Woran stirbt Jesus Christus? Und warum? - Christof Diedrichs - E-Book

Woran stirbt Jesus Christus? Und warum? E-Book

Christof Diedrichs

4,6

Beschreibung

Der Isenheimer Altar gehört zu den bekanntesten Werken der abendländischen Kunstgeschichte. Speziell die Darstellung der Kreuzigung Christi fasziniert bis heute die Betrachter aus den unterschiedlichsten Gründen. Dennoch vermag das Bild noch immer zu überraschen. Denn zu einem wirklichen Verständnis gehört neben dem genauen Hinsehen die Kenntnis der Absichten, die zur Wahl der erstaunlichen Formen führten: Die Darstellung richtete sich nicht an Kunstkenner und -liebhaber, sondern an Kranke und deren Angehörige und sie 'holte sie dort ab, wo sie gerade waren': bei ihrer Auseinandersetzung mit dem Tod. In diesem Buch werden diese Zusammenhänge in der gebotenen Kürze und in einer gut verständlichen Sprache, zugleich auf der Grundlage des aktuellen Forschungsstands dargestellt. Nach der Lektüre wird Ihr Blick auf das Bild ein anderer sein.

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Abb. 1 (Frontispiz):

Mathis Gothart Nithart, genannt Grünewald,

Kreuzigung Christi;

Isenheimer Altar (geschlossener Zustand), um 1512–1516;

Colmar, Unterlinden-Museum

Bilder müssen mit so viel Überlegung und Behutsamkeit betrachtet werden, wie sie gemalt wurden.

Mimesis ist ein „im besten Falle geistreiches, oft auch ein totlangweiliges Spiel“.

(Franz MARC)

Die Abfolge mehrerer Stufen der Analyse eines Bilds „kann niemals ein wirkliches Äquivalent für seine Komplexität sein.“

(Gottfried BOEHM)

Dem Andenken an meinen Vater,

Ernst Diedrichs (1924–2013),

und für meine Mutter

INHALT

Einleitung – Über die Betrachtung von Kunstwerken

Beschreibung als erster Schritt der Deutung eines Kunstwerks

Stufe 2: Geschichten vergleichen

Stufe 3: Bildlösungen vergleichen

Das Vierstufenmodell der Beschreibung und Deutung von Werken der bildenden Kunst

Die

Kreuzigung Christi

am Isenheimer Altar

Beschreibung

Künstlerische Mittel

Vergleich 1: Text

Textquellen zur Kreuzigung Christi

Text und Bild

Vergleich 2: Bilder

Älteste erhaltene Darstellung der Kreuzigung

Entwicklung bis zur Spätgotik

Giotto

Jan van Eyck

Der

Crucifixus dolorosus

in St. Maria im Kapitol

Historische Umstände der Stiftung

Die Antoniter und der Ergotismus

Das Spital in Isenheim

Ergotismus im

Feldbuoch der Wundartzney

Spitalleben

Deutung

Der Gekreuzigte

Johannes der Täufer

Muttergottes, Johannes, Maria Magdalena

„Christus stirbt“

Anhang

Anmerkungen

Abbildungen

Abbildungsnachweis

Abgekürzt zitierte Literatur

Glossar – Erklärung von Fachbegriffen

Dank

Die Reihe „

ein

blicke – Kunstgeschichte in Einzelwerken“

EINLEITUNG

ÜBER DIE BETRACHTUNG VON KUNSTWERKEN

„Die Kunst der Beschreibung“ – diese Formulierung hört sich wie ein Fehler an, eine Wortverdrehung. Es sollte ‚Die Beschreibung von Kunst‘ heißen, meinen wir. Was wäre es schließlich für eine seltsame Kunst, etwas zu beschreiben?

Aber die Formulierung stimmt tatsächlich, es gibt sogar einen aus dem Griechischen stammenden Fachbegriff dafür: Ekphrasis. Die Ekphrasis oder eben Kunst der (Bild-)Beschreibung beginnt bereits in der griechischen Antike, mit Homers ausführlicher Beschreibung des Schilds des Achilles im 18. Gesang der Ilias (V. 478ff), zeitlich also etwa im 8. Jahrhundert vor Christus.

Selbstverständlich unterscheidet sich das, was Homer in seinem Epos tut, von dem, was wir tun, wenn wir ein Bild beschreiben. Die Beschreibung erfüllt bei uns keinen Selbstzweck, so wie es angesichts antiker Ekphrasen der Fall gewesen zu sein scheint. Vielmehr ist sie im Rahmen unserer Bildbetrachtung der erste Schritt der systematischen Untersuchung und Deutung eines Bilds. Wir beschreiben ein Bild, um es von dieser Grundlage ausgehend interpretieren zu können.

