verschnörkelten Buchstaben darauf.

„Wie so’n Swingerclub“, brummt Ronny und zieht an seiner Fluppe.

Wenn es das bloß wäre. Damit könnte ich durchaus leben. Allerdings kommt es anders. Gegenüber meiner Werkstatt wird ein Handarbeitsgeschäft eröffnen, statt der von mir geplanten Bikerkneipe. Ich könnte kotzen. Und alles nur, weil Ernesto, der Vorbesitzer, dringend zurück in seine Heimat Italien und nicht erst darauf warten wollte, bis ich Kredite bei irgendeiner Bank klargemacht habe. Obendrein gefiel ihm die Vorstellung eines Handarbeitstreffs bei Kaffee und Kuchen samt Wollverkauf, weil es in der Nähe ein Altenheim mit lauter gelangweilten Senioren gibt. Grrrah! Ich will hier keine alten Leute, sondern mit meinen Kumpel nach erfolgreichem Schrauben an den Bikes gepflegt einen zwitschern. Bevorzugt im eigenen Club auf der anderen Straßenseite.

„Wie hieß der?“, fragt Ronny.

Ich muss nicht überlegen, um zu wissen, von wem er redet, nämlich vom neuen Eigentümer.

„Vogelsang.“

„So’n Wichser.“

„Jo.“

„Hast du ihn noch mal angerufen, um ihn umzustimmen?“

„Jo.“ Es waren insgesamt siebzehn Telefonate, bis mich der Vogelsang fragte, ob ich seiner Mutti mit den Anrufen Konkurrenz machen wolle.

„Und? Was sagt er?“

„Dass er sich mit dem Kack da drüben einen Traum erfüllt.“

„Mann! Und was ist mit den Träumen anderer Leute?“, ereifert sich Ronny.

Ja, was?

„So’n Wichser.“

„Jo.“ Ich nippe an meinem Bier. Genauer gesagt Malzbier, weil ich später die Maschine eines Kunden Probe fahren muss. Der hat sich mit seiner BMW abgelegt und ich habe das Gefühl, dass das gute Mädchen trotz meiner Reparatur nicht richtig rund läuft.

„Hättest du den Kredit eigentlich bekommen?“, will Ronny plötzlich wissen. Wahrscheinlich brütet er gerade eine Idee aus.

„Jo. Und sofort abgelehnt.“

„Was? Wieso?“, werde ich entgeistert gefragt. „Du bist ja wohl nicht ganz bei Trost!“

„Die Raten waren dermaßen hoch, dass ich meine Werkstattpreise drastisch hätte anheben müssen“, schiebe ich eine Erklärung hinterher. „Und um nach einem günstigeren Angebot zu forschen, fehlte die Zeit.“

„Kein Problem. Wir können selbstverständlich auch zukünftig bei dir im Garten feiern“, sagt Ronny hastig. „Ist eh viel gemütlicher. Wer braucht schon eine Bikerkneipe?“

Ist klar. Vor allem, da Ronny mein Stammkunde ist, der mir seinen alten Pott mindestens dreimal im Monat wegen irgendwelcher Wehwehchen vorbeibringt. Bei jedem seiner Besuche rate ich ihm, den rollenden Schrotthaufen endlich zu beerdigen, was bei Ronny stets für Pipi in den Augen sorgt.

Gemeinsam beobachten wir, wie die Handwerker jetzt ihre Leiter zusammenklappen, das Werkzeug einräumen und für heute Feierabend machen.

„Wichser“, sagt Ronny mit einem resignierenden Seufzer.

Sonntag, 21. April

Benedict

Über drei Monate sind seit dem Vertragsabschluss vergangen. Mithilfe von Livs Schmusi Arnie, der eine kleine Entrümpelungsfirma besitzt, haben wir den Umzug nach Bremerhaven schnell über die Bühne gebracht. Weitere Unterstützung habe ich seitens meines besten Freundes Matteo, den drei Angestellten von Arnie und natürlich von meiner Familie erhalten.

Bereits vor einer Woche bin ich durch die Supermärkte und kleinen Geschäfte in der näheren Umgebung gerannt, um Flyer für die Eröffnung auszulegen. Eigentlich wollte ich ein Inserat schalten, aber die Preise dafür sind exorbitant hoch, weshalb ich letztendlich davon abgesehen habe. Zumal ich ohnehin bloß Kundschaft aus einem beschränkten Umkreis erwarte. Nein, eine Anzeige hebe ich mir für später auf, wenn ich die ersten Kurse anbieten will.

Selbstverständlich habe ich am Freitagabend, nachdem sämtliche Helfer vor Ort waren, eine Führung durch meine Wollfühloase abgehalten. Die beiden Backsteingebäude liegen sich gegenüber und bilden zusammen mit zwei Verbindungsmauern einen Innenhof. Im linken Gebäude befinden sich ein Verkaufstresen für Getränke und Gebäck sowie fünf Tische. Die Hälfte des Raumes ist allerdings der Wolle vorbehalten. Die komplette Wandseite ist mit Regalen bestückt, in der ich die Ware präsentieren werde. Außerdem hat dort ein Spendenkorb seinen Platz gefunden, wo sich Bedürftige an den Strickwaren bedienen können. Meine vielen Probe- und Demonstrationsstücke kann ich ja nicht alle selbst auftragen. Im Hinterraum stehen weitere Tische. Hier will ich die für später geplanten Kurse abhalten.

Im zweiten Gebäude befindet sich mein Warenlager und darüber das Loft.

Das Highlight ist jedoch das Atrium. In diesem Innenhof stehen drei riesige Olivenbäume in gewaltigen Kübeln. Der Vorbesitzer hat sie mir überlassen, da die schweren Töpfe lediglich mit einem Kran hätten abtransportiert werden können. Das Beste an dem Atrium ist das Glasdach, das man durch ein ausgeklügeltes System per Knopfdruck ausfahren oder einholen kann, je nachdem, ob man unter freiem Himmel sitzen oder sich vor Regen schützen möchte.

Am Samstag haben wir die restlichen Möbel aufgebaut und den Laden mit der Ware bestückt. Leider reisen die freundlichen Helfer am Sonntagabend wieder ab, da sie der Alltagstrott am nächsten Tag erwartet. Als die Wagen abfahren, bemerke ich auf der anderen Straßenseite eine einsame Gestalt. Zotteliges braunes Haar, das bis auf die Schultern fällt, wird von einem roten Bandana gebändigt. Dafür scheint der Vollbart ein Eigenleben führen zu dürfen, weil er bis auf die Brust seines Trägers herabwuchert. Das Shirt sieht wie ein Schmutzlappen aus. Dazu trägt der Kerl eine Lederhose mit seitlicher Schnürung und Boots. Seine Hände sind bis zu den Ellenbogen rauf schwarz verschmiert.

„Was ist denn das für ein Troll?“, bricht es entsetzt aus Matteo hervor.

Da der Troll direkt unter einem Firmenschild herumlungert, hege ich eine Vermutung. Ottis Garage steht darauf, wobei das O mit roten Hörnern besetzt ist und einen Drachenschwanz besitzt, der sich windend den Schriftzug unterstreicht. Für mich sieht das O wie eine teuflische Spermie kurz vorm Platzen aus.

„Ich fürchte, das ist der Ottfried Wiese.“

„Die Nervensäge, die dir die Oase abquatschen wollte?“

„Genau der.“

„Du liebe Güte! Wenn du dir den in dein Schlafzimmer stellst, bekommst du keine Albträume mehr, weil die sich vor diesem Kerl fürchten werden.“

Ich starrte Matteo entgeistert an. „Wieso sollte ich den Wiese in meinem Loft haben wollen?“

Mein bester Freund zuckt mit den Schultern und grinst. „Vielleicht hast du ja einen neuen Kink und fährst neuerdings auf Waldschrate ab.“

„Ich habe nicht einmal einen alten Kink. Und ich stehe bestimmt nicht auf explodierte Hamster.“

Kameradschaftlich boxt mir Matteo gegen die Schulter. „Los! Gib es zu. Bei der vielen Wolle kommst du ja an Bondage überhaupt nicht vorbei.“

„Idiot“, brummle ich. „Erst ziehst du mich wegen der Strickerei auf und dann bettelst du mich ständig wegen eines Schals oder Socken an.“

„Nichts wärmt meine Füße im Winter besser als deine Strümpfe. Hey! Was glotzen Sie so?“

Auf das plötzliche Gebrüll nicht gefasst, zuckte ich zusammen. Der Troll auf der anderen Straßenseite zeigt uns den nicht unbedingt sauberen Mittelfinger, dreht sich um und verschwindet in der Werkstatt. Ich gebe ein leises Seufzen von mir. Motorrädern kann ich nichts abgewinnen. Hoffentlich muss ich mir nicht den ganzen Tag über das Geknatter von überlauten Motoren und offenen Auspuffanlagen oder das Hämmern auf unschuldiges Blech anhören.

„Ben?“

„Hmm?“ Verspätet merke ich, dass Matteo mir offenbar eine Frage gestellt hat.

„Gibt es noch etwas zu erledigen?“, wiederholt er.

„Nein. Nur Kleinkram.“

„Was denn?“ Eifrig schaut er mich an.

„Nichts, wobei du mir helfen könntest. Lediglich ein bisschen Ware präsentieren und ein wenig Deko verteilen.“

„Okay.“ Matteo mustert mich. „Du siehst müde aus.“

Kein Wunder! Es hat eine Menge Schweiß, Zeit und Nerven gekostet, bis der Laden ausgestattet und das Loft bezugsfertig waren. Ohne die Hilfe meiner Lieben hätte ich morgen wohl nicht eröffnen können.

„Ich habe Angst“, gestehe ich.

Prompt schlingt Matteo einen Arm um meine Schultern. Ermutigend drückt er mich an sich. „Das nennt man Lampenfieber.“

Egal, wie man es bezeichnet, das Magendrücken bleibt.

Wir gehen ins Gebäude zurück und betrachten die Location.

„Ist richtig schön geworden“, lobt mein Freund. „Du brauchst dir also keine Sorgen machen.“ Er zerwuschelt mir das dunkelblonde Haar, als wäre er meine Mutti.

„Lass das!“, schimpfe ich, glätte die Frisur und erkläre: „Ohne dich wäre ich gar nicht an eine derart tolle Immobilie gekommen.“

„War Zufall, dass ich von dem Verkauf gehört habe. Und Eigennutz, dir davon zu erzählen. Endlich können wir uns öfters treffen.“

„Stimmt.“

„Hast du noch eine Limo für mich, bevor ich fahre?“

„Sicher.“ Ich seufze ein weiteres Mal. „Es ist echt schade, dass du bei der Eröffnung nicht dabei sein kannst.“

Vor dem Wochenende hat Matteo mir zerknirscht gestanden, dass er am Montag im Fitnessstudio die Kundentermine eines erkrankten Kollegen übernehmen muss. Ich werde daher mit meinen flatternden Nerven alleine sein.

„Tut mir echt leid“, sagt er leise.

„Ist nicht schlimm“, behaupte ich.

„Du packst das, Ben. Und abends stoßen wir zusammen auf deinen Erfolg an.“

Ich nicke und lasse die Wollfühloase erneut auf mich wirken. Schließlich nehme ich die Merkel-Pose ein und imitiere die Stimme der einstigen Kanzlerin: „Ich schaffe das.“

Matteo bricht in lautes Gelächter aus. Auch ich kann nicht länger ernst bleiben und lache mit.