Beschreibung als erster Schritt der Deutung eines Kunstwerks

Schon in den früher erschienenen Bänden der Buchreihe „einblicke – Kunstgeschichte in Einzelwerken“ haben wir gesehen, wie das funktioniert – und wie sinnvoll es ist. Anlässlich einer Bildtafel des (früh-)niederländischen Malers Jan van Eyck (um 1390–1441) haben wir exemplarisch eine solche Beschreibung verfolgen können und wie sich aus ihr Schritt für Schritt eine Deutung des Kunstwerks entwickeln lässt.1

Eine solche möglichst unvoreingenommene Beschreibung ist in der Tat eine hohe Kunst – wobei ‚Kunst‘ (lateinisch ars) hier eher im mittelalterlichen Sinn von ‚Handwerk‘ bzw. ‚Wissenschaft‘ verstanden wird. Denn in dieser Beschreibung geht es darum, die Zeichen, die der Künstler in seinem Werk hinterlassen hat, zu erkennen und sie zu verstehen, ohne beispielsweise etwas in ein Werk hineinzudeuten, das tatsächlich nicht darin steckt, und ohne nur das zu sehen, was wir ohnehin schon kennen und es daher erwarten. Ein Kunstwerk – davon müssen wir bei Kunst von Rang grundsätzlich ausgehen – will uns immer etwas Neues mitteilen oder immer wieder neu die Möglichkeit einer bestimmten Erfahrung (beispielsweise der andächtigen Versenkung) vermitteln, die sich von Mal zu Mal verändert. Ein solches Kunstwerk wird uns niemals etwas erzählen wollen, das wir längst wissen und das nicht über dieses Wissen hinausgeht. Es wird beispielsweise niemals eine biblische Geschichte nur nach-erzählen, weil es meinte, dass wir bzw. der ursprünglich anvisierte Betrachter sie noch nicht kennen würde. Es wird uns daran vielmehr immer etwas Neues klarzumachen versuchen – für das wir als Betrachter indessen offen sein müssen, um es wahrnehmen und verstehen zu können.

Aus diesem Grund ist aber auch die Beschreibung, also die sorgfältige, systematische Betrachtung eines Kunstwerks auf dem Weg der Übersetzung der Beobachtungen in Sprache, die notwendige Grundlage für das Verständnis eines Kunstwerks.

Allerdings unterscheiden sich Werke der vormodernen Kunst (Mittelalter, Neuzeit bis ca. 1800) und der modernen Kunst (um 1800 bis ca. 1950) so sehr in ihrem allgemei nen Verständnis von Kunst, dass sie an eine Beschreibung und Deutung gänzlich unterschiedliche Anforderungen stellen. Entsprechend braucht es für die Analyse vormoderner und moderner Kunstwerke auch unterschiedliche Methoden. Es führt nicht zu angemessenen Ergebnissen, beide nach den gleichen Kriterien zu betrachten und zu deuten.

Moderne

Kunstwerke wollen in der Regel nicht zu objektivierenden, eindeutig vorformulierten, konkreten Aussagen führen, sondern sind als Leerstellen zu verstehen, die vom Betrachter selbst mit seinen subjektiven Assoziationen gefüllt werden müssen. Es ist klar, dass die Analyse eines solchermaßen auf persönliche, individuelle Suggestion abzielenden Kunstwerks anders vonstattengeht und in eine andere Richtung führt als die Interpretation eines Kunstwerks, das eine bestimmte, ‚objektive‘ Aussage vermitteln will.

Vormoderne

Kunst dagegen ist gewöhnlich Bedeutungsträger, dessen Botschaft genau festgelegt ist. Ihre Betrachtung diente ursprünglich nicht der Anregung zu subjektiver, individueller (und damit freier) Assoziation, sondern der Entschlüsselung einer Botschaft, die von Auftraggeber und Künstler in eine ganz bestimmte, historische Situation hinein gesprochen wurde, um auf diese Weise eine ganz bestimmte Aussage zu übermitteln.

Da sich dieses unterschiedliche Verständnis von Kunst auf die Analyse und Deutung der Kunstwerke maßgebend auswirkt, ist die Epochenschwelle zwischen Neuzeit und Moderne – zeitlich also der Kunst bis ca. 1800 und jener seit ca. 1800 – die einschneidendste, bedeutsamste und folgenreichste innerhalb der gesamten abendländischen Kunstgeschichte. Keine der voraufgehenden oder nachfolgenden Epochenschwellen ist in ihren Auswirkungen dieser vergleichbar.