Otti

Wütend trete ich gegen meinen Werkzeugwagen. Es scheppert ordentlich. Dank der Dockers bleiben wenigstens die Zehen heil. Irgendwie habe ich darauf gehofft, dass eine mir wohlgesonnene Fee in einem Glitzerkleidchen erscheint und den Herrn Vogelsang einfach davonwutscht und –wedelt. Gerne nach Grönland, da ist er mit seiner ganzen Wolle bestimmt gut aufgehoben.

Wütend starre ich auf Ronnys Schrotthaufen, den er mir gestern wieder einmal in die Werkstatt gestellt hat. Dabei kann die Maschine nichts für meine schlechte Laune. Das Ding hat Öl verloren. Den Schaden habe ich schnell behoben, allerdings hätte Ronny den verdammten Simmerring durchaus selbst tauschen können. Ich schnippe gegen den falschen Fuchsschwanz, der am Lenker hängt. Das einzige Teil an der Maschine, das bisher nicht kaputt war. Mein Kumpel täte gut daran, auf ein Fahrrad umzusatteln.

Ach verflucht! Das hätte da drüben so ein cooler Club werden können.

Plötzlich höre ich Schritte hinter mir und drehe mich um. Ulf steht in meiner Werkstatt, in einer Hand eine Sporttasche, in der anderen zwei Pakete mit Bratwürstchen sowie einer Packung Krautsalat. Das bedeutet, dass ihn seine Frau rausgeworfen hat, was ebenfalls eine gewisse Routine darstellt, wie das Schrauben an Ronnys Bike. Die Bratwürste dienen der Bestechung. Jeder meiner Kumpel weiß, dass ich gegrillte Wurst liebe.

„Darf ich bei dir schlafen?“, fragt er, einem Ritual folgend, das sich irgendwann ergeben hat.

„Sofa oder Feldbett?“, erkundige ich mich, getreu dem ungeschriebenen Drehbuch. Die Antwort darauf fällt unterschiedlich aus und ist saison- sowie stimmungsabhängig.

„Feldbett. Ich mag den Duft von Motorenöl beim Einpennen.“

Ich deute in eine Ecke. „Damit kann ich dienen. Dort hinten steht ein halb voller Kanister.“

„Danke, Otti. Das war ein echt krasser Streit. Ich soll Frauke nicht mehr unter die Augen kommen.“ Diese letzte Aussage folgt erneut dem Drehbuch. Worin das Problem besteht? In Ulfs Unordnung. Wo immer er geht und steht, breitet sich unweigerlich ein Chaos aus, das kein Mensch auf die Dauer aushalten kann. Sobald Fraukes Grenzen der Geduld überschritten werden, schmeißt sie ihren Angetrauten aus der gemeinsamen Wohnung und kärchert einmal gründlich durch. Nachdem sich Ulf Tage später und auf Knien lieb Kind gemacht hat, bemüht er sich, ihr kleines Reich aufgeräumt zu halten. Nichtsdestotrotz fliegt er früher oder später aufs Neue raus. Dabei liegt es nicht daran, dass Ulf nicht will. Er kann schlichtweg nicht ordentlich sein. Offenbar ist bei ihm irgendein Gen kaputt.

Jetzt lässt er die Sporttasche fallen und folgt mir aus der Werkstatt bis in den Garten.

„Ich feuere schon mal die Kohle an“, sagt er und steuert direkt auf den Grill zu.

„Okay. Ich springe kurz unter die Dusche und schaue, was die Küche hergibt. Außerdem suche ich dir Bettwäsche heraus.“

„Hmmhmm. Otti?“

„Jo?“

Verlegen scharrt Ulf mit den Füßen. „Bist’n guter Kumpel.“ Gleich darauf wischt er sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel.

„Hey, Alter … Das wird wieder.“ Hoffe ich zumindest. Schließlich kann Ulf nicht ewig in der Werkstatt pennen. Außerdem will ich selbst nicht in spätestens drei Tagen im Chaos untergehen. Andererseits ist es fraglich, ob Fraukes Nerven ihren Mann tatsächlich weiterhin aushalten, bis ein natürlicher Tod ihre Ehe scheidet. Vermutlich werde ich die Meinigen in Kürze stählen müssen, um den armen Jung nicht zu erschlagen.

Eine knappe Stunde später sitze ich bei Ulf neben dem Grill. Auf dem Rost brutzelt die Wurst und der leckere Duft treibt mir das Wasser im Mund zusammen. Ich habe zwei Maiskolben gefunden und aus Resten einen kleinen, bunten Salat geschnippelt, den ich mit ein paar Gänseblümchen optisch verschönert habe.

„Starr die Blüten nicht so an. Die kann man essen“, sage ich mit einem amüsierten Lachen und reiche Ulf eine Dose Guinness. Mein Freund zieht einen Flunsch, obwohl er genau weiß, dass ich meist nur dunkles Bier im Haus habe. Nordlicht hin oder her, ich bin ein Dunkelbierfanatiker, wobei ein Guinness in meinem persönlichen Ranking ganz oben auf der Liste steht. Ein langgehegter Traum von mir wäre eine Tour mit dem Bike quer durch Irland. Leider habe ich bislang keinen passenden Begleiter gefunden, mit dem ich dann abends gemütlich in einen Pub einkehren könnte. Bei den vielen Leuten, die mehr oder weniger regelmäßig meine Werkstatt frequentieren, ist das echt lachhaft.

Ulf legt ein paar Toastscheiben auf den Grill und gibt einige kleine Stücke Kräuterbutter darüber. Gleich darauf wendet er die Würste.

„Bist du noch sauer?“

„Hmm? Worauf?“

„Auf den schrägen Typen mit seinem Handarbeitsladen.“

Ich zucke mit den Schultern. „Sauer nicht. Enttäuscht ja. Die Location ist einfach super und die Lage hätte nicht besser sein können. Genau gegenüber der Werkstatt … Tja, der eine gewinnt, der andere verliert.“

Ulf nickt. „Ich habe vorhin Ronny getroffen. Im Gegensatz zu dir nimmt der es nicht gerade sportlich.“

„Boah!“ Genervt schneide ich eine Grimasse. „Als hätte der die ehemalige Pizzeria kaufen wollen.“

„Er ist halt Biker durch und durch. Vielleicht ein wenig zu verbissen. Die Idee eines Clubhauses hat ihn angefixt.“

„Jetzt hat es aber nicht sein sollen. Ich kann den Vogelsang ja nicht einfach erschießen, bloß weil ich seinen Laden übernehmen will. Ach, zum Teufel! Ich geb’s zu! Ich bin neidisch auf den Kerl. Absolut neidisch. Trotzdem kann ich an der Situation nichts ändern. Ich hab’s versucht und bin gescheitert. Er gibt die Immobile selbst für mehr Geld nicht wieder her. Reich mir endlich eine Wurst und lass uns essen, statt dauernd über diesen Strickwichtel zu reden.“

„Und Ronny?“

„Ist halt Ronny. Der soll sich lieber überlegen, woher er Kohle bekommt. Er steht bei mir bereits mit drei Rechnungen in der Kreide. Rück den Senf raus! Eine Wurst ohne Senf ist wie Bier ohne Hopfen. Das will man ja auch nicht.“

Montag, 22. April

Benedict

Endlich ist es soweit. Ich bin ein nervöses Wrack und ertappe mich ständig dabei, wie ich an den Knoten herumfummle, die die mit Helium gefüllten Luftballons links und rechts vom Eingang halten. Weshalb ist mir vor Aufregung speiübel?

Drinnen stehen kleine Häppchen und Sekt – alkoholfrei und mit Umdrehungen – sowie Orangensaft für die ersten Besucher der Wollfühloase bereit. Ich rücke einen Ständer mit Maschenmarkierern zurecht, streiche mein Hemd glatt und schiebe ein Wollknäuel tiefer ins Regal. Ein Blick aufs Handy zeigt mir, dass es inzwischen 10:06 Uhr ist. Seit sechs Minuten bin ich selbstständiger Unternehmer.

Warum taucht niemand auf? Der Laden sollte eigentlich voll sein. Unruhig trete ich erneut auf die Straße hinaus. Ein paar Hundert Meter entfernt verlässt jemand die Bäckerei mit einer großen Papiertüte im Arm und gegenüber sitzt der Troll auf seiner Bierkiste vor der Werkstatt und starrt zu mir herüber. Ein weiterer Mann mit einem langen Zopf, der ihm über eine Schulter baumelt, und einer Zigarette, die lässig in seinem Mundwinkel hängt, lehnt neben ihm an der brusthohen Mauer. Ein dritter kommt gerade aus Ottis Garage. Wahrscheinlich Freunde des Trolls. Müssen die nicht arbeiten? Egal. Ich sehe nach rechts und nach links. Kein Passant und kein Wollfanatiker zu entdecken. Missmutig kehre ich in den Laden zurück und betrachte die Luftschlangen, Luftballons und Häppchen. Die Dekoration, für die ich heute schon um 03:00 Uhr aufgestanden bin, ist wirklich prima geworden. Alles sollte perfekt sein, wenn die Massen die Wollfühloase stürmen. Ich kann gar nicht zählen, wie oft ich den Besen geschwungen habe, damit nicht ein einziger Fussel die Neueröffnung stört.

Ich verrücke die Flyer mit Farbverlaufsbobbel der aktuellen Saison um zwei Millimeter und ordne die Zeitschriften in dem Regal neu, wobei ich zur Tür schiele. Bin ich zu ungeduldig? Sitzen meine Kunden womöglich alle noch beim Frühstück?

11:47 Uhr. Niemand da, außer mir. Ich stehe hinter dem Tresen mit der Kasse und dem Kartenlesegerät, das ich in der letzten halben Stunde bestimmt hundert Mal nach vorn und danach wieder zurückgeschoben habe. Inzwischen bin ich dazu übergegangen, mit den Fingerspitzen den Flohwalzer zu trommeln. Zu meiner Rechten ist der Tresen freigehalten und niedriger angesetzt, damit ich dort Ware verpacken und den Kunden überreichen kann. Links neben der Kasse steht das Gebäck hygienegerecht hinter Glas. Der sauteure Kaffeeautomat ist heute genau zweimal im Einsatz gewesen … allerdings nur für mich. Im Schrank stapeln sich auf Hochglanz geputzte Gläser, Tassen und Unterteller, der Kühlschrank brummt leise vor sich hin und hält den verschmähten Sekt und Orangensaft nebst den Softdrinks kalt.

Keiner kommt.

11:53 Uhr. Das Handy klingelt. Meine Mutter ruft mich zwischen zwei ihrer Fußpflegetermine an.

„Na, wie läuft’s?“, fragt sie.

„Toll“, schwindle ich.

„Wirklich? Es ist so still bei dir.“

„Ich bin zum Telefonieren rausgegangen. Hier ist es ruhiger“, setze ich die Lüge fort und habe garantiert ein ganz rotes Gesicht. Es ist mir unmöglich, meiner Mutter zu gestehen, dass ich hier wie eine vereinsamte Palme in der Oase stehe und sich nicht einmal eine Fliege für die Häppchen, geschweige denn für die Wolle interessiert.