Unabhängig davon, ob wir es mit einem Kunstwerk der Moderne oder des Mittelalters/der Neuzeit zu tun haben, sollte der erste Schritt der Analyse immer in einer eingehenden Betrachtung bestehen. Es ist in jedem Fall wichtig, zunächst sehr genau hinzusehen, bevor damit begonnen wird, Schlüsse zu ziehen und das Kunstwerk zu deuten.2

Dies geht am besten, indem die Beobachtungen ausdrücklich in Worte gefasst werden (im optimalen Fall im Gespräch oder schriftlich). In der sorgfältigen Ausformulierung des Gesehenen überprüfen wir unsere Beobachtungen und präzisieren sie. In der Forschungsliteratur spricht man von der Transformation des Bilds in Text. Es ist viel darüber nachgedacht worden, ob dies überhaupt möglich ist – ob Sprache dieser komplexen Aufgabe also gerecht werden kann und wenn, unter welchen Voraussetzungen. Einig sind sich indessen alle darin, dass er großer Sorgfalt bedarf. Was daran für uns besonders wichtig ist, ist die Tatsache, dass eine solche sorgfältige Beschreibung den Blick schärft.

Einer alten, kunstwissenschaftlichen Tradition folgend wird die Analyse vormoderner Kunstwerke – um ein solches geht es bei der Darstellung der Kreuzigung Christi am Isenheimer Altar – in einzelnen Schritten oder Stufen durchgeführt, die jeweils aufeinander aufbauen. Nachdem wir uns in früheren Bänden ausführlich mit der Stufe 1, der Beschreibung beschäftigt haben3, werden wir in diesem Band besonders die Stufen 2 und 3 des auf diese Weise entstehenden Vierstufenmodells der Beschreibung und Deutung von Werken der Bildenden Kunst in den Fokus nehmen:

den Vergleich der dargestellten Szene oder Geschichte mit möglichen Erzählungen in Literatur und Tradition (Stufe 2 der Analyse); und

den Vergleich der dargestellten Szene oder Geschichte mit anderen, bildlichen Darstellungen innerhalb der abendländischen Kunstgeschichte (Stufe 3).

Stufe 2: Geschichten vergleichen

Kunstwerke aus dem Mittelalter und der Neuzeit bis in die Zeit um 1800 (und zum Teil noch darüber hinaus) haben in den meisten Fällen Geschichten zum Inhalt. Sie erzählen. Aus diesem Grund nennt man solche Bilder ‚Historienbilder‘. Im Laufe der Zeit entwickelten sich zwar noch andere Bildgattungen wie das Andachtsbild, das Porträt, die Landschaftsmalerei, das Stillleben und die Genremalerei, aber die Historienmalerei galt bis ins späte 19. Jahrhundert als die vornehmste Gattung, beanspruchte entsprechend die größten Formate und war die am weitesten verbreitete Bildgattung überhaupt.

Ob es sich um Bilder mit Geschehnissen aus der Bibel, aus den Werken antiker Autoren oder um historische Ereignisse wie Schlachten oder Krönungen handelt: fast immer liegen diesen Darstellungen Erzählungen zugrunde, die schriftlich festgehalten sind. Es existiert also in den meisten Fällen eine Text-Version der Geschichte, von der der Künstler bei seiner Darstellung ausgehen konnte.

Nun gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, wie der Maler mit einem solchen Text umgehen kann, wenn er sein Bild konzipiert:

Er kann den Text gewissermaßen 1:1 ‚übersetzen‘, ohne der Aussage des Texts etwas hinzuzufügen; in diesem Fall sprechen wir von ‚Illustration‘;

oder er kann den Text zur Grundlage einer gewöhnlich vom Auftraggeber vorformulierten Aussage machen, indem er die Geschichte nicht etwa

nach

erzählt, sondern bestimmte Einzelaspekte an ihr, die dem Auftraggeber besonders wichtig sind, in den Fokus der Aufmerksamkeit stellt; er kann die Geschichte also

konkretisieren

und sie zugleich

aktualisieren

. Statt der rekonstruierenden Nacherzählung eines weit entfernten, historischen Ereignisses nimmt er in diesem Fall die theologisch begründete Bedeutung der Geschichte für die Gegenwart und die Zukunft des Betrachters in den Blick und lenkt damit die Aufmerksamkeit vom Verlauf der Geschichte weg auf diesen besonderen Aspekt.