„Ich freu mich sehr für dich“, schallt es aus dem Handy. „Papa und ich machen heute Abend einen Piccolo auf und trinken auf dich. Wenn du Schluckauf bekommst, dann weißt du, dass wir an dich denken.“

„Das ist total lieb“, sage ich und blinzle heftig. Die Enttäuschung steigt mir inzwischen vom Magen bis in die Kehle auf.

„Weiterhin toi toi toi, mein Schatz. Mach’s gut.“

„Danke, Mama. Bis bald.“

Puh! Zum Glück hat sie sich kurzgefasst. Ich wische mir über die Augen, die merkwürdig feucht sind. Hätte ich doch inserieren sollen? Ich verstehe die Welt nicht mehr. Zumindest einen einzigen Besucher aus dem Seniorenheim hätte ich erwartet. Die werden gewiss nicht alle Memory spielen.

Es piepst.

Abermals meldet sich das iPhone, nunmehr mit einer WhatsApp-Nachricht. Matteo! Ich drücke das Handy gegen den Bauch, ohne die Message zu öffnen. Ich bin mir sicher, dass mein Freund ebenfalls wissen will, ob der Laden brummt. Spätestens heute Abend, wenn er die vielen ungegessenen Häppchen entdeckt, würde ein Flunkern auffliegen. Daher lege ich das Handy auf den Tresen, schlurfe bitter enttäuscht zu einem der Gästetische und lasse mich dort auf einen Stuhl sinken.

Otti

Ein Grinsen kann ich mir nicht völlig verkneifen. Die Neueröffnung ist ein Flop. Anders kann man es definitiv nicht bezeichnen. Nicht ein Kunde hat die Wollfühloase betreten. Die wird wohl zu einem zweiten Atlantis werden und mit wehenden Fahnen untergehen. Vielleicht kann ich dann das Objekt für’n Appel und ’n Ei dem Vogelsang abkaufen.

„Läuft nicht?“, fragt Ulf.

„Nö“, antworte ich und verschränke zufrieden die Arme vor der Brust. Ein schlechtes Gewissen, dass ich Schadenfreude über den miesen Start verspüre, habe ich nicht. Dafür ploppt die Hoffnung auf, dass der Laden früher oder später erneut zum Erwerb angeboten wird und ich ihn in die Finger bekomme.

Ulf lehnt sich an meiner anderen Seite gegen die Mauer. „Ist ja komisch.“

Ich runzle die Stirn. „Wieso?“

Er zuckt mit den Schultern, während sich Ronny eine weitere Selbstgedrehte ansteckt, die vierte mittlerweile.

„Schneien nicht wenigstens die Abstauber bei einer Neueröffnung rein? Diejenigen, die immer etwas umsonst haben wollen? Wenn ich mir das Luftballongedöns und den Aufsteller so betrachte, hat der Vogelsang bestimmt auch irgendwelche Goodies und Gratisgetränke da. Liegt bei einem Handarbeitscafé irgendwie nahe, oder nicht?“

Mein Stirnrunzeln vertieft sich, weil es logisch klingt, was Ulf da ausführt.

„Außerdem macht man für eine Neueröffnung üblicherweise Werbung“, fährt Ulf fort und schaut auf die Armbanduhr. „Deswegen finde ich es komisch, dass bis mittags nicht ein Hansel aufgetaucht ist.“

Ronny kichert hämisch, was mich veranlasst, zu ihm aufzusehen.

„Ich bekomme gerade ein furchtbar merkwürdiges Gefühl“, sage ich.

„Was niemand weiß, macht niemanden heiß“, trällert Ronny.

„Was soll das bedeuten?“, frage ich scharf.

„Der hat neulich überall Flyer verteilt“, erzählt der stolze Besitzer eines rollenden Schrotthaufens. „Und ich bin ihm hinterher und habe die heimlich hinter seinem Rücken wieder eingesammelt. War ziemlich leicht. Der hat nichts gemerkt.“

„Du …“ Ich schnappe fassungslos nach Luft. „Du hast was?“

„Ich bin ihm nach und habe sämtliche Werbezettel mitgenommen, die er beim Bäcker, im Altenheim und im Supermarkt ausgelegt hat“, wiederholt er.

„Und die hat man dir einfach mitgegeben?“

„Hab behauptet, dass es Fehldrucke seien und es erst im letzten Moment aufgefallen ist.“

Mir verschlägt es die Sprache. Langsam erhebe ich mich von meiner Kiste und kämpfe um Contenance.

„Oh Mann! Du bist echt ein Spacken!“ Ulf trifft den Nagel auf den Kopf. „Wenn das herauskommt, kann sich der Vogelsang ganz leicht denken, wer dahintersteckt. Nämlich Otti. Und letztendlich verklagt er Otti wegen entgangenem Gewinn oder Geschäftsschädigung.“

„Hey! Ich hab das für uns getan. Für ein Clubhaus.“

Ich knabbere gerade an dem Wort verklagen, während vor mir Bilder entstehen, wie die Euroscheine aus meiner Brieftasche flattern. „Wo sind die Flyer abgeblieben?“

Ronny nickt in Richtung Werkstatt. „Die stecken in der Packtasche meines Bikes.“

„Du bringst das Corpus Delicti direkt hierher?“ Ulf haut sich mit der flachen Hand vor die Stirn. „Du willst ihn echt hinhängen, oder? Wenn der da drüben eine Hausdurchsuchung beantragt …“

„Jetzt mal langsam mit den Pferden“, versuche ich die beiden auszubremsen. „Verklagen, Hausdurchsuchung, Flyer-Diebstahl …“ Strafend starre ich Ronny an. „Bring das gefälligst in Ordnung.“

„Was?“

„Du hast das ganz richtig verstanden. Glaubst du wirklich, dass ich das Gebäude auf diese Weise erwerben will? Ich könnte mir ja nie mehr im Spiegel ins Gesicht blicken. Klar, ich hätte mich gefreut, wenn sein Laden floppt. Aber nicht, weil ihn jemand sabotiert. Das ist eine echt miese Nummer.“

Ronny wirft seine Zigarette auf den Gehweg.

„Und heb deine verdammte Fluppe auf, du Umweltverschmutzer!“, fauche ich, inzwischen ernsthaft böse.

Hastig bückt er sich und hebt den Stummel auf.

„Geh rüber, entschuldige dich und bring die Werbezettel dorthin, wo sie hingehören.“

„Das ist nicht dein Ernst!“

„Und ob. Ansonsten brauchst du in meiner Werkstatt nie wieder aufzukreuzen.“

„Weißt du, was das für eine Arbeit war, die Dinger einzusammeln?“

„Die Zeit hättest du besser genutzt, um dir endlich einen Job zu suchen. Du hast drei Rechnungen bei mir offen. Ich will meine Kohle.“

Ronny schneidet eine Grimasse, bevor er in die Werkstatt marschiert.

„Das beste Beispiel dafür, dass man ohne Hirn existieren kann“, brummt Ulf.

„Sagt der, der regelmäßig aus seiner Wohnung fliegt, weil er seine Sachen nicht wegräumen kann.“ Der Rundumschlag muss einfach sein. Mein Freund schrumpft sichtlich zusammen.

„Mann! Wenn jemand mit mir diese Nummer abgezogen hätte, dann würde der zukünftig nichts anderes als ausschließlich Suppe schlürfen. Zumindest sieht der Vogelsang nicht aus, als könnte er Ronny umhauen. Schaden täte es allerdings nicht.“

Der Vollidiot kehrt mit einem Stapel Flyer in der Hand zurück und stapft mit mürrischer Miene zur Wollfühloase hinüber. Vor der Tür bleibt er stehen und dreht sich zu mir um. Streng deute ich auf den Eingang und knurre leise, bis Ronny in dem Laden verschwindet.

Benedict

Endlich betritt jemand meine Oase. Leider währt die Freude darüber nur kurz, weil es sich dabei um den langhaarigen Trollfreund handelt. Er kommt mit einem düsteren Gesicht auf mich zugestiefelt und knallt mir einen Packen bedrucktes Papier auf den Tresen. Es sind meine Flyer!

„Du könntest echt den Anstand haben und Otti den Laden überlassen“, sagt er.

„Woher sind die Flyer?“, frage ich.

„Hab ich eingesammelt.“

Ich bin fassungslos und muss wirklich schlucken.

„Das sollte ein Clubhaus werden“, mault der Typ vor mir.

„Jetzt ist es ein Handarbeitstreff“, zische ich.

„Genau. Und das wollen wir nicht.“

„Verstehe ich das richtig, dass ihr mich in den Bankrott treiben wollt?“

Der Trollfreund beugt sich über den Tresen. „Du Arsch bekommst hier kein Bein auf den Boden. Gib lieber gleich auf und überlass Otti das Feld, ansonsten wirst du das bitter bereuen.“

Von dem Biker unbemerkt ziehe ich mein Handy hervor und drücke auf Aufnahme. „Kannst du das wiederholen?“, frage ich.

„Du sollst dich von hier verpissen und Otti das Geschäft überlassen“, sagt der Mistkerl brav ein weiteres Mal.

„Weil sonst was passiert?“, erkundige ich mich und schnappe nach Luft, weil ich am Kragen meines Shirts gepackt werde.

„Hast du eine Ahnung, was ein warmer Abriss ist?“

Mir stockt der Atem und nicht nur, weil mein Gegenüber Mundgeruch hat. Im nächsten Moment werde ich mächtig wütend.

„Loslassen!“, grolle ich. „Du lässt mich sofort los!“

Tatsächlich nimmt der Trollfreund seine Hände von mir, deutet mit Zeige- und Mittelfinger auf seine Augen und danach auf mich. Schließlich verlässt er meine Oase. Schnell mache ich ein Foto von ihm und der Weste, die er trägt. Ottis Hellboy steht dort in demselben Schriftzug wie auf dem Firmenschild. Ein wenig zittrig atme ich ein, eile um den Tresen herum und sperre die Tür ab, bevor ich das Willkommen-Schild auf die Geschlossen-Seite drehe. Durch die Scheibe kann ich beobachten, wie der Troll und seine Freunde in der Werkstatt verschwinden. Was sind das bloß für Scheißtypen?

Und nun? Aufgeben? Oh nein, Freundchen! Nicht mit mir. Ich lass mich doch nicht ungestraft bedrohen!

Ich ziehe mir den dritten Kaffee an diesem Tag, ohne ihn zu trinken. Stattdessen greife ich zu einer der Sektflaschen, die ich für die Neueröffnung besorgt habe, und schenke mir davon ein Glas ein. Das Blubberwasser schlürfe ich mit einem Zug aus und gieße mir gleich einen zweiten Schluck ein. Auch den kippe ich auf ex und verschlucke mich prompt, weil es an der Tür klopft. Eine alte Frau späht zu mir herein. Schnell stelle ich das leere Glas ab und haste zur ihr hinüber, um zu öffnen und das Geschlossen-Schild erneut auf Willkommen zu drehen.

„Hallo“, werde ich begrüßt.

„Eigentlich …“, beginne ich unsicher und werde sofort unterbrochen.

„Ich wusste gar nicht, dass hier ein neuer Laden aufmacht. Oh! Ist das ein Wollgeschäft?“

„Und eine Begegnungsstätte.“ Ich öffne die Tür weiter und lasse sie eintreten.

Die Dame stützt sich auf einen quietschenden Rollator und marschiert damit direkt auf die Wollregale zu.

„So herrlich weich“, sagt sie entzückt, als sie ein Knäuel befühlt.