Das Bild als eigene ‚Fassung‘ oder ‚Version‘ der Geschichte

Mit dem Bild entsteht auf diese Weise gewissermaßen eine zweite Fassung oder Version der Geschichte, die zwar von der Textfassung ausgeht, Schwerpunkte und Interpretationen aber ausdrücklich anders setzt und damit dem zeitgenössischen Betrachter des Bilds die Bedeutung des Texts für seine eigene Gegenwart vor Augen stellt. In der einschlägigen Forschung ist man sich inzwischen weitgehend einig, dass die Schaffung einer solchen Fassung oder Version der Geschichte die eigentliche Funktion vieler Miniaturen in bebilderten Handschriften war, selbst wenn es sich nicht um die Bibel, sondern beispielsweise um höfische Romane oder um Rechtshandbücher handelte.

Darüber hinaus weiß man mittlerweile, dass Bilder seit dem fortgeschrittenen Mittelalter und ganz besonders in der Neuzeit keineswegs die ‚Literatur für die Analphabeten‘, also nicht mehr dafür da sind, den des Lesens unkundigen Menschen die Geschichten der Bibel oder der Heiligenlegenden nahezubringen. Auch wenn es eine noch immer weit verbreitete Überzeugung unter Kunstliebhabern ist, war dies spätestens seit dem fortgeschrittenen Mittelalter nicht mehr ihre Funktion.

Dass das früher einmal der Fall gewesen ist, ist unstrittig. Papst Gregor der Große († 604) hat um das Jahr 600 die Funktion der Bilder so beschrieben.4 Aber das war eine andere Zeit, die im Hochmittelalter oder gar in der Renaissance um viele Jahrhunderte zurücklag. Am Ende der Antike hatte sich ganz Europa in einem durchgreifenden Wandel befunden. Das Christentum hatte noch in seinen Anfängen gesteckt und gerade erst begonnen, sich über die Alpen hinweg nach Norden auszubreiten. Im Zuge dessen war ein erbitterter Streit um die Bedeutung und Verwendung der Bilder entbrannt, in dessen Verlauf Gregor die Kunst gegen ihre Feinde zu rechtfertigen gesucht hatte, indem er ihre Bedeutung für diejenigen betonte, die nicht selbst in der Bibel lesen konnten.

Während aber seine Rechtfertigung der Bilder für diese Frühzeit des Christentums unstrittig ihre Bedeutung hatte, war die Christianisierung des Abendlands im 12., 13., 14. Jahrhundert und besonders im 16., als der Isenheimer Altar entstand, längst so weit fortgeschritten, dass die Menschen von Kindesbeinen an mit den biblischen Geschichten vertraut waren. Sie hatten es nicht mehr nötig, sie über die Bilder an den Wänden der Kirchen oder auf Altartafeln erst kennenzulernen.

Stattdessen ist die Aufgabe der Bilder nun eine ganz andere geworden. Die Geschichten, die die Bibel erzählt, gehören zur so genannten Heilsgeschichte. Dem Glauben und der kirchlichen Verkündigung zufolge dienen sie nicht etwa der Unterhaltung der Menschen, die sich an ihnen erfreuen und die Kunstfertigkeit ihrer Ausführung bestaunen können. Vielmehr weisen sie auf Zusammenhänge hin, die das diesseitige Leben mit dem Jenseits verbindet – in dem der damaligen Vorstellung zufolge erst das eigentliche, das ewige Leben beginnen wird. Bilder belehren über abstrakte, theologische Geheimnisse auf anschauliche Weise, so dass diese auch für den einfachen Gläubigen verständlich und nachvollziehbar werden.

Bilder machen das Unsichtbare sichtbar

Bilder können solche Zusammenhänge buchstäblich sichtbar machen. Sie können zeigen, was eigentlich unsichtbar ist. Sie sind in der Lage, dem Unkörperlichen der christlichen Botschaft Körper zu geben, die pauschalen Anweisungen, Verheißungen und Drohungen konkret werden zu lassen.

Bilder verweisen schon im Diesseits auf das Jenseits und zeigen den Gläubigen die Konsequenzen ihres Lebens vor dem Tod für das Leben nach dem Tod. Auf diese Weise betreffen sie das Allerwichtigste im Leben des gläubigen Christen: die so genannte Jenseitsvorsorge. Die Konzentration auf diese Art der Lebensversicherung für das Jenseits ging nicht selten sogar über die Sorge um das Diesseits hinaus und veranlasste Menschen gelegentlich dazu, spontan Haus und Hof, Weib und Kind zu verlassen und auf Pilgerfahrt zu gehen.5 Im 15. und frühen 16. Jahrhundert entwickelten sich daraus regelrechte Massenbewegungen. Denn mit solchen Pilgerfahrten an ‚gnadenspendende‘ Orte hofften die Menschen, sich selbst und ihre engsten Angehörigen von den drohenden zeitlichen Sündenstrafen, dem Fegefeuer, loskaufen zu können.