„Baby-Alpaka“, erkläre ich und füge hinzu: „Ich hatte Flyer ausgelegt. Unter anderem im Seniorenheim. Die Wollfühloase soll ein Handarbeitstreff werden.“

Die alte Dame klatscht freudig in die Hände. „Dass die Pizzeria umgebaut wird, habe ich selbstverständlich mitbekommen. Aber ich hatte ja keine Ahnung, für welche Art von Geschäft. Meine Freundinnen und ich haben angenommen, dass es wieder ein Restaurant werden würde.“

„Nein“, sage ich. „Bei mir gibt es nur Getränke und Gebäck und eine Menge Wolle. Ich möchte an diesem Ort Menschen zusammenbringen und mit ihnen gemeinsam tolle Projekte stricken oder häkeln. Außerdem will ich Kurse anbieten, unter anderem für Schüler.“

„Was für eine brillante Idee. Stricken ist irgendwie aus der Mode gekommen.“ Sie streckt mir eine kleine Hand entgegen. „Ich bin Anna.“

Vorsichtig ergreife ich die knochigen Finger. „Benedict. Willkommen in der Wollfühloase.“

„Ich wohne drüben in der Seniorenresidenz St. Cäcilia. Warum hast du denn dort keinen Aushang gemacht?“

„Hab ich. Es gab allerdings …“ Ich halte inne. Die nette Omi muss ja nicht unbedingt von dem Streit mit dem Troll erfahren. „… ein Problem mit den Flyern“, beende ich den Satz lahm und deute auf den Stapel, der nach wie vor auf dem Tresen liegt. „Darf ich Ihnen …“

„Du“, unterbricht sie mich mit einem sympathischen Lächeln.

„Darf ich dir ein Glas Sekt anbieten?“

„Unbedingt. Und du musst mir genau erzählen, was du mit dem Laden vorhast.“

Genau das mache ich eine Dreiviertelstunde lang. Ich erzähle ihr von meinen Plänen, wir trinken Sekt und naschen von den Häppchen, die ich von einem Catering-Service habe liefern lassen.

Anna hört mir aufmerksam und sichtlich erfreut zu. „Ich finde es klasse, wenn sich junge Leute dermaßen für eine Idee begeistern können“, sagt sie und winkt ab, als ich ihr Glas ein weiteres Mal auffüllen will. „Ich hab schon einen kleinen Schwips“, verrät sie mir, daher schenke ich ihr Orangensaft ein.

Schließlich verirren sich auch zwei von Annas Freundinnen herein und so lerne ich Antje und Alba kennen. Antje ist klein und pummelig, Alba dagegen groß und sehr schlank und außerdem der Häkel- statt der Stricknadel zugetan.

„Wir werden die drei As genannt“, sagt Antje kichernd. „Weil wir ständig aufeinander glucken und unzertrennlich sind.“

„Und jetzt haben wir ein Plätzchen zum Plaudern gefunden, an dem nicht ständig Pflegepersonal auftaucht und uns ermahnt, rechtzeitig die Tabletten einzunehmen.“ Albas Stimme ist kühl und sie wirkt ein wenig arrogant. Aber ich erkenne den schelmischen Teufel in ihren Augen. Die Frau hat es garantiert faustdick hinter den Ohren. „Richte dich darauf ein, dass wir morgen hier einfallen.“

„Gerne.“ Ich freue mich und führe sie einmal durch die Oase, um ihnen alles zu zeigen. Nach etwa einer Stunde verabschieden sie sich und versprechen, am nächsten Tag mehr Zeit mitzubringen.

Anna schnappt sich ein paar der Flyer und legt sie in den Korb ihres Rollators. „Die verteilen wir in der Residenz, beim Friseur und beim Hausarzt“, verspricht sie mir. „Dein Laden wird bestimmt bald brummen.“

„Das ist sehr nett von euch. Vielen Dank und bis morgen.“ An der Tür winke ich ihnen hinterher. Drei Gäste. Immerhin. Besser, als wenn gar keiner gekommen wäre. Ein Blick auf das Handy zeigt mir, dass es mittlerweile 16:00 Uhr ist. Zeit, mich um den ungewollten Besuch des Trollfreundes zu kümmern. Der braucht nicht glauben, dass ich mir das bieten lasse … Meine Flyer einzusammeln ist eine ungehörige Frechheit. Mir mit einem Feuer zu drohen, nicht nur kriminell, sondern obendrein selten dämlich. Wenn der Wiese die Immobilie unbedingt haben will, ist es doch idiotisch, sie abzufackeln.

Das sehen die beiden Herren von der Polizei, die wenig später in der Oase stehen, ganz genauso. Sie lassen sich die Drohung möglichst wortgetreu wiedergeben und tüten sogar einen der Werbeflyer ein, die der Zopfträger angefasst hat. Die Handyaufnahme schicke ich ihnen auf das Diensttelefon. Ich erhalte den wohlgemeinten Rat, meinen Laden nach Geschäftsschluss ordentlich abzuschließen, die Augen offen zu halten und jede weitere Belästigung sofort zu melden. Mit jeweils einem Häppchen verabschieden sie sich und ich kann beobachten, wie sie schnurstracks über die Straße laufen und Ottis Garage aufsuchen.

So, du fieser Troll. Nun kannst du der Polizei erklären, warum du mir die Verwirklichung meines Traumes verderben willst.

Da entdecke ich eine weitere Person auf dem Gehweg, die den Ordnungshütern verblüfft hinterhersieht. Es ist Matteo, der sportlich in eine weiße Jeans und ein dunkelgrünes Shirt gekleidet ist. Ein ebenfalls weißer Pulli hängt ihm lässig über den Schultern und seine leicht gewellten Haare sind sorgfältig zurückgekämmt. Nun schaut er zur Oase herüber, bemerkt mich und eilt zu mir.

„Was ist los?“, ruft er.

Ich winke ihn herein und sperre hinter ihm die Tür zu.

„Wo ist deine Kundschaft? Wieso meldest du dich nicht? Und war die Polizei gerade bei dir?“, prasseln die Fragen regelrecht auf mich hernieder.

„Ein Hallo wäre auch in Ordnung gewesen.“

„Ben!“

„Sekt?“

Er mustert mich. „Zum Feiern oder Frustsaufen?“

„Letzteres. Warum bist du so früh hier?“

„Der letzte Kunde hat seine Doppelstunde abgesagt. Verrätst du mir endlich, was passiert ist?“

Ich brauche zwanzig Minuten, um Matteo von dem Drama in Kenntnis zu setzen. Mit großen Augen sitzt er neben mir an einem der Gästetische und vertilgt nach und nach die letzten Häppchen. Die Berichterstattung beende ich in dem Moment, in dem die beiden Polizisten Ottis Garage verlassen und mit ihrem Dienstwagen davonfahren.

„Ist ja ein Ding“, brummt Matteo und starrt zur anderen Straßenseite hinüber. „Wer hätte gedacht, dass die Spinner so weit gehen würden? Was machst du jetzt?“

Ich zucke mit den Schultern. „Weiter. Was sonst?“

Matteo zögert. „Und wenn der Typ seine Drohung wahrmacht und einen Brandsatz in die Oase wirft?“

Langsam schüttle ich den Kopf. „Wäre das nicht ziemlich blödsinnig, nachdem die Polizei Bescheid weiß?“

„Besonders intelligent sah der Troll dort drüben nicht aus.“ Matteo schenkt uns Sekt nach. „Du kannst gerne bei mir übernachten, wenn du dich unwohl fühlst.“

„Nicht nötig. Ist trotzdem lieb von dir.“

„Tja, dann verrat mir, wie ich dich heute Abend ablenken kann.“

Ich deute auf den Tresen. „Zufällig habe ich da ein paar Flyer. Die gehören aufs Neue verteilt. Würdest du das übernehmen? Ich räume derweilen auf und lade dich danach in ein Restaurant deiner Wahl ein.“

Matteo trinkt in Windeseile sein Glas leer, springt auf, schnappt sich meine Werbeprospekte und eilt zur Tür. „Schließ hinter mir ab. Und wenn der Troll übergriffig wird …“

„… rufe ich dich an.“

„Nee. Du meldest das der Polizei. Danach rufst du mich an.“ Winkend verschwindet er.

Tief durchatmend lehne ich mich im Stuhl zurück und strecke die Beine aus. Was für ein Tag! Drei Kunden, die nichts gekauft haben. Eine Branddrohung. Kontakt zur örtlichen Polizei. Und einen deutlichen Schwips. Ich hatte heute definitiv zu viel Sekt, ohne etwas Ordentliches gegessen zu haben. Prompt knurrt mein Magen.

Da piepst das Handy. Nachdem ich es entsperrt habe, finde ich eine Nachricht von Liv.

Bin bei Mama und Papa. Wir feiern deinen heutigen Erfolg. Weiter so, großer Bruder. Es folgen zahlreiche Emoticons in Form von miteinander anstoßenden Gläsern, einer Sektflasche, Luftschlangen und einem Smiley mit Partyhut. Etliche Kuss-Smileys beenden die Mitteilung.

Ach, wenn ihr wüsstet … Doch meine Sorgen sollen nicht die euren werden.

Dienstag, 23. April

Otti

Eine ziemlich schlaflose Nacht liegt hinter mir, in der ich mich ruhelos herumgewälzt habe. Das Gespräch mit der Polizei hängt mir nach, genauso wie die Wut auf den Vogelsang und vor allem auf Ronny, der mir den Besuch der Uniformierten eingebrockt hat. Zum Glück war Ulf vor Ort, der den Herren bestätigen konnte, dass ich Ronny mit einem völlig anderen Auftrag in den Handarbeitsladen geschickt habe, als mit der Absicht, das Gebäude niederzubrennen. Ich bin ehrlich gesagt ziemlich geschockt. Und das muss Konsequenzen nach sich ziehen. Immerhin habe ich einen Ruf zu verlieren. Denn wenn mir der Stempel eines Brandstifters aufgedrückt wird, kann ich meine Werkstatt zumachen. Wer lässt schon seine Bikes bei einem Kriminellen reparieren? Da muss ja unweigerlich jeder damit rechnen, dass man in Steuerhinterziehung verwickelt oder – weit schlimmer – mit der Rechnung beschissen wird. Oder dass ich meinen Arbeitslohn mit dem Baseballschläger, wahlweise mit einem Kanister Benzin und einem Streichholz, einfordere.

Erneut quillt der Ärger in mir hoch, dabei habe ich das Bett noch nicht einmal verlassen. Müde setze ich mich auf, recke die Arme in die Luft und strecke mich. Ein Wirbel im Rücken knackst. Aus dem Dschungel der Achselhöhlen dringt ein muffiger Geruch hervor. Eine Dusche ist dringend nötig. Ich mühe mich auf die Füße, schiebe die Hand in die Schlafshorts direkt in den nächsten Urwald und kratze mich ausgiebig am Sack. Danach furze ich ungeniert einen Salut. Quasi eine Ode an den Krautsalat von gestern. Vor der Gaswolke flüchtend, bewege ich mich ins Bad und mache wenig später ungehemmt Gebrauch von dem Duschgel. Dessen Flasche hat die Form eines sitzenden Einhorns und duftet nach einer Mischung aus Blumen und Früchten. Mit anderen Worten: Es riecht quietschesüß. Natürlich kaufe ich mir üblicherweise keine Kinderprodukte, aber das hier war ein Werbegeschenk meiner Drogerie.