Nicht Nacherzählung ohnehin bekannter Geschichten also, sondern Konkretisierung und Aktualisierung war die Aufgabe der Bilder. Damit ähneln sie den Predigten, deren Sinn ebenfalls die Auslegung, nicht die Nacherzählung der biblischen Berichte war.

Beispiel „Sündenfall“

Die Darstellung eines Sündenfalls beispielsweise (Abb. nächste Seite), die sich heute im Augustinermuseum in Freiburg im Breisgau befindet und wohl von einem süddeutschen Meister aus der Zeit um 1550 stammt,6 will ganz eindeutig nicht die Geschichte, wie die Bibel sie erzählt, illustrieren. Zu sehr unterscheidet sich das Bild von der Darstellung, wie sie der Text bietet.7 Stattdessen will das Bild die theologische Bedeutung der Geschichte für seine Zeit, die Gegenwart des Betrachters, anschaulich machen. Dazu gehört es vor allem, Fragen aufzuwerfen und sie verbindlich zu beantworten.8 Im Zusammenhang des Freiburger Sündenfalls geht es beispielsweise um die Fragen:

wie kam das Böse in die Welt? Und:

wie soll sich der Mensch angesichts dessen und vor dem Hintergrund des Erlösungstods Christi am Kreuz, der die selbst verschuldete Verdammung des Menschen dem Verständnis der Kirche zufolge rückgängig macht, verhalten?

Süddeutscher Meister, Sündenfall, um 1550; Freiburg im Breisgau, Augustinermuseum

Verglichen mit dem Text, wie ihn die Bibel erzählt, wird gerade bei diesem Motiv deutlich, wie sehr ein Bild von der Textvorlage abweichen kann. Während nämlich im Buch Genesis einzig die Frau an allem schuld ist, da sie den Einflüsterungen der Schlange nachgegeben, die verbotene Frucht gepflückt und dem Mann davon zu essen gegeben hat,9 ist die Antwort des Bilds wesentlich komplexer. Hier ist der Sündenfall durchaus keine Frage des Wunschs nach Erkenntnis,10 sondern ausdrücklich eine des sexuellen Begehrens, das beiden Protagonisten deutlich anzusehen ist. Und außerdem geschieht die Verführung, durch die das Begehren geweckt wird, längst nicht nur durch die Frau. Zweifellos kokettiert Eva nach allen Regeln der Kunst, aber Adam steht dem in nichts nach. Viel zu offensichtlich tänzelt er Eva entgegen, und ob er mit seiner linken Hand wirklich nur die Frucht oder nicht auch die ganze, verführerische Frau dazu nehmen wird, überlässt der Maler der Fantasie des Betrachters. Und wer bis hierhin nicht glaubt, dass tatsächlich dies – die Frage sexuellen Begehrens – hinter dem komplexen Geschehen steht, für den hält der Künstler das Motiv des Aronstabs bereit: Während die Frau gänzlich ohne eine schamhafte Bedeckung ihres Schoßes dasteht, wächst Adam eine Pflanze vor seine Genitalien, die sich bei genauem Hinsehen als Aronstab (arum maculatum) entpuppt. Diese weit verbreitete, heimische Pflanze zeichnet sich u.a. dadurch aus, dass sie bei Verzehr zunächst süß schmeckt, sich jedoch nach einigen Minuten als giftig erweist, zu einem schmerzhaften Brennen auf der Zunge und im Rachen führt und Übelkeit, Erbrechen und Durchfall hervorruft. Neben der offensichtlichen Ähnlichkeit des braun-violetten Blütenkolbens mit einem Phallus ist aus der Sicht der christlichen Sexualmoral auch die Wirkung – zuerst süß, dann bitter und schmerzhaft – als perfektes Gleichnis für sexuelles Begehren und erfüllte Lust zu verstehen. Ganz anders als in der Bibel beantwortet damit das Bild die Frage nach der Schuld für den Sündenfall, indem es auf den beidseitigen Anteil am Geschehen verweist. Die Schuld liegt damit mindestens ebenso sehr beim Mann wie bei der Frau